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Düster das Herz

von

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Nehemia I

Die Straße war leer. Kein Auto fuhr an mir vorbei, während ich an den Häuserzeilen entlang eilte. Mir war es recht, ich konnte fremde Menschen nicht ertragen. Nicht, wenn ich in der Stimmung war wie im Augenblick. Gefährlich. Mörderisch. Todbringend böse, wie meine Mutter es nannte.

Eine Ratte flitzte hinter mir vorbei, ich kannte die Geräusche, die sie verursachten. Widerliche Tiere, irgendwann würde ich sie alle umbringen. Wenn ich je Zeit dazu fand.

Der Mond schien nicht, es lag nicht an den Regenwolken, die bald die Stadt fluten konnten. Neumond. Es ging auch ohne Licht.

Auf dem Boden lagen Papiere herum, Reste von Zeitschriften, leere Tüten und Zigarettenstummel. Irgendwann ertrank die Stadt in ihrem eigenen Dreck. Sollte sie doch, bis dahin war ich längst weg von hier.

Ein Blitz zuckte über den Himmel. Donnergrummeln. Es sollte erst regnen, wenn ich nicht mehr im Freien lief. Regen und Blut hinterließen beide Flecken, aber das eine verging, das andere blieb.

Ich packte das Taschenmesser fester. Hoffentlich lief mir bald ein Mensch über den Weg.

Nehemia II

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Nehemia III

Sie stand vor mir, ihre Augen funkelten wütend. Der böse Blick. Er traf mich und doch ging er durch mich hindurch. Ich hasste ihre Augen, sie waren so kalt und unmenschlich.

Meine waren schöner, doch nicht wärmer. Genetisch bedingt, das musste ich mir oft anhören.

„Wo warst du?“ Sie zischte wie eine Schlange, die mich fressen wollte. Doch sie tat es nicht, sie wusste, dass ich mich schützen kann. Das Messer konnte alles. „Du bist ein unnützer Sohn.“

Und sie eine unnütze Mutter, aber das musste ich ihr nicht sagen, das war bekannt.

Sie konnte mich nicht hindern, nachts herumzuschleichen, sie war unfähig. Sie konnte mir kein sorgenfreies Leben ermöglichen, sie war unfähig.

Sie konnte sich nicht einmal um ihr eigenes Leben kümmern. Der nächste fremde Mann stand schon vor der Tür und bat um Einlass, ich wusste es.

„Verschwinde, ich brauch dich nicht.“ Sie schrie herum, wurde immer lauter und schwieg plötzlich. Drehte sich um und ging in die Küche, durch die Tür sah ich zerbrochene Teller und leere Flaschen.

Sie konnte nicht einmal Ordnung halten.

Unerwartet fing sie an zu lachen, bis sie weinte. Das Zeichen für mich, ins Bett zu gehen.

Nehemia IV

Das Zimmer war im Verhältnis zum Rest der Wohnung erstaunlich groß. Es passten mein Bett, die Kleiderkiste, ein wackeliger Schreibtisch, zwei kleine Regale und ein Teppich hinein. Theoretisch noch ein Fernseher, aber dafür fehlte das Geld. Und mein Interesse daran hielt sich stark in Grenzen. Um grauenvolle Bilder zu sehen, musste ich nur die Augen schließen.

Mein einziger Kontakt zur Außenwelt beschränkte sich auf einen klapprigen Computer. Hauptsächlich selbst zusammengeklaut, ich hatte kein Geld. Ich benutze ihn nur selten.

Alles in diesem Raum sah alt aus, abgewetzt und irgendwie brüchig. An ein paar Ecken löste sich die blaue Tapete. Im Vorhang hingen Staub und Flusen. Den Teppich zierten Brandmerken von Streichhölzern. Auf der Bettwäsche klebten Kuchenkrümel und Haferflocken, unter dem Schreibtisch schwammen Wasserpfützen.

In den Regalen standen zerschmolzene Kerzen, gesprungene Glaskugeln, lose Blätter von Zeitschriften verdeckten teilweise das Chaos.

Als ob ich aufräumte. Ich fand mich hier gut zurecht; und meine Mutter war es sowieso egal, wie es hier aussah. Sie kam nie herein, selbst zum Streiten holte sie mich in die Küche. Aber sie war sowieso unfähig.

Ich setzte mich auf das Bett, holte das Taschenmesser hervor. Mädchenblut an der Klinge. Eingehend betrachtete ich es. Ich streckte meinen Arm aus. Narben und Bissspuren.

Zeit für ein Ritual.

Nehemia V

Stadt im Nebel, dunkel und abweisend

Niesel durchnässt die Schatten

Pfützen mit altem Regenwasser

Ich verachte diesen Stadtteil

Mit seinen toten Gassen

Und lichtscheuen Bewohnern
 

Wind zerrt an meinen Ärmeln

Haare wie nasses Stroh, Haut wie ein Toter

Ein Knie schmerzt, ich bin gestürzt

Auf der Suche nach einem Mädchen

Mit einem weißen Kleid
 

Ich finde sie auf der Bank sitzend

Das weiße Kleid fehlt

Ihr helles Gesicht befriedigt mich

Ich versuche ein Lächeln

Unterkühlt und starr, wie so oft

Der Engel übersieht mich

Das indirekte Todesurteil

Irgendwann stirbt jeder
 

Die Eisenschlinge um ihren Hals

Enger und enger

Sie zappelt und windet sich

Blut soll über meine Hände fließen

Aber ich will Neues kennen lernen

Wie man den Tod heraufbeschwört
 

Nur ein toter Engel ist gut

Ein richtiger Engel ist sie jedoch nicht

Nur ein lebloses Mädchen im nassen Gras

Deren Leben ich mit Freuden genommen habe

Nehemia VI

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Nehemia VII

Bittend stand er vor mir, die Hände auf meine Unterarme gelegt. Den Blick auf meinen Mund gerichtet. Natürlich wusste ich, was er wollte. Jede Woche kam er deshalb zu mir und bettelte. Warf sich mir fast zu Füßen. Er hatte gelernt, dass ich als einziger auf seinen Wunsch einging.

„Beiß mich, bitte, beiß mich.“ Er drückte sein Gesicht gegen meinen Oberkörper; hastig schob ich ihn von mir. Seine Berührungen waren mir unangenehm. Seinen Biss bekam er auf jeden Fall, aber nicht hier. Nicht auf dem Schulhof.

Ich zerrte ihn davon; weg von den anderen Schülern, hin zu den Toiletten.

Er war jünger, kleiner als ich. Dünn, aber nicht zerbrechlich. Und verdammt abhängig von mir und meinen Zähnen.

An den zerschmetterten Waschbecken mit den gesprungenen Spiegeln und dem durchweichten Papiertüchern stand niemand. Seine Hand umfasste zögernd meine, der Atem ging schneller. Ich nannte ihn für mich Jones, seinen richtigen Namen kannte ich nicht.

„Bitte, mach schnell.“ Flehend sank er fast auf die Knie, wenn ich ihn nicht festgehalten hätte. Ich strich seine Haare zur Seite. Legte seinen Hals frei. Vergrub meine Zähne in seinem Fleisch. Tiefer und tiefer.

Schreie. Tränen. Und trotzdem brauchte er es, bis er schluchzend in meinen Armen lag. Mitleidlos betrachtete ich ihn. Was ein Versager.

Nehemia VIII

Sie band Schnüre um meine Handgelenke, bevor ich das Messer ziehen konnte. Ich saß in der Falle. Ihr ausgeliefert. Sie packte mich an den Haaren und zog mich mit sich.

Aus dem Wohnzimmer, wo ich aus dem Fenster gesehen hatte, in die Küche.

Die Kante des Tisches war hat und drückte gegen meine Rippen; ich hatte keine Angst. Mir war klar, was nun kam, es hätte schon längst passieren müssen.

Ihre Kapseln und Säfte hatten wohl noch einen Teil, in dem sonst Muttergefühle saßen, zerstört. Aber sie zählte für mich nur als Mitbewohnerin.

Eine, die mir die Hose hinunterzog und ihre Finger in mein Loch gleiten ließ.

„Du bist und bleibst eine Hure.“

Sie schlug mich dafür. Der Schmerz kam nicht an. Dafür spürte ich, wie ihre Finger mich dehnten, doch der Effekt blieb aus. Es erregte mich nicht, es ekelte mich eher.

Was fand sie so gut daran, mich zu einer analen Stimulation zu zwingen? War sie überhaupt noch zu retten?

Vielleicht wollte sie damit zeigen, dass sie doch etwas konnte, kein absolut unfähiger Mensch war.

Nur leider versagte ihr Talent, das bei ihr selbst immer funktionierte, bei mir mal wieder. Nichts an ihr machte mich geil.

Sie war und blieb unfähig.

Nehemia IX

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Nehemia X

Dieses Mal will ich anders vorgehen. Kein Messer, obwohl ich nur mit ihm stark bin. Keine Schlinge, sie ist langweilig. Irgendeine andere Methode muss her, um den Engel zu finden. Und ihn dann abkratzen zu lassen.

Neben mir läuft eine Gruppe Mädchen. Alles Schlampen, das sieht man ihnen an. Später werden sie sicher genau solche Huren wie meine Mutter. Nein, da ist kein Engel dabei. Auch keiner, der gar keiner ist.

Ich spiele mit dem Messer in meiner Hosentasche. Ich sollte das besser nicht tun, das letzte Mal habe ich mir alle Finger aufgeritzt. Aber ich kann nicht aufhören.

Diese Mädchen stören mich. Wenn ich den Engel habe, mach ich sie alle kalt. Einfach, weil es besser für die Welt ist.

Der Wind ist zu kalt, er dringt unter meine Kleidung. Bald wird es regnen und ich werde wieder nass. Bis dahin will ich fertig sein.

Ich könnte ein Mädchen in einen See stoßen, vielleicht ertrinkt sie dann. Ja, das werde ich ausprobieren. Und zur Not habe ich mein Messer. Einsetzbar ist es immer.

Auch hier auf dem Schulhof.

Nehemia XI

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Nehemia XII

Meine Jacke hat sich mit Blut vollgesaugt, an meinen Fingern, Handgelenken und Wangen klebt es. Es ist noch dunkler als zuvor, die Lichtquellen sind verschwunden. Ihre Besitzerinnen alle tot und verkrampft in ihren eigenen Blutlachen, in und um die Ruine verteilt. Eine habe ich die Treppe des Turms hochgejagt und sie in ihrer Angst von dort hinunterspringen lassen, aber es hat mir nicht zugesagt. Am liebsten setze ich weiterhin das Messer ein. Das Drahtseil ist unbenutzt geblieben.

Ich setze mich auf einen Stein und betrachte mein Werk. So viele Scheinegel habe ich aufgeschlitzt, ich könnte stolz sein. Bin es aber nicht, es sind nur aufgegeilte Schlampen gewesen. Kein Engel unter ihnen.

Der scheiß Engel wird sowieso nie erscheinen. Trotzdem werde ich nach ihm suchen.

Was mache ich mit den Leichen? Für sie habe ich keine Verwendung. Nekrophilie ist nicht mein Gebiet, das überlasse ich anderen.

Meine Aufmerksamkeit legt sich auf ein Mädchen links von mir. Mit offenen Augen liegt sie auf dem Rücken, ihre Haare mit Kieseln und Unkraut vermischt, starrt zu den Sternen hinauf und sieht trotzdem nichts. Das schafft nur der Tod.

Ich ziehe ihr die Jacke und das T-Shirt darunter aus, ritze ihr sinnlose Symbole in Bauch und Hals. Vielleicht verdächtigt man dann die Möchtegern Satanisten, eine Stufe über mir. Es wäre mir sehr recht. Dann kämen sie nicht auf mich, die Polizei und selbsternannten Detektive.

So verfahre ich auch mit einigen anderen, sie alle werden entkleidet und verunstaltet. Mit Blut male ich noch wahllos Buchstaben an die Außenmauer der Ruine. Der Schein soll gewahrt werden. Wollte ich perfekt sein, müsste ich sie noch vergewaltigen.

Nicht in diesem Jahrtausend, sie sind schließlich nicht einmal mehr lebendig.

Weit nach Mitternacht stolpere ich den Weg vom Schloss zur Stadt hinunter, kein Bus fährt mehr. Und selbst wenn, meine befleckte Kleidung fällt auf. Das ist mir bewusst. Hoffentlich sind die Straßen leer wie immer.

Auf dem Weg hinab beginne ich zu summen, um mich abzulenken, die Strecke ist so lang und trostlos. Oft knicke ich fast um und lande auf dem Boden, doch stehe immer wieder auf.

Ich will in mein Bett und schlafen.

Nehemia XIII

Die Uhr an der Wand zeigte fast vier, als ich die Wohnung betrat. Die Welt sollte schlafen, meine Mutter war wach. Mit einem knappen Kleid bekleidet stand sie in der Küche an der Spüle, trank etwas, was wohl Tee sein sollte, und kümmerte sich nicht, dass ich seit Stunden fehlte. Achtete man nicht darauf, dass der minderjährige Sohn in der Nacht nach Hause kam?

„Wo warst du wieder?“ Gleichgültigkeit schwang in ihrer Stimme mit. „Wehe, du machst den Teppich dreckig, dann putz du ihn mit deiner Zahnbürste sauber.“ Ihre eingefrorenen Augen richteten sich auf meine Brust. „Fühlst du dich wieder stark, indem du Mädchen umbringst?“

„Du hast keine Ahnung.“ Ich wollte schlafen, nicht mit ihr über meine nächtlichen Aktivitäten reden. Mal wusste sie, was ich tat, dann hatte sie keinen blassen Schimmer, was ich trieb. Mal regte sie sich über meine Abwesenheit auf, mal juckte sie es kein Stück. Nie hatte sie eine dauerhafte Meinung. Das spiegelte sich in ihren Kerlen wider. Heute hatte keiner auf der Couch gelegen.

„Wirf die Sachen weg. Und lass dich nicht erwischen, falls man dich gesehen hat. Für dich werde ich nicht lügen.“ Sie strich sich eine Strähne, die ihr über die Wange gefallen war. „Eine Plage weniger auf der Welt.“

Oder eher ein männliches Wesen weniger auf der Welt, mit dem sie ins Bett wollte. Ich merkte doch, wie sie mich ansah. Wenn ihre Tabletten sie gerade nicht dazu brachten, mich abgrundtief zu hassen. Oder nur zu verabscheuen. Ihre Gefühle zu mir blieben ein Rätsel.

„Ich will mit dir schlafen“, warf sie mir unvermittelt an den Kopf, während sie an mich heran trat. Ihre Hände fassten nach meinem Arm. Ich schubste sie grob von mir weg, sodass sie gegen einen Stuhl knallte.

„Ich aber nicht.“ Damit beendete ich die nächtliche Konversation mit dieser Hure in Muttergestalt. Ich wollte schlafen, ja. Aber niemals mit ihr.

Nehemia XIV

Sie hatte es wieder geschafft, mich abzufangen. Mich zu fesseln und am Tisch festzubinden. Ließ sie mich nicht einmal direkt nach der Schule in Frieden? Lebte sie eigentlich wirklich nur für ihre kranke Sexualität? Mir kam es so vor.

Einer ihrer Typen stand im Türrahmen, sah ihr dabei zu. Grinste mich hämisch an. Noch so ein perverser Dreckskerl, wo fand sie die bloß immer?

Er war jünger als sie, höchstens zehn Jahre älter als ich. Sollte man da nicht solidarisch handeln und mir helfen, statt sich an meinem Leid aufzugeilen?

Wusste er überhaupt, dass sie meine Mutter war?

Gereizt bewegte ich meine Arme. Der Erfolg blieb aus, sie lachte mich aus, er trat auf mich zu und schlug mir ins Gesicht. Lachte schließlich mit.

Mein Messer wäre in seiner Bauchdecke sehr gut aufgehoben.

„Willst du oder soll ich?“ Ihre Stimme klang schrill und überdreht, irgendetwas hatte sie konsumiert. Dumme Schlange, selbst er war wichtiger für sie als ich.

Was ich natürlich gewusst hatte, so war es nicht. Jede Küchenschabe stand über mir.

„Nein, ich steh nicht so auf Kerle.“ Schmerz durchzuckte mich, als er in meine Seite kniff. Ich ließ mir nichts von meinem Unbehagen anmerken. So weit kam es nicht.

Nicht vor diesen beiden.

Nehemia XV

Manche Mädchen sind schön

Viele sind hässlich

Man muss tief graben

Unter der Oberfläche fließt in allen

Weiblichkeit und Blut
 

Das weiße Kleid ist nicht wichtig

Es dient zur Zierde

Verhüllt nicht viel und doch genug

Um seinen Zweck zu erfüllen
 

Ein Park bei Nacht

Sie schaukelt dort leise

Aus dem Strauch heraus

Beobachte ich sie eingehend

Ja, sie ist in Ordnung,

Obwohl ich nicht ihr Gesicht sehe
 

Die Schlinge darf heute arbeiten

Das Messer schläft friedlich

Soll erst wieder beim nächsten Mal wirken

Wieso ist bloß der Mond heute so schmal?
 

Sie steigt herab, will davon gehen

Das lasse ich nicht zu

Stoße sie von hinten um

Reiße sie ins feuchte Gras

Grün auf weiß, nicht mein Geschmack
 

Die Schlinge zieht sich stärker zu

Drückt ihr die Luft ab

Ich fange doch an zu zweifeln

Und steche ihr doch vorsorglich ins Herz

Seinen Zwängen entkommt man nicht
 

Niemals mehr

Nehemia XVI

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Nehemia XVII

„Du kannst hier nicht sein.“ Noch nie war jemand mit zu mir gekommen. Weder freiwillig noch gezwungenermaßen. Niemand sollte diese Bruchbude, in der wir hausten, als unser Heim kennen. Vor allem nicht er, Jones. Ihn ging mein Leben absolut nichts an. „Geh wieder.“

„Bitte, du kannst mich nicht einfach wegschicken.“ Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit, bittend streckte er die Hände nach mir aus. Ich ignorierte sie, schob ihn von mir weg. Natürlich konnte ich es, ich war ein freier Mensch. Mehr oder weniger, eigentlich eher gar nicht, aber das tat nichts zur Sache.

„Mein Vater hat mich rausgeschmissen, er will mich heute Abend nicht mehr sehen. Wo soll ich denn hin?“ Gleich fing er an zu weinen, so wie er aussah. Was ein schwaches Etwas, wie überstand er meine Bisse, ohne zu sterben? „Ich hab keine Freunde außer dir.“

„Wir sind nicht befreundet.“ Ich hatte keine Freunde, so etwas gab es in meinem Leben nicht, und ich legte auch keinen Wert auf solche scheinheiligen menschlichen Beziehungen. Das war eher etwas für solche armen Wesen wie Jones, der sich permanent nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnte. Da bekam ich höchstens das Kotzen.

„Oh.“ Wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hätte ihn kaum mehr treffen können. Das Leben ist hart, genau wie die Wahrheit. Trotzdem fing er sich relativ schnell wieder, wollte nicht vor mir in Tränen ausbrechen und sich blamieren. „Dann nicht. Kannst du mich nicht trotzdem aufnehmen? Nur heute Nacht. Ich schlaf auch auf dem Fußboden, aber lass mich hier nicht alleine stehen.“ Wie sich seine Augen mit Angst füllten. Er drängte sich wieder nahe an mich, klammerte sich fest. Mir wurde ganz schlecht dabei, ich ertrug das nicht lange.

„Unsere Wohnung ist ein Rattenloch. Meine Mutter ist wahnsinnig und fickt mit allem, was sich nicht wehren kann. Du willst ganz sicher nicht zu mir mit.“ Wenn sie ihn sah, würde sie sich vielleicht auch an ihm vergreifen, und ehrlich gesagt ersparte ich ihm lieber diese Erfahrung. Nicht weil ich sonst ein schlechtes Gewissen bekam. Zum Schluss sprach sich rum, wie wir lebten und das Jugendamt erschien.

Dann lieber eine herzlose, sexversessene Mutter in einer völlig heruntergekommenen Wohnung. Gegen die konnte ich mich durchsetzen, wenn man mich nicht vorher überwältigte und festband.

Seine Miene spiegelte Überraschung, Furcht und sogar eine makabere Faszination wider. Den bekam ich nicht los, das sah ich ihm an. Der schlich sich auch ohne Erlaubnis zu uns hinein.

„Dann komm mit.“ Dann sollte er halt das Grauen selbst erleben. Ich hatte ihn gewarnt, mich traf keine Schuld.

Sie war zuhause, mit irgendwem in der Küche am Diskutieren. Sicher mit ihrem Neuen, der nicht alle ihrer Abarten mitmachen wollte. Die Tür hatten sie geschlossen, wir konnten ungesehen hineinschlüpfen. Durch das Wohnzimmer in meinen Raum, begleitet von Tablettenschachteln, schmutziger Wäsche, zerbrochene Teller mit Essensresten vor dem Sofa und ein zerbröckelter Lippenstift. Als ob hier jemand Ordnung hielt.

Eigentlich hätte ich heute noch einmal Jagd auf Engel gemacht, aber nicht mit Jones. Er kannte meine Beschäftigung nicht; im schlimmsten Fall zeigte er mich an und man würde mir die einzige Freude im Leben nehmen.

„Du tust mir leid“, brach es unerwartet aus ihm heraus, als wir mitten im Zimmer standen. „Ich dachte, bei uns wäre es schlimm, aber bei dir…“ Seine Stimme brach weg, er wirkte schockiert und beschämt. Nervös fummelten seine Hände an seinem Reißverschluss der grünen Jacke herum.

„Man gewöhnt sich an alles.“ An Schmutz, Schläge, Verachtung, sogar den Missbrauch durch sie nahm ich hin. Was blieb mir auch übrig, es lief sowieso alles aufs Gleiche hinaus im Leben. Wenn man mich hier nicht quälte, dann vielleicht dort, wo ich stattdessen hinkam. Grausamkeit kannte kein Grenzen.

„Und was wirst du jetzt noch machen?“ Er fing sich wieder. Schaute sich neugierig um, hob ein Buch vom Boden auf. Die Hälfte der Seiten fehlte, ich hatte sie aus Langweile herausgerissen.

„Nichts.“ Dank ihm. Seinetwegen durfte ein Mädchen einen Tag länger über die Erde laufen. Ich zog Jacke und Schuhe, die bald nur noch Fetzen sein würden, aus, warf sie neben das Bett und legte mich hin. Es war erst zehn, keine Zeit zum Schlafen, nur zum Nachdenken.

„Wo soll ich hin?“ Er stand verloren in der Mitte. Suchte nach Möglichkeiten; einer zweiten Decke, ein paar Kissen. Nichts davon gab es hier, ich hatte schließlich nie Gäste. Provisorisch legte er sich meine Kleidungsstücke zusammen, benutze sie als Kissen und Decke, legte sich auf den Teppich vor das Bett.

An Schlaf war nicht zu denken, im Wohnzimmer stritt man sich, warf mit Geschirr oder Polstern. Die üblichen Verhältnisse in diesem Haushalt. Entweder hatte man Streit oder Geschlechtsverkehr, einen Mittelweg schlug hier keiner ein.

Nehemia XVIII

Dafür, dass die Temperaturen sich so niedrig hielten, waren doch einige Leute hier am See versammelt. Einige gingen spazieren, wollten die kahle Landschaft erkunden, ihr ach so gesundes Sein fördern. Andere kamen aus Gewohnheit, setzten sich hin, betrachteten alles, fühlten sich gut und erhaben und stiegen wieder in ihre Autos, als sei nichts gewesen. Affige Verhaltensweisen, aber ertragbar.

Schlimmer benahmen sich andere. Die, die umher rannten, rücksichtslos und zerstörerisch, laut und aufdringlich nach ihren Freunden riefen. Mit Wasser spritzten, um andere von ihrem Stammplatz zu vertreiben.

Über diese regten sich wiederum Leute auf, die kein bisschen besser waren, sich aber so fühlten, nur weil sie momentan gerade den Mund hielten und nicht genau demselben Schema verfielen.

Unbeteiligt verfolgte ich das Verhalten von allen; ich war ein unscheinbarer Beobachter der Szene und dachte mir meinen Teil, wie ich es immer tat, wenn ich herkam. Um nicht immer in der Wohnung zu sein; um etwas anderes zu sehen als Schulbänke oder dreckige Gardinen. Etwas anderes zu fühlen, als Beschränkung, Zwang, Entmündigung. Stattdessen die Verlorenheit unter dem freien, weiten Himmel.

Niemand ging schwimmen, unberührt lag der See dort vor mir und dankte dem Wetter, dass es ihm die Massen vom Leib hielt. Er dachte wohl wie so viele, dass früher so Vieles besser gewesen sein. Vor allem die Menschen.

Darüber konnte ich nur den Kopf schütteln. Nichts wurde besser oder schlechter.

Alles blieb genau gleich furchtbar, nur der Blickwinkel veränderte sich.

Nehemia XIX

Auf Knien vor ihr sitzen. Die Augen geschlossen. Meine Kleidung lag gefaltet neben mir. Was für eine Ironie, sonst bestand sie nie darauf. Auf meinem Körper waren blaue Flecken zu erkennen, auf den Armen die verheilenden Schnittwunden. Ich hatte lange nicht mehr mein Messer an mir selbst verwendet. Sie verletzte mich inzwischen genug, um es nicht noch öfter aushalten zu wollen.

Alles im Leben machte sie einem kaputt. Die Hure in ihren kurzen, alten Kleidern, die ihr kaum übers Knie gingen. Billig anzusehen, ihre Fingernägel waren schlecht lackiert.

Denn wie bekannt war, konnte sie absolut nichts, sie glaubte nur, etwas zu können. Mich ihrem zwanghaften Trieben zu unterwerfen, so oft sie es brauchte und konnte.

Inzwischen geschah es fast jeden Tag, was früher eine anstößige Seltenheit gewesen war. Sie steigerte sich in ihre Vorstellung hinein, ihr Selbstwertgefühl zurückzugewinnen, indem sie meins zerbrach.

Dabei hatte ich nie welches besessen, von daher konnte sie mir nichts stehlen.

In ihrer Hand hielt sie meine Zahnbürste. Und ich wusste verdammt noch mal, was sie damit vorhatte. Wie sie sie anwenden wollte, um ihren eigenen Sohn leiden zu lassen.

Ich hatte inzwischen schon fast eine Aversion gegen Gegenstände entwickelt, die man in Öffnungen einführen konnte, wo sie nicht hingehörten.

Irgendwann brachte sie mich dazu, mein eigenes Messer zu hassen. Wenn ihr das gelang, dann hatte sie gewonnen. Dann hatte mein Leben endgültig den Sinn verloren.

Nehemia XX

Am Morgen wirkte sie wie ausgewechselt, als wäre gestern Nacht nie passiert. Saß am Tisch im Wohnzimmer; nicht nur im Kleid, sondern mit einem dünnen Mantel darüber. Augenringe und ungemachte Haare. Ihr Make up von gestern klebte ihr noch an den Wimpern und den Wangen.

Schlimm sah sie aus, aber ihr Verstand schien seit Langem einmal klar und frei von Medikamenten und Wahnvorstellungen zu sein. Das wunderte mich fast schon.

„Ich muss dir etwas sagen.“ Ihre dünnen Finger umspielten den Tassengriff. Ihr Blick klebte auf dem Inhalt, nicht an mir. Sah ich da Unsicherheit, Verlegenheit? Oder hielt die Müdigkeit sie einfach noch zu stark fest?

„Du wolltest bestimmt schon immer wissen, wer dein Vater ist.“

„Nein.“ Was half mir zu wissen, wer nun nicht mehr bei uns wohnte und sie vielleicht an einigen Handlungen hätte hindern können. „Es ist mir egal.“ Und sei es der Papst persönlich. Sicher war er sowieso nur ein dummer Idiot wie alle Männer nach ihm in dieser Wohnung, vielleicht genauso fertig mit seinem Dasein wie sie. Jemand anderes konnte sich doch gar nicht mit ihr abgeben wollen.

„Es ist aber wichtig für dich. Für die Familientradition.“ Sie seufzte theatralisch leise, atmete ein und aus und wollte eine Reaktion von mir. Ihr Auftreten, ihr Erscheinungsbild, ihre scheinbare Unschuld, die sie gerade verströmte, widerte mich an. Scheinheilig wie die Kirche, gleich ging ich.

Sie legte eine überflüssige Kunstpause ein. „Dein Vater ist dein Großvater Cecil.“ Sie lächelte wie unter Schmerzen. „Deswegen musst auch du mit mir Kinder zeugen. Um die Tradition zu wahren“

Und wieder hatte ich sie meilenweit überschätzt.

Ich stand auf und verließ den Raum, ohne sie noch einmal anzusehen.

Nehemia XXI

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Nehemia XXII

Lachen erfüllte das Bad

Blut und Wasser nahmen mir die Sicht

Schmerzen, überall und wiederkehrend

Was taten sie mit mir?

Ich konnte kaum atmen

Schlug um mich, traf niemanden

Sie standen vor der Wanne und amüsierten sich über mich
 

Fingernägel in meiner Haut

Lipgloss auf meinem Kinn

Die Nagelschere stach in meinen Rücken

Was sollte das alles?

Meine Mutter fing plötzlich an zu schreien

Sicher nicht meinetwegen

Lag ich noch in der Wanne?

Oder schon auf dem Fliesenboden?
 

Meine Sicht wurde klarer

Sie nahm mir den Schal vom Mund

Und drückte meinen Kopf in einen Eimer Wasser

Nicht um mich zu ertränken

Aber lang genug, damit ich es dachte

Langsam wäre es doch besser, tot zu sein
 

Sie lag vor mir auf dem Boden

Ein altes Bettlacken verdeckte sie halb

Die Augen geschlossen, sie lebte noch

Ohnmächtig von einem Schlag gegen den Kopf

Womit auch immer

Die andere Frau hatte es getan

Welchen Grund hatte sie dafür?

Vielleicht war sie noch verrückter als meine Mutter und ich gemeinsam
 

Der Lockenstab gehörte sicher ihr

Jede Berührung damit war die Hölle

Sie wollte mich verbrennen

Lange hielt ich nicht mehr durch

Nach sieben Jahren das erste Mal Angst

Die ersten Tränen

Durch eine fremde Frau

Sie sollte verschwinden

Sogar meine Mutter war gnädiger

Beendete irgendwann ihr Treiben

Diese steigerte ihres noch

Und verbrannte mich auch innerlich

Nehemia XXIII

Selten so gelitten.

Es hatte Stunden gedauert, bis ich vom Bad in mein Zimmer gekrochen war. Bis ich überhaupt die Kraft gefunden hatte, mich zu bewegen. Nicht liegen zu bleiben und sich aufzugeben. Weg von diesem Ort des Grauens, weg von der Bewusstlosen. Sie hatte schuld, sie hatte diese Sadistin hergebracht. Wer konnte auch ahnen, dass sie sogar sie selbst misshandelte?

Ich hatte drei Tage lang mein Bett nicht verlassen; nichts getrunken, nichts gegessen. Nur die Wand angestarrt und mir überlegt, wie ich sie ausfindig machen sollte. Ich ließ diese schrecklichen Demütigungen nicht auf mir sitzen. Nicht schon wieder, nicht von einer Frau.

Irgendwann kam er plötzlich zur Tür rein, Jones. Hatte wohl seinen ganzen Mut zusammen genommen, bei uns geklingelt. Gehofft, nicht von der Hure angefasst zu werden. Aber sie hatte sich zurück gehalten. Musste wohl die Ereignisse verarbeiten, das Gefühl, selbst benutzt worden zu sein.

Er hatte mich genötigt, ihm alles zu erzählen; ihm die Verletzungen zu zeigen. Ich tat es, er sollte still sein und gehen. Als er meinen Rücken und die Arme sah, fing er fast an zu heulen. Das verstand ich nicht. Es war mein Körper, nicht seiner, was ging es ihn an?

In Wirklichkeit war er doch froh, dass es mich und nicht ihn getroffen hatte.

Nehemia XXIV

Manchmal weiß man, dass etwas passieren wird.

Es kann schon damit beginnen, dass man morgens mit einem anderen Gefühl aufwacht. Mit der Gewissheit, dass sie etwas ändern muss. Und zwar so schnell wie möglich.

Die Dämmerung setzt schon langsam ein, obwohl es erst Nachmittag ist. Kaum Menschen auf den Straßen, die Auswahl also begrenzt.

Aber ich will auch gar keinen Engel, den es nicht gibt. Ich will nur meine Seele erfreuen. Falls das überhaupt möglich ist, wenn man an nichts Freude empfindet.

Ich sehe ein Mädchen, sie biegt in eine Seitenstraße ab. Wenn ich mich geschickt anstelle, wird sie es sein. Aber ich spüre, dass heute alles anders verlaufen wird. Ich bin noch nicht so schnell wie sonst, die Verbrennungen sind immer noch nicht verheilt, werden sie dafür noch Zeit lassen und mich behindern, wie so vieles.

Sie geht vor mir, ich muss mich beeilen, sonst entkommt sie mir. Das Messer in der Hand, vom schwarzen Ärmel verdeckt. Der Abstand schrumpft. Ich hole aus.

Sie dreht sich um, reagiert zu schnell, um selbst zu reagieren, und rennt um Hilfe rufend davon. Sie hat mein Gesicht gesehen.

Bald werden sie mich gefunden und gefangen haben.

Nehemia XXV

Ich war die ganze Nacht weggeblieben, erst gegen morgen wieder heimgekommen. Kein Schlaf, kein Essen, ich fühlte mich so seltsam aufgedreht wie lange nicht mehr. Vielleicht weil ich wusste, dass alles immer mehr in sich zusammenbrach. Nicht dass es mich störte, auf ewig hielt nichts.

Die Tür zur Wohnung stand offen, Glasscherben lagen auf der abgetretenen Fußmatte. Jemand hatte ein Glas Marmelade gegen die Tür geworfen, der Inhalt tropfte das Holz herab. Was hier sich abgespielt hatte, wollte ich gar nicht wissen. Es genügte mir, das Ergebnis zu sehen. Ich hatte selbst eigene Probleme, die ich ausbaden musste.

Sie saß vor dem Sofa und weinte. Hysterisch und verzweifelt, als wäre sie wieder nicht zurechnungsfähig. Vielleicht Nachwirkungen von der Begegnung mit der Verrückten, die sogar sie nicht verschont hatte. Ich hatte bei ihr nämlich auch eine Reihe blauer Flecke entdeckt.

Und nein, es verschaffte mir trotzdem keine Genugtuung.

„Es ist so furchtbar“, heulte sie los, als sie mich bemerkte. Fing an zu jammern und zu schluchzen, ohne dass ich sie verstand. Genervt stand ich weiter im Eingang. Von mir bekam sie kein Mitleid, mir gab sie schließlich auch keins.

„Was ist denn los?“, fragte ich irgendwann gezwungenermaßen nach, sie steigerte sich immer mehr in ihr Leiden hinein. In Wirklichkeit wollte ich es nicht erfahren, es wäre sowieso nichts Erfreuliches.

Sie wischte sich die Tränen von ihren Augen. Ihr Make up sah wieder aus wie ein Unfall. In letzter Zeit sah sie öfter aus wie eine Vogelscheuche. „Ich bin schwanger, von einem dieser Männer.“ Ihre Miene verzerrte sich vor deutlichem Ekel. „Dabei wollte ich von dir ein Kind!“

Konnte sie nicht einmal mit dieser Perversion aufhören? Das bedeutete, ich würde mit meiner Mutter meinen eigenen Halbbruder zeugen. Und Sohn. Das war einfach nur krank.

„Was soll ich jetzt tun?“ Sie raffte sich auf, taumelte auf mich zu, begann mich panisch zu schütteln. „Nehemia, was soll ich tun? Sag es mir!“

„Lass mich.“ Sie sollte mich nicht berühren, nicht jetzt, nie wieder. Sie war eine verdammte Dreckshure, eine schwangere noch dazu, die nun völlig bewies, keine Mutterrrolle einnehmen zu können. „Sie werden mich sowieso bald holen.“

„Wieso?“ Ihr Gesicht wurde noch bleicher, falls das ging. „Du darfst nicht weggehen, du musst mit mir schlafen, hast du das verstanden?“ Trotz ihrer Angst wurde sie schon wieder laut. Wie eine Sirene, ihre Stimme tat in meinen Ohren weh. Wie ein kleines Kind klang sie.

„Weil sie mir entkommen ist, deshalb.“ Die Polizei suchte vielleicht schon nach mir, wie sollte ich nun Engel jagen? Meine einzige sinnvolle Beschäftigung. Ohne sie würde ich mich zu leer zum Weiterleben fühlen, das ahnte ich. „Sie werden kommen und mich mitnehmen und du wirst ein Kind von irgendeinem dieser Idioten bekommen, weil du eine dumme Schlampe bist.“ Soweit zu ihrer Zukunft.

„Das will ich nicht“, kreischte sie wie von Sinnen. „Das will ich nicht. Nehemia, tu doch was.“ Sie riss an meiner Kleidung und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. So hatte ich sie noch nie erlebt. Natürlich rastete sie manchmal aus, verlor die Beherrschung, schrie wie eine Wahnsinnige, aber das hier war etwas völlig anderes.

Und es überforderte mich.

„Dann bring ich dich um, dann wird es nicht passieren.“ Und das war eine absolut ernstgemeinte Alternative zu ihrem armseligen Dasein als Fickobjekt für notgeile Kerle. „Du wirst der letzte Engel sein, den ich jage.“ Mehr oder weniger, ein Engel konnte sie nie werden, dafür hatten schon zu viele Männer in ihr gesteckt. Ich jagte sich auch nicht, sie ließ es mit sich machen.

„Nur, wenn du mit mir schläfst.“ Ihre Hände ruhten auf meiner Hüfte. Sie nahm mein Angebot unter dieser Bedingung also an. Die mir natürlich nicht gefiel, ganz und gar nicht, aber ich hatte die Wahl. Entweder lehnte ich und sie drehte wieder durch, bis man mich von hier wegholte, oder ich ließ es zu, erstach sie und floh dann.

Wortlos begann ich meine Jacke zu öffnen.

Nehemia XXVI

Das Kleid sah seltsam an ihr aus, sie trug nie weiß. Es stand ihr nicht besonders, wirkte fehlplatziert, wenn man wusste, wie sie bisher gelebt hatte. Wenn ihre Haare ihr Gesicht halb verdeckte, sah sie noch jünger aus als ohnehin. Fast wie Anfang zwanzig.

Trotzdem ließ mich das nicht vergessen, wer sie war.

Das Sofa war nicht für zwei Menschen bestimmt, deswegen kniete sie über mir. Einige ihrer Strähnen hingen in mein Gesicht, nahmen mir die Sicht auf sie. Zum Glück.

Ich wollte es nicht genießen, es sollte schnell an mir vorbeiziehen.

Zum ersten Mal schien sie zu bemerken, dass ich auch einen Schwanz hatte. Eine richtig frühe Erkenntnis. Sie kam vielleicht daher, dass ich vom Objekt zum Quälen zu ihrem persönlichen Seelenretter aufgestiegen war. Als ihren Sohn würde sie mich in diesem Leben nie wieder sehen. Als ob sie das jemals getan hatte.

Sie spielte an mir herum, ich biss die Zähne zusammen und packte ihre Hüfte. Je schneller wir begannen, desto schneller war sie tot. Unnötig sollte sie es nicht in die Länge ziehen.

Der Sex fühlte sich zwar immer noch falsch, abstoßend und wahnsinnig an, aber längst nicht ganz so grauenhaft wie das, was ich die letzten Wochen hatte erleiden müssen. Was nicht gleichzeitig bedeutete, dass ich schlagartig irgendwelche positiven Aspekte daran fand. Die suchte ich bis an mein Lebensende.

Als ich in ihr kam, war der Spuk vorbei, mit einem Mal hing sie völlig schlaff auf mir. Ungewohnt leblos und still. Vielleicht, weil ihr großer Wunsch nun in Erfüllung gegangen war und sie sich doch genauso schäbig fühlte wie vorher.

„Bitte, tu es jetzt.“ Sie sprach so leise, ich verstand sie kaum. Eilig schob ich sie von mir herunter, wollte sie nicht länger auf mir spüren, und setzte ihr das Messer an die Brust.

Ein Stich zum wirklichen Höhepunkt.

Nehemia XXVII

Überall floss Blut, der Sofabezug sog sich damit voll. Es klebte an meinen Messer, färbte das Kleid ein. Es sah hübsch aus, trotz der anderen krustigen Flecken darauf.

Mich befleckte es auch, aber ich war sowieso verunreinigt von meinem eigenen Sperma und dem Dreck, der schon seit Ewigkeiten auf dem Sofa gelegen hatte.

Sie lag vor dem Sofa, die Haare zerzaust, die Augen geöffnet. Warum sah sie mich sogar im Tod so an? Sie hätte ein Engel sein können, doch vermasselte es sich selbst.

Ich musste hier weg, sonst nahm man mich mit. Hielt mich fest und quälte mich psychisch, das stand fest. Aber so blöd war ich nicht.

Ohne mich vorher zu waschen zog ich meine Klamotten über, suchte das wenige Geld, was wir besaßen zusammen, und verließ die Wohnung. Ein Abschied für immer, nichts war würdig, es zu vermissen.

Ich sollte die Stadt verlassen, so weit gehen, wie nur möglich, um an einem anderen Ort aus dem Verborgenen hinaus mein Leben fortzusetzen. Frei und selbstbestimmt, ohne den Eingriff von Menschen, die mich sowieso nicht verstanden. Aber wer tat das schon?

„Wohin gehst du?“ Jones stand vor mir, überrascht und irgendwie verletzt. Der hatte mir gerade noch gefehlt.

„Weiß nicht, weg von hier.“ Und wenn er mich aufhalten wollte, folgte er einfach meiner Mutter, davor hatte ich keine Skrupel. Meine gewonnene Freiheit gab ich nicht auf.

„Du kannst mich nicht allein hier lassen.“ Er wollte mich schon wieder anfassen, ich schlug seine Hand rücksichtslos weg. „Das überleb ich nicht.“

Ich hatte keine Verantwortung für ihn, hatte ihm niemals das Gefühl gegeben, von mir auch nur ansatzweise gemocht zu werden. Wenn er das doch glaubte, lief er einer Illusion hinter her, die ihn im Notfall eiskalt erstach und liegen ließ.

„Nimm mich mit, bitte.“

Ich hätte nein sagen können, er wäre mir trotzdem gefolgt. Also ging ich einfach weiter und hörte, wie seine Schritte sich meinen anpassten. Wie wir hinter einander die Straße zum Bahnhof entlang liefen, jeder für sich und doch irgendwie unfreiwillig gemeinsam.

Flucht I

Der Zug war mir für meinen Geschmack zu voll. Zu viele Menschen, zu viel Lärm. Kein Platz zum Hinsetzen, zum Ausruhen. Hoffentlich kontrollierte uns keiner, wir fuhren beide schwarz. Wir hatten uns nicht umsonst den Zug ausgesucht, der am weitesten von unserer Stadt wegführte, wir wollten dorthin nie wieder zurückkehren.

Und für das teure Ticket fehlte das Geld, das musste für später gespart werden. Notzeiten, wenn selbst das Klauen, durch das wir überleben würden, nichts brachte.

Jones neben mir verhielt sich verdächtig still. Er redete nicht, einfach um zu reden, starrte auf seine Fingerspitzen, murmelte nur ab und zu einzelne Wort und verstummte dann wieder. Vielleicht trauerte nun doch seinem Leben nach. Den Leuten, die er kannte, die er nicht mal mochte. Die ihn nicht hatten beißen wollen, das war mein Privileg.

Aber mir war es recht, dass er sich zu nichts äußerte, ich brachte selbst Ruhe. Entspannung von all den Jahren Anspannung, die nun geflohen war. Was ein Tod alles Schönes anrichten konnte. Das fiel mir heute zum ersten Mal auf.

Flucht II

Ein überfüllter Bahnhof, Bahngleise voller Menschen. Überall Züge, Koffer, kleine schreiende Kinder. Eine Zumutung für meinen Kopf, ich wollte das nicht lange ertragen.

Wir hatten die Auswahl: Hier bleiben und einen Ort zum Unterkommen suchen. Oder in den nächsten Zug steigen und uns noch weiter entfernen.

Eigentlich wäre die Entscheidung nicht wichtig, irgendwann endete unsere Reise. Ewig wollte ich nicht vor der Polizei fliehen, sondern mich niederlassen. Gezwungenermaßen mit Jones, der immer noch kein richtiges Wort zwischen seinen Lippen hervorgebracht hatte. Wie schnell Ereignisse einen verändern konnten und sei es nur für einige Stunden.

„Hast du Hunger?“ Um ihn zu zeigen, dass ich ihn ansprach, rüttelte ich an seiner Schulter. Er sollte bloß nicht später jammern, dass er wegen mir hungern müsste.

Seine großen Augen blickten mich trübe an. „Ich weiß es nicht. Ja und nein.“

„Also nein, dann essen wir später vielleicht etwas.“ Wenn er keine Entscheidung traf, übernahm ich das. Endlich konnte ich bestimmen, wie es in unserem Leben ablief.

Keine Frau, die dazwischenfunkte und mich an sich oder den Tisch band.

Nur wir beide, die sich nun aussuchen mussten, wie wir unseren Weg fortsetzten.

Flucht III

Wir liefen durch ein unübersichtliches Straßengewirr; der Name der Stadt war mir in dem Augenblick entfallen, als ich ihn gelesen hatte. Es wäre sowieso dasselbe wie in jeder anderen Stadt dieser Welt. Jones und ich mussten uns ohne Rücksicht auf Verluste durchschlagen.

Auf keinen Fall durften wir unauffallen, sonst erwartete uns die Polizei oder ein Mitglied irgendeiner überflüssigen Gang. Und ob ich gegen so jemanden ankam, entschied sich erst, wenn ich es ausprobierte.

Ein Schlafplatz für die Nacht wäre nicht schlecht; ich bestand auf nichts Großartiges. Eine leer stehende Lagerhalle, ein unbeobachtetes Gartenhäuschen, das vor Wind und Regen schützte. Am ersten Tag unseer Flucht vor dem alten Leben brauchte ich mir nicht gleich eine Erkältung einzufangen. Oft wurde ich nicht krank. Aber wenn es mich erwischte, dann richtig heftig.

„Ich kann die Sterne nicht sehen“, flüsterte Jones hinter mir enttäuscht. „Hier sind zu viele Lichter.“ Damit meinte er wohl die Straßenlaternen mit ihrem grellen Neonlicht, die alle Meter den Bürgersteig und die Straße erhellten. Seine Probleme wollte ich haben.

Flucht IV

Wir erreichten ein Wohnviertel, indem die Häuser älter aussahen und nicht mehr so nah beieinander standen. Das wirkt sehr vielversprechend.

Mit Jones konnte man im Moment nichts anfangen; er schlurfte hinter mir her, ließ sich über ziemlich nichtige Tatsachen aus und kümmerte sich nicht um das, was wirklich wichtig war. Sich ruhig verhalten, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Mir folgen und nicht dauernd stehen bleiben. Insgesamt die Klappe halten, weil er einfach nur nervte, mich mit seinem dämlichen Benehmen aggressiv machte. Wie ein kleines Kind, das die Lage nicht verstand. Vielleicht musste ich ihm erst den Hals aufreißen, bis er wieder vernünftig wurde.

„Das ist der Orion“, stellte er völlig zusammenhanglos fest; eigentlich hätte ich ihm so fest ins Gesicht schlagen müssen, dass er Orion nicht mehr buchstabieren konnte. Diese verdammten Sterne interessierten hier keinen.

„Halt die Klappe und komm endlich.“ Brutaler als nötig riss ich ihn hinter mir her, betrachtete dabei die Umgebung, um keine Möglichkeit zum Übernachten zu übersehen. Es war spät, wir sollten schlafen, uns für morgen bereit machen.

„Du tust mir weh.“ Er wollte sich aus meinem Griff winden; er schaffte es nicht, gab schließlich geknickt auf. Wenigstens schwieg er nun.

Eine innere Stimme dankte ihm dafür.

Flucht V

Sie stand dort wie für uns geschaffen; eine kleine Gartenlaube, alt und unscheinbar; etwas von dem Haus, zu dem sie gehörte, entfernt. Hoffentlich ließ sich das Schloss leicht aufbrechen, ich stieg nicht gerne durch Fenster ein.

Während Jones an der Straße wartete und aufpassen sollte, dass uns keiner sah, widmete ich mich der Tür. Dunkelblau lackiertes Holz, morsch und ungepflegt, das war kein Hindernis. Drei, vier Mal dagegen werfen und sie sprang auf, quietschte leise. Man dürfte es trotzdem nicht bis ins Haus hören.

Ich winkte Jones zu mir, der sogar darauf reagierte, er lernte dazu. Gemeinsam drängten wir uns ins Innere. Es war eng, überall standen Geräte, Regale mit wertlosem Zeug oder leere, zerrupfte Kartons. Eine reine Abstellkammer. Außerdem roch es muffig. Für eine Nacht alles ertragbar.

„Ich will nicht auf dem Boden schlafen, der ist zu hart.“ Wieder eine Beschwerde.

„Du musst aber, hier gibt es nichts anderes.“ Langsam fragte ich mich, wie er sich das hier vorstellte. Wir waren auf der Flucht und fast mittellos, nicht im Urlaub. Hatte er heute auch nur eine Minute darüber nachgedacht? Wohl kaum.

Der Boden war wirklich hart; ich schob mir meine Jacke unter den Kopf. Jones lag neben mir, wirkte unglücklich und verzweifelt. Wie anstrengend alles durch ihn wurde.

Seine Hand berührte plötzlich meine Wange, ich zuckte zusammen, drehte mich weg; er sollte mich nicht anfassen, immer noch nicht.

„Kannst du mich beißen? Ich brauch das gerade echt.“

„Vergiss es, dann schreist du wieder wie verrückt und jeder weiß, dass wir hier sind.“ So lief es doch in der Schule dauernd ab. Irgendjemand hörte uns da immer.

„Ich bin auch still, ehrlich, aber ich halts nicht mehr aus“, flehte er mich verzweifelt an, ich konnte mir sehr gut seinen momentanen Blick vorstellen. Er setzte ihn immer auf, wenn er die Bisse durch mich spüren wollte.

„Wenn du dich nicht daran hältst, bring ich dich um, langsam und schmerzhaft.“ Und zwar wortwörtlich, bei ihm machte ich keine Ausnahme, wenn er uns in Gefahr brachte.

Ich kniete mich über ihn. Die Beine gegen seine Seiten gepresst, meine Hände hielten seine Arme am Boden. Jetzt war ich endlich mal dominant, aber es erweckte kein Glücksgefühl in mir oder das perverse Verlangen, ihn zu erniedrigen. So wie sie es wohl immer gespürt hatte.

Vor Erwartung zitternd drehte er mir seinen entblößten Hals zu und fing fürchterlich an zu wimmern, als ich zuschlug. Aber er blieb standhaft, selbst als ich sein Blut in meinem Mund schmeckte und ihm sicher höllische Schmerzen bereitete. Aber er wollte es so, ohne dieses brutale Ritual konnte er nicht leben und drehte durch.

Deswegen musste er tapfer bleiben, selbst wenn die Tränen sich nicht zurückhalten ließen.

Ich hörte auf, ihn zu quälen, schob sein T-Shirt hoch, drückte es auf die Wunde, wischte sein Gesicht trocken. Irgendwann hätte er sich sowieso ein neues besorgen müssen.

Flucht VI

Er lag auf mir, erstaunlich leicht für seine Größe. Seine Fingerspitzen strichen über meine Unterarme, meine Handflächen, immer wieder, als wäre es eine Sucht, die er erst neu entdeckt hatte. Er war überraschend sanft.

Anders als bei ihr; Berührungen hatten das Verlangen nach Dominanz, Gewalt und Sex bedeutet. Deswegen hatte mich allein ihre Absicht, mir nahe zu kommen, mich abgeschreckt. Und so war es dann wohl auch bei allen anderen verlaufen.

Vielleicht änderte sich das durch ihren Tod nun. Vielleicht konnte ich endlich richtig fühlen, vielleicht ließ ich mich deshalb gerade anfassen.

Aber vielleicht hinderte mich auch nur mein Dämmerzustand daran, Jones von mir wegzuschleudern und so lange auf ihn einzutreten, bis er versprach, es nie wieder zu tun. Ich wusste es einfach nicht genau.

„Du bist wirklich der einzige, der für mich da ist“, wisperte er mir ins Ohr. „Du weißt sicher nicht, wie dankbar ich dir dafür bin. Und wie schlimm ich es finde, dass ich dir nichts zurückgeben kann.“ Seine Arme legten sich um meine Schultern, nur wurde mir daraus nicht ersichtlich, ob er mich dadurch symbolisch beschützen wollte oder sich an mir festhielt. Hilflos und einsam, wie er sich wohl vorkam.

Vorsichtig berührten seine Lippen meine Wange. Nein, das war Zeichen, dass er in mich verliebt war. Eher ein Zeichen seiner nicht logisch erklärbaren Zuneigung zu mir. Bis heute verstand ich nicht, was er an mir besonders genug fand, um bei mir sein zu wollen.

Flucht VII

Auf dem Markt herrschte Überfüllung und Unübersichtlichkeit; überall standen und rannten Menschen durcheinander. Stände versperrten den Weg und die Sicht. Man verstand sein eigenes Wort kaum.

Der perfekte Ort, um sich mit Essen einzudecken.

Nun lag es an uns, sich der Masse anzupassen und in unbeobachteten Momenten zuzugreifen. Sei es ein Apfel, ein Brot oder eine halbe Gurke.

Um den Fall auszuschließen, beide auf einmal ertappt zu werden, hatte ich beschlossen, getrennt vorzugehen, jeder auf einer anderen Seite des Marktes.

Bei mir lief es nicht überragend, meine Ausbeute beschränkte sich auf ein Bündel Karotten und einige Radieschen. Aber wenigstens ließ man mich in Ruhe meine Arbeit machen. Bei Jones schätzte ich die Lage schlimmer ein.

Wie aus Neugier näherte ich mich einem Stand, der viele verschiedene Sorten Obst anbot. Hier hatte ich Auswahl, musste nur die Verkäuferin im Blick behalten. Eine kleine, dünne Gestalt, warf immer mit bösen Blicken um sich, achtete sehr genau darauf, auch Geld für ihre Ware zu bekommen. Da verstand ich sie aber, das wäre ich an ihrer Stelle auch.

Als sie mit einer anderen Frau über den Preis einer Melone zu verhandeln begann, sah ich meine Chance gekommen, steckte eilig kleine Mengen von Erdbeeren, Himbeeren, Kirschen ein. Ein Junge wurde auf mich aufmerksam, sein schräger Blick zeigte gleichzeitig Interesse und Unverständnis an meinem Tun, er schwieg trotzdem.

Besser konnte es wohl wirklich nicht für mich laufen.

Flucht VIII

Straßen konnten sich endlos ziehen, wenn man sie zu Fuß benutzte. Man hatte das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen. Jeder Kilometer erschien wie eine furchtbar weite Strecke. Jede Stadt wie ein entferntes Land oder in einer anderen Dimension.

Natürlich hätten wir weiterhin Zug oder Bus fahren können, aber bei jedem Mal Schwarzfahren stieg die Chance, erwischt zu werden. Das absolute Todesurteil. Man hätte uns genauer unter die Lupe genommen und gemerkt, dass mit uns etwas nicht stimmte. Oder zumindest nicht mit mir.

Inzwischen hatte ich keinen Überblick mehr, wie viele Tage wir schon so vor uns hinlebten, immer in Bewegung ohne feste Bleibe. In wie vielen Städten wir schon gestohlen und übernachtet hatten, an wie vielen wir nur vorbeigezogen waren. Und wie viele noch kamen, stand sowieso offen.

Weiter hieß das Motto für Jones und mich, immer weiter, egal was passierte, wohin man gelangte und ob man es überhaupt wollte.

Immer nur den Straßen nach.

Flucht IX

Ich hatte Kirchen und Kapellen noch nie gemocht. Überall glitzerte und schimmerte es golden, übertriebene Zuschaustellung von verschwendeten Steuereinnahmen. Die Atmosphäre ähnelte der eines Grabes und triefte nur so von Scheinheiligkeit; jede Person, die normal dort saß und vorgab zu beten verstärkte das.

Nur heute machte es mir nichts aus, eins dieser kleinen Exemplare am Wegrand auftauchen zu sehen. Wir brauchten schnell einen Unterschlupf. Nicht nur, weil es gefährlich nach einem Unwetter aussah, sondern weil ich eben schon wieder jemand hatte umbringen müsse. Der zweite in den letzten Tagen, aber es war notwendig gewesen.

Beide hatten uns beim Stehlen ertappt und uns fast geschnappt, wenn ich nicht so gehandelt hätte. Lieber derjenige tot als ich.

Nummer eins hatte ich geistesgegenwärtig die Kehle durchgeschnitten, er war sofort gestorben. Bei demjenigen vorhin hatte ich mehr Gewalt anwenden müssen, sonst hätte er uns die Polizei hinterher geschickt.

Der Stich in die Brust hatte ihn zwar zu Fall gebracht, aber er lebte noch, atmete eindeutig. Und sah nicht ein, wieso er das ändern sollte. Erst als ich so oft auf seinen Körper eingestochen hatte, dass seine Brust nur noch aus einer blutigen Masse bestand, ich sicher war, das zerschnittene Herz sehen zu können und Jones in einem vor Schock gelähmten Zustand fragte, wo wir uns am besten verstecken sollten, merkte ich überhaupt, was ich getan hatte.

Reue empfand ich nicht, es hatte mir meine Zukunft gerettet.

Die Kapelle wäre sicher der letzte Ort, wo die Polizei oder wer auch immer nach einem Mörder suchte. Sie erfüllte daher zum ersten Mal einen nützlichen Zweck.

Wie erwartet war sie geöffnet, ohne Probleme traten wir ein.

Stille, Kälte, Dunkelheit, das alles schlug mir entgegen. Zum Schlafen fast optimal, besser als viele unsere früheren Unterkünfte.

Ich legte mich auf eine Kirchenbank im mittleren Teil, Jones blickte sich unschlüssig um, gesellte sich dann zu mir. Kuschelte sich an mich, wie in vielen Nächten davor. Ich ließ es zu, so wärmten wir uns gegenseitig, froren nicht so stark. Seine dunkeln Augen fixierten mich, ein schwaches Lächeln erschien auf seinem blassen Gesicht. Er fühlte sich bestimmt glücklich trotz der schweren Umstände.

Ich spürte nichts in mir.

Flucht X

Natürlich riskierten wir viel, wenn wir weiterhin in der Kapelle wohnten.

Die Polizei stellte Nachforschungen zu diesen Morden an. Zwar zogen sie keine Parallelen zu meinen früheren Taten, weil kaum Ähnlichkeit bestand, und schlossen so nicht auf mich. Inzwischen sah ich auch anders aus als früher. Längere Haare, dünner, müder, ungepflegter insgesamt. Aber wenn uns ein neugieriger Nachbar bei diesen Morden zugesehen hatte und beschreiben konnte, waren wir geliefert. Aber gleichzeitig bot die Kapelle auch Vorteile.

Ein geschützter Ort, abgelegen in herrenlosen Weinbergen, um die sich niemand Spezielles kümmerte. Richtige Zivilisation einige Kilometer entfernt. An einem kleinen Brunnen konnten wir uns und unsere Klamotten waschen, Essen beschafften wir uns aus der Stadt in der Nähe.

Für immer wäre es nichts, aber als Übergangslösung mehr als annehmbar. Den Winter konnten wir hier größtenteils umgehen, obwohl es hier drin auch ungemütlich kalt wurde.

Aber Schnee fiel außerhalb und zur Not stahlen wir so viele Decken, bis wir nicht mir vor Kälte zitterten.

Wir blieben hier, andere Orte bargen andere Nachteile.

Flucht XI

Der Kälteeinbruch kam früher als gedacht. Spätestens als der Brunnen von einem auf den anderen Tag zufror und ich erst einmal zwei Stunden beschäftigt war, mithilfe von Steinen die Eisschicht zu durchbrechen, stand das fest. Es störte mich, der Winter behinderte uns nur. Jones fror sowieso schon permanent, kränkelte seit Tagen herum, lag am liebsten nur noch auf den Kirchenbänken und betrachtete die Deckenbemalungen und die Statue von Maria. Sang dabei leise die einzigen zwei christlichen Lieder, die er auswendig kannte. Er nervte mich damit, wusste das, tat es doch immer wieder. Manchmal hoffte er doch, irgendeine Emotion außer gemäßigter Gereiztheit aus meinen Tiefen herauskitzeln zu können.

Wegen seines Zustandes durfte ich viel alleine machen; Essen holen, inzwischen musste ich dafür in Häuser einbrechen. Kein Strauch trug mehr Früchte, kein noch so verzweifelter Mensch stellte sich noch auf den großen Platz und verkaufte. Noch ein Grund, sich über den Winter zu ärgern.

Die meiste Zeit verbrachte ich draußen, ging auf den Wegen entlang, starrte ins Tal und fragte mich, wieso ich das überhaupt tat. Versuchte den letzten Spaziergängern aus dem Weg zu gehen. Es wäre seltsam, wenn sie mich öfter hier trafen.

Am liebsten hätte ich wieder Engel gejagt, um eine Beschäftigung zu finden, der Langweile zu entkommen, mir einen imaginären Sinn des Lebens zusammenzubasteln. Es ging nicht, es verriet uns nur; ich wollte nicht ins Heim oder in den Jugendknast.

Lieber setzte ich mich an den Brunnen, zog mich aus und setzte mein Messer gegen mich ein. Es ritzte mir schiefe Linien und unsaubere Formen in die Haut, Blut tropfte in den Brunnen und vermischte sich mit dem Wasser.

Selbst wenn ich tiefer schnitt und der Schmerz mich endlich zu quälen begann, fand ich daran keinen Gefallen. Es war nur eine Abwechslung zum ewigen Nichtstun, auf der Suche nach etwas in mir, was es wohl nicht gab.

Flucht XII

Die Langweile fraß mich auf, jeden Tag ein Stückchen mehr. Da half kein Laufen und keine Selbstverletzung, kein Warten und Schlafen. Ich musste mich vielleicht etwas mehr mit Jones befassen, um mich von der Tatsache abzulenken, nichts zu tun.

Er lag immer noch in der Kapelle, ich hockte auf dem Brunnenrand, eine Hand im eisigen Wasser, die Finger spürte ich schon gar nicht mehr. Vielleicht froren sie mir ab. Im Moment war mir wieder alles egal.

Ich ging die drei Stufen zum Eingang der Kapelle durch, wollte sie betreten. Hielt inne, lauschte den Geräuschen, die ich hörte. Wenn ich recht behielt, bestätigte das mein Talent. Warum störte ich so oft ungewollt Menschen, wenn sie sich selbst befriedigten? Dabei wollte ich es nie sehen.

Ich hätte es ehrlich gesagt Jones nicht zugetraut, so etwas durchzuziehen. Dafür benahm er sich zu oft zu unreif. Und um es in einer Kapelle zu tun, brauchte man eine gewisse Dreistigkeit.

Da kniete er auf dem Boden, zwischen den Decken und unseren Essensresten. Seine Hose lag unter einer der Bänke, seine Hand strich und streichelte ununterbrochen an seinem Penis entlang, seine Stimme schwankte zwischen verhaltener Erregung und blanker Verzweiflung, als müsste er einem Zwang nachgehen, dem er nicht folgen wollte, den er aber auch nicht besiegen konnte.

Immer wieder sagte er irgendetwas, öfter hörte ich meinen Namen heraus; was sollte das schon wieder zeigen? Wenn er sich beim Gedanken an mich einen runterholte, schnitt ich ihm seinen verdammten Schwanz ab. Langsam reichte es mir; man sollte mich gefälligst als Mensch betrachten und nicht als Objekt zur Steigerung seiner verwerflichen sexuellen Fantasien.

Er führte seinen Arm zu seinem Gesicht, zögerte kaum, als er sich selbst in seinen Unterarm biss. Nicht nur einmal, immer wieder, während sein Körper seltsam zu zucken begann. Ich hatte selten so einen makaberen Anblick erlebt, sogar sie hatte nicht so erschlagend ambivalent gewirkt.

Schließlich endete es, abrupt und endgültig; Blut, Sperma und seine Tränen verzierten den hellen Marmorboden. Man konnte sich fast daran erfreuen, wenn man es nicht als absolute Entweihung zählte.

Und endlich verstand ich seine Worte, die er nun, in einem Stadium von Schwäche und Hilflosigkeit immer noch vor sich hinmurmelte.

„Hilf mir, Nehemia.“

Flucht XIII

Er war krank, hatte Fieber, phantasierte vor sich hin und begann schon nach der heiligen Maria zu rufen, sie um Vergebung zu bitten, weil er seiner Meinung nach die Heiligkeit dieses Ortes zerstört hatte.

Mir war es ziemlich egal, was diese nicht existente Person über ihn dachte, ich wischte lieber seine Spuren weg, zog ihn richtig an, packte ihn in Decken, bevor er wieder neue Merkwürdigkeiten tat. In seinen Augen lag ein Funkeln, als wäre er wahnsinnig, aber das konnte die Krankheit sein. Wie gerne hätte ich darauf verzichtet, ihn pflegen zu müssen.

Aber andererseits beschäftigte ich mich und plante nicht mehr, an welchen Stellen mein Messer die nächsten Wunden verursachen sollte.

Also brachte ich ihm regelmäßig Wasser aus dem Brunnen, schnitt ihm Karotten und Gurken in kleine Stücke. Teilweise musste ich ihn füttern, weil seine Hände nicht stark genug waren, um sich selbst zu versorgen.

In diesen Augenblicken fragte ich mich, ob er das hier überstand oder ich ihn, bevor er starb, lieber irgendwo hingab und weiter zog. Ihn seinem Schicksal zu überlassen wollte ich nicht. Ich fühlte mich für ihn verantwortlich; aber in gewisser Weise hatte das auch für sie gegolten.

„Bitte, Maria, glaub mir, ich wollte das nicht, ein böser Geist hat mich befallen und mich gezwungen, es mir selbst zu besorgen, ehrlich. Das wird auch nie wieder passieren, ich schwöre bei Gott… also wenn es ihn wirklich gibt.“ Jones starrte an die Decke oder ins Nichts, redete wirres Zeug vor sich hin, fing manchmal urplötzlich an zu schreien und um sich zu schlagen. Krallte sich an mir fest und wollte mich vor dem Weltuntergang warnen, obwohl er im nächsten Moment versuchte, mich gegen meinen Willen zu küssen und hoffnungsvoll bat, ob ich ihn heiraten würde.

Sobald er wieder gesund war, beschwerte ich mich nicht mehr, wenn er etwas sagte. Er sollte nur endlich mit diesem Schwachsinn aufhören.

Flucht XIV

Als die ersten Vögel uns morgens mit ihren nervtötenden Lauten weckten und der Schnee von Tag zu Tag mehr schmolz, ging es auch mit Jones Gesundheit bergauf; wie passend zum Frühling.

Trotzdem durfte ich mich weiterhin um dieses schwache Wesen kümmern, das die Kapelle unter keinen Umständen verlassen und sich nicht aus eigener Kraft bewegen wollte. Dabei hatte er seit Wochen kein Tageslicht, das nicht durch große Buntglasfenster schien, gesehen. Mir wäre das trübe Kerzenflackern längst zuwider gewesen.

Nicht einmal die Sterne vermisste Jones. Nur in ganz seltenen Augenblicken spielte er mit dem Gedanken, sie endlich wieder zu Gesicht zu bekommen. Doch sobald ich ihn anwies, nach draußen zu kriechen und sie endlich zu betrachten, begann er zu jammern und zu bocken. Er ging mir so sehr auf den Geist mit seiner permanenten Unentschlossenheit.

Wenigstens blieb mir ein erneuter Anblick seiner unterdrückten Sexualität erspart; dann hätte ich ihn aus eigenem Antrieb vor die Treppe gesetzt und die Torflügel zugehalten. Die scheinheilige Maria hätte daran auch keinen Spaß gefunden.

Und auch die lästige Zeit, in der man Jones höchstens als Ballast und nicht als Mitreisenden bezeichnen konnte, endete. Langsam aber stetig.

Und mit dem Erwachen der ersten Blätter an den Bäumen wuchs auch wieder der alte Jones heran. Dünn und leichenartig wie eh und je, aber ich sprach nicht mehr mit einem atmenden Toten.

Vielleicht hatte der nicht existente Gott endgültig keine Lust mehr auf dieses jammernde Etwas in seinen Tempel gehabt.

Flucht XV

Ich lag auf dem Weinberg, zwischen den Reben versteckt. Es war kühl, der Himmel wolkenlos. Scheinschön wie eh und je.

Auf dem Weg, auf der Bank, saß Jones; neben ihm ein Mädchen. Unscheinbar und mir unbekannt. Sie redeten, Jones strahlte sie an. Sie lächelte zurück, nicht zum ersten Mal.

Seit Tagen kam sie hier her. Schlug Jones in ihren Bann mit ihrer Schlichtheit. Wickelte ihn um den kleinen Finger. Konnte unser geheimes Leben gefährden.

Sie war eine Bedrohung für uns, aber Jones spürte es nicht.

Er sah in ihr wohl seine erste Freundin; ob sie ihn beißen würde? Ich bezweifelte es, dafür wirkte sie zu normal, nicht bereit dafür. Sie gehörte hier nicht hin, nicht zu uns beiden.

Frauen brachten nur Unglück in mein Leben, sie bewies es. Sie störte das Gesamtbild des Wahnsinns, in dem Jones und ich feststeckten.

Sie lächelte erneut, streckte ihre Hand aus, ihre dünnen Finger strichen über Jones' Unterarm. Dafür gab es keinen Grund. Sie musste ihn nicht berühren; es gehörte nur zu ihrem Plan.

Schlampe. Elende Schlampe, verzieh dich. Wir wollen dich nicht hier haben.

Jones rückte immer näher an sie heran.

Flucht XVI

Sie klebten aneinander, er hielt ihre Hand, versprühte Freude in jede Richtung.

Er schenkte ihr eine Blume, angefressen und unter Unkraut aufgewachsen, lag mit ihr im Gras. Dachte nicht, sondern hing seinem Verlangen nach, ließ sie in sein Leben hinein und merkte nicht, was um ihn herum passierte.

Sie konnte uns verraten, das verstand er nicht mehr.

Nein, ich war nicht neidisch. Weil er sich verlieben konnte. Gefühle für sie entwickelte. Sich keine Gedanken um die Zukunft machte.

So konnte ich nie werden, wollte ich nicht werden.

Mich störte es, dass er sich zu so einer Last entwickelt hatte. Noch mehr als zuvor. Es hätte mir von Anfang an klar sein müssen, schon als er sich an mich geklammert hatte.

Eigentlich musste ich ihn loswerden, um mich selbst zu schützen.

Oder sie, aber da würde Jones nicht mitziehen. Ohne sie wird er nämlich angeblich nicht leben können. Das Übliche, man kannte diese Sprüche.

Nur konnte ich auch angenehm ohne ihn leben, das hat er vergessen.

Flucht XVII

Der Schlaf sollte kommen, ich war müde, mein Kopf schmerzte, meine Glieder zogen. Der Schlaf sollte kommen, doch er konnte nicht.

Wie auch, neben mir war Jones mit seiner neuen Freundin zugange; laut, rücksichtslos, widerwärtig. Langsam verstand ich, warum eigentlich in einer Kapelle Sex untersagt war.

Es hallte und dröhnte von den Steinmauern wider, jeder Atemzug erschien doppelt so laut. Im Kerzenlicht sah ich, wie sie auf ihm lag, seinen Schwanz in sich aufnahm und seinen Namen schrie, als bräuchte sie Hilfe.

Nicht einmal der kindliche Jones konnte es lassen, sich von der angeblich so faszinierenden Welt des exzessiven Fickens abzuschotten. Sie hatte ihn dazu verführt, von allein hätte er es sich nicht getraut; es bei schmerzhaften Bissen belassen.

Ich hatte wohl endgültig meine Wichtigkeit für ihn verloren, war nutzlos geworden. Konnte ihm nur zuschauen, wie er immer wieder in sie eindrang, völlig überfordert, hilflos, teilweise verängstigt von dem, was sein Körper in ihr auslöste.

Es war unheimlich, wenn man nicht die Kontrolle über eine solche Situation hatte, ich hätte ihn vorwarnen können, wenn er mit mir geredet hätte. Wenn ich darüber hätte reden wollen.

Über kranke Mütter, straffe Seile, stumpfe Gegenstände und die Abgründe, die sich vor einem auftun können.

Sie schrie noch einmal, bis es in meiner Seele weitertönte wie eine Totenglocke, krallte ihre grün lackierten Fingernägel in seinen Arm und begrub ihn erschöpft unter sich. Sie führte ihn, ob er damit einverstanden war oder nicht. Wollte er überhaupt schon ein Ende?

„Ich mag dich, ehrlich“, flüsterte er ihr leise zu, scheu und unentschlossen, ob es in die Situation passte. Sie schwieg, zu müde zum Antworten.

Flucht XVIII

„Ich glaube, ich bin in sie verliebt.“ Sein süßes Säuseln schreckte mich ab. Dieser Ausdruck der sonst so leeren Augen wirkte falsch. Vollkommen unpassend; sie kannten sich doch kaum. Er wusste nicht, welchem Monster er sein Herz schenkte.

„Du verstehst das nicht, oder?“ Seine Hand hielt meine, drückte sie leicht. Suchte Trost und Halt, bei mir, wo gähnende Leere herrschte. Vollidiot.

„Du musst nicht neidisch sein, du findest auch mal die richtige. Irgendwann bestimmt.“

Ja, und dann schlachtete ich sie ab, wie es sich gehörte.

Als ob ich jemals eine von diesen Schlampen mögen, ehren, lieben könnte. Eher verschluckte ich mein Messer. Lieber tot als ein jammervolles Leben als stumpfer, unreiner Idiot. Herumkommandiert von einer Furie, genannt Ehefrau.

„Ich will bei ihr sein.“ Oder doch eher in ihr?

Ohne Erklärung hatte sie sich von hier entfernt; musste ihr Leben aufrechterhalten, abseits von Jones. Von Sex und Blumengeschenken. Von der Kapelle auf dem Weinberg.

„Soll ich sie fragen, ob wir bei ihr wohnen dürfen?“ Aussicht auf ein weiches Bett. Warmes Essen. Licht und Geborgenheit. Zustände wie früher, nur besser.

Jones versank in Gedanken, wirkte abwesend, bedrückt.

Suchte bei mir Schutz, den ich selbst nie erfahren hatte.

Und endlich kristallisierte sich eine Idee in meinem Kopf heraus, die als einziger Weg helfen konnte. Wir mussten uns trennen, unsere eigenen Wege verfolgen, um nicht an den Unterschieden zu zerbrechen. Um aus dem ewigen Kreislauf auszubrechen.

Hier fand ich nie die ersehnte Rettung.

Flucht XIX

Die Tür wurde aufgerissen, ein Mann stand im Eingang, eine Kerze in der Hand. Ahnungslos näherte er sich uns, bis er uns im Halbdunkeln erkannte. Entrüstung machte sich bei ihm breit. Typisch für einen Pfarrer, Pastor, Priester, Perverser mit Kutte. Was auch immer er war.

„Was macht ihr hier? Das ist ein heiliger Ort“, belehrte er uns, von seinen eigenen Worten überzeugt. Gottes treuer Diener, na toll.

Wenn er wüsste, was hier in letzter Zeit passiert war. Sünde in ihrer reinsten Form. Der Heilige Geist war bestimmt längst geflohen, an seiner eigenen Scheinheiligkeiten erstickt. Ruhte nun zwischen Leichen und Würmern in der Erde.

„Wir wohnen hier“, verteidigte Jones uns. Sah unerschrocken zu diesem Menschen mit dem unerschütterlichen Glauben. Einbildung ist auch eine Bildung.

„Das geht nicht, das ist eine Kapelle.“ Betonte jedes Wort, hielt uns für dumm, zeigte es uns deutlich. Elende Gebetsmühle, erstick bitte an deinem Vater Unser.

„Sollen wir da draußen verrecken? Freut das Gott?“ Meine berechtigte Frage.

Ärger erschien auf seinem Gesicht, er mochte meine Worte nicht, fühlte sich wohl angegriffen. Oder auf frischer Tat ertappt?

„Wenn ich morgen wieder komme, seid ihr weg.“ Die unausgesprochene Drohung hing zwischen uns. Verdammt sei die Religion.

Er war weg, bevor ich reagieren, ihn vielleicht an seinem Vorhaben hindern konnte; das Messer war zu lange unbenutzt gewesen.

Die Entscheidung, was folgen würde, hatte man mir abgenommen

Flucht XX

Nichts hält ewig, alles ist auf Scheitern ausgelegt.

„Es ist vorbei.“ Ich schaute Jones nicht an, nur das Buntglasfenster. Religiöse Szenen flossen mir entgegen. Sechsmal verfluchter Priester, wo blieb das Recht auf Kirchenasyl?

„Was ist vorbei?“ Er realisierte es nicht, kapierte nicht die Tragweite von Allem.

„Ab heute gehen wir getrennte Wege. Und zwar endgültig.“ Kein Überreden, kein Klammern, kein Beißen mehr.

Seine Reaktion überraschte mich nicht. Voraussehbar wie so vieles. „Und wo soll ich hin?“ Immer erst einmal an sich denken.

„Geh zu deiner Freundin.“ Die nahm ihn bestimmt liebend gerne auf. Aus ihm konnte man viel machen; und wenn es nur ein Putzsklave war.

„Ich will aber nicht!“ Er wurde laut, packte mich, schüttelte mich durch. „Wer sagt, dass wir uns trennen müssen? Wir können doch weiter zusammenbleiben. Ich brauch dich doch.“

„Brauchst du nicht.“ Er hatte doch seine Neue, ein guter Ersatz für mich. Ich stieß ihn von mir, hoffte, dass er sich verletzte und endlich ging.

Vielleicht war es nicht notwenig, so zu handeln, wie ich es vorhatte.

Aber ich hielt es so nicht mehr aus.

Flucht XXI

Als ich im Morgengrauen den Berg hinunter wanderte, hatte ich eine Sekunde lang das Gefühl, frei zu sein. Mich von einer Pflicht entbunden zu haben. Etwas ändern zu können.

Der Schein verflog so schnell, wie er entstanden war.

Nichts änderte sich, alles blieb gleich, nur auf andere Art. Ich wurde gejagt, hing als Heimatloser auf der Straße fest, musste mich durchschlagen.

Ob Jones an mir klebte oder nicht, spielte da eine untergeordnete Rolle.

Wie sollte es weitergehen? Wollte ich überhaupt, dass es weiterging?

Es musste, sonst wäre mein bisheriges Leiden überflüssig gewesen.

Ein Gedanke krabbelte in mein Bewusstsein; im ersten Moment zum direkten Vergessen bestimmt. Viel zu sehr an den Haaren herbeigezogen, nicht mit dem vereinbar, was man als meinen übrig gebliebenen Rest von Wertevorstellung ansehen konnte.

Doch er ließ sich nicht wegwischen, brannte sich in meinen Kopf, schien meine Sinne zu vernebeln.

Es war erbärmlich, wenn ich mich ihm hingab. Widerwertig. Primitiv.

In meiner Seele begann der Kampf.

Flucht XXII

Ich fühlte mich unwohl, eingeengt in diesem hässlichen Kleid, das unvorteilhaft an meinem Körper herabhing. Sommerlich kurz mit blassen Punkt darauf, wie für ein kleines Mädchen. Fehlte nur noch die Schleife im Haar. Nein, war das armselig.

Der Spiegel auf der Bahnhofstoilette verriet mir meine Hässlichkeit, Unweiblichkeit, die ich ausstrahlte. Abgemagert, kein Arsch, keine Titten für gaffende Kerle, kein Funken Selbstbewusstsein in den Augen.

Hoffentlich erkannte man nicht den Jungen in mir. Für diese Maskerade hatte ich meinen letzten Stolz über Bord geworfen. War nur noch eine leere Hülle, die sich betrachtete. Die schlecht gefärbten Haare aus den Augen fegte. Angewidert den Nagellack auf meinen Finger betrachtete.

Nun war ich auch eine dieser Schlampe, ich fragte mich, wie sich das anfühlen musste.

Und diese Selbsterniedrigung nur, damit die Polizei mich nicht fand, fing, fortbrachte.

Ich packte das geklaute Make up aus der Tasche. Alles war geklaut, sogar die Haarspangen.

Wie schminkte man sich? Warum tat man es? Blieb mir denn nichts erspart?

Bei jeder neuen Schicht auf meinem Gesicht empfand ich absolute Selbstverachtung.

Ich war ein Jäger, Engelsucher, Mädchenmörder, keine Plastikpuppe. Das war nicht mehr ich, was mich aus dem Glas anstarrte. Nur ein neues, hässliches Mädchen auf der Welt.

Was man nicht tat, damit man mitgehen durfte, nicht die Nacht im Freien sitzen musste.

Ich war so tief gesunken, dass ich mich für einen Schlafplatz prostituierte. Wie abstoßend war ich geworden? Lag sicher an der Kapelle und der permanenten göttlichen Anwesenheit.

Ich beendete mein Werk, richtete das Kleid, zerschlug den Spiegel; ab in die nächste Straßenbahn, immer weiter weg von Jones und seiner neuen Meisterin. Vielleicht sah ich ihn wieder. Vielleicht auch nicht.

Aus dem Gebäude hinaus, direkt in die Nacht.

Nehemia war tot, nun fristete an seiner Stelle Cecilia ein armseliges Schicksal.

|Jones|

Im Morgengrauen war Nehemia fortgegangen, er hatte ihn mit keinem Wort auf diese Tatsache vorbereitet oder sich auch nur von ihm verabschiedet. Die Chancen, dass er sich wieder bei ihm blicken ließ, waren also verschwindend gering.

Es verletzte Jones fürchterlich, es war schlimmer als der Sturz gestern, den Nehemia mit Absicht herbei geführt hatte. Warum war er nur so bösartig zu ihm gewesen? Warum ließ er ihn ganz allein hier?

Was hatte er ihm bloß getan?

Seufzend sah sich Jones in der kleinen Kapelle um; die Essensreste lagen noch unberührt auf dem Boden unter der Bank, Nehemia hatte nichts davon mitgenommen.

Hoffentlich verhungerte er nicht.

Der Pfarrer von gestern würde sich hoffentlich Zeit lassen, bevor er hier ein weiteres Mal auftauchte und ihm drohte; aber mit Sicherheit verband er ihre Anwesenheit nicht mit den zwei Morden, die schon so unglaublich lange zurücklagen. Dann hätte er längst die Polizei her geschickt, schon gestern Abend noch.

Nehemia hatte völlig überreagiert, Jones fragte sich, ob er durch den ganzen Druck und die Geheimhaltung paranoid geworden war oder ob es ein Zug an ihm war, den er früher einfach nicht bemerkt hatte.

Er wusste es nicht; er kannte Nehemia schon länger und trotzdem viel zu wenig, um sich ein genaues Bild von ihm zu machen. Er wusste nur, dass er ein sehr bemitleidenswerter Mensch war. Und das nur anhand der Dinge, die er nur nebenbei miterlebt hatte.

Obwohl sie schon seit Monaten hier hausten, sah sich Jones zum ersten Mal sorgfältig diesen kalten, düsteren Raum an, den er heute wohl verlassen musste. Er konnte sich an viele Stunden hier nur bruchstückhaft erinnern, vor allem an die, in denen er so krank gewesen war, dass er dachte, er müsste jeden Moment sterben.

Nehemia hatte sich um ihn gekümmert, ihn gepflegt und nun einfach verlassen, als wäre all das nicht passiert. Es machte ihn unsagbar traurig.

Die Heilige Maria stand immer noch auf ihrem Sockel, sie schien sanft zu lächeln, als freute sie es, den Ort von den gottlosen Unmenschen bereinigt zu sehen. Jones wandte sich beschämt von ihr ab, er konnte sich leider noch erinnern, was sich hier während seiner Krankheitsphase zugetragen hatte.

Lustlos sammelte er seine wenigen Sachen, die noch hier herumlagen, zusammen und verließ die Kapelle, um sich auf die Bank in ihrer Nähe zu setzen und zu warten, dass sie kam. Sie musste kommen, sie hatte es ihm versprochen, dass sie sich wiedersahen.

Und er musste sie unbedingt fragen, ob er bei ihr wohnen durfte und wenn es nur vorläufig war. Alles war ihm lieber als nach Hause zurückkehren und den trostlosen Alltag wieder durchleben zu müssen.

Sie ließ sich viel Zeit, es machte ihn unglücklich; bedeutete er ihr so wenig? Dabei war er nun auf sie angewiesen, hoffentlich schickte sie ihn nicht weg. Das verkraftete er nicht, zwei Menschen an einem Tag zu verlieren.

Nach zwei Stunden, als die Sonne ihm schon unangenehm auf den Nacken schien, erkannte er eine Gestalt, die den Weg zu ihm hinauf kam, weiblich und zierlich mit langen Haare, die ihr über die Schultern fielen. Das konnte nur sie sein.

Sie begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange; er wusste gar nicht, wie er seine Frage formulieren sollte, weil er befürchtete, dass sie sich ausgenutzt vorkam und ihn verstieß.

Vor Tagen hätte er noch nicht damit gerechnet, aber Dinge geschahen schneller als man es erwartete.

„Ich muss dich was fragen.“ Sein Herz klopfte vor Nervosität; ein Funken Angst hatte sich auch hinein gemischt.

„Was ist denn?“ Sie lächelte lieb, ihre Hand lag auf seinem Oberschenkel. Sie dachte wohl an etwas anderes als er in diesem Moment.

„Der Pfarrer hat uns erwischt, wir können hier nicht mehr wohnen“, fing er stockend an, immer damit rechnend, von ihr eine Abfuhr erteilt zu bekommen. „Und Nehemia ist heute Morgen ohne mich weggegangen.“ Und hatte ihm dadurch auf platonischer Ebene das Herz gebrochen.

„Ich konnte deinen Freund noch nie leiden“, warf sie sofort ein.

„Kann ich bei dir wohnen?“ Er traute sich gar nicht, sie bei dieser Frage anzusehen, als könnte sie ihn allein für diesen Gedanken anschreien. „Nicht für immer, aber solange, bis ich was Besseres gefunden habe…“

Sie schwieg erst einmal, schien nachzudenken. Ihre Hand hatte sich verzogen, ruhte nun auf der Lehne der Bank. „Ich weiß nicht, meine Wohnung ist sehr klein und nicht für zwei Personen gemacht…“

„Ich kann auch für dich aufräumen und putzen und das Essen kochen.“ Er hatte solche Angst davor, vollkommen auf sich allein gestellt zu sein, er würde alles tun, damit sie ihn aufnahm. „Wenn du willst, kann ich auch noch irgendwie Geld verdienen…“

Das anhaltende Schweigen tat so furchtbar weh, am liebsten hätte Jones angefangen zu weinen. Sie war doch so wichtig für ihn, warum behandelte sie ihn dann so grausam?

„Wir können es ja ausprobieren“, meinte sie schließlich leichthin und vor Erleichterung wusste Jones gar nicht, was er darauf antworten sollte. Deswegen schwieg er und folgte ihr lieber, als sie aufstand, ihn an der Hand nahm und ihn mit sich den Berg hinunterführte, weg von der Kapelle und den letzten Erinnerungen an die monatelange Flucht.

Cecilia I

Die Stadt war dunkel und doch zu laut, um jemals schlafen zu können.

Züge fuhren ein und aus, Menschen rannten sich fast gegenseitig um, stritten, schrien sich an, wurden ausgeraubt, ohne es zu merken. Eine ganz gewöhnliche Großstadt.

Kälte stieg in mir auf, das Kleid schützte mich nicht, ließ eine unbekannte Unsicherheit in mir aufsteigen. Das lag an Cecilia; aber ich war nun Cecilia geworden und musste mit ihrem Wesen umgehen können.

Und mir einen Unterschlupf für die Nacht suchen; Mädchen wurden noch öfter vergewaltigt als Jungen. Doch ich ließ nie wieder zu, dass jemand mich ohne meine Erlaubnis berührte, nie wieder. Ansonsten schnitt ich ihm die Hand ab, stach ihm die glotzenden Augen aus, rächte mich an ihm für alle Grausamkeiten meiner toten Mutter.

Ich vermisste sie nicht, genauso wenig wie Jones. Oder seine Schlampe.

Einen Ort zum Warten brauchte ich, zum Beobachten von Leuten. Vielleicht nahm mich jemand zu sich mit; ein Bett wäre eine wundervolle Sache, die ich so entsetzt lange nicht mehr gespürt hatte. Weichheit und Wärme statt Kälte und Härte.

Träum weiter, die Realität verschenkte nichts an die, die es nötig hätten.

„Was machst du so spät hier allein?“ Ein älterer Mann; erzwungen zurecht gemacht, in Anzug und teurer Jacke. Aber der anzüglichen Miene eines Perversen; er versuchte, in meinen Ausschnitt zu starren.

Angeekelt drehte ich mich um und eilte davon; solche widerlichen Menschen musste ich umgehen, die nahmen mich vielleicht, aber dafür töteten sie über Nacht zu vieles in mir.

Die Bank wirkte nicht einladend, eisig und metallisch, zitternd saß ich darauf und ließ die Zeit verstreichen, ohne zu wissen, ob das Warten sich lohnte oder mich nur umbrachte.

Wieder ein Mann, wieder dieser Blick, kein Wort zu mir, doch ein Gesicht spricht Bände.

Es fühlte sich unglaublich erniedrigend an, kein Junge zu sein.

Cecilia II

„Hey Kleine, hast du kein Zuhause?“ Der fünfte, der mich ansprach, nur ohne diesen gewissen Ausdruck in den Augen, es klang nur neugierig.

Was sollte ich antworten? Ein richtiges Zuhause hatte ich nie besessen, aber das wollte derjenige gar nicht hören. Vielleicht provozierte nur, ging, sobald man nicht auf ihn reagierte.

„Ist arschkalt hier, du holst dir eine Erkältung, ist dir klar, oder?“ Dabei fiel sein Blick auf den dünnen Stoff, meine mit Gänsehaut überzogenen Arme, die fehlende Jacke. Was juckte es ihn, ob ich an einer Lungenentzündung starb?

„Hast du keine Freunde, die dich aufnehmen können?“

Wer brauchte Freunde? Man wurde von ihnen ausgenutzt, hintergangen, abserviert, vor Neid umgebracht. Allein durch die Zeitung erfuhr man, wie froh man sich schätzen konnte, nicht auf andere angewiesen zu sein.

„Komm, antworte mal, ich tu dir nichts, ehrlich.“ Er grinste mich an, ließ den freundlichen Kumpeltyp raushängen, versuchte mein Vertrauen zu gewinnen. Cecilia sollte sich trotzdem vorsehen, Männer spielten so lange den hilfsbereiten Retter, bis sie die Bezahlung dafür verlangten.

„Ich bin Darren“, stellte er sich mir vor. „Ich kann dir helfen, wenn du willst.“

Ich hob den Kopf an, um ihn besser zu betrachten. Junger Mann, selbstbewusst ohne Grund, schwarz dominierte sein ganzes Erscheinungsbild, dezent aufdringlich und von seinen guten Absichten selbst überzeugt.

„Wie heißt du? Julia, Eva, Miriam? Ich kann weiter raten, wenn du willst.“

Ich konnte ihn umbringen, wenn ich wollte.

Er ließ wohl nicht locker, versuchte an mir sein Ego aufzupolieren, indem er den barmherzigen Samariter für ein verwirrtes Mädchen mimte.

„Cecilia.“ Wenn man ihn aussprach, fühle er sich noch so ungewohnt, neu, unverbraucht an. Ihn zu denken fiel mir leichter. Sie war nun ich. Nicht ich sie.

„Gut, Cecilia.“ Meinen Namen schien er mir nicht abzukaufen, hielt ihn zurecht für eine Tarnung, sprach dies aber nicht an. „Wenn du für ein paar Tage irgendwo übernachten willst, kannst du zu mir kommen. Ist kostenlos. Und ich tu dir nichts, ich bin ja nicht dumm und will im Knast landen. Dafür bin ich nicht jahrelang in die Schule gegangen.“

Er erinnerte mich ein wenig an Jones; der hatte auch immer so viel und unnötig geredet, immer seine einsamen Monologe geführt, gar nicht auf eine Antwort von mir gewartet.

„Es ist gar nicht weit von hier, nur ein paar Straßen. Kannst sie dir ansehen und wenn du doch nicht willst, gehst du wieder.“

Ein Bett oder Sicherheit, für eine der Optionen musste ich mich nun entscheiden; lange versuchte er mich wohl kaum für sich zu begeistern, wenn der Erfolg ausblieb.

Für Cecilia stand die Antwort fest, bevor der Verstand Protest hätte einlegen können. Ein unechtes Lächeln, viel zu schwach, erreichte meine Mundwinkel. „Ich komme mit.“

Und nahm die Vorwürfe, die später folgten, in Kauf.

Cecilia III

Eine typische Wohnung für jemanden mit wenig Geld. Klein, nicht in der besten Gegend, von außen unscheinbar. Der äußere Schein trog. Wie so oft im Leben.

Als er mich ins Innere führte, überkam mich Unbehagen, ich schlitterte freiwillig in die Höhle des Löwen, hatte mich doch erst aus dem puren Grauen befreit.

Mädchen sind dumm, also musste ich es nun auch sein; Cecilia brauchte einen Schlafplatz.

Ein Flur, ein Zimmer, Bad, Küche. Mit mehr konnte er mir nicht dienen. Mehr benötigte ich nicht, hatte jahrelang nicht mehr besessen als das Wissen, dass alles hätte anders verlaufen können, wenn ich in einer anderen Familie aufgewachsen wäre.

Schwarz in schwarz. Die Wände, die Vorhänge, jedes einzelne Möbelstück. Ab und zu blitzte ein verdächtiger Rotton auf. Seine Lieblingsfarbe musste ich nicht erraten.

„Hoffentlich gefällt es dir.“ Er grinste breit, schien stolz auf sein Heim zu sein.

Der unechte Totenkopf auf der Fensterbank starrte mich an. Folterkammerfeeling, Satanistenstube, Individualitätsfanatiker. Was kümmerte es mich, solange er mich nicht anrührte.

Kerzen brannten auf dem Küchentisch, immer weiter, bald verlöschten sie von selbst.

Vergänglichkeit und Tod. Was ein Zufall, es begleitete mich auf Schritt und Tritt.

„Hast du Hunger?“ Er hielt mir einen Korb mit Obst entgegen. Äpfel und Kirschen. Als ob ich nach all den Monaten noch Obst sehen wollte.

„Nein.“ Ich zog ein Bett Nahrung vor.

Cecilia IV

Sogar der Vorleger im Badezimmer war schwarz. Solch eine Liebe zum Detail verstand ich nicht, man hatte mir beigebracht, alles zu nehmen, was man bekam. Wer wählerisch war, den ereilte ein früher Tod. Und dafür lebte er davor ein zufriedenes Leben.

Mit einem Waschlappen wischte ich mir die Schminke von den Augen. Er nahm sie nicht auf, verteilte sie nur großflächig über meine Wangen. Ich sah aus wie ein verheultes Flittchen. Wie makaber ein Gegenstand sein konnte, ohne es zu wollen.

Ohne Farbe sah ich gefährlich unweiblich aus, er durfte mich nicht genau betrachten. Man bemerkte es, dann wäre mein Aufenthalt hier vorbei. Kein Typ nahm ein Mädchen auf und ließ einen Jungen bei sich schlafen. Niemand reagierte auf Täuschung erfreut.

„Brauchst du was?“, rief er mir durch die Tür zu.

Wieso so zuvorkommend? Forderte er morgen für seine Freundlichkeit sexuelle Gefälligkeiten oder suchte er nach guten Taten, um andere Sünden abzuwaschen?

Mein Spiegelbild sah aus wie Nehemia und war doch Cecilia. Ein übergroßes Oberteil von meinem verdächtig netten Gastgeber verdeckte meinen Körper. Es sollte mich vor neugierigen Blicken und unverschämten Fragen schützen.

Cecilia V

Selten hatte ich ein Bett als so bequem empfunden wie das, in dem ich nun lag. Vielleicht war es gar nicht real und ich träumte nur davon.

Aber wenn man über Wochen hinweg eine Kirchenbank gewohnt war, wäre man auch bei einer halb zerfallenen Matratze nicht mehr wählerisch.

Trotzdem wollte der Schlaf nicht kommen, obwohl die Müdigkeit an mir riss, mich in die Tiefe zu reißen und zu verschlingen drohte.

Der Grund lag auf dem Sofa, ein paar Meter von mir weg. Zwar rührte er sich nicht, hatte mich nicht einmal mehr als nötig angesehen. Als ich das Bad verlassen hatte und in sein Bett gekrochen war. Aber ich musste auf der Hut sein, das Leben spielte einem gerne grausam mit.

Ihn konnte ich so wenig einschätzen, glaubte seiner großen Vertrauensseligkeit nicht. Niemand war ohne Hintergedanken freundlich. Nicht zu mir.

Und ich hatte mich in einem Anfall von Bequemlichkeit ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Meine Hände griffen fester um die weiche Decke, ich drückte mich tiefer in diesen Berg aus schwarzen, mit weichem Stoff bezogenen Kissen. Ich hatte fast nicht mehr damit gerechnet, solch einen Luxus erleben zu dürfen.

Doch der Preis dafür blieb mir weiterhin verborgen. Selbst als ich in einen Dämmerzustand glitt. Nicht wach, nicht schlafend.

Weiterhin wachsam.

Cecilia VI

Rote Rosen.

Schwarzes Papier.

Blut und Speichel an der kaputten Tapete.

Ein Berg, ein See aus Leichen. Ich kannte sie alle. Meine Opfer, wie man es nannte.

Kein Atmen, kein Kratzen, eine schwere Stille hing über allem.

Ein Pfeifen setzte ein, hoch, schrill, disharmonisch. Es schmerzte in den Ohren, verursachte Kopfschmerzen, Übelkeit. Es sollte enden.

Der Ton nahm zu, ich glaubte, jeden Augenblick mein Gehör zu verlieren.

Es wäre eine Befreiung gewesen.

Regen vor meinen Augen.

Beton bröckelte von der Decke.

Bald wurde ich hier begraben.

Eine Bewegung, schwach und nicht zuordbar.

Der Berg schien in sich zusammenzufallen.

Und doch lagen dort nur Leichen. Ich wusste es.

Eine Gestalt trennte sich von den übrigen Mädchen. Genauso eine traurige Erscheinung, dünn, eingefallen, verstaubt. Noch von den Resten der Erde bedeckt.

Trotzdem erkannte ich sie, mein Herz schien zu vereisen.

Ich hatte sie erstochen, mit ihrem Einverständnis. Wieso kehrte sie zurück und suchte mich heim? Wieso ließ sie nicht ihre toten Finger von mir?

Immer näher wankte sie, ihre Augenhöhlen schimmerten dunkel und leer. Aus ihrem Mund drang nichts, nicht einmal meinen Namen konnte sie aussprechen.

Aber ihre Mundbewegungen verrieten den Versuch.

Der grauenhafte Ton endete, sie stürzte vor mir zusammen.

Knochen und Kleiderfetzen.

Endlich brach der Traum auseinander.

Cecilia VII

Zum ersten Mal in meinem Leben übergab ich mich direkt nach dem Aufstehen.

Mitten auf die Bettdecke, mein ganzer Körper schien sich zusammenzuziehen. Ich würgte, als müsste ich jeden Moment sterben.

Verflucht sei der Schlaf.

Es war ihm natürlich nicht verborgen geblieben, dass ich sein Bett verunreinigte. Überhören konnte man die Geräuschkulisse nicht, auch nicht falsch interpretieren.

„Gehts dir nicht gut?“

Nein, ich kotzte zum Spaß.

Aber eigentlich ging es mir nicht einmal schlecht. Die Realität war bisher immer schlimmer als ein Traum gewesen. Warum nahmen mich diese Bilder so mit?

Cecilia, die anfällige Kuh war der Grund. Ja, so musste es sein.

Ich hatte mich zu sehr auf sie eingestellt. Sie vertrug nichts, genau wie es zu einem Mädchen passte.

Endlich gelangte wieder Luft in meine Lungen; der Würgereiz legte sich, erschöpft rutschte ich über die Kante auf den Boden. Einatmen, ausatmen. Sich beruhigen, sich über sich selbst ärgern, natürlich innerlich.

Aber diese widerliche Schwäche bedeutete Vorteile. Keine vermutete hinter einem solch armseligen Wesen einen Serienmörder. Cecilia gab mir ungewollt eine weitere Tarnung.

In seinen Augen las ich Ekel und Resignation, weil er hinter mir herputzen musste.

Das war wohl meine erste und letzte Nacht hier gewesen.

Cecilia VIII

Ich fühlte mich dreckig, der Geschmack in meinem Mund widerte mich an. Am liebsten hätte ich mich erneut erbrochen, wenn das meine Mundhöhle gereinigt hätte.

Wie schnell alles aus dem Ruder lief, wenn man sich nicht dagegen wehren konnte.

Ein Schwall Wasser lief in meinen Rachen, lief mir übers Gesicht, durchnässte meine Haare. Ich hatte mich fast in das Waschbecken gelegt, um mich zu säubern.

Meine Sicht war mir versperrt, mein Atem stockte immer wieder, aber mir war es gerade egal, ob ich in diesem Becken ertrank.

Er betrat das Badezimmer, fasste mich an den Schultern, zog mich nach hinten weg. „Alles okay bei dir?“ Sein Blick glitt über mich, musterte mich kritisch. Mit einem Handtuch rubbelte er mein Gesicht trocken. „Mach dir keinen Stress, kann jedem mal passieren.“

Wenn er wüsste, würde er das nicht sagen. Aber in meinen Kopf konnte zum Glück noch keiner sehen. Die Polizei wäre mir sofort auf der Spur.

Und er hätte endlich verstanden, wer ihm in Wirklichkeit sein Bett beschmutzt hatte.

Cecilia IX

Ich wartete nur auf den Befehl, das Weite zu suchen. Seine Gastfreundlichkeit nicht weiter auszunutzen. Mich für seine Nettigkeit endlich erkenntlich zu zeigen.

Irgendetwas in dieser Richtung gehörte zum Leben als Frau dazu.

Stattdessen bereitete er mir ein Frühstück vor. Was führte er bloß im Schilde?

Während ich zögerlich in die Butter schnitt, mich fragte, ob er die Milch oder den Kaffee vergiftet hatte, um mich unschädlich zu machen, redete er. Über Kleinigkeiten, die in der Welt passiert sein mussten, als wir uns von ihr abgeschottet hatten. An unser Ohr waren solche Neuigkeiten nicht gedrungen. Selbst wenn, es wirkte sich nicht auf mich aus.

Was interessiert es mich also.

Die Regierung hatte neue Gesetze beschlossen. Eine angeblich bekannte Persönlichkeit war gestorben, eine andere stand kurz davor. Unfälle auf den Straßen dank unerwarteter letzter Schneeeinbrüche.

Meine Aufmerksamkeit schweifte immer mehr ab. Sollte es so sein, es ging mich alles nichts an. Mein Leben fixierte sich nicht auf Zeitungsmeldungen und Fernsehbilder.

Im nächsten Satz bot er mir übergangsweise ein Zuhause hier an. Fast verschluckte ich mich am Bissen meines Brötchens. Dieser Mensch litt an einem Helfersyndrom. Oder an perversen Fantasien. Mein Misstrauen forderte mich auf, meine Verkleidung zu erneuern, alles zusammenzupacken, mich von der warmen Wohnung zu verabschieden.

Aber ich konnte nicht, die Vorstellung einer weiteren monatelangen Flucht mit Gefahr, Kälte und Hunger reizte mich nicht, eine Trägheit hatte mich fest in ihren Klauen, ließ mich nur die positiven Seiten meines Aufenthalts hier erkennen.

Was war aus mir geworden?

Cecilia X

Zeitungen, sie bedeckten den Boden wie eine tote Laubschicht. Dunkle Buchstaben tanzten ein wirres Spiel auf zerknittertem, altem Papier. Teilweise stapelten sie sich kniehoch.

Er schien ein Sammler zu sein, sie wahllos zu horten, als starb er elendig ohne sie. Doch Ordnung verlangte er nicht für seinen Schatz, kein Datum passte zum anderen.

Den Sinn seiner Leidenschaft verstand man nicht von allein. Nachfragen unterließ ich.

Diese hellen Flecken passten nicht zu seiner düsteren, mit Bedacht ausgewählte Dekoration. Nur erzählte beides viel vom Tod, dem unausweichlichen, der uns alle in seiner Hand hatte.

Die Bestimmung des Lebens; sterben, davor zu leiden oder sich einzureden, ein glückliches, selbstbestimmtes Dasein geführt zu haben.

Die Lüge hatte ich noch nie geschluckt.

Ohne seine Erlaubnis einzuholen, blätterte ich die Zeitungen durch, Seite um Seite überflog ich, ohne von den geschilderten Grausamkeiten oder Glücksfällen berührt zu werden. Es wurde nur veröffentlicht, um leeren Platz zu füllen und Geld einzunehmen, die Schreiber interessierten die Schicksale genauso wenig wie mich.

Als ein Bild mit meinem starren Gesicht mit entgegenblickte, war ich kurzzeitig überrumpelt, dabei hätte ich es wissen müssen. Meine Taten gerieten nicht so schnell in Vergessenheit.

Man rief die Bevölkerung zur Mithilfe auf, den jungen Mörder zu fassen. Kein Funken Verständnis, Mitleid brachten sie für mich auf. Für sie war ich ein Monster mit einer guten Tarnung.

Vielleicht hatten sie sogar recht.

Cecilia XI

Das Aufstehen fiel mir wieder unerwartet schwer.

Übelkeit und Schwindel nach einer Nacht voller abstruser Bilder und erbärmlichen Erinnerungsfetzen.

Entweder war Cecilia schwach oder diese Umgebung verwandelte mich in eine kaum wiederzuerkennende Witzfigur. Gut für die Tarnung, schlecht für das nicht vorhandene Selbstbild. Ich wurde wirklich zu diesem verhassten Mädchen.

Darren musste mich dafür lieben, da er hemmungslos seine Zwangsstörung ausleben konnte und sich genau vergewisserte. Wie ich mich fühlte. Ob ich Flüssigkeit benötigte. Meine Tage hatte. Tropfen oder Pillen brauchte.

Statt zu antworten, blieb ich liegen, erlaubte mir den Luxus, gar nicht zu antworten, statt alle Angebote abzublocken.

Mein Gastgeber grinste leicht spöttisch in sich hinein, strich mir eine Strähne aus dem Gesicht, widmete sich einer düster gehaltenen Zeitschrift. Kein Pornomagazin.

Vielleicht war ich durch Zufall auf ein gütiges, asexuelles Wesen mit einem Hang zum Morbiden gestoßen.

Vielleicht auch nur einem wunderbaren Schauspieler ins Netz gegangen.

Cecilia XII

Er hatte mir ein schnelles Frühstück vorbereitet und war dann verschwunden. Vermutlich musste er wie fast jeder Mensch auch irgendwann arbeiten gehen.

Bei mir daheim war so etwas nicht vorgekommen.

Obwohl ich inzwischen mit allem rechnete, wunderte mich diese grenzdämliche Vertrauensseligkeit, mit der er annahm, dass ich ihm nicht die Hütte leerstahl. Keine seiner Sachen verscherbelte. Kein Feuer legte, weil es mir gerade in den Sinn kam.

Auf verdrehte Weise musste er auch wahnsinnig sein. Oder weltfremd. Oder heckte einen Plan aus, der mein Denken weit überstieg, weshalb ich ihn nicht verstand.

Ich nutze die Zeit und aß das Frühstück, ohne es anschließend wegzuräumen. Durchstöberte erneut die Zeitungen und fand darin zu viele Berichte über mich, meine Taten, meinen Hintergrund. Stellte mich Ewigkeiten unter die Dusche, um das Gefühl zu bekommen, endlich reingewaschen zu sein.

Es blieb mir verwehrt, selbst als ich meine Haut mit seinem Badetuch fast blutig schrubbte.

Dann blieb ich halt auf ewig verseucht und ein offensichtlicher Mörder. Mit den letzten Maskarafasern im Augenwinkel. Cecilia, du Bitch.

Ich schaltete mich durch das Fernsehprogramm, inspizierte das Haltbarkeitsdatum der Lebensmittel im Kühlschrank, ritzte mit meinem Messer in meinen Armbeugen herum.

Ich durfte nur in Gedanken jagen, doch da tötete ich gerade nur zum wiederholten Male meine Mutter.

Cecilia XIII

Seit vier Tagen saß ich bei Darren in der Wohnung, nicht in der Lage, mich zum Davonlaufen aufzuraffen. Es war grauenhaft langweilig und herrlich einfach. Er machte mir Essen, er setzte mir keine Grenzen, er ließ mich weiterhin in seinem Bett schlafen. Und er hatte immer noch keine Andeutung gemacht, dass ich diesen Luxus bald als seine persönliche Sexsklavin abarbeiten sollte.

Allerdings war ich auch zu bequem, um übermäßig nach dem Haken an der Sache zu suchen.

Ich war so sicher wie noch nie in meinem Leben. Trotzdem fühlte ich mich alles andere als gut.

Ich hasste Cecilia, ich hasste sie abgrundtief und hätte sie schon längst in handliche Stücke zerteilt, wenn es sie tatsächlich gegeben hätte. Aber sie war ich. Ich war sie. Und ich hatte keine Kontrolle über sie. Sie vereinnahmte mich, machte mich zu dem, was ich schon immer am meisten verabscheut hatte. Einem schwachen, unfähigen Mädchen. Jeder Blick in den Spiegel machte mich rasend.

Aber wenn ich wieder ich wurde, wäre es vorbei mit allem. Eventuell endgültig.

Und dann gab es diese Langweile. Die mich quälte, weil mich nichts interessierte. Keine Fernsehsendung, keine der tausend Zeitungen, nicht der Blick aus dem Fenster. Irgendetwas fehlte einfach und ließ sich nicht kompensieren. Vielleicht ausreichend menschlicher Kontakt. Vielleicht die ständige Angst, enttarnt oder misshandelt zu

werden. Vielleicht ein paar kaltblütige Morde. Mein Leben hatte aus fast nichts anderes bestanden.

Ich konnte wohl kein Leben wie ein normaler Mensch führen.

Cecilia XIV

Darren kam später nach Hause. Der Grund dafür befand sich in einer Plastiktüte.

Ein Kleid. Für mich. Wie nett und beschämend zugleich.

Ich war es nicht gewöhnt, dass man mir Sachen schenkte, gezielt Dinge für mich aussuchte, um mich zu erfreuen. Das war eine irritierende Erfahrung.

Vor allem, weil diese Geste sich eigentlich an Cecilia richtete. Nehemia trug keine Kleider, er tötete höchstens diejenigen, die welche trugen.

Es war anders, wenn ich mich dazu entschloss, mich zu erniedrigen und ein Kleid anzuziehen, um meine Identität zu verschleiern. Dann war es meine Entscheidung. Mein freier Wille.

Das hier war schlimmer. Viel schlimmer. Nun wurde von mir erwartet, dass ich es genau jetzt anzog, ob ich wollte oder nicht. Ich konnte nicht selbst darüber verfügen.

Geschenke konnten so grausam sein.

Er grinste mich auffordernd an. „Komm, zieh es an, damit ich weiß, ob es passt oder ob ich es zurückgeben muss.“

Ich hätte sofort zu zurückgeben tendiert. Seine Kleidung war in Ordnung gewesen, wie meine, nur in größer. Als Ersatzkleidung ausreichend.

Die blöde Schlampe Cecilia konnte sich freuen. Kleidung, die ihr zustand.

Im Badezimmer überlegte ich. Ich konnte es zerschneiden. Es aus dem Fenster werfen. Mich selbst aus dem Fenster werfen. Oder besser hinausklettern und endlich weiter ins Ungewisse stürmen.

Oder es kurz anziehen, es ertragen, es verschwinden lassen. Er war kaum daheim, es fiel ihm nicht auf, wenn ich doch wieder seine Kleidung bevorzugte.

Schwarz, weiße Totenköpfe darauf verteilt, nun passte ich zur Zimmereinrichtung. Aber ich passte nicht zum Kleid, sah furchtbar kränklich darin aus, es lenkte die Aufmerksamkeit sofort auf meine nicht existenten Brüste. Schreckgespenst. Cecilia, man sieht deine Hässlichkeit, dieses Kleid enttarnt sie, pass bloß auf, wer dich so sieht.

„Es steht mir nicht, ich zieh es wieder aus!“

„Zeig es trotzdem mal.“ So einfach ließ er mich nicht davon kommen.

Er stand hinter mir, eine Hand an meiner knochigen Taille, die andere zupfte denselben Ärmel immer immer wieder zurecht. „Cecilia.“ Zum ersten Mal verspürte ich ein Unwohlsein in seiner Gegenwart. „Du siehst so hübsch aus.“

Es fühlte sich an wie eine Beleidigung. Weil es eine Lüge war, eine ziemlich dreiste. Weil er mich dabei ansah, als würde er mich heimlich auslachen. Weil ich so etwas nicht von ihm hören wollte. Er hatte mich behandelt wie ein Kind, eine kleine Schwester. Die Situation im Moment passte gar nicht dazu. Nichts stimmte in diesem Augenblick. Sein Finger fuhr über meinen Nacken.

„Du solltest mal wieder nach draußen gehen.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (65)
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Von: abgemeldet
2012-01-10T12:47:30+00:00 10.01.2012 13:47
Ich frage mich schon, wie lange der Schein so hübsch und beinahe idyllisch bleibt. Wahrscheinlich nicht lange.
Mir schwant Übles, aber vielleicht irre ich mich auch. Wäre nicht das erste Mal. Er soll nur vorsichtig sein. Auch Katzen kratzen ja gern mal und der Kerl dort ist so undurchsichtig...
Von:  Takiko8
2012-01-10T12:00:47+00:00 10.01.2012 13:00
Ich habe die Geschichte gestern entdeckt und ich finde es beeindruckend wie du die Geschichte erzählst
Woher hast du die Inspiration dazu?

Von: abgemeldet
2012-01-08T23:14:42+00:00 09.01.2012 00:14
Ich kann mich noch immer nicht dran gewöhnen.
Deswegen weiß ich nicht so recht, was ich schreiben soll.
Ich weiß mit dem Beweggründen noch nicht wirklich was anzufangen.
Aber ich habe ihn von Anfang an nicht verstanden und das macht ihn/sie so interessant.
Von: abgemeldet
2012-01-04T15:56:58+00:00 04.01.2012 16:56
Dann ist Jones wenigstens schon einmal versorgt. Ob es gut geht, ist eine andere Frage.
Beachtlich finde ich, dass er die ersten Zeilen so gar nicht an sie denkt, sondern nur an Nehemia. Dessen Fortgehen scheint wirklich ein Loch in sein Herz gerissen zu haben, doch dass er nicht drauf kommt, was die Ursache dafür war, zeigt, wie unerfahren, naiv und... ja... dumm er ist. Liegt doch auf der Hand... irgendwie.
Na mal sehen, wie lange sie ihn aushält.
Für einen kurzen Moment habe ich wirklich gedacht, dass Nehemia zurückkommt... in seinem neuen Outfit. Die Reaktion von Jones wäre verdammt interessant gewesen. ^^
Von: abgemeldet
2012-01-02T16:29:32+00:00 02.01.2012 17:29
Nehemia als Mädchen also...
Mal sehen, ob ich mich damit anfreunden kann. Als Kerl hätte er sich auch ganz gut prostituieren können...
Obwohl ich eher angenommen hätte, dass er sich eher irgendwelche Bruchbuden als Unterkunft sucht, als genau das weiterzumachen, von was er weggelaufen ist. Die gibt es im Grunde überall. Aber vielleicht braucht er es doch bequemer?
Nun... wenigstens versinkt er zurecht im Selbstmitleid, aber ändern tut sich rein gar nichts.
Von: abgemeldet
2011-12-30T13:04:23+00:00 30.12.2011 14:04
Ich will gar nicht wissen, was ihm da für ein Gedanke kommt, auch wenn ich es ahne...
>_<

Sorry... heute nur sowas Kurzes, aber... argh... ich platz gleich. Was hat er nur vor?
Von: abgemeldet
2011-12-28T19:16:14+00:00 28.12.2011 20:16
Dass Jones sich so verhalten wird, überrascht mich ein wenig.
Da scheint die Alte, die er sich da gesucht hat. sofort wieder Geschichte zu sein, dabei schwärmte er doch so von Liebe.
Die gemeinsame Flucht und die gemeinsamen Stunden vor dieser schienen doch intensiv genug gewesen zu sein, dass sie sich aneinander gebunden haben, denn Nehemia gibt ja auch zu, dass er es nicht mehr mitmachen kann... Jones nicht mehr so sehen kann...
Interessant...
Jetzt bin ich gespannt, ob N. so hart bleibt...
Sein Vorhaben in die Tat umsetzt...
Von: haki-pata
2011-12-26T12:27:22+00:00 26.12.2011 13:27
Menschen, die niemanden ewas zu Leide tun... Doch Gutes nur sich selbst.

Nehemias Frage blieb unbeantwortet.
Interessant...
Von: abgemeldet
2011-12-25T10:37:32+00:00 25.12.2011 11:37
Ja... die Entscheidung habe ich im Grunde erwartet - gleichermaßen mit der, dass er die Alde abmurkst und doch Jones mitnimmt. Aber so würde er den Kleinen wohl kaputt machen, der das erste Mal Liebe empfindet, auch wenn es keine richtige ist. Eben eiine Fickgeschichte. Das wird Jones auch noch merken, aber erst dann, wenn es zu spät ist. Wenn Nehemia längst fort ist.
Ist das Klügste, was er machen kann, wenn er seine Ruhe haben will.
Ich meine... wenn man die Gedankengänge aus den letzten Kapitel verfolgt, dann ist es richtig dreist von Jones, dass er ihn damit noch zulabert und solche Vorschläge macht.

Von: abgemeldet
2011-12-22T12:51:26+00:00 22.12.2011 13:51
Keine Ahnung, warum sich Nehemia nicht verzieht, wenn es ihn doch so nervt... und er es so widerwärtig findet...
Wahrscheinlich die Faszination des Grauens oder so.
Waren einige Fehler drin. Hast dir beim Schreiben nicht viel Zeit gelassen, hm? Nun... son Kap hätte ich auch fix hinter mir haben wollen. >_<


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