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Du kannst weglaufen...

...aber du kannst dich nicht verstecken
von

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Das letzte Kapitel

Omi erwachte in vollkommenem Frieden. Die Sonne schien hell und warm auf das Bett, in dem er lag. Durch den schmalen Spalt des gekippten Fensters hörte er das sanfte Wellenrauschen und die Schreie der Seevögel, die an der Steilwand lebten. Ein leichter Luftzug wehte den Geruch nach Salzwasser und feuchter Erde herein und ließ ihn kurz frösteln. Er kuschelte sich tiefer unter die Decke und an den warmen Körper neben sich. Schuldig schlief noch. Seine orangeroten Haare ergossen sich wie unordentlicher Wasserfall auf das Kissen und glühten im Sonnenlicht, als würden sie von ihnen heraus leuchten. Omi grinste, als er merkte, dass sie beide noch nackt waren. Anscheinend war Schuldig ebenso wie er gestern einfach eingeschlafen.
 

Sie waren nach dem Abendessen früh ins Bett gegangen, von Schlafen hatte allerdings keine Rede sein können. Omi wusste nicht, wie oft sie keuchend und ausgelaugt auf die Matratze gesunken waren, nur um kurz darauf wieder übereinander herzufallen. Irgendwann hatte Schuldig dann abgewunken und gemeint, dass sie es für diese Nacht gut sein lassen sollten. Er hatte behauptet, Aya würde bereits darüber nachdenken, sie beide auf höchst blutige Weise zu kastrieren, um ihrem Treiben Einhalt zu gebieten. Omi war sich nicht sicher, ob das nicht nur eine Ausrede gewesen war. Seinem Körper hatte die Pause in jedem Fall gutgetan. Er fühlte sich ausgeruht und frisch.

Draußen waren jetzt Stimmen zu hören. Autotüren klappten. Anscheinend brachen Yoji, Ken und Nagi zum Einkaufen auf. Irgendwie tat Nagi ihm fast ein bisschen leid. Er war lange genug der Jüngste in der Gruppe gewesen und wusste, wie sehr die anderen einen unterbuttern konnten. Andererseits war Nagi es gewohnt, sich bei Schwarz zu behaupten. Der würde das schon verkraften.
 

Omi legte sich auf den Bauch und angelte unter das Bett. Irgendwo zwischen den verknäulten Kleidern fand er, was er suchte. Er zog das Handy hervor, das ihm Schuldig damals gegeben hatte. Damals, das klang so weit weg. Dabei waren es doch gerade mal ein paar Tage. Er rief den Nachrichtenspeicher auf und begann zu lesen. Dabei huschte immer wieder ein kleines Lächeln über sein Gesicht, wenn er sich daran erinnerte, wie er diese oder jene SMS verfasst hatte. Immer zitternd, ob er eine Antwort bekommen würde. Das Ziehen in der Magengrube, die atemlose Freude, wenn das Gerät tatsächlich gepiept hatte. Er las gerade eine der letzten Nachrichten vom Tag der Entführung aus dem Krankenhaus, als Schuldig sich neben ihm zu regen begann.
 

„Guten Morgen, Sonnenschein“, flötete Omi und legte das Handy beiseite, um die Hände freizuhaben. Er kuschelte sich an Schuldig und fuhr mit den Fingernägeln über dessen Rückseite, die sich durch die Bewegung entblößt hatte.

„Guten Morgen, du kleiner Nimmersatt“, grinste Schuldig noch mit geschlossenen Augen. „Hast du etwa noch nicht genug? Wenn du so weiter machst, wirst du heute den ganzen Tag nicht sitzen können.“

„Wir könnten ja mal tauschen“, schlug Omi mit blitzenden Augen vor. Schuldig öffnete seine Augen ein Stück weit und sah ihn durch die halb geschlossenen Lider an. Er schien nachzudenken.

„Warum eigentlich nicht“, sagte er schließlich und zwinkerte Omi zu. „Scheint ja Spaß zu machen.“

Omi stützte sich auf die Ellenbogen. „Hast du noch nie?...ich meine. Also...du warst noch nie unten?“

Schuldig schüttelte leicht den Kopf. „Hat sich irgendwie nicht ergeben.“

Ein breites Grinsen stahl sich auf Omis Gesicht. „Das heißt ja, du bist quasi noch Jungfrau?“

Schuldig machte ein so verblüfftes Gesicht, dass Omi nicht anders konnte, als lauthals zu lachen. Er stürzte sich auf den anderen und küsste ihn wild, bis ihnen beiden die Luft ausging.

„Also was ist“, gurrte Omi und knabberte an Schuldigs Ohrläppchen herum. „Begibst du dich jetzt in meine Hände?“

„Aber nur, wenn noch was von dem Gleitgel da ist.“

Schuldig langte nach der kleinen Tube, die auf dem Nachtschrank stand, während Omi bereits seinen Mund in tiefere Regionen wandern ließ. Diesen Teil des Vorspiels liebte er mit Abstand am meisten. Schuldig tastete über den Schrank und bekam etwas zu fassen. Er keuchte abgelenkt, als Omi sein Werk begann, griff zu und hob den Gegenstand vor sein Gesicht. Seine Züge gefroren, als er sah, was er in Händen hielt.

„Scheiße!“, fluchte er laut, griff nach Omis Haaren und zerrte ihn unsanft wieder nach oben.

„Au, Schu, du tust mir weh“, jammerte Omi. Schuldig achtete gar nicht darauf und hielt ihm das Handy unter die Nase.

„Was ist das?“, bellte er.

„D-das ist das Handy, das du mir gegeben hast“, stottere Omi. „Ich habe es gestern in meiner Tasche gefunden.“

„Warum zum Teufel hast du es mitgenommen?“

„Ich...es lag zwischen meiner Unterwäsche. Ich habe es eingepackt, als ich meine Sachen geholt habe.“

Schuldig stöhnte und fingerte an der Plastikummantelung herum. Die Rückseite des Handys flog zu Boden, gefolgt vom polternden Akku. Schuldig fasste mit spitzen Finger in das Handy und zog eine kleine, silberne Platte hervor, die etwa die Größe eines Daumennagels hatte.

„Weißt du, was das ist?“ Schuldigs Stimme hatte die Kälte einer Gefriertruhe in der Antarktis.

Omi schluckte. Natürlich wusste er, was das war. Ein Peilsender. Das Handy war mit einem Peilsender ausgestattet gewesen. Und er hatte es mit in ihr sicheres Versteck gebracht.
 

Wie auf Knopfdruck wehte der Wind plötzlich ein neues Geräusch durch den Fensterspalt heran, das irgendwie zu gleichmäßig war, um natürlichen Ursprungs zu sein. Es erinnerte an eine aufgeregte Hummel, deren dunkles Brummen immer aggressiver und bedrohlicher wurde. Das brummende Geräusch wurde lauter und lauter, steigerte sich zu einem rhythmischen Knattern, das sich schließlich in das charakteristische Geräusch eines Helikopters verwandelte. In diesem Moment ging im Raum gegenüber die Tür auf und Sekunden später platze Aya ins Zimmer.

„Wir bekommen Besuch“, rief er und stürzte die Treppe hinunter. Omi und Schuldig sprangen gleichzeitig aus dem Bett, schlüpften in ihre Klamotten und sprinteten hinterher.
 

„Wie wäre das hier?“

Yoji hielt Nagi ein schwarzes T-Shirt unter die Nase. Darauf stand in weißen, unregelmäßigen Buchstaben „Fuck you World“ nebst einer Hand, deren Mittelfinger eine obszöne Geste machte. Nagi schüttelte entsetzt den Kopf.

„Nicht?“ Yoji wirkte ernsthaft erstaunt. „Ich dachte, so was trägt man in deinem Alter. Ich hatte so was an, als ich so alt war wie du. Na ja, nicht ganz so cool. Ich hatte es mit einem schwarzen Filzstift auf ein weißes Shirt geschrieben, der bei der nächsten Wäsche alles in einheitliches Dunkelgrau verwandelt hat. Ich hatte zwei Wochen Hausarrest. Meine Mutter hat es bereut, weil ich ihr dann zu Hause die Bude vollgequalmt hab und mit der hübschen, fünf Jahre älteren Nachbarin ins Gespräch gekommen bin, wenn du verstehst, was ich meine.“

Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Nagis Augen hatten die Größe von Untertassen erreicht.

„Lass dich von ihm nicht so aufziehen“, grinste Ken. „Der hatte nie eine Mutter.“

Er sah Nagi bei der Aussage zusammenzucken.

„Hey, tut mir leid, wenn das ein wunder Punkt ist. Ich rede auch nicht gerne über meine Mutter.“

Ken wanderte weiter durch die überquellenden Ständer des Bekleidungsgeschäfts, während Yoji es vorzog, die hübsche Kassiererin von der Arbeit abzuhalten. Nagi seufzte lautlos und folgte Ken. Während der ernsthaft in den Regalen nach etwas Passendem suchte, zupfte Nagi nur unentschlossen an irgendeinem Stück Stoff neben sich herum. Er spürte die Frage in seinem Mund, wagte aber nicht, sie auszusprechen.

„Sie ist gestorben, als ich noch ganz klein war“, sagte Ken plötzlich. „Ich...hab eine ganze Weile gebraucht, bis ich wieder auf die Füße gekommen bin. War lange in einem Waisenhaus.“

„Ich auch“, rutschte es Nagi heraus, ehe er es verhindern konnte. Er biss sich auf die Lippe.

„Schon ok, du musst nicht drüber reden“, beruhigte ihn Ken. „Hier. Probier das mal.“

Er hielt Nagi eine schwarze Hose und ein einfarbiges, dunkelblaues T-Shirt hin. Nagi nahm es entgegen und verschwand in einer der Umkleidekabinen. Als er wieder herauskam, musterte Ken ihn einen Augenblick lang.

„Das fehlt noch was“, lautete sein Urteil. Er griff nach einer schwarzen Baseball-Kappe mit weißen Ziernähten und stülpte sie Nagi auf den Kopf. „Ja, perfekt. Da erkennt niemand mehr den telekinetischen Killer.“
 

Sie nahmen noch ein paar ähnliche Kleidungsstücke mit und bezahlten. Die nächste Station war der Supermarkt. Sie streiften durch die Regalreihen und Nagi ließ sich dazu hinreißen, Schuldig auch etwas einzupacken, das nach dessen Maßstäben als essbar durchging. Während sie Obst und Gemüse begutachteten, fragte Yoji plötzlich:

„Hast du eigentlich schon mal jemandem getötet?“

Er stellte die Frage in einem Tonfall, als hätte er gefragt, was Nagi von der Aubergine hielt, die er gerade in den Händen hielt. Nagi merkte, wie das Blut in seinen Ohren zu rauschen begann.

Yoji sah ihn über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg an. „Mit Absicht, meine ich. Hast du schon mal jemandem mit voller Absicht umgebracht?“

Nagi schossen tausend Dinge durch den Kopf. Begebenheiten, bei denen sich seine Kräfte unbeabsichtigt manifestiert hatten. Wie er das eine Mal den Stein, den ein Junge nach ihm geworfen hatte, mit voller Wucht auf diesen zurückgeschleudert hatte. Die Dinge, die er bei seiner Ausbildung bei Rosenkreuz getan hatte. Ein Mord war nicht darunter gewesen. Nagi antwortete nicht.

Yoji hingegen nickte, als hätte er es getan.

„Das dachte ich mir.“ Er hielt zwei Auberginen hoch. „Die oder die?“
 

Ken stieß zu ihnen, packte sie beide und schob sie in einen Gang des Supermarkts, in dem Windeln und Babynahrung verkauft wurden. Er legte den Zeigefinger auf den Mund und deutete mit dem Kopf Richtung Ausgang. Yoji reagierte sofort. Er presste sich mit dem Rücken gegen das Regal und spähte vorsichtig um die Ecke. Nagi sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten.

„Was wollen die hier?“, flüsterte Ken Yoji zu, als der sich wieder zurückgezogen hatte.

„Ich bezweifele, dass sie einkaufen wollen“, gab der ebenso leise zurück.

Nagi sah von einem zum anderen. Warum konnten die sich nicht klar ausdrücken? Wen hatten sie entdeckt?

„Schreient“, sagte Ken an Nagi gewandt. „Zwei von ihnen haben gerade den Laden betreten.“

Nagis Herz setzte einen Schlag lang aus. Schreient war hier? Wie hatten sie sie gefunden? Und war sie dabei?

„Wen hast du gesehen?“, fragte er. Er musste es einfach wissen.

„Neu und Schön“, antwortete Ken. „Aber ich glaube, ich habe die anderen beiden in den Laden gegenüber gehen sehen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie suchen nach uns. Aber warum?“

„Wahrscheinlich, weil wir so unwiderstehlich sind“, witzelte Yoji. „Sie können eben einfach nicht genug von uns bekommen.“

„Das ist nicht komisch, Yoji“, zischte Ken. „Wir haben keine Waffen und außerdem sind Zivilisten anwesend. Wir können die beiden nicht einfach ausschalten.“

Yoji warf einen langen Blick auf Nagi. In seinem Kopf schien es zu arbeiten. Er schüttelte ihn unmerklich, als hätte er eine Idee gehabt und verworfen.

„Ja, es ist besser, wir verschwinden von hier. Kommt, wir suchen mal, ob es hier einen Hinterausgang gibt.“
 

Sie huschten mit geduckten Köpfen durch die Gänge des Supermarkts, immer Ausschau nach ihren Verfolgern haltend. Als sie eine metallene Doppeltür erreichten, endete ihre Glückssträhne. Die Tür war verschlossen.

„Dann müssen wir wohl doch zur Vordertür raus“, murmelte Ken und wollte schon zurück schleichen, als Nagi ihn am Arm zurückhielt. Er konzentrierte sich auf die Tür, fand an der Außenseite einen Riegel und schob diesen mithilfe seiner Kräfte beiseite. Er drückte leicht gegen die Tür und diese schwang nach außen auf.

„Gar nicht mal schlecht, Kleiner“, sagte Ken anerkennend. „Kommt, verschwinden wir, bevor es Ärger gibt. Wir müssen die anderen warnen.“
 


 

Der Helikopter schwebte bereits seit mehren Minuten unbeweglich wie ein drohendes Insekt über dem Rand der Steilklippe. Schuldig fletschte die Zähne.

„Das ist Crawford. Der arrogante Bastard will uns Angst machen.“

„Da hat er sich aber die Falschen dafür ausgesucht.“, knurrte Aya. Er griff nach seinem Katana. „Los, gehen wir raus. Ich verkrieche mich nicht hier drinnen, während der Feind da draußen ist.“

„Sei bloß vorsichtig“, meinte Schuldig. „Ich kenne ihn. Er heckt irgendetwas aus. Lass dich nicht auf einen Kampf mit ihm ein.“

Aya hob spöttisch eine Augenbraue. „Machst du dir Sorgen um mich?“

Schuldig musterte ihn einen Augenblick. „Nein, eigentlich nicht. War wohl ein dummer Reflex, so was zu sagen. Muss an dem vielen Weiß um mich herum liegen.“

Aya ging zur Tür. Omi wollte ihm folgen, aber Schuldig hielt ihn zurück.

„Sei du auch vorsichtig, Bishounen.“

Omi lächelte kurz. „Bin ich doch immer.“

Sie traten vor die Tür.
 

Der Helikopter landete, ohne den Rotor auszustellen. Die Seitentür öffnete sich und zwei Gestalten verließen das Luftfahrzeug. Sie waren kaum ausgestiegen, da hob der Helikopter wieder ab und verließ die Küste in Richtung Landesinneres. Die beiden Männer kamen langsam näher
 

„Nett habt ihr´s hier.“

Was bei jedem anderen wie ein Auftakt zu einem netten Kaffeekränzchen gewirkt hätte, hörte sich aus Crawfords Mund an wie das bedrohliche Knurren eines Kettenhundes. Eines Kettenhundes, von dem man gerade festgestellt hatte, dass er nur drei Meter von einem entfernt stand und nicht angeleint war.

„Verpiss dich, Crawford.“ Schuldig hatte keine Angst vor Hunden. Er war lediglich vorsichtig.

„Du weißt, dass ich das nicht tun werde. Du hast etwas, das mir gehört. Ich will es zurück.“

„Du meinst das Mädchen?“ Schuldig lachte kurz auf. „Die kann ich dir leider nicht geben. Ich habe diesbezüglich schon einen anderen Deal ausgemacht. Der Preis war besser.“

„Ich sprach nicht von ihr, ich sprach von dir.“
 

Crawfords linker Mundwinkel wanderte nach oben, als er Schuldigs Gesicht sah.

„Hast du wirklich geglaubt, dass du SZ, dass du Schwarz, dass du mich einfach so hintergehen kannst. Demnach bist du immer noch das verzogene Balg, dass du warst, als wir uns kennengelernt haben. Uns hätte die Welt zu Füßen liegen können, aber du hast das alles aufgeben und wofür? Einen guten Fick, der dir nächste Woche schon langweilig wird? Aber du hast gewählt und bist damit nicht mehr Teil des Plans. Und Teile, die nicht in den Plan passen, werden entfernt. Farfarello? Er gehört dir.“
 

Farfarello trat an Crawford vorbei. In der Hand hielt er den Griff des ausziehbaren Rapiers, das er als Waffe bei Aufträgen bevorzugte. Schuldig wusste, dass er sich binnen Sekunden in eine tödliche Klinge verwandeln konnten. Eine Klinge, die er nicht vorhatte, seinen Körper berühren zu lassen.

„Farf, lange nicht gesehen“, versuchte Schuldig einen unverbindlichen Plauderton. „Hast du Gott ein wenig geärgert, während ich weg war.“

Farfarello legte den Kopf schief.

„Komm schon, wir müssen uns doch nicht streiten. Lass uns darüber reden.“

Farfarello ließ die Klinge ausschnappen. Schuldig hatte gerade noch Zeit, sich mit einem Sprung rückwärts zu retten, bevor sich das Metall dort in den Boden bohrte, wo er gerade noch gestanden hatte. Ohne anzuhalten, riss Farfarello das Rapier aus dem Boden und stürzte sich mit einem heiseren Schrei auf Schuldig.
 

Schuldig rollte sich ab, machte Boden gut, wobei er selbst merkte, dass er sich mit dem Rücken zur Steilküste manövriert hatte. Farfarello trieb ihn mit immer neuen Ausfällen unbarmherzig auf die Klippe zu. Trotzdem zögerte Schuldig, seine Pistole zu ziehen.

„Du willst mich doch gar nicht umbringen“, behauptete er. „Ich glaube, es ist Gott ein weit größerer Dorn im Auge, wenn du mich am Leben lässt. Du und ich, wir hatten doch immer so viel Spaß zusammen.“

Farfarello reagierte nicht darauf. Er hieb erneut mit der messerscharfen Klinge nach Schuldig. Der duckte sich, schnellte wieder hoch und schlug mit voller Wucht auf die Hand, die das Rapier hielt. Die Reaktion war ungewöhnlich, aber nicht überraschend. Jedem anderen wäre durch die Wucht und den Schmerz des Aufpralls die Waffe aus der Hand geglitten. Nicht so Farfarello. Er nutzte die Nähe seines Gegners aus, schlang den Arm um ihn und Schuldig spürte eine weitere, kleinere Klinge, die an seinen Hals gepresst wurde. Wenn man sich bei Farfarello auf etwas verlassen konnte, dann darauf, dass er keinen Mangel an scharfen, spitzen Gegenständen aufkommen ließ.

Schuldig ließ Farfarellos Handgelenk los und hob beschwichtigend die Arme. „Ok, du hast gewonnen. Ich ergebe mich. Genügt das?“

Farfarello antwortete nicht. Das Metall des Dolches drückte sich stärker in die empfindliche Haut, ritzte diese und ließ einen klebrigen Blutstropfen an Schuldigs Hals hinunterrinnen. Schuldig schluckte vorsichtig, um die Klinge nicht noch weiter abrutschen zu lassen. Fieberhaft versuchte er, eine Lösung zu finden. Er könnte versuchen, in Farfarellos Kopf vorzudringen. Das war schwierig. Wie alle Mitglieder von Schwarz hatte der gelernt, telepathische Angriffe abzuwehren. Aber selbst, wenn er die Barriere hätte durchbrechen können, war es nahezu unmöglich, Farfarello etwas einzuflüstern. Dessen Gedanken waren zu...festgefahren. Gleichzeitig glitten sie Schuldig durch die telepathischen Finger, wie schlüpfrige Aale in einem Wasserbottich. Kein Anfang und kein Ende, an dem man ansetzen konnte. Auf diesem Weg kam er nicht weiter.
 

Plötzlich verschwand der Dolch von seinem Hals. Farfarello gab ihn frei. Schuldig stolperte eilig einen Schritt vorwärts und fuhr herum. Farfarello fixierte ihn mit seinem einen Auge, während er die Zunge über die blutige Klinge gleiten ließ. Dunkles traf auf blasses Rot und mischte sich zu einer eigentümlichen Schattierung, bevor sie wieder in Farfarellos Mund verschwand.

Schuldig wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Er hatte Farfarello schon oft beim Spielen zugesehen und jetzt gerade spielte er. Das war einerseits gut, weil es Schuldig eventuell die Chance gab zu überleben. Andererseits tat Farfarello, so wahnsinnig er auch manchmal erscheinen mochte, nie etwas ohne Grund. Er verfolgte stets ein Ziel, selbst wenn das einem Außenstehendem verborgen blieb. Wenn aber Schuldigs Tod nicht die Motivation für diesen Kampf war, was war es dann? Schuldig kniff die Augen zusammen.

„Was hat er dir versprochen?“

Zum ersten Mal, seit der Kampf begonnen hatte, öffnete Farfarello den Mund.

„Ich bekomme den Jungen.“

Schuldig glaubte, sich verhört zu haben.

„Den Jungen? Du meinst Omi?“

Farfarello lächelte. „Ich werde ihn schreien lassen. Sehr laut schreien lassen.“

In diesem Moment griff Schuldig nach seiner Waffe, legte an und schoss.
 


 

Crawford schob sich die Brille auf dem Nasenrücken zurecht.

„Ich glaube, wir hatten schon einmal das Vergnügen“, sagte er in geschäftsmäßigen Ton zu Aya. „Du hast versucht, Reiji Takatori zu töten. Vielleicht hätte ich dich damals schon erledigen sollen, aber das gehört nicht zu den Aufgaben eines Bodyguards. Immerhin wart ihr nicht mehr als ein kleines Ärgernis. Ein Ärgernis, das ich heute beseitigen werde.“

Aya fasste den Griff seines Katanas fester und Omi ließ einen Dart in seiner Hand ausklappen. Sein Blick irrte zu Schuldig, der behände den Streichen seines ehemaligen Teamkollegen auswich.

„Wir lassen uns aber nicht so einfach beseitigen, knurrte Aya und holte zu einem ersten Schlag aus.

Crawford wich dem Schlag aus und Ayas Schwung trug ihn ein Stück weit an Crawford vorbei. Er spürte einen Faustschlag gegen seine Rippen und taumelte noch einen Schritt vorwärts. Er wirbelte herum, machte einen zweiten Ausfall, aber auch dieser Streich ging fehl.

„War das etwa alles?“, lachte Crawford. Omi schleuderte seinen Dart. Crawford fing ihn in der Luft auf und betrachtete die feine Spitze.

„Es wundert mich nicht, dass du noch mit Pfeil und Bogen spielst, kleiner Junge. Komm, lass das hier die Erwachsenen regeln.“

Bevor Omi reagieren konnte, war Crawford auf ihn zugesprungen und donnerte ihm die Faust in die Magengegend. Ein zweiter Schwinger gegen sein Kinn, ließ rote Schmerzblitze in seinem Gehirn explodieren. Er hörte Aya schreien, spürte die Tritte in seine Seite, dann noch einen Schlag gegen seinen Kopf und es umfing in Schwärze.
 

„Omi!“

Aya wollte zu ihm eilen, doch Crawford stellte sich ihm in den Weg. Er zog langsam, fast beiläufig sein Jackett aus. Aya konnte jetzt das Holster mit der Waffe sehen, das unter seinem Arm angebracht war. Fast erwartete Aya, dass der Mann jetzt seine Pistole zog, doch er tat es nicht.

„Was denn“, sagt er stattdessen. „Wir sind hier noch nicht fertig.“

Er machte einen Ausfallschritt, unterwanderte Ayas abwehrenden Arm und hieb ihm erneut die Faust zwischen die Rippen. Aya keuchte, als die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Er hob den Arm, wagte einen Schwertstreich, doch Crawford wich diesem spielerisch aus und trat nach der Hand, die das Katana hielt. Die Klinge wurde Aya aus der Hand geschleudert und landete nicht weit entfernt, doch unerreichbar im Gras.

Crawford trat erneut zu. Aya ließ sich fallen, rollte sich ab und kam in entgegengesetzter Richtung zu seiner Waffe wieder auf die Füße. Crawford setzt ihm nach, Aya musste erneut ausweichen. Ein Fausthieb traf ihn am Kinn, ein weiterer gegen den Brustkorb. Er ignorierte den Schmerz, griff nach dem Arm, hielt seinen Gegner fest. Crawford drehte sich aus der Bewegung und fegte Aya mit einem Tritt von den Füßen. Aya rollte rückwärts, fuhr herum und sprang von unten gegen den Mann, um ihn ebenfalls zu Boden zu reißen. Er umfasste nur leere Luft und ein Fuß hieb in seine bereits verletzte Seite. Er wurde aus der Flugbahn geworfen und fühlte einen heißen Schmerz durch seine Seite ziehen. Vermutlich eine angebrochene Rippe. Luft zu holen, bereitete ihm Mühe und ließ den Schmerz erneut aufflammen. Keuchend blieb er einen Augenblick liegen, um sich zu sammeln.

Was hatte Omi gesagt? Crawford sah die Zukunft voraus. Somit konnte er wahrscheinlich jeden Angriff sehen, bevor Aya ihn ausführte. Es war unmöglich, ihn zu erwischen. Entweder musste Aya etwas Unerwartetes tun oder er musste Crawford ablenken. Aber wie sollte er das anstellen?
 

Ein Schuss zerriss die Luft. Ein schneller Blick bestätigte Aya, dass es nicht Crawford gewesen war, der geschossen hatte. Vermutlich Schuldig. Egal. Er taumelte auf die Füße, suchte wieder festen Stand.

„Deine Beharrlichkeit amüsiert mich“, lächelte Crawford. „Wir beide wissen doch, wie dieser Kampf enden wird.“

„Ich habe Wettervoraussagen noch nie getraut“, knurrte Aya. „Und ich glaube nicht an Schicksal.“

„Große Worte“, spottete Crawford. „Doch welche Zukunft wirst du haben? Wir werden euch besiegen und wir werden euch alle töten. Einen nach dem anderen. Mit wem sollen wir anfangen? Mit dem Jungen vielleicht?“

Er wies auf Omi.

„Oder mit deiner Schwester?“

„Das könnt ihr nicht. Schuldig hat gesagt, dass ihr sie nicht anrühren dürft.“

Crawfords Augenbrauen zuckten kurz. „Hat er das? Nun, vielleicht jetzt noch nicht. Doch wenn der Tag gekommen ist, wird sie ebenso sterben wie alle anderen, die es nicht wert sind zu leben. Schwache Individuen, die in der Welt, die wir zu erschaffen suchen, keinen Platz haben. Es wäre vielleicht amüsant, dich am Leben zu lassen und dich erst nach deiner Schwester zu töten. Aber das wäre die Mühe nicht wert. Du wirst einfach in dem Bewusstsein sterben, dass du sie nicht wirst retten können. So wie ich dich einschätze, wird das genug sein.“

„Die anderen werden dich finden und dich zur Strecke bringen. Weiß gibt niemals auf.“
 

Während sie sprachen, versuchte Aya einen Weg zu finden, wie er wieder an sein Katana kommen konnte. Er hörte einen zweiten und dritten Schuss.

„Wen meinst du? Deine zwei Freunde, die sich vermutlich in diesem Moment mit Schreient auseinandersetzen? Du siehst überrascht aus. Ja, ich habe die Damen mitgebracht. Sie hatten reges Interesse an Rache. Ein Unterfangen, das du sicherlich verstehen wirst.“

„Sie sind zu dritt“, antwortete Aya trocken. „Nagi ist bei ihnen.“

Was er bisher nicht geschafft hatte, löste dieser kurze Satz in Crawford aus. Der Mann schien ernsthaft erstaunt.

„Nagi ist nicht hier?“, echote er.

Ein Schuss war zu hören, gefolgt von einem weiteren. Crawford drehte sich nach dem Geräusch herum. Aya hörte ein Auto, das sich schnell näherte. Er blendete es aus, hechtete mit einem Sprung nach vorne, griff nach dem Katana und federte wieder auf die Füße. Er stand jetzt halb hinter Crawford. Mit einem Kampfschrei stürzte er sich auf ihn. Crawford reagierte instinktiv. Seine Hände schnellten nach oben und fingen die Klinge des Schwerts zwischen sich. Das Metall spielte die Gesichter der zwei Kontrahenten.

„Ihr könnt nicht gewinnen“, keuchte Crawford, als müsse er sich selbst davon überzeugen. „Ich habe es...gesehen.“

Ayas Stimme war ein eisiger Hauch. „Die Zukunft ist nicht dazu da, gesehen zu werden. Die Zukunft ist dazu da, um gemacht zu werden.“

Er ließ sich fallen, zog mithilfe des Schwungs das Schwert aus Crawford Händen und hieb es in einer gewaltigen Kraftanstrengung gleich wieder nach oben. Er spürte den Widerstand, als die Klinge auf Stoff, Haut, Fleisch und Knochen stieß. Er drückte weiter, während Crawford einen gurgelnden Laut von sich gab. Blut klatschte vor Aya auf den Boden und besudelte das grüne Gras. Ein Schrei wie aus weiter Ferne und ein finaler Schuss. Es war vorbei.
 

Schuldig kniete neben Farfarello, der aus mehreren Schusswunden blutete. Keine von ihnen hatte nennenswert dazu beigetragen, ihn zu stoppen oder auch nur zu verlangsamen. Nur dieser eine, letzte Schuss, der ihn direkt ins Herz getroffen hatte, hatte ihn schließlich gefällt. Blut strömte wie Wasser aus den Wunden und färbte die zertrampelte Erde um ihn herum rot. Das Leben floss in gleichem Maße aus ihm heraus und ließ den vernarbten Kämpfer zusehends schwinden. Seine Hände öffneten und schlossen sich, als wolle er selbst jetzt noch gegen den letzten Gegner antreten, gegen den er nicht gewinnen konnte. Das einzelne, bernsteinfarbende Auge richtete sich auf Schuldig.

„Ich werde...“, begann er und hustete Blut. Ein roter Schwall bedeckte seine bleichen Lippen, das Kinn, rann über den Hals ins Gras.

„Du wirst gar nichts mehr, Kumpel“, murmelte Schuldig. „Du hast jetzt eine Verabredung mit deinem Gott, wenn es ihn denn gibt.“

Farfarellos blutbesudelte Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Lächeln.

„Ich werde Gott töten“, sagte er.
 

Sein Blick brach und Schuldig blieb allein am Rand der Klippe zurück. Seine Hände krampften sich um die Waffe, die den tödlichen Schuss abgegeben hatte. Er sprang auf, holte aus und warf die Pistole ins Meer, so weit er konnte. Sie fiel und fiel, bis sie schließlich auf die Wasseroberfläche traf. Es gab eine kleine Fontäne, Gischt spritze hoch, dann schlossen sich die Fluten wieder über dem Metall und zogen es in die Tiefe. Es versank und zurück blieben nur die Wellen, der Wind und die Schuld. Die ewige und immerwährende Schuld.



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