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Die Chroniken der Vier Jahreszeiten

Winters Passion
von

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Spätsommer III

Er war zu früh. Genau genommen hätte er gar nicht herkommen müssen, wenn ihn der Brief nicht so verunsichert hätte. Die Formulierung des Winterkönigs war eindeutig. Sobald er den Verräter beim Namen nennen konnte, sollte sich Wächter Stipan im Winterpalast einfinden. Dass er seit Monaten keinen Erfolg bei der Findung des gesuchten Winterlings hatte und jetzt auch noch die Herbstlese in Kürze bevorstand, ließ seinen Atem um ein Dreifaches beschleunigen. Sein innerstes Leuchten zuckte im blassen Schein der Winterkräfte, sein Bauch fühlte sich ausgezehrt und leer an. Dabei hatte er so große Töne gespuckt, seine Selbstsicherheit hatte keine Grenzen gekannt, ja geradezu euphorisch hatte er die kommenden Wochen begrüßt, die ganz ihm und seinem Ruhm hätten gebühren sollen. Er war sich sicher gewesen, dass die Entlarvung des Verräters genauso einfach werden würde, wie damals vor siebzehn Jahren. Dass die Ermittlungen ihn mit offenen Armen zu dem Winterling führten, der sich des Hochverrats schuldig gemacht hatte. Jetzt trennten ihn noch wenige Tage bis Herbsteinbruch, der Schuldige blieb ein Geheimnis und der König verlor das Interesse an seinem Winterwächter. Stipan hatte es am Ton des Schriftzugs erkannt. Die Warnung, die hinter den Worten steckte, jede einzelne Silbe einen unverwechselbaren Klang auf der Zunge erzeugte. Deutlich sah er die kalten Augen des Winterkönigs vor sich, als er den Brief verfasst hatte, mit welch Gleichgültig das Papier gefaltet und wie lustlos das Siegel eingebrannt worden war, ließen einen Kloß im Magen entstehen. Einen bitteren Beigeschmack hinterließen die kratzigen Linien auf dem Papier, die König Asparagos Schreibführung ausmachten. Der Herrscher des Winterreiches brauchte keine Wintermagie wirken, um ihm das Gefühl zu vermitteln, seinem mächtigen Stab nicht entrinnen zu können.
 

Kopfschüttelnd huschte Stipan durch den langen Flur des Winterpalastes. Er hatte einen Soldaten am Tor von seinem Bestreben, den König zu treffen, erzählt. Als einer der drei Winterwächter war es geradezu selbstverständlich, dass der Soldat dem nächsten Diener davon berichtete und für Stipan selbst stellte es schon gar keine Notwendigkeit dar, sich erklären zu müssen. Der Soldat hatte sich unverzüglich zum König zu begeben und die Botschaft zu übermitteln. Mit einem scharfen Blick war der Soldat abgetreten. Alles weitere war Schicksal.

Als schließlich einer der Hauswachen zurückgekehrt war und Stipan anwies, ihm zu folgen, drückte der schmächtige Winterling die Kapuze tief bis unter das Kinn.

Er wusste nicht, ob die Erlaubnis des Königs ein gutes Zeichen war oder er doch lieber eine Ausrede erfinden sollte, die ihn weit weg vom Palast und noch weiter weg vom König brachte. Erst der Gedanke, warum er die Strapazen überhaupt in Kauf genommen hatte, ließen ihn die Schultern straffen und mit möglichst erhabenen Schritten folgte er dem Soldaten. Jeder Schritt änderte seine Stimmung, ließ die Gefühle Berg für Berg erklimmen. Von Verunsicherung, Panik, Angst und Todesfurcht war alles dabei. Ebenso Selbstüberschätzung, Überzeugung und Überheblichkeit. Bei Hiemes' Licht! Er war ein Wächter. Eine der höchsten Instanzen überhaupt. Wenn er den König sehen wollte, dann empfing ihn der König!
 

Seine Augen waren auf den gläsernen Eisboden gerichtet. Stipan wusste, wohin in die Wache führte und sämtliches Selbstbewusst, das er sich die letzen fünf Minuten eingeredet hatte, war dahin. Was, wenn König Asparagos verkünden ließ, die Dienste des Wächters nicht länger in Anspruch nehmen zu wollen? Wenn er jemand anderen damit beauftragte, jemand Besseren, jemand, der die ihm zugedachte Stellung erhalten würde. Oder schlimmer, wenn er ihn ertappt hatte. Sein Missgeschick bemerkt und nun alles verloren wäre. Nein, nein. So leicht war der Wächter nicht in die Tiefen Mutter Erde zurückzubringen. Irgendwie würde er sich schon herauswinden können. So wie er sich immer herausgewunden hatte.

"Mutter Erde, steh' mir bei", krächzte Stipan in seine Kapuze, dass es nach außen wie das Kratzen von Stiefeln auf Eisblöcke klang. Die Wache schien jedenfalls nichts bemerkt zu haben. Lief stoisch vor dem Winterwächter, dass die Eislanze über den Boden schabte. Der Angstschweiß haftete so stark an Stipans Umhang, dass Nebelschwaden um den Winterwächter herum schwirrten. Hastig verscheuchte er den weißen Rauch, wedelte mit den Händen, dass ihm die Kapuze aus dem Gesicht fiel. Als der Soldat vor der Tür des Beratungsraumes stehen blieb, war auch Stipan mit seinem wilden Gefuchtel fertig. Die Arme unter dem Umhang versteckt, kehrte er in die Rolle des andächtigen Wächters zurück. Der Soldat, welcher der Wache an der Tür ein Zeichen gab, betrat den Raum, wobei er die Tür einen Spalt breit offen ließ und Stipan die Chance ergriff, einen flüchtigen Blick auf den Raum zu werfen. Der Schreibtisch des Königs war leer. Dafür sah der Wächter drei weiße Roben umher flattern, als auch schon die Tür ins Schloss fiel und Stipan regungslos vor deren Schwelle verharrte. Er wusste, die Tür würde sich augenblicklich wieder öffnen und sein Gefühl enttäuschte ihn nicht. Drei Weißroben schritten stoisch an Wächter Stipan vorbei. Die Berater des Königs hatte sich eingefunden. Der schmächtige Winterling schluckte schwer. Wenn König Asparagos seine engsten Berater zusammenrief, braute sich etwas Großes zusammen. Aber was? All die Vorkehrungen wegen eines Verräters? Selbst der Winterwächter bezweifelte, dass der Winterkönig seine gesamte Aufmerksamkeit einem einzelnen Winterling widmete.
 

Sobald die königlichen Berater verschwunden waren, war die Tür zum Beratungsraum weit aufgerissen worden. Der Wächter bedachte Stipan, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis ihm der König die Erlaubnis erteilte, einzutreten. Aber Stipan war nicht erpicht darauf, auch nur einen weiteren Schritt zu machen. Wenn nicht die Angst vor König Asparagos selbst wäre, dann wäre er sicher vor dessen General davongerannt. Zusammen mit dem König stand er am Fenster am Ende des Beratungsraumes. Die beiden Männer tauschten ein paar letzte Worte aus. Sie standen so dicht beieinander und flüsterten in einer Lautstärke, die selbst ein Lippenleser wie Stipan nicht verstehen konnte. Die dunklen Augen des Winterkönigs nahmen seine gesamte Erscheinung in Beschlag. Sein Gesicht war zur Seite gedreht, zeigte die unbeschadete Gesichtshälfte König Asparagos'. Wie jeder Winterling erschrak er ob der starken Ähnlichkeit zwischen König und Kronprinz. Der Winterkönig strotzte zweifelsohne von Erfahrung und Wissen, die dem jungen Thronerben gewiss noch fehlten, doch die Gesamterscheinung war identisch.

So wie sich der Winterkönig umdrehte und die Sicht auf die Narbe unterhalb seines Auges frei gab, sah Wächter Stipan lediglich die Grausamkeiten der königlichen Familien, die gewaltigen Kräfte, die weder Rücksicht noch Gnade kannten und eines Tages auch Prinz Tyledion treffen würden.
 

"Wächter", ertönte die kalte Stimme des Winterkönigs. Wächter Stipan zuckte merklich zusammenzucken, schrumpfte zu einem kleinen, kümmerlichen Klumpen Hilflosigkeit zusammen. Er hatte gar nicht bemerkt, wie General Galantius abgetreten war und nun mit festen Schritten auf den schmächtigen Winterling zulief. Sein Magen zog sich zusammen. Der General, so klein er im Vergleich zum König war, überragte Stipan um einen ganzen Kopf. Breite Schultern, ein kräftig gebauter Körper, ein langes kantiges Kinn und ein eindrucksvoller Blick, der sofort Respekt einforderte, sobald man ihm begegnete. Unter seiner Uniform verbarg sich ein durchtrainierter Körper, der mit den Jahren sicher so manche Makellosigkeit eingebüßt hatte, aber immer noch vor Lebensenergie strotzte. General Galantius war der ganze Stolz der königlichen Armee und Stipan würde seine Stellung nie in Frage stellen. Wie er sich dem Winterwächter näherte, malte sich der schmächtige Wicht so manches Szenario aus, welches den Winterwächter wohl augenblicklich erwarten sollte. Stipan hielt den Atem an. Mit einem grimmigen Nicken lief General Galantius an ihm vorbei. Ein lauter Knall und die Tür fiel ins Schloss. Ob es noch zu früh war durchzuatmen?

"Wächter", dröhnte erneut die Stimme des Königs durch den Raum. Leise knackte das Eis zu seinen Füßen, dass der Wächter einen Fuß vor den anderen stellte.

"J-ja, mein König." Stipan tat eine tiefe Verbeugung, verharrte solange in der Position, bis er den König ausatmen hörte. Vorsichtig bewegte er den Kopf nach oben, erhaschte einen Blick auf König Asparagos, dem es gleich war, ob sein Wächter für den Rest des Tages den Rücken krümmte oder genug Rückrad bewies und sich erhob. Der Winterwächter entschied sich für Ersteres, auch wenn ihm später seine Knochen strafen würden, so riskierte er keinen von König Asparagos' berüchtigten Blicken.

"Du hast um eine Audienz gebeten, Wächter", der König drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Gewiss konnte ihn der König aus der Spiegelung der Fensterscheibe beobachten, weshalb sich der Wächter nicht von der Stelle bewegte.

"Gewiss, Majestät", nickte Stipan eilig, setzte zu einem Lächeln an, das ihm auf halbem Wege entwischte.

"Dann kennst du den Namen des Verräters?"

"N-nun was den Namen betrifft, mein König. Ich tue mein Möglichstes um den Verräter zu entlarven. Bei Hiemes schwöre ich, dass ich nichts unversucht lasse, den Schuldigen zu finden. Ich habe bereits-"

"Also nein", fuhr ihm der Winterkönig ins Wort.

"I-ich brauche mehr Zeit, mein König", wisperte Stipan, "wie sich herausgestellt hat, geht derjenige mit äußerster Vorsicht vor. Wenn ich also noch etwas-"

"Du tauchst hier auf, ohne eine Spur, ohne die leiseste Ahnung, wer der Schuldige sein mag. Und nun flehst du mich an, dir mehr Zeit einzuräumen?"

"S-so so ist das nicht, mein König", versicherte Stipan und rieb sich die Hände, die ihm auf einmal blau anliefen, "es ist wahr, ich kenne den Namen des Winterlings noch nicht. Aber-"

"Aber?"

"Ich weiß wessen Zuneigung er für sich gewonnen hat."

"Er?"

"Ja, mein König", nickte Stipan nun etwas eifriger, "es muss einer der Winterburschen sein, da bin ich mir sicher."

"Und die Sommerblüte?"

"Du kannst dir nicht vorstellen, wie überrascht ich gewesen bin. Ich würde es selbst nicht glauben, wenn…" Der Winterwächter fiel sich selbst ins Wort, als ihn eine kalte Brise ins Gesicht schlug, "es ist Prinzessin Myoso, Majestät. König Gingkos älteste Tochter."

"Ich weiß, wer Prinzessin Myoso ist", entgegnete der Winterkönig schroff. Der Wind ließ nach, Wächter Stipan hatte nun die Aufmerksamkeit des Königs. "Und du bist dir sicher?"

"Sehr sicher, Majestät. Die Prinzessin verbirgt das Winterpresent geschickt unter ihren Gewändern. Es waren nur die Konturen erkennbar, doch es war eindeutig ein Anhänger, auf dem ein Eisschwur gesprochen wurde. Die Kette kann nur ein Bewohner aus dem Winterreich erschaffen haben."

"Wenn die Blüte die Tochter des Sommerkönigs ist, wird es die Zahl der Verdächtigen einschränken", entgegnete König Asparagos leise und drehte sich erstmals um. "Du sollst deine Zeit bekommen, Wächter."

"Danke, Maje-"

"Neun Tage", die Worte des Königs waren endgültig. "Bis zur Herbstlese präsentierst du mir den Schuldigen. Eine weiteren Zeitaufschub gewähre ich dir nicht."

"Zu freundlichst, mein König", der Winterwächter wackelte immerzu mit dem Kopf als wollte er ihm jeden Moment von seinem kleinen, viel zu kurzen Hals rutschen. Sein schmieriges Lächeln täuschte nicht über die Schweißperlen auf seiner Stirn hinweg. "Ich danke dir, mein König. Ich werde dich nicht enttäuschen." Der König winkte träge. Gerade wollte sich der Wächter umdrehen, die Tür schien so verlockend, dass er nur den Arm ausstrecken musste.

"Oh, und Wächter?" Die stählerne Stimme schien so erschreckend nahe. Dabei war der Winterkönig lediglich an den Schreibtisch getreten, die Fingerspitzen berührten das Stück Papier, das sorgfältig neben einer einfachen Schreibfeder platziert war. "Wenn du glaubst, ich wüsste nicht, was du getrieben hast…"

Wie vom Blitz getroffen, hielt Stipan in seiner Bewegung inne.

"Ich weiß, wer die Schatten befehligte, Wächter, und ich werde es nicht vergessen."

Der schmächtige Wicht wagte es nicht, einen Blick auf König Asparagos' Gesichts zu werfen. Dafür vernebelte der Schweiß, der als Raureif auf seine Augen glitt, die Sicht auf den König. Und der König selbst durfte nicht sehen, wie nahe der Wächter einer Ohnmacht stand. "I-ich versichere dir, mein König, es war nie meine Absicht-"

"Schweig!", die Stimme des Königs war trocken, aber gerade der Ton schnürte Stipan die Kehle zu. Trockeneis war selbst für einfache Winterlinge pures Gift.

"Halte mich nicht für dumm, Wächter", fuhr König Asparagos fort, "wäre ich davon überzeugt, der Unfall sei mutwillig passiert, wärst du überall nur nicht hier. Vorerst belasse ich es bei einer Warnung. Ich werde dem General nichts von deiner missglückten Arbeit erzählen. Solange dein Auftrag besteht, braucht niemand etwas darüber zu erfahren. Doch sei gewarnt, Wächter", er griff nach dem Papier. Das Rascheln drang als Echo zu Stipan vor, der seinen halb geöffneten Mund nicht schließen konnte. Seine schlotternden Knie übertönten beinahe die Stimme des Königs: "Sollten der General oder mein Sohn den Schuldigen für den Unfall auf dem Übungsplatz finden, werde ich dir gewiss keinen Schutz gewähren. Wer seine Schattenmagie nicht unter Kontrolle bringen kann, sollte wohl besser ausgelöscht werden." Die letzten Worte waren eine reine Feststellung und Stipan sah sich schon vor dem höchsten Wintergericht stehen. Es war doch nie seine Absicht gewesen, einem Wiesenkind des Winters zu schaden! Sein Plan hatte sich so gut angehört. Zunächst beauftragte er die Schatten, den Wiesenkindern auf die Klatschmohnfeldern zu folgen. Sobald sich die Wesen an die Kleinsten gehaftet hätten, würde ihm schon einer seiner Schatten die benötigte Information liefern. Wie hätte er denn ahnen können, dass die Wiesenkinder von Sommer und Winter ihre Plätze getauscht hatten und dass ausgerechnet an jenem Tag die jüngste Tochter des Generals zugegen sein würde. Dem Winterkönig könnte er seine Unschuld beteuern. Nur würde ihm König Asparagos nicht zuhören. Schweigen war das einzige, womit er seinen Herrscher besänftigen konnte.

"Noch ein Fehler und selbst dein Ruf als Winterwächter wird dir nichts mehr nützen. Habe ich mich klar ausgedrückt?"

"Natürlich, Majestät."

"Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen", sagte der König nach einer alles erdrückenden Pause, "und jetzt geh!"

Ohne den Blick vom Boden abzuwenden verließ Wächter Stipan den Beratungsraum. Leise fiel die Tür ins Schloss und endlich - endlich! - war der Winterkönig allein. Seine Augen überflogen noch einmal das Schreiben, dann knickte er die Seiten zweimal zusammen und schritt selbst aus dem Raum. Den schweren marineblauen Pelzmantel ließ er auf der Stuhllehne, ebenso den Winterstab, den er mit einem Wink seiner freien Hand verschwinden ließ.

Die Sommerprinzessin also. Asparagos ließ sich die Tür des Beratungsraumes öffnen. Wenn es stimmte, was der Wächter sagte, kämen nicht viele Winterlinge in Frage. Gewiss war die Sommerprinzessin beliebt und auch die Nachbarreiche - ausgenommen das Winterreich - pflegten ein hohes Maß an Zuneigung für die junge Sommerblüte. Doch selbst eine Prinzessin wie sie hatte nur einen begrenzten Spielraum an Freiheiten. König Gingko war gutherzig, aber kein Narr. Seine älteste Tochter irgendwo unbeaufsichtigt zu lassen, käme selbst für einen Herrscher wie ihn nicht in Frage. Blieben also der Sommerpalast und das neutrale Gebiet, in denen die Prinzessin einer Liebelei mit einem seiner Burschen nachgehen könnte. Sein Schritt beschleunigte sich. Die Diener und Soldaten ignorierte der König allesamt. Ebenso die Kammerdiener und Musikanten, die flink die Beine in die Hand nahmen, ihrem König Platz machten und sich so tief verbeugten, dass ihr Atem den Boden berührte. Die Stirn in Furchen geschlagen durchquerte Asparagos den langen Flur. Aus Furcht, ihren Herrscher verärgert zu haben, blieben die Diener in dieser ungemütlichen Haltung, bis König Asparagos im nächsten Flügel verschwunden war. Niemand ahnte den wahren Zorn hinter Asparagos' Blick. Dass er bereits die Liste an potentiellen Verrätern durchging. Jene, die sich erdreisten könnten, den König und das gesamte Wintervolk zu beleidigen. Nur jemand in hoher Position wäre dazu in der Lage. Denjenigen unter den damaligen Gästen der Sommersonnenwende zu finden war sehr wahrscheinlich, dennoch schloss Asparagos nicht aus, dass der Winterling sich einfach hinaus geschlichen haben könnte. Die Grenzen wurden zurzeit nicht überwacht und vielleicht hatte der Bursche die Gelegenheit genutzt, unbemerkt durch das Sommerreich zu spazieren. Eine Tatsache, die er womöglich ändern sollte. Andererseits brauchte er seine Soldaten für wichtigere Belange als einen blauäugigen Jüngling von seiner Geliebten fernzuhalten. Asparagos ballte die Hände zur Faust. Was war schlimmer? Dass er womöglich einen getreuen Diener des Winterreiches verlor? Oder den derzeitigen Umständen sogar noch dankbar sein müsste? Beide Möglichkeiten widerten ihn zutiefst an.
 

"Mein König", sagte die Wache, dass Asparagos den Blick auf die Tür warf, auf die er geradewegs zulief. Mit einem Wink befahl er dem Soldaten abzutreten. Ohne den König in die Augen zu sehen, nickte er diesem zu und marschierte zu seiner Ablöse. Der Winterkönig öffnete selbst die Tür zu den königlichen Gemächern. Er durchquerte den Vorraum, schwenkte den freien Arm, dass frische Flocken auf die Schneedecke fielen und das weiße Gold zu seinen Füßen dankend die Knöchel des Königs umarmte. Mit einem Schwung betrat er den großen Raum und fand den Lebensbaum verlassen vor. Seichtes Licht umhüllte die vielen kleinen Knospen. Asparagos bemerkte, wie ein paar aufgeregt zu zappeln begannen; wohl merkend, dass ein Nahestehender Hiemes' zugegen war. Kurz betrachtete er die Erben des Winters, die kleinsten Untertanen seines Reiches, denen es dank der Aufopferung Königin Cyclas an nichts fehlte. In den letzten beiden Jahren war die Geburtenrate leicht angestiegen. Ein schwaches Licht der Hoffnung im Vergleich zu den Jahrzehnten der müßigen Ernte. Er rieb sich über die faltige Stelle zwischen den Augenbrauen und steuerte die letzte Schiebetür an. Eine bekannte Melodie umfing das Schlafgemach des Königspaares. Die Spieluhr der Königin, ein hölzernes Schmuckkästchen, in deren Deckel ein verborgener Mechanismus steckte, lag auf dem Frisiertisch - eines von Asparagos' Errungenschaften während seiner ersten Ausflüge nach Menschenerde. Vor dem Tisch saß Königin Cycla in einem durchscheinenden Morgenmantel und kämmte ihr feines, langes Haar, das ihr bis zum Boden gereichte. Vor der Schiebetür stehend betrachtete Asparagos seine Gemahlin, wie sie mit den spitzen Zacken Strähne für Strähne bearbeitete.

"Du bist früh", sagte die Königin. Durch den Spiegel blickte sie zu dem König, der die Tür zurückgeschoben hatte.

"Dasselbe wollte ich gerade von dir sagen", erwiderte der König, dass es Cycla ein Lächeln entlockte. Asparagos pflegte gern eine Frage (selbst wenn sie nur angedeutet wurde) mit einer Gegenfrage zu erwidern. Ein unmissverständliches Zeichen, dass er nicht darüber reden wollte. Doch die Königin würde sich nicht aufdrängen. Stattdessen kämmte sie weiterhin ihr Haar, wobei sie den Spitzen besonders viel Aufmerksamkeit schenkte. "Der Lebensbaum ist mit genug Wintermagie gefüllt und ich brauchte ein paar Minuten für mich." Die fertig gekämmten Strähnen warf Cycla galant nach hinten. Aus dem Augenwinkel musterte sie den Winterkönig, der seine Krone abgenommen hatte und auf den Frisiertisch ablegte. Seine Bewegungen waren fließend. Wie er die Abzeichen von seiner Uniformjacke abzog, die Manschettenknöpfe vom Ärmel entfernte, kamen der Königin unweigerlich die Bilder der Krönung in den Sinn und der Gedanke an ihren Sohn trübte ihre Stimmung. Cycla legte den Kamm in das Kästchen und schloss den Deckel. Abrupt endete die Melodie, spielte nicht die letzten entzückenden Takte - das Herzstück der Spieluhr. "Hast du mit unserem Sohn gesprochen?" Ihre Stimme verriet nicht die Unruhe, nicht das Brodeln in ihrem Innersten.

"In den letzten Wochen? Nein.", antwortete dicht hinter ihr Asparagos.

"Er ist sehr darauf erpicht, den Übeltäter zu fassen."

"Dich überrascht Tyledions Verhalten?", Asparagos war keineswegs überrascht.

"Ich finde, er bürdet sich zu viel Verantwortung auf", erwiderte Cycla und begann ihr Haar zu einem langen üppigen Zopf zu flechten, "erst übernimmt er die Leitung der Winterprüfung, dann trainiert er pausenlos in seinem Zimmer oder bringt die Tage in der Bibliothek zu. Und jetzt hilft er dem General auch noch bei der Suche nach dem Schattenmagier."

"Tyledion tut das, was einen künftigen Herrscher ausmacht." Doch die Antwort genügte Cycla nicht. Sie kräuselte die Lippen.

"Er leistet mehr als seine Stellung von ihm verlangt. Er wird noch früh genug in die Aufgaben eines Königs eingeführt", sie schüttelte den Kopf. Den Blick zurück in den Spiegel gewandt, bot sie Asparagos' Seelenspiegeln Paroli. "Asparagos", ihre Augen sahen unverwandt in das tiefe Blau ihres Ehegatten, "erinnerst du dich an das Versprechen, das du mir zu unserer Verlobung gabst?"

"Wie könnte ich das vergessen, meine Königin", entgegnete der Winterkönig sanft, wenn auch etwas Kühles in seinen Worten mitschwang. Er trat neben seine Gemahlin, kniete sich hin, dass er mit der Königin auf Augenhöhe war. Sanft umfasste er ihr Kinn, drehte es so, dass sie einander in die Augen blickten. "Mein Versprechen, fuhr er fort, "habe ich stets gehalten", sein Griff wurde eine Spur fester, wenn er der Königin auch keine Schmerzen zufügte, "doch wenn Tyledion seinen Anspruch auf den Thron geltend machen will, so bedenke, dass es nicht in meinem Ermessen liegt, ihn aufzuhalten. Ebensowenig du, meine liebe Gemahlin." Die Winterkönigin rümpfte die Nase. Sie war sich der Traditionen der königlichen Winterfamile wohl bewusst und es ärgerte sie, dass sie auf diese Weise um ihr Versprechen betrogen wurde - wenn auch nur zu Teilen. Cycla wandte sich von Asparagos ab. Dieser sah über ihren drohenden Zornesausbruch hinweg. Stattdessen legte er das Schreiben auf den Frisiertisch.

"Was ist das?", Königin Cycla klang noch immer gereizt, "eine Einladung zur Herbstlese?" Die Königin konnte nicht anders als ihre Augen auf das Papier zu richten. Ihr Ärger wich ehrlicher Verwunderung. Nicht dass der Herbstkönig dem Beispiel König Gingkos folgte. Viel mehr verblüffte sie, dass ihr Gatte überhaupt über das Thema reden wollte. Sie hatte schon mit einem weiteren wütenden Schnauben seitens des Königs gerechnet, doch Asparagos blieb erstaunlich ruhig.

"Du wirst seine Einladung annehmen?", rief sie aus, obwohl dieser Frage keiner Antwort bedurfte.

"Ich habe nicht vor, seine Einladung abzuschlagen."

"Das war keine Zusage", durchschaute Cycla ihren Gatten. Sie wusste schon, von wem Tyledion diese Eigenschaft geerbt hatte. Asparagos erhob sich. "Ich kann nicht weg."

"Ich weiß", hauchte sie.

"Aber in meinem Namen werden du und Tyledion erscheinen. Ich werde dem jungen Herbstkönig persönlich antworten. Ich werde eine Liste an Begleitern zusammenstellen. Meinetwegen kann es so aussehen als würde Tyledion sich wieder dieser Aufgaben annehmen."

"Warum?"

"Es ist besser so", war die knappe Antwort des Königs.

"Du verschweigst etwas." Wieder waren Cyclas Worte eine reine Tatsache, auf die der König keine Antwort gab. "Gehört das auch zu deinem Plan?" Sie nahm das Schreiben an sich. Noch immer schien Asparagos nicht willig, ihr zu antworten. "Wenn du unseren Sohn mit hineinziehst-"

"Unser Sohn", unterbrach er sie, "ist darin involviert, seit sein Schicksal unter dem Lebensbaum besiegelt wurde. Er hat keine andere Wahl als sein Erbe zu akzeptieren."



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