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Kalendertage

Der Tag, an ...
von

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1 - Der Tag, an dem ich mit dem Hokagen stritt

Nie schien die Sonne fröhlicher von einem strahlend blauen Himmel herab. Es hätte wohl ein herrlicher Sommertag werden können, wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wäre. Wenn ich nicht wieder einmal mit meiner vorlauten Kodderschnauze und meiner aufbrausenden Art so sehr angeeckt wäre und in aller Öffentlichkeit eine Szene veranstaltet hätte. Dabei hatte ich meinen Sohn nur von der Schule abgeholt, weil wir noch über den Wochenmarkt bummeln wollten. Aber natürlich kam es immer anders, als man dachte. Vielleicht kennt ihr diese Tage, an denen man am liebsten im Bett geblieben wäre. So einen Tag, den man abends nur noch abhaken wollte, weil sowieso in wenigen Stunden ein neuer Tag beginnen würde. Wer könnte schon sagen, was einem dann alles widerfahren würde.

Aber dieser eine Tag war so einzigartig, so skurril, dass er mir für immer im Gedächtnis bleiben würde, krempelte er mein zukünftiges Leben doch maßgeblich um. Wenn ich an ihn zurückdenke, dann kann ich sogar drüber lachen und bin froh, wie alles geschah. Doch damals hatte mich eben dieser besagte Tage vollkommen aus der Bahn geworfen und mich zutiefst erschüttert.
 

Aber für euch wäre es sicher einfacher, wenn ich von ganz vorn beginnen würde. Und vielleicht auch erst mal ein paar wenige Worte zu mir. Ich heiße Sherenina, und wie ihr an meinem fremdländlich klingenden Namen schon erkennen könnt, komme ich gebürtig nicht aus dem Feuerreich. Im Gegensatz zu meinem Sohn, der hier geboren wurde, stamme nämlich gar nicht aus Konohagakure, sondern aus einer Stadt aus dem Erdreich. Um es genauer zu sagen, eine Kleinstadt mitten im Hochgebirge direkt an der Stoffstraße. Die Straße wurde damals wie heute als Haupthandelsroute über die steilen Bergpässe bereist. Es war ein Segen, dass der Vierte Ninjakrieg dem Handel nichts angehabt hatte, und somit hatte sich mein Heimatort zu einem blühenden Marktplatz entwickelt, auf dem hauptsächlich Stoffe und Garne aller Art vertrieben wurde. Handel geht immer.

Und so komme ich ins Spiel, denn ich arbeite in einem Stoffekontor. Es war sicherlich nie mein Traumberuf gewesen. Doch berufliche Alternativen gab es wenige, und mittlerweile habe ich mich nicht nur damit arrangiert, sondern den Job auch lieben gelernt. Es gibt so herrliche, außergewöhnliche Stoffe. Einer schöner als der andere. Und bei manchen steckt so viel Liebe zum Detail in den Fäden, dass man die Stickerei oder Weberei schon selbst als eigenständige Kunst bezeichnen könnte. Ihr seht, ich schweife komplett von meiner eigentlich Erzählung ab. So sehr erfreut es mich. Kurzum: Als das ortsansässige Stoffekontor expandieren und weitere Kontore in anderen Ländern eröffnen wollte, hatte ich aus verschiedenen Gründen nicht gezögert, mich freiwillig zu melden, um das neue Kontor in Konohagakure aufzubauen und zu leiten. Bis dahin wusste ich nicht einmal, wo Konohagakure lag und ob es überhaupt weit weg von zuhause sein würde. Ohja, das war es dann allerdings. Meine Augen wurden immer größer, als ich auf der Landkarte mit den Fingern die Entfernung zwischen meiner Heimat und Konoha, wie sie hier alle ihr Dorf nannten, schätzend abgriff.

Mir war so rein gar nichts bekannt, außer dass es ein Ninjadorf wäre, und meine ersten Tage in Konoha waren ein wahrer Kulturschock. Fremde Menschen, fremde Sprache, fremdes Essen, fremde Sitten und Gebräuche. Und das Klima erst. Im Gebirge war es rauher und kälter. Hier war es immer warm, wenn man von den wenigen Schneewochen im Jahr absah. Aber ich lebte mich sehr schnell ein. Für meinen Sohn war das alles kein Problem. Er kam ja, wie bereits erzählt, hier zur Welt, denn als das Kontor eröffnete, war ich hochschwanger. Ich hatte ihn Yuuki genannt, weil in der Nacht der Entbindung der erste Schnee fiel. Und Yuuki war ein sehr geläufiger Name in Konoha im Gegensatz zu meinem Vornamen.

Ich kam zu einer Zeit in das Dorf, als der Krieg schon ein gutes Jahr vorüber war. Ich staunte sehr, wie gut sich der Ort von den Kriegsstrapazen erholt hatte. Der Handel florierte. Schon im Folgejahr setzte ein Bau-Boom ein, der das Stadtbild komplett verändern sollte. Man konnte nur sprachlos zuschauen. Ich selbst ertappte mich oft bei morgendlichen Beobachtungen aus dem Schlafzimmerfenster heraus und dachte: „Hey, das Hochhaus war doch gestern noch gar nicht da? Das muss neu sein!“

Das Stoffekontor lag wie viele andere Kontore auf dem Hochplateau oberhalb der sogenannten Hokageköpfe, von welchem mir die einheimische Bevölkerung berichtete, dass hier erst nach dem Hokagewechsel gebaut wurde. Somit war unser Straßenzug der erste hier oben überhaupt. Mittlerweile waren wir in den letzten Jahren aber von den Hochhäusern des Wirtschaftsviertels gänzlich eingekreist, wenn nicht sogar fast verschluckt worden. Dennoch mochte ich unser kleines Kontorviertel. Die Häuser hier hatten ihren ganz eigenen Baustil. Aus einer massiven Steinbauweise heraus waren sie nicht höher als fünf Stockwerke hochgeschossen und hatten allesamt urige Balkone und großflächige Dachterrassen. Ich rede oft von „meinem“ Haus. Dabei gehörte es mir gar nicht selbst, sondern der Kontorgesellschaft. Im Erdgeschoss war das Handelsbüro, die nächsten drei Stockwerke darüber erstreckte sich das Stofflager, und ganz oben im fünften Stockwerk lag meine Wohnung. Sehr zum Leidwesen meines Sohnes, der in seinem kindlichen Blickwinkel nicht die schöne Aussicht wahrnahm, sondern tagtäglich über die vielen zu erklimmenden Treppenstufen maulte.
 

Auch an jenem Tage, von dem ich eigentlich erzählen wollte, war er maulig. An sich war er ein guter Schüler, allerdings hatte er während einer Prüfung seinem Klassenkameraden beim Abschreiben helfen wollen und war aufgeflogen. Dem entsprechend war die Klassenarbeit einkassiert und entwertet worden, seine Laune im Eimer und konnte auch nicht so schnell wieder angehoben werden. Ziemlich lustlos folgte er mir über den Markt und hoffte, dass ich flink meine Einkäufe beisammen hätte. Als es an einem Gemüsestand länger dauerte, als es die Geduldsspanne eines Achtjährigen vertragen konnte, hatte mein Kind leider nichts anderes zu tun, ein von mir auferlegtes Verbot zu brechen. Er hatte sich etwas aus dem Menschengewühl zurückgezogen und vertrieb sich ganz gedankenlos die Zeit damit, zwischen den Händen eine Energiekugel zu formen.

Ich muss an dieser Stelle sagen, dass ich von diesem ganzen Ninja-Kram nicht dein leisesten Hauch einer Ahnung habe. Ich selbst besitze kein Chakra. Nicht einmal das kleinste Fünkchen. Mein Sohn hingegen hatte jedoch das Chakra von seinem Vater vererbt bekommen, welchen er vielleicht niemals kennen lernen würde. Mir wurde einmal gesagt, mein Sohn besäße sogar eine sehr außergewöhnliche Fähigkeit, doch das wollte ich alles nicht hören. Ob es nun an dem Verlust seines Vaters lag, oder dass ich selbst niemals zur Ninjagesellschaft gehören würde, kann ich selbst gar nicht so recht beurteilen. Es hatte aber bei mir bewirkt, diese ganze Ninjabande einfach zu hassen. Die Art, wie sie sich vor uns Normalsterblichen abhoben. So übergeordnet und arrogant. Nein, die Bande war mir zu Wider und es musste die Ironie des Schicksals gewesen sein, dass es mich ausgerechnet in ein Nest voller Ninjas verschlagen hatte. Daher hatte ich Yuuki verboten, weiterhin mit seinen Fähigkeiten unbedarft vor sich her zu experimentieren und ihn auch nur auf eine gewöhnliche Schule geschickt. Keinesfalls sollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten müssen. Es graute mir bei dem Gedanken, dass bereits Kinder als Kämpfer durch die Weltgeschichte geschickt wurden. Ich hatte dafür einfach kein Verständnis.

Während ich meine Porreestangen bezahlte, suchte ich aus meinen Augenwinkeln heraus die nähere Umgebung ab. Wo zum Henker schlich Yuuki wieder herum? Warum konnten Kinder nie bei ihren Eltern bleiben? Da kam schon das erste Grummeln in mir auf, und als ich dann auch noch das gleißend orangefarbige Licht zwischen seinen Fingern sah, hätte ich am liebsten über den halben Platz geschrien und ihm eine Rüge erteilt. Doch so etwas erregt bloß die Aufmerksamkeit und das wollte ich auf jeden Fall vermeiden. Doch sämtliche Götter, so fern es denn überhaupt welche gab, meinten es an diesem Tage nicht gut mit mir. Yuuki konnte kein einziges Jutsu beherrschen. Er spielte bloß damit herum und gab vor seinen Freunden an. Bevorzugt dann, wenn ich nicht dabei war. Und so gaben sich Ursache und Wirkung die Klinge in die Hand. In der Menschenmenge wurde mein Sohn angerempelt und die orangene Kugel zischte wie ein Kugelblitz ab in unbekannte Gefilde. Es ging so schnell, dass mein ungeübtes Auge der Leuchtspur nicht folgen konnte.

Und noch bevor ich wenigstens das Ziel des Energieballs erfassen konnte, lag ich schon mit einem Kunai am Hals am Boden. Es schnitt mir kalt in meine Haut und ließ mich erstarren. Ein eiserner Griff an meinen Handgelenken verbog meine Arme auf meinem Rücken. Dazwischen parkte ein Fuß auf meinen Schulterblättern. Ich versuchte, meinen Kopf zu drehen, um die Sachlage zu erfassen. Doch der schwarze Umhang meines Fängers versperrte mir die Sicht. Stattdessen erhaschte ich das verhüllt Gesicht meines Widersachers. Eine weiße ANBU-Maske? Was zum Teufel war denn bloß los? Ich verstand gar nichts mehr. Aber ich merkte, dass es still geworden war auf dem Markt. Alle, die sich gerade noch geschäftig umtrieben, waren nun zu Salzsäulen erstarrt. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Irgendwo kreischte Yuuki und fing dann vor Angst bitterlich zu weinen an. Wieder drehte ich meinen Kopf. Wo war mein Kind?

„Yuuki?!“, schrie ich aus vollen Lungen. „Yuuki!?“

Ich wandte meinen Kopf und spürte den stechenden Schmerz von ausgerissenen Haarsträhnen, weil der ANBU meinen Kopf auf den Pflastersteinen fixieren wollte und ich dagegen rebellierte. Doch das war mir egal. Ich war krank vor Sorge um mein Kind.

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge und eine leichte Bewegung setzte in der Masse ein. Der Griff um meine Handgelenke wurde gelockert, das Kunai verschwand. Man raffte mich hoch und ließ mich frei. Ohne mich um die weitere Szenerie zu kümmern, stürzte ich auf einen total geschockten Yuuki zu, den ich heilfroh in die Arme schloss. Wir kauerten beide am Boden und hatte für den Moment die Umwelt völlig ausgeschaltet.

„ Ein Attentat ?“, raunte es irgendwo in der Menge, und erst jetzt schwante mir Übels, wohin Yuukis Kugelblitz wohl geflogen sein könnte.

Die Kugel hätte überall einschlagen können. Sie hätte jeden treffen können. Tat sie aber nicht. Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort. Zitternd blickte ich auf. Und das, was ich sah, schockierte mich. Der Energieball hatte ein komplettes Haus zum Einsturz gebracht. Noch nie war mir durch den Kopf gegangen, welche Schlagkraft die Chakra-Anwendungen meines Sohnes haben könnten. Das wurde mir nun in seiner ganzen Brutalität bewusst. Doch noch schlimmer war die Tatsache, wen der Ball nur um Haaresbreite verfehlt hatte. Das Zielobjekt stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, umringt von einer Handvoll ANBUs, die trotz ihrer gespielten Ruhe total griffig wirkten. Die Stimmung müsste nur um einen Grad kippen und schon wären die allesamt kampfbereit.

Nein, nein, nein! Das durfte doch alles nicht wahr sein. Das war der blanke Alptraum. Aus der Nummer würden wir nie wieder heil herauskommen. Yuukis Geschoss hatte aus Versehen den Hokagen angegriffen. Da war er wieder: Mein Groll auf Ninjas. Verdammte Axt, wieso lief der Idiot von Hokage hier draußen überhaupt herum? Konnte der nicht einfach in seinem Turm sitzen, wie es sich für einen anständigen Hokagen gehörte? Vermutlich würden nun alle glauben, es wäre die pure Absicht gewesen. Denn mit diesen Blicken, die wohl alle zeitgleich dasselbe dachten, wurden wir von der Masse angestarrt wie das achte Weltwunder. Und da wir noch nicht einmal von hier stammten, lag der Verdacht sogar nahe, wir hätten tatsächlich einen Putschversuch unternommen. Schweißperlen liefen meine Stirn hinunter. Kälte- und Hitzeschauer spielten Fangen auf meinem Rücken. Panik stieg in jeder einzelnen Faser meines Körpers auf, was ich damit kompensierte, Yuuki fast in meiner Umarmung zu erdrücken. Man würde uns töten. Sicherlich würde man das. Wer den Hokagen angreift, hatte sicherlich die Todesstrafe verdient. Und das garantiert ohne einen ordentlichen Gerichtsprozess, sondern mitten an Ort und Stelle. Es artete von einer schützenden Umarmung zu einer verkeilten Umklammerung um mein Kind aus, wie der Hokage nun auch noch auf uns zu kommen musste. Konnte der nicht einfach da drüben bleiben, wo er war?

Einerseits schürte ich sämtlich Ängste in mir, was nun wohl als nächstes geschehen würde. Andererseits kam ich nicht umher zu sagen, welche Faszination diese Szene ausstrahlte. Der Hokage kam nicht einfach so daher, sondern schritt lautlos voran. In einer Seelenruhe als wäre nie ein Chakraball direkt neben seinem Kopf vorbeigesaust. So souverän und erhaben. Obgleich er recht großgewachsen schien, sah man ja eigentlich gar nichts von ihm. Er verschwand gänzlich unter einem roten viereckigen Hut und einem langem weißen Mantel. Ein Seidenmantel. Crepe de Chine um genau zu sein. Mein Kennerblick ordnete sofort in meinem Kopf Material und Preisliste zusammen. Ein halbes Vermögen wert. Nobel geht die Welt zu Grunde. Ich war fast schon ein wenig neidisch auf den Stoff, würde der sich doch in meiner Kontorauslage zum Verkauf super hermachen und mich von allen Umsatzsorgen bis zum Jahresabschluss befreien. Der Schlaufschal um seinen Hals war aus selbigem Stoff gewebt und nicht minder wertvoll. Und erst die Stickerei aus roten Seidenfäden. Eine geschickte Näherin musste Monate daran gesessen haben. Selbst sein Gesicht verbarg der Hokage vom Kinn bis zur Nasenspitze. Allerdings war das Lycra-Stoff, wie es alle Shinobi-Bekleidungen aufwiesen. Was sollte man von so einem Menschen halten, der anscheinend den Komplex hatte, sich vor der ganzen Welt zu verstecken? Oder gab es einen ganz anderen Grund? So einer war hier der Anführer? Nicht zu fassen. Ich hatte noch nie einen Gedanken verschwendet, wer hier in diesem Dorf das Sagen über die Ninjabande hatte. Als Kauffrau interessierten mich nur die wirtschaftlichen Seiten Konohas. Umso überraschter war ich, dem militärischen Oberhaupt durch diese Verstrickung eines unglücklichen Umstandes zu begegnen. So langsam kehrte meine Selbstsicherheit zurück und verdrängte meine Angststarre.

Er hatte uns nach wenigen Schritten erreicht, ging recht nahe vor uns in die Hocke und musterte uns beide neugierig. Man hätte die Hand ausstrecken können, um ihn zu berühren. Also sah er uns nicht als Gefahr an, sondern traute uns. Ninjas sind nämlich ein recht misstrauisches Volk. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, noch nicht einmal ein Wimpernschlag lang, trafen sich unsere Augen direkt. Große, dunkle Augen, die frech hervorblitzen. Ein paar graue Haarsträhnen, die unter dem Hut strubbelig hervorlugten, gab er noch von sich preis. Mehr nicht. Obgleich der Moment nur so kurz war, so hatte ich das Gefühl, ich hätte ewig in diese Augen geschaut und war in ihnen hoffnungsvoll versunken und ertrunken. Die Zeit stand nahezu still zwischen uns und lief erst weiter, als er seine Stimme an uns richtete. Es war so eine beruhigende Stimme, die einen sofort einlullte, dass mir die Knie weich wurden.

„Verzeihen Sie bitte die Unannehmlichkeiten. Meine Truppe ist manchmal etwas übermotiviert“, sprach er zu mir und wandte dann sein Gesicht Yuuki zu: „Und du hast dir einen denkbar ungünstigen Platz zum Üben ausgesucht. Das solltest du vielleicht lieber auf dem Trainingsplatz der Akademie machen.“

Es lag etwas fröhliches in seiner Stimme, was Yuuki das Zittern nahm. Stumm nickte er fleißig als Zeichen, dass er genau aufgepasst hatte. Zeitgleich erhob sich unser ungleiches Trio und dann tat ich etwas, für was ich mich selbst nicht nur innerlich ohrfeigte, sondern komplett verprügelte. Ich gab die unpassendste Antwort überhaupt.

„Die Entschuldigung liegt ganz auf unserer Seite, Hokage-sama. Mit Verlaub, bitte verzeihen Sie jedoch, dass dieses Kind niemals eine Ninja-Akademie besuchen wird. Ich unterstütze keine Politik, die Kinder zu Soldaten ausbildet und dann in den Tod schickt, zumal wir noch nicht einmal von hier stammen“, kam es mir in festen Worten über die Lippen.

Sherenina, bist du des Wahnes? Wie kannst du ihm nur so etwas an den Kopf knallen? Eben gerade noch bist du dem Tode von der Schippe gesprungen, weil der Hokage kein Aufsehen aus dem Zwischenfall machte und nun sowas? Jetzt gab es bestimmt richtig Ärger. Immerhin hatte ich mit dieser Aussage nicht nur seine gesamte Militärpolitik in Frage, sondern ihn auch vor seinem ganzen Dorfe bloß gestellt. Die Masse, welche uns immer noch stumm beobachtete, raunte wieder auf. Diesmal lauter als zuvor. Skeptische, entsetzte, aber auch verständliche Töne wurden murmelnd diskutiert.

Starr blickte ich Hokage-sama an und stellte fest, dass wir gleichgroß waren. Ich muss dazu sagen, dass Menschen aus dem Erdreich generell größer gewachsen sind, als Menschen aus dem Feuerreich. In meiner Heimat war ich normal groß. Hier fiel ich auf, wie ein Leuchtturm auf hoher See.

Ich rechnete mit dem schlimmsten, wie sich sein Augen kurz verfinsterten.

„Dann wünsche ich Ihnen noch einen guten Aufenthalt in Konohagakure“, kam es knapp zurück.

Der eisige Frostton war nicht zu überhören. Er machte auf dem Absatz kehrt, ließ mich einfach so stehen und zog mit seinem Gefolge von dannen. Man musste ihm Wohl oder Übel zugestehen, eine mehr als professionelle Reaktion abgeliefert zu haben. Gebannt schaute ich dem Pulk hinterher, dann setzte der Überlebenstrieb ein. Hier wollte ich nicht bleiben und Angriffsfläche von wütenden Bürgern werden. Mir war trotz meines Desinteresses an der Lokalpolitik bei Leibe nicht entgangen, dass der Hokage in seinem Dorf echt beliebt und geschätzt war. Wenn der Hokage schon gnädig gewesen war und mich nicht in der Luft zerriss, sein Volk würde es wohl im Affekt tun. Ich schnappte mein Kind bei der Hand und zog es schnell fort von diesem Ort voller Missetaten.

Tausende Gedanken schossen mir durch den Kopf. Oh weh, wenn es ganz schlimm kam, dann hatte ich nun den Hokagen samt Einwohner zum Feind. Ausgerechnet den Hokagen! Von seiner Laune hing das Bestehen des Stoffekontors ab. Wenn er nun hinterhältig und nachtragend wäre, dann würde nur ein einziger Unterschriftenstempel genügen und mein Büro wäre geschlossen. Welch Schande! Dann könnte ich weder hier bleiben, noch bei meinem Arbeitgeber in der Heimat auf Füßen angekrochen kommen. Nirgends würden wir unterkommen. Was würde aus meinem Kind werden? Wären wir beide bereit, nochmal irgendwo in der Welt einen Neuanfang zu wagen? Ich malte mir solange Horrorszenarien in meinem Kopf aus, bis mir hemmungslos die Tränen über die Wangen liefen.
 

So verheult traf ich vor unserer Haustür ein, schloss auf und war überrascht, noch eine Angestellte anzutreffen. Es war bereits früher Abend und normalerweise ging die Belegschaft recht zügig nach Feierabend nach Hause. Doch die alte Akka saß da noch und sortierte Stoffrollen aus gefärbten Leinen. Ja, richtig! Heute hatten wir eine neue Lieferung erwartet und diese war sehr spät eingetroffen. Akka gehörte eigentlich gar nicht zur Stammbelegschaft, sondern war eine treue Kundin, die so sehr in Stoffe vernarrt war und ein so großes Fachwissen besaß, dass es eine Freude war, wenn sie gelegentlich aushalf. Yuuki hatte sich sofort nach oben in die Wohnung verzogen, nachdem ich ihm erlaubt hatte, sich pädagogisch wertvoll vor den Fernseher zu setzen. So war ich allein mit der alten Akka, die nicht nur die gute Seele, sondern durch ihre freundliche Art über die Jahre sogar ein Mutterersatz für alle Mitarbeiter geworden war.

„Herrje, was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“, begrüßte sie mich schon, als ich noch nicht einmal richtig die Türe hatte ins Schloss fallen.

Wie ein kleines Kind, welches vom Spielen heimkam und eine Tracht Prügel für groben Unfug erwartete, trollte ich mich zu dem großen Auslagentisch, stibitzte einen Keks aus der Keksdose und knabberte nervös daran herum. Es krümelte auf die neuen Stoffe. Dafür erntete ich einen bösen, aber zugleich auch verwunderten Blick, hatte ich doch selbst immer vor der Belegschaft gepredigt, mehr als pfleglich mit der Ware umzugehen. Bloß keine Fett- oder Schokoladenfinger auf die teure Ware!

„Ach, es war ganz furchtbar!“, begann ich verzweifelt und leierte die ganze Geschichte herunter, die mir auf dem Markt widerfahren war.

Aufmerksam hörte Akka mir genauso eindringlich zu, wie sie jedem ein Ohr spendete, der einmal sein Herz ausschütten wollte. Ihre Augen funkelten vergnügt und um ihren Mund herum spielte ein strahlendes Grinsen, welches von Satz zu Satz wuchs. Als ich meinen Bericht mit all seiner Dramatik beendete, brach sie in schallendes Gelächter aus. Mir stand ein riesiges Fragezeichen ins Gesicht geschrieben.

„Du bist mit Kakashi aneinander geraten? Wie kann man sich denn bitte mit Kakashi streiten?“

Kakashi? Meine Augen mussten groß wie Kuchenteller sein und einen großen Ausblick auf den Teil meines Gehirns präsentieren, der sich „ahnungslos“ nannte. Ich hatte ja mehrmals erwähnt, dass mir die Ninja-Bande am Allerwertesten vorbeiging und daher kannte ich auch die Namen nicht. Allerdings hatte sich der Name „Kakashi“ schon irgendwann mal in meinen Gehörgang verirrt. Dann folgte eine lange Belehrung, dass ich mir da mal so rein gar keine Sorgen machen müsste. Zwar war die alte Akka nicht mit allen Bewohner des Dorfes bekannt, aber immerhin steuerte sie schon mit ihrem Alter auf die achtzig zu. Und da hatte sie schon so einiges erlebt im Dorf. Also musste sie es ja wissen.

Ihr Worte hätten mich trösten und meine dunklen Sorgenwolken auflösen sollen. Trotzdem lief in meinem Kopf immer noch die Stapelverarbeitung der letzten Stunden ab.

„Kakashi“, grübelte ich so vor mich her, als ich die Treppenstufen bedächtig nach oben schritt und eine Kekskrümelspur hinterließ. In Stressphasen schaufelte ich stets Unmengen an Süßkram in mich hinein. Je mehr Kohlenhydrate, desto besser. Ich mochte es gar nicht leiden, dass die Zukunft des Kontors und auch die meinige nun abhängig vom Gutdünken einer einzelnen Person war. Es beunruhigte mich zu sehr und würde mir nun wohl die nächsten schlaflosen Nächte und unruhigen Tage bescheren. Da musste doch noch irgend etwas nachkommen. Eine Vorladung vermutlich. Es blieb nur zu hoffen, dass dieser Kakashi wirklich so war, wie Akka behauptet und er die ganze Sache längst vergessen hatte. Wie dem auch sei: Kakashi hatte mir gründlich den Tag verdorben.

2 - Der Tag, an dem ein ANBU meine Küche besetzte

Die letzte Nacht war wirklich hart gewesen. Kein Auge hatte ich schließen können, so aufgekratzt war ich. Dementsprechend zierten am nächsten Morgen Augenringe mein Gesicht, die selbst die erfahrensten Maskenbilder der Welt nicht hätten kaschieren können. Mit imaginären Streichhölzern in den Augen und gegen die Übermüdung ankämpfend brachte ich Yuuki zur Schule. Man wüsste ja nie, wer einem nach dem gestrigen Vorfall alles hinter dem nächstbesten Busch auflauern würde. Mein werter Sohn fand das aber alles reichlich übertrieben und schämte sich, mit seiner Mutter im Schlepptau vor der Schule aufkreuzen zu müssen.

Die nächsten Tage und Nächte verstrichen, in denen nichts geschah. Mein Gemütszustand beruhigte sich äußerlich, obgleich ich die Illusion nicht loswurde, dass noch etwas in der Luft lag, was ich akut nicht greifen konnte. Etwas Unheilvolles formierte sich zu einer merkwürdigen Aura. Es machte mir gelegentliches Herzrasen und Atemnot. Bei der Arbeit konnte ich mich kaum auf die Kassenbücher und die ganzen Prüfstücke konzentrieren. Die Zahlen in den Bestelllisten schwammen vor meinen Augen. Stets begann ich, die Rechnungen neu zu addieren. Meine Finger hatten in den Spitzen kaum Gefühl. Der Stoff glitt durch meine Hände ohne meine prüfenden Qualitätsansprüche zu erdulden. Ich hatte sehr selten in meinem Leben Vorahnungen, die mich um den Verstand brachten.

So ging es nicht weiter. Ich brauchte eine Auszeit. Also trommelte ich mein gutes Dutzend an Mitarbeitern zusammen und log, dass sich die Balken bogen. Eine Sommergrippe hätte mich heimgesucht und ich würde nun nur noch das Notwendigste erledigen, damit ich für die kommende Dienstreise in ein paar Tagen wieder fit wäre. Das hatte mein Team kommentarlos zu schlucken, auch wenn es einen Haufen Mehrarbeit für sie bedeutete. Und raus war ich aus dem Büro. Nachdem ich Yuuki tagtäglich bei der Schule abgeliefert hatte, verbrachte ich viel Zeit im Bett und holte verpassten Schlaf nach. Dann fiel mir alsbald die Decke auf den Kopf. Also ließ ich mich von der Flimmerkiste beschallen oder surfte sinnlos durchs halbe Internet. Nichts wollte mich so recht auf andere Gedanken bringen.

Der Weg von der Schule im alten Teil von Konoha wieder den steilen Weg hinauf zum Kontor führte über den Marktplatz. Den Ort der Schande. Bedächtig langsam schlurfte ich über das Kopfsteinpflaster und warf einen Blick auf das Gebäude, welches Yuuki in Schutt und Asche gelegt hatte. Zu meiner Verwunderung wurde es gerade aufgebaut. Ich kam nicht umhin, mich bei den Bauarbeiter nach dem Hauseigentümer zu erkundigen. Immerhin hatte ich eine Rechnung in meinem Briefkasten über den Sachschaden erwartet und mir schon viele Ausreden zurechtgelegt, wie ich die Haftpflichtversicherung überzeugen könnte, den Trümmerhaufen zu finanzieren. Doch man winkte nur müde ab. Der Schaden wäre längst von Amts wegen beglichen worden. Wenn Kinder mit ihren Jutsus noch nicht zurecht kämen, dann wäre eine Zahlung aus der Kriegskasse die übliche Option. Zum zweiten Mal staunte ich, wie gelassen man hier doch mit solchen Dingen umging. Genau das war nun unser Glück. Ich atmete einmal tief durch. Diese Sorge war ich also los. Langsam wandte ich mich zum Gehen und merkte gar nicht, wie ich vom Wege abkam, weil ich so in meinen Gedanken verfangen war. Als ich meinen Irrgang feststellte, war ich schon drei, wenn nicht gar vier Häuserblocks weitergezogen und stand nun unmittelbar neben dem Hokageturm. Prüfend hangelten meine Augen an der Fassade entlang. Ob es das Gewissen erleichtern würde, wenn man sich einfach entschuldigte? Ach, vollkommen absurde Idee. Vergessenen Taten sollte man nicht wieder hervorkramen, sondern ruhen lassen. Und wie sah das denn überhaupt aus, wenn ich da nun demütig Kreuze kriechen würde? Absolut ausgeschlossen. Vielleicht war Kakashi noch nicht einmal da in seinem Büro. Oder er wäre total genervt von mir. Oder würde sich über mich lustig machen. Oder, oder, oder...

Nein, ich würde mich da vor allen nur lächerlich machen, wenn ich einfach so aus dem Nichts ins Büro platzen und dumm herum stammeln würde. Entschuldigen war nicht meine Stärke. Und es verstieß gegen meine selbsterfundenen Prinzipien, mich generell bei einem Ninja zu entschuldigen. Also zog ich schleunigst weiter nach Hause noch bevor jemand beobachten könnte, dass ich schon viel zu lange vor dem Turm verweilt hätte. Ich ärgerte mich den ganzen Rückweg, dass es in meinem Kopf schon wieder mehr kreiste, als es mir beliebte. Aber hatte ich die letzten Tage nur über die Zukunft des Kontors gegrübelt. Und nun mischte sich wieder ein neues Bild darunter. Kakashi, wie er vor mir hockte und mich durchdringend musterte. Mann, dieser Typ nervte mich echt tierisch. Und schon wieder hatte er mir den Tag verdorben, obwohl er weder davon wusste, noch etwas dafür konnte. Dafür ging es mir außerordentlich besser, wenn ich ein personifiziertes Feinbild hatte, welchem ich jegliche nur erdenklich Schuld zuschustern konnte. Kakashi war an allem Schuld. Und ich nicht! So einfach ging das. Super! Das war zwar naiv, aber passte mir aktuell doch sehr in den Kram! Beschwingt erklomm ich die Bergstraße zum Hochplateau und freute, dass sich meine Laune zum Guten gewendet hatte.
 

Die langen Sommerabende bescherten uns tropische Nächte. Es war viel zu hell und viel zu heiß, um einschlafen zu können. Besonders Kindern machten diese Nächte zu schaffen. Auch mein Sohn bildete da keine Ausnahme. Erst zu einer sehr vorgerückten Stunde schlief er endlich friedlich in seinem Zimmer. Ich hatte mich ebenfalls schon bettfertig gemacht und wollte noch bei den letzten Strahlen der Abendsonne etwas lesen.

Dass ich vor Müdigkeit nicht weit mit dem Lesen gekommen war, merkte ich, als eine innere Eingebung mich weckte und mein Gesicht die aufgeschlagenen Seiten an der Stelle küsste, wo ich begonnen hatte zu lesen. Was war das, was mich erschreckt hatte? Beinah hätte ich vermutet, die Erde hätte kurz gewackelt. Erdbeben war in dieser Gegend nicht selten. Pfeilschnell setzte ich mich auf und lauschte in die Dunkelheit. Die Straßenlampen unten in der Gasse reichten mit ihrem Licht nicht hier oben herauf. Nur der Vollmond spendete in wolkenlosen Nächten etwas Helligkeit. Zur aktuell brenzligen Situation arrangierte sich jedoch eine Neumondnacht und somit war es stockfinster in den Zimmern. Leise schlüpfte ich aus dem Bett und streifte dabei eine Wasserflasche, die ich immer parat an meinem Schlafplatz stehen hatte. Polternd fiel sie um. Na toll. Ich verdrehte die Augen über soviel unnützen Lärm. Einbrecher wären nun alarmiert. Weiter vorwärts schlich ich zähneknirschend über mein Missgeschick und wurde das dumpfe Gefühl nicht los, ich wäre, mal abgesehen von meinem Kind, nicht allein in meiner Wohnung.

Auf dem Flur ergriff ich im Vorbeihuschen instinktiv den Wischmopp, den ich hatte vergessen wegzuräumen. Im Falle eines Falles wäre mir der Mopp sicherlich eine gute Waffe gegen Einbrecher. Wohin sollte ich nun gehen? Es schien alles idyllisch und normal wie immer. Der nächstgelegene Raum war die Küche. Also zog ich weiter dahin. Ein Lufthauch streifte meine Wange. War das Fenster etwa offen? Mit hundertprozentiger Sicherheit hätte ich schwören könne, dass ich alle Fenster trotz Hitze geschlossen hatte, weil ich die Mücken nicht mochte, die sich sonst im Schlaf über einen hermachten.

Angriff ist die beste Verteidigung! Ich riss die Tür auf, dass sie beinah aus den Angeln geflogen wäre und schaltete reflexartig das Deckenlicht ein. Die erste Sekunde war ich geblendet, die zweite entsetzt. Das Fenster war tatsächlich geöffnet. Genau dort auf dem Fensterbrett hockte eine Gestalt und jagte mir einen Mordsschrecken ein. Schwarze Kluft. Nur eine graue Sicherheitsweste hob sich farblich ab. Die Haare steckten unter einer schwarzen Kapuze. Aus schmalen Schlitzen einer weißen Tierkopfmaske wurde ich als Zielobjekt angepeilt. Die Oberarme waren entblößt und gaben auf dem linken Oberarm eine Tätowierung frei. Zwei rote in sich geschwungene Linien, schwarz umrandet. Ein ANBU.

Und da war es wieder, dieses ungute Gefühl, was mich schon die ganzen Tage verfolgte. Wer hockte da auf meinem Fensterbrett und was waren seine Absichten? Wollten er Yuuki mitnehmen? Ganz bestimmt wollte er das! Yuukis Fähigkeit hatten wir vor der Welt verschwiegen, doch wenn sie tatsächlich so einmalig selten und besonders wäre, so würden sich alle fünf Ninja-Reiche danach die Finger lecken. Hier geboren, hätte Konoha ebenso Anspruch auf ihn wie mein Heimatland, aber auch das Blitz-Reich, aus welchem sein Vater stammte. Die Lage war ziemlich verworren. Auf jeden Fall würde ich verhindern, dass mir auch nur irgendjemand mein Kind wegnahm. Dafür würde ich sterben.

Und ich sah nicht minder gruselig aus, wie der Shinobi am Fenster. Ich war kreidebleich im Gesicht, hatte schwarze Augenringen, und meine braune Naturkrause stand wie ein Afro in alle Himmelsrichtungen ab. Sie hatte sehr viel Ähnlichkeit mit meinem Wischmopp in der Hand. Wenn das mal nicht zum Fürchten wäre.

„Wer bist du? Was willst du?“, fragte ich mit gebrochener Stimme und versuchte, dass Zittern zu unterdrücken.

Dabei begab ich mich in eine Art von Kampfposition, so wie die Schauspieler das im Fernsehen auch immer taten. Beide Hände krallten sich in das Holz des Stiels, während ich das Stielende auf den Eindringling zeigen ließ. Hätte ich ein Bein über den Stiel geschwungen, ich hätte wie eine Hexe davonfliegen können.

„Darf ich reinkommen?“, kam eine Gegenfrage so ruhig aus seinem Munde, dass es mich irritierte. Die Stimme klang eindeutig männlich, konnte aber auch durch ein Jutsu total verstellt sein. Dann beobachtetet ich, wie der ANBU ein fast unmerkliches Handzeichen nach draußen gab. Zu zweit! Die waren zu zweit! Das Herz rutschte mir in die Hose, die ich gar nicht anhatte. Ich mollige Sofakartoffel gegen zwei ANBUs, die vermutlich fitter wie ein Turnschuh waren. Vermutlich lachten die sich eben unter ihren Masken über mich und meinen Mopp halb schlapp. Ich schluckte schwer. In den letzten Tagen hatte ich an zu vielen ANBU-Erlebnissen teilnehmen dürfen. Und wie schnell sie einen überwältigten konnten, hatte ich am eigenen Leibe erlebt. Aber keiner der beiden schien derjenige gewesen zu sein, der mir mit seinem Fuß ins Kreuz getreten hatte. Der, der mich als Fußabtreter benutzt hatte, trug eine Vogelmaske. Die beiden hier waren neu. Der eine draußen an der Hauswand trug eine Katzenmaske. Man sah es recht gut, weil der weiße Lack durch die Küchenlampe kurz reflektierte. Der andere hatte eine Hundemaske.

Meine Augen wurden groß wie Kuchenteller, denn die Hundemaske zog sich einfach die Schuhe aus, stellte sie ordentlich auf des Fensterbrett und landete lautlos von der Küchenzeile mit beiden Füßen auf dem Boden. Da war ich auf den athletischen Einsatz echt ein wenig neidisch, denn ich konnte nicht mal lautlos von einer Treppenstufe hüpfen. Hatte ich denn geantwortet, dass er hereindurfte? Nein, hatte ich nicht! Mir war nicht klar, was mich mehr durcheinanderbrachte: Seine Dreistigkeit, uneingeladen in meiner Küche zu stehen oder die Tatsache, dass er wohlerzogen die Schuhe auszog, um meinem Fußboden nicht zu beschmutzen.

Seufzend gab ich klein bei, stellte energisch den Wischmopp an die Wand und ließ mich entschuldigen. Immerhin hatte ich noch immer nur mein dünnes Nachthemd an. Also verzog ich mich wieder ins Schlafzimmer, warf mir einen Yukata über und bändigte meine lange Lockenpracht mit einem Haarband. So fühlte ich mich gleich angezogener als zuvor und stapfte wenig erfreut wieder zu meinem ungebetenen Gast. Er hatte wohl nicht die Absicht, mein Kind zu rauben und dann die Bude kurz und klein zuschlagen. Sonst hätte er es schon längst getan, ganz gleich ob ich da nun gestanden hätte oder nicht. Soviel war mal klar. Außerdem hätte er die Mission wohl eher so durchgezogen, dass ich morgens aufgewacht und Yuukis leeres Bett beweinen müsste. Ninjas sind immer leise. Und sie kamen meist durchs Fenster, so wie der da in meiner Küche. Mittlerweile kam es mir auch in den Sinn, dass er mich absichtlich geweckt haben musste. Das Mini-Erdbeben war wohl auch so ein komisches Jutsu, was ich nicht kapierte. Es blieb mir demnach nichts anderes übrig, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Ob mir das nun passte oder nicht. Er würde wohl kaum gehen, auch wenn ich ihn darum bitten würde.

Es hatte keine Minute gedauert, als ich wieder durch die Küchentür trat.

Da saß er. Mitten in meiner Küche. Total tiefenentspannt lümmelte er auf einem Stuhl, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Beine lang ausgestreckt unter dem Tisch. Aufmerksam schaute er auf, wie ich da mich widerwillig zu ihm gesellen musste.

„Kaffee oder Tee?“, fragte ich zynisch, wollte ich ja nicht unhöflich erscheinen.

„Wenn es keine Umstände macht, Kaffee.“

Der trank Kaffee? Normalerweise suppelten die hier im Dorfe alle grünen, manchmal auch schwarzen Tee.

„Milch oder Zucker?“

„Schwarz.“

Stille war zwischen uns. Eine Spannung lag in der Luft zwischen frostig, angespannt und neugierig. Nur das Klappern der Kaffeedose und das Eingießen des Wassers in die Kaffeemaschine war zu hören. Zeitweise überlegte ich, ob man nicht Rattengift untermischen sollte.

„Trinkt deine Wegbegleitung auch was?“

„Der trinkt meist lieber Tee...“

Ah, also doch. Teetrinker. Zwei Tassen Kaffee platzierten sich auf dem Tisch, eine weiter mit Tee auf der Fensterbank. Als ich mich wieder umdrehte, war die Kaffeetasse der Hundemaske schon halb geleert. Bitte was? Der war frisch aufgebrüht und demnach noch sehr heiß. Wann hatte er denn aus der Tasse getrunken? Und der saß dabei noch genau so wie zuvor. Ich für meinen Teil setzte mich in respektvollem Abstand genau in die gegenüberliegende Ecke meiner kleinen Küche, pustete die Kaffeehitze aus der Tasse und stierte mit wütenden Augen im Wechselspiel den Eindringling am Küchentisch und den Kumpanen auf dem Hausdach an. Von Letzterem sah man eigentlich gar nichts, hockte der doch in der Dunkelheit und trank wohl den Tee, denn die Tasse war vom Fensterbrett verschwunden. Die Stille rieb meinen Geduldsfaden unendlich auf. Mir kribbelte es vor Aufregung im ganzen Körper, als hätte ich tausende von Hummeln im Poscher.

„Ich habe den Vorfall auf dem Marktplatz mitbekommen...“, wollte er nun das Schweigen brechen, doch ich fuhr im ungeniert über den Mund.

„Wer hat das nicht?“, blaffte ich gereizt zurück.

Meine Aggression in der Stimme sollte unterstreichen, dass ich dieses Thema nicht weiter diskutieren wollte. Doch er zeigte sich davon unberührt. Durch meine Arbeit hatte ich in zähen Verhandlungen über Angebote und Warenpreise gelernt, auf die Körpersprache des Gegenübers zu achten. Mir entging nicht der leiseste Hauch einer Mimik oder einer Körperhaltung. Aus dem ANBU schlau zu werden, war jedoch eine Herausforderung, versteckte er doch jeglichen Gesichtsausdruck hinter der hölzernen Maske. Sicherlich war er auch darauf geschult worden, generell jegliche Art von Gefühlen zu unterdrücken. Mir blieb zur Deutung nur die Sitzhaltung und die sprach Bände. Obwohl er dort absolut passiv saß, sprühte er über vor Überlegenheit. Es hatte schon einen Hang zur Arroganz.

„... und du sagtest, dass dein Kind nicht in seinen Fähigkeiten geschult würde. Du wirst deine Gründe haben. Aber hältst du es nicht für gefährlich, dass er so unbedarft mit einem Kekkei Genkai durch die Gegend läuft?“

„Kekkei-WAS?“, fragte ich verdattert, hatte ich noch nie zuvor diesen Ausdruck gehört, und ich war mir auch nicht so sicher, ob ich die Erklärung dazu kennen lernen wollte.

„Ach, daher weht der Wind“, lachte er kurz auf und ich fühlte mich bis auf die Knochen blamiert, dass ich keine Ahnung vom Ninja-Unfug hatte. Seine Hände waren längst in die Hosentaschen gewandert. Nun zog er eine heraus und zeigte mir die fünf gespreizten Finger.

„Kurz und knapp. Es gibt fünf Chakra-Hauptelemente. Feuer, Wind, Blitz, Erde und Wasser. Jeder Chakrabesitzer hat eine bestimmte Zuneigung zu einem dieser Elemente. Aber es gibt auch Menschen, die haben zwei Neigungen gleich stark ausgeprägt. Man nennt es Kekkei Genkai. Das wird entweder vererbt oder in seltenen Fällen implantiert. Mir scheint, dein Sohn hat es in die Wiege gelegt bekommen. Und da ich bei dir kein Chakra spüren kann, wird es von seinem Vater stammen.“

Andächtig kaute ich auf einem Brotknust herum, welchen ich von der Küchenzeile geangelt hatte. Um diese ganzen Informationen zu verarbeiten, brauchte ich definitiv Kohlenhydrate, und ich müsste lügen, wenn ich diese Informationen nicht hochinteressant gefunden hätte. Zweifelsfrei hatte mein ungebetener Gast Recht. Die Kraft, die hinter Yuukis Fähigkeit steckten, hatte ich völlig unterschätzt, weil ich unwissend war. Es könnte tatsächlich eine Gefahr sein, wenn er sie unkontrolliert benutzen würde. Das einstürzende Haus war nur ein böser Vorgeschmack. Nicht auszudenken, wenn Leute verletzt würden. Trotzdem kreuzte immer wieder die Frage in meinem Kopf auf, was nun die Besuchsabsichten meines Gastes waren.

„Das habe ich verstanden. Aber auf was willst du hinaus? Yuuki wird kein Ninja und Basta! Weder hier, noch im Erdreich oder im Blitzreich. Das kannst du ruhig bei deinem Chef petzen gehen, dass hier ein Keki-Dingsdabumms-Kind wohnt. NEIN!“

Ich wollte stark und unnachgiebig wirken. Innerlich rügte ich mich, mich verplappert zu haben. Der ANBU brauchte weder etwas über mich, Yuuki oder seinen Erzeuger wissen. Mit Leib und Seele würde ich Yuuki verteidigen. Jawohl!

Langsam richtete sich der ANBU auf, beugte sich eben so langsam vor und sah mich eindringlich an. Auch wenn er nur ganz wenig seine Position verändert hatte, kam es mir so unglaublich bedrohlich vor, als hätte mein letztes Stündlein geschlagen. Und als er dann noch mit dunkler Stimme hinzufügte:

„Yuuki heißt er. Und was würdest du tun, wenn ich Yuuki einfach mitnehmen würde, Sherenina Jibek?“

Er lehnte sich noch ein Stück weiter vor, dass er sich mit dem Unterarm auf den Tisch abstützen konnte. Eine sehr unangenehme Verkürzung der Distanz zwischen uns und mir persönlich viel zu Nahe.

Vorsicht Sherenina, der will dir nur Angst machen. Das ist wieder einer von diesen billigen Ninjatricks. Und meinen Namen herauszufinden, war nun wirklich nicht schwer, stand er doch unten auf dem Kontorschild. Der Lichtschein der Küchenlampe drang für einen kurzen Moment durch die Schlitze der Maske. Er traf auf amüsierte, dunkle Augen. Arschloch, mach dich man bloß lustig über mich. Die Angst in mir wich der Wut, die aufkeimte.

Er erhob sich von seinem Stuhl, zeitgleich schnellte ich von meinem auf: Bereit, die Küchentür und somit den Weg zum Kinderzimmer unter Einsatz meines Lebens zu verteidigen. Doch die Hundemaske hatte gar nicht vor, mich zu überwältigen. Er sprang lautlos auf das Fensterbrett, schlüpfte in seine Ninja-Stiefel und drehte sich in der Hockposition noch einmal zu mir.

„Ich biete dir meine Hilfe an, dein Kind zu unterrichten, bevor er das Dorf in Schutt und Asche legt. Überlege es dir bis zum nächsten Vollmond!“

Dann war er fort. Und sein Begleiter ebenso. Ich stürzte hinterher, kontrollierte den Außenbereich und schloss das Fenster. Dann sackte ich in mich zusammen. Niedergeschlagen kauerte ich auf dem Küchenfußboden. Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Welch Horrornacht! Und bis Vollmond waren es nur zwei Wochen. Dann würde der gruselige Typ wieder bei mir auftauchen. Was sollte ich ihm bloß antworten?

3 - Der Tag, an dem der Mond voll wurde

Manche schauen ständig auf den Kalender, weil sie sich ein schönes Datum herbeisehnen. Einen Geburtstag vielleicht. Oder ein nettes Essen mit Freunden, einen Kinobesuch oder den lang verdienten Urlaub. Ich hingegen war nun voll auf das Beobachten der Mondphasensymbole auf den Kalenderblättern übergegangen. Und ob das Anstarren des geduldigen Papiers nicht schon genug wäre, hing ich jede Nacht an der Fensterscheibe und heulte den Mond an, der unvermeidlich immer dicker und runder wurde. Bald würde er so voll und kreisrund sein wie eine Silbermünze und dann...

Dann würde ich wieder heimgesucht werden. Von einem vermummten Typen, der mir den kalten Angstschweiß auf die Haut trieb. Dabei war meine Angst, wenn man sich unser erstes Treffen durch den Kopf gehen ließ, eigentlich unbegründet. Er war im Großen und Ganzen höflich und nett geblieben, hatte lediglich mit mir reden wollen, sogar Hilfe angeboten, wusste aber ganz genau, wie er meinen Argwohn und meine Angst gegen mich selbst ausspielen konnte. Eine Tatsache, die mir ganz und gar nicht behagte. Immerhin leitete ich ein Kontor, war alleinerziehend und somit gewohnt, stets das Zepter in der Hand zu halten. Es passte nicht in mein Weltbild, dass ich in der Nacht mit ANBU-Kontakt nicht die Kontrolle über eine Situation hatte, sondern die Zügel an den ANBU hatte abgeben müssen. Herrje, was hätte ich ihm auch entgegensetzen können? Nichts! Trotzdem konnte ich mich an die Niederlage nicht gewöhnen. Außerdem war er nicht allein, sondern zu zweit. So redete ich es mir als Trost ein, weshalb nur ein Versagen auf ganzer Linie hatte herauskommen können.

Eine Entscheidung, wie meine Antwort aussehen könnte, hatte ich mir noch nicht abgerungen. Zu viele Fragezeichen spukten da noch umher, die ich unbedingt bereinigt wissen wollte, wenn ich einem Training zustimmen sollte. Mit dieser Unwissenheit reiste ich mit Kind und Kegel übers Wochenende zu den Stoffmärkten in der Hafenregion. Stoffe aus Übersee waren gefragt wie nie. Ich war voll in meinem Element, machte einige sehr gute Geschäfte, die meinem Warenlager gut taten und den Verkäufern fast finanziell Schmerzen bereiteten. Aber dafür war ich mittlerweile verschrien: Jibek-chan führte knallharte Verhandlungen und zog ihre Verhandlungspartner regelrecht über den Tisch. Mich störte es wenig, weidete ich mich doch in meinem beruflichem Erfolg.

Mein Sohn und ich kamen erst spät abends mit dem letzten Zug wieder in Konoha an. Den Großteil der Stoffe ließ ich mir nachschicken, aber die edelsten Stücke schleppte ich schon mal unter dem Arm durch den halben Ort und hoch ins Büro. Ich war beladen wie ein Packesel und heilfroh, meine Schätze endlich ohne Schäden in Sicherheit zu haben. Nachdem ich Yuuki ins Bett geschickt hatte, saß ich noch lange am Schreibtisch, prüfte Rechnungen, arbeite die ganzen Mails und Messenger-Einträge ab und wartete auf das, was da auch immer noch des Nächtens kommen möge. Heute war die Vollmondnacht. Ich hatte noch immer keine Entscheidung gefällt. Doch wenigstens wollte ich nicht so verschlafen und in Nachtwäsche wie beim letzten Mal meinen unliebsamen Gast empfangen. Warum eigentlich Vollmond? Er hätte doch genauso gut beispielsweise an einem Montag oder Mittwoch aufschlagen können. Oder am Monatsende. Ich seufzte, blickte auf den kleinen Wecker auf meinem Schreibtisch und rieb mir die pochende Schläfe. Mein Bett rief nach mir, die Augen waren schwer und meine Arbeit erledigt. Die letzten eintrudelnden Nachrichten auf DropIn ignorierte ich einfach. Wer hatte eigentlich diesen Messenger-Fluch erfunden und ausgesprochen? Manchmal ging mir diese ständige Erreichbarkeit tierisch auf die Nerven.

Nur der ANBU wollte einfach nicht aufkreuzen. Dabei zeigten die Zeiger schon halb zwei in der Nacht. Ich fluchte, dass ich mich hatte wohl veräppeln lassen. Da machte ich mir geschlagenen zwei Wochen lang große Sorgen und Gedanken und dann tauchte der Idiot nicht auf. Frechheit! Wütend schaltete ich die Lichter aus und stapfte nach oben. Ein Lichtschein empfing mich aus der Wohnung, denn ich hatte die Korridortür nur angelehnt. Saß der Typ etwa schon wieder in der Küche und wartete bereits? Mit einem unruhigem Gefühl stürzte ich die Treppe hinauf. Die letzten Stufen nahm ich sogar paarweise. Doch ich konnte beruhigt wieder aufatmen. Yuuki hatte wohl Durst bekommen, in der Küche etwas getrunken, aber anschließend vergessen, das Licht wieder auszuschalten. Sein Lieblingsbecher stand noch auf der Tischplatte. Kein ANBU weit und breit. Ich konnte nicht anders, als mir ein Glas Rotwein einzuschenken und es in einem Zuge leerzutrinken. Dieses Wechselbad der Gefühle in der letzten Zeit machte mich nervlich fertig, fast hysterisch. Selbst meine Belegschaft erkundigte sich schon sorgenvoll, ob mit mir wirklich alles in Ordnung wäre. Doch ich konnte nur peinlich berührt abwinken, wusste ich doch selbst nicht, was mit mir los war und ich von allem halten sollte. Die Küchenuhr schlug dreimal hintereinander. Ein zweites Glas Rotwein rauschte meine Speiseröhre hinab. Ich sollte auf Sake umsteigen. Oder noch besser Schnaps aus meiner Heimat. Es war wirklich höchste Zeit, einem gesunden Schlaf nachzugehen. Und der ANBU könnte mich mal kreuzweise.

Im Eiltempo hatte ich meinen Hosenanzug gegen mein Lieblingsnachthemd getauscht und die Zähne geputzt. Ich öffnete noch einmal das Fenster weit. Frische Luft strömte herein. Der Nachthimmel war wolkenlos. Ein großer, runder Pfannkuchen namens Mond strahlte von oben herab und beleuchtete den ganzen Ort. Es sah gespenstisch schön aus, wie Konoha dort unten so in aller Eintracht schlief. Obwohl man schon lange nicht mehr von einem Dorf reden konnte, wie Konoha in den letzten Jahren sich ausgebreitet hatte. Trotzdem gab es noch viele dörfliche Züge in seinem Dasein. Nachts waren, mal abgesehen von den Vergnügungsvierteln, die Bürgersteige hochgeklappt. Eine angenehme Ruhe hing wie eine große Glocke über dem Ort. Ich konnte mich nicht lange an dem schönen Ausblick sattsehen. Übermüdet rollte ich mich in meine Bettdecke, versteckte mein Gesicht im Kissen und warte auf das Einschlafen, was nicht so schnell passieren sollte, wie ich es mir wünschte. Unruhig drehte ich mich einige Male hin und her, rupfte an meiner Decke und zerknüllte das Kissen.

Als ich mich wieder zum Fenster drehte, starb ich. Natürlich nicht wirklich. Aber mein Herz setzte vor Panik aus. Und schlug erst nach einer halben Ewigkeit weiter. Dann saß ich wie von der Tarantel gestochen kerzengerade in meinem Bett, rutschte an das Kopfende und zog die Decke bis zur Nasenspitze. Wie zu einem Paket geschnürt, hatte ich alle Gliedmaßen an mich herangezogen. Ich kann mich dunkel entsinnen, dass ich dabei kurz erschrocken aufgeschrien hatte. Nun war er also doch noch hergekommen. Gewohnt lässig hockte er im offenen Fenster auf dem schmalen Rahmen, hatte die Unterarme zum Ruhen auf den Knien liegen und hob dann doch eine Hand zu einem kurzen lautlosen Gruß, als unsere Blickrichtungen übereinstimmten. Da er den Vollmondschein im Rücken hatte, war seine vordere Körperhälfte in einem dunklen Schatten verhüllt. Er wirkte nun im Gegensatz zum letzten Besuch weit aus bedrohlicher und war sich seiner Wirkung vollends bewusst. Langsam zog er seine Holzmaske vom Gesicht. Sehen konnte ich es dennoch nicht, denn die Kapuze war wie beim letzten Mal weit über den Kopf gezogen und der Schatten auf seinem Antlitz tat sein übriges.

„Bist du irre? Ich habe einen Herzinfarkt bekommen!“, keifte ich drauf los, denn mein Herz schlug mir jetzt bis zum Hals. Das konnte keine Ader aushalten, so sehr pumpte es.

„Entschuldigung. Das war nicht meine Absicht...“ kam es da doch ein wenig überrascht vom Fenster.

Wie machte er das bloß, dort einfach auf dem Fensterrahmen zu hocken? Es gab dort noch nicht einmal einen Hausvorsprung wie beim Küchenfenster, sondern es ging direkt gute fünf Stockwerke in den Abgrund. Der Rahmen maß gerade mal eine Breite von höchstens zehn Zentimetern. Es bedurfte einer guten Balance, sich dort halten zu können. Ich musste das wissen, kämpfte ich bei jedem Fensterputz mit den großen Glasfronten und wäre auch schon beinah mal abgestürzt. Absturz war ein gutes Stichwort. Vielleicht sollte ich ihm einfach das Fenster vor der Nase zuknallen. Dann könnte er unten die Pflastersteine anstelle meiner besuchen und ich hätte ein Problem weniger. Meine Chancen, den Plan erfolgreich umzusetzen, standen gar nicht mal so schlecht.

„Normale Menschen klingeln an der Haustür und benutzen diese auch. Aber DU bist komplett durchgeknallt!“ schimpfte ich weiter.

„Ja, das hat mir ein Freund auch schon mal bescheinigt“, war die trockene Antwort.

„Jemand wie du hat Freunde? Kann ich mir nicht vorstellen“, wollte ich den Strom an Beleidigungen nicht abreißen lassen. Der sollte schon noch wissen, was ich von ihm halte. Kommt nachts erst unangemeldet in meine Küche und nun hockt der schon halb im Schlafzimmer. Mal ehrlich, im Schlafzimmer! Den Raum, den man Besuchern für gewöhnlich nie zeigte. Geht's noch?

„Doch so fantasielos? Ich dachte, bei deinem Job würde man übersprudeln vor Kreativität“, kam es postwendend zurück.

Sieh an, der Herr war nicht auf den Mund gefallen und obendrein noch frech. Er sah mich weiterhin aufmerksam an und wippte dabei etwas auf und ab wie ein Vogel auf dem Drahtseil.

„Boah, nun komm endlich rein. Was sollen denn die Leute denken, wenn du da so bei mir im Schlafzimmerfenster hockst?“, grummelte ich und hatte plötzlich arge Bedenken, diese Peinlichkeiten könnte noch jemand beobachten.

Ich hatte meine Worte kaum ausgesprochen, da hielt er auch schon seine Stiefel in der Hand und stand etwas unschlüssig neben meinem Bett. Wieder einmal war betretendes Schweigen zwischen uns. Ich mochte plötzlich gar nicht mehr so unfreundlich zu ihm sein, denn er nahm mir mit seiner deeskalierenden Art den Wind aus den Segeln. Man kann schlecht auf jemanden Herumhacken, der keine Angriffsfläche bot. Wenn es tatsächlich zu einer Zusammenarbeit zwischen und beiden kommen sollte, dann mussten wir uns eh irgendwie arrangieren. Verlegen sah ich ihn an und schweifte trotzdem immer wieder zum Fenster ab. Das blieb nicht unbemerkt, und ich war froh, dass er die Stille durchbrach:

„Keine Sorge, ich bin heute allein. Wie hast du dich entschieden?“

Seine Stimme klang so ruhig und vertrauensvoll, dass ich aus meiner verkrampften Haltung erwachte, die Decke sinken ließ und meine Beine wieder lang ausstreckte. Es fröstelte mich gar nicht, obwohl sie nun unten aus der Decke herausschauten. Ich wollte wahnsinnig sauer sein und konnte es einfach nicht. Obendrein machte sich der Schlafmangel bemerkbar.

„Ich habe wirklich lange darüber nachgedacht“, begann ich zögerlich. „Und ich knüpfe es an zwei Bedingungen. Ich möchte beim Training am Anfang dabei sein. Und keine faulen Tricks. Keine Lügen, Pseudoprofile oder Schattendoppelgänger. Sonst ist die ganze Aktion gelaufen!“

Ich klang härter als ich es wollte, doch mein Groll auf Ninjas zwang mich dazu. In der Vergangenheit war zu viel vorgefallen, als dass ich es einfach so ad acta legen könnte. Es war ein tiefer Schmerz voller Angst und Tränen. Das wollte ich kein zweites Mal erleben. Es mochte sehr pathetisch und selbst bemitleidend klingen. Für mich war das Kapitel endgültig abgeschlossen, wollte ich nicht alles noch einmal durchmachen müssen. Wenn ich Yuuki ansah, so hatte der doch sehr viel von seinem Vater, der mir soviel bedeutet hatte und jetzt nur noch eine Erinnerung in meinen Träumen war. Es reichte einfach hin, sich weiter damit auseinandersetzen zu müssen.

Blieb nun abzuwarten, welche Gegenreaktion seitens des ANBU auf meinen Kriterienkatalog erfolgen würde. Dessen kompletter Beruf war ein einziges Pseudoprofil. Nun würde es sich zeigen, was ihm sein Angebot wert war und was er dafür zu opfern bereit wäre. Zudem erhoffte ich mir mehr über seine Ambitionen zu erfahren. Mir schien, dass das Training eine reine Privatangelegenheit war. Offiziell wurden solch unbekannte Talente, wie Yuuki es anscheinend war, dem zuständigen Kagen eines Reiches gemeldet, der dann wiederum entschied, was als nächster Schritt geschehen würde. Bei diesem ANBU hatte ich allerdings nicht den Eindruck, dass er seinem Chef irgendetwas mitzuteilen hätte, sondern anscheinend unkontrolliert von höherer Stelle einen eigenen Plan ausheckte. Mir war nicht wohl dabei, da ich nicht durchschaute, welche Rolle mein Kind und ich darin spielten.

„Gibt's heute keine Kaffee?“, fragte er keck vom Thema ablenkend.

„NEIN!“, antwortete ich erregt, hatte aber sofort wieder die Rattengiftidee im Hinterkopf.

„Auch keine Wischmopp-Attacke?“

Er lachte kurz auf, erwartete er sicherlich gar keine Antwort von mir. Schnell kam er wieder auf das ernstere Thema zurück.

„Wie stellst du dir das vor mit deiner zweiten Bedingung? Es gehört zu meinem Job, dass mich niemand kennt“, fragte er mit einer gewissen Neugier.

Dabei hatte er sich locker an die Wand neben dem Fenster gelehnt und die Hände in die Hosentasche gesteckt. Nach wie vor nutze er das Mondlicht in seinem Rücken aus. Nur die Holzmaske, welche halb aus seiner Westentasche hervorlugte, schimmerte weiß im Licht. Ich überlegte kurz, wie ich ihm meinen Befürchtungen gut verkaufen konnte.

„Dann sieh es doch mal von meiner Seite. Du schneist hier ungebeten rein und zeigst Interesse an meinem Kind. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum du das machst. Welches Ziel verfolgst du? Wer bist du überhaupt?“, sagte ich und nuschelte noch hinter drein. „Und im Grunde machst du mir echt Angst!“

Verlegen wich ich seinem Blick aus. Ein herzhaftes Gähnen entfuhr mir. Nur mit Mühe hielt ich die Augen offen und sah den Typen noch einmal an, der nur gute zwei Armlängen neben meinem Bett an der Wand lehnte. Ich kannte nichts von ihm, aber seine Körperhaltung, wie er dort so stand, war zum Niederknien. Ein Kerl, der einem feuchte Träume machen kommt. Aber so war die ganze Bande. Durchtrainiert bis zum Ende und lecker anzusehen. Sein Stimme wiegte mich in den Schlaf. Sonst war ich sehr impulsiv und aufbrausend. Ein wahres Energiebündel. Jetzt aber rächte sich mein Körper für den Raubbau der letzten Tage. Ich kapitulierte und schlief ein. Einfach so. Ohne mitzubekommen, ob mein Gast nun gegangen war oder nicht. Es fehlte mir an Kraft, mich darum zu kümmern. Vermutlich war das sogar sein Plan gewesen: Mich abzupassen, wenn ich vollkommen übermüdet und fertig sein würde. Da gab es keinen Konflikt zum Austragen mehr, weil ich sinnbildlich absolut am Boden lag. Ein Rascheln, dass er sich zu mir beugte, mir die Decke über die bloßen Beine zurecht zog und seine leise Stimme, war das Letzte, was ich von ihm hörte:

„Schlaf gut, Nina-chan.“
 

Es war ein Segen, dass das Kontor am nächsten Tag kein Publikumsverkehr hatte, sondern meine Mitarbeiter nur damit beschäftigt waren, die von mir eingekaufte Ware in Empfang zu nehmen, Qualität zu prüfen und Preise auszuzeichnen. So verschanzte ich mich mit einer großen Kanne Kaffee im Büro, mied den Kontakt zur Belegschaft und genehmigte mir eine doppelt solange Mittagspause wie sonst. Diese verbrachte ich auch nicht wie üblich in einem Restaurant, sondern schlurfte die Stufen nach oben und warf mich aufs Sofa. Erstaunlicherweise musste ich umgehend eingeschlafen sein, denn als ich wieder auf die Uhr sah, war bereits eine gute Stunde verstrichen. Ich fühlte mich ausgesprochen frisch und ausgeruht, und es verdarb auch nicht meine gute Laune, als ein Mitarbeiter nach mir rief, dass sie Hilfe benötigten. Meine Pause war vorüber. Schnell ordnete ich meine vom Mittagsschlaf zerrupften Haare, warf mir eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und lief die Treppe viel zu fröhlich wieder hinunter. Die Fragen der Mitarbeiter waren schnell geklärt. Mit einer zweiten Kanne Kaffee zog ich mich wieder hinter den Schreibtisch zurück und überlegte, welchen Stapel an Papieren ich mir nun zuerst vornehmen würde. Plötzlich piepte es auf meinen Laptop und ein PopUp-Fenster verkündete den Eingang einer neuen Nachricht. Es war eine Messengernachricht von DropIn, doch die Accountnummer war mir unbekannt. Dennoch klickte ich darauf, konnte es ja ein neuer Kunde sein.

„Ausgeschlafen, Nina-chan?“

Nina-Chan? Dann hatte ich mir das gestern nicht eingebildet, sondern mein ANBU hatte mir einen Kosenamen verpasst. Sherenina war hier wegen des R ein schwer zu sprechender Name. Die Einheimischen rollte das R nicht, sondern machten daraus einen Mischlaut zwischen L und R. Es war mir gleich aufgefallen, dass mein ANBU sprachlich gewandt sein musste, hatte er Sherenina richtig ausgesprochen. Dennoch musste ihm „Nina“ wohl doch leichter von der Zungen gehen. Aber -chan fand ich dann doch etwas zu vertraut, fast schon anflirtend. Das war mir etwas unangenehm. Der letzte Mann an meiner Seite war Yuukis Vater. Seitdem lebte ich allein. Hatte ich eben eigentlich immer „mein“ ANBU gesagt? So weit hatte er sich nach zwei Begegnungen schon eingeschleimt. Und woher hatte er eigentlich meine Messenger-Nummer? Scheiß Spionagetruppe! Ich seufzte, konnte aber nichts gegen das aufkeimende Lächeln auf meinen Lippen tun. Die Sache weckte langsam, aber sicher meine Neugier. Es war spannend und aufregend.

„Ja bin ich.“ tippte ich schnell zurück, setzte aber einen verschlafenen Smiley hinter den Satz.

Wenigstens konnte ich jetzt mit ihm in Kontakt treten. Das war doch schon mal ein Anfang. Ich wollte seine Accountnummer speichern und kam ins Grübeln.

„Unter welchem Namen soll ich dich speichern?“, unternahm ich den plumpen Versuch, etwas mehr herauszubekommen.

„Das darfst du dir aussuchen. (Zwinker-Smiley)“

Wieder seufzte ich. Man konnte ihn einfach nicht reinlegen, und schon gar nicht so naiv. Letztendlich tippte ich dann „Inu“ in das Namensfeld. Weil Inu sich mit Hund übersetzen ließ und er eine Holzmaske mit einem Hundegesicht aufhatte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann piepte es wieder. Inu hatte mir einen kleinen Kartenausschnitt geschickt. Ein Kreuz markierte den Treffpunkt für das erste Training. Übermorgen, Nachmittag. Da hatten wir nichts vor. Ich bestätigte den Terminvorschlag. Dann herrschte Funkstille.

Gespannt wie ein Flitzebogen musste ich nun bis übermorgen warten. Die Zeit würde sich wie ein Kaugummi ziehen. Yuuki ließ ich erstmal außen vor. Ihn würde ich erst am Tag der Tage einweihen. Wer weiß, was er sonst in der Schule und überall herumzählen würde.

Die Nervosität war kaum auszuhalten.

4 – Der Tag, an dem der Trainingsplatz mein zweites Zuhause wurde

Heute war der beste Tag der Welt. Zumindest, wenn man es von einem Standpunkt aus betrachtete, der vor Sarkasmus nur so übersprühte. Da stand ich nun mit meinem Sohn mitten auf einer Wiese Schutz suchend unter einem vereinzelten Baum. Vor uns lag der idyllische Fluss, welcher in Konoha als kleine Quelle entsprang, auf seinem Wege mächtig anwuchs und einige Parks innerhalb der Stadtmauern landschaftlich dominierte. Im Rücken hatten wir ein bewaldetes Flecken Erde. Sicherlich ein schöner Ort zum Picknicken, Rasten oder Entspannen, hätte sich die Wettervorhersage einmal gründlich zuvor beim Wetter informiert, ob der angekündigte Sonnenschein auch in der Realität anwesend wäre. Es regnete aus Kübeln. Nein, es gallerte, pisste, schiffte … Mir fiel einfach keine exakte Beschreibung für einen Wolkenbruch ein, der uns trotz des Regenschirmes dermaßen erwischte, dass wir schon nach wenigen Minuten klatschnass bis auf die Haut waren. Das Wasser kam von überall. Oben, unten, mit Wind von rechts, ohne Wind von links. In dicken Tropfen, in Bindfäden am Stück. Ein heftiger, warmer Sommerguss wie aus dem Bilderbuch. Meine Laune sank mit jedem vollen Liter Himmelswasser weiter hinab in ein seelisches Tal voller Missmut, wie es so von meinem Regenschirm herab pladderte. Dazu erheiterte es mich keineswegs, dass mein werter Sohn nun auch noch ungeduldig und maulig wurde. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen und fragte mich im Sekundentakt laut und genervt, was wir denn verbrochen hätten, hier bei strömenden Regen ausharren zu müssen. Er wollte lieber jetzt als gleich zuhause sein und vor der Spielekonsole abhängen. Sein neustes Spiel war noch nicht ganz ausgespielt. Er stand kurz vor dem Endgegner und glühte nur darauf, endlich das Ending zu erfahren und einen Haufen sinnloser Sidequest freischalten zu können. Seit einer guten Woche gab es am Abendbrottisch kein anderes Thema mehr als dieses Videospiel, was man wohl als Elternteil niemals verstehen könnte. Dazu war man in den Augen der Jugend viel zu alt und viel zu uncool. Blieb nur zu hoffen, dass diese Aktion hier auf dem Trainingsplatz um einiges cooler ausfallen würde. Mehrmals hatte er schon den Wunsch geäußert, auch zur Ninja-Akademie zu dürfen. Zwei seiner Freunde waren auch dort. Vermutlich hatte er es sich von denen abgeschaut, wie man Chakra überhaupt nutzte. Die Diskussion endete häufig in Streit und Tränen. Vielleicht würde es heute zu einem gütlichen Kompromiss kommen.

Ich hatte ihm den Grund für unseren Spaziergang durch den Park wohlwissend verschwiegen, denn ich war immer strikt dagegen gewesen, seine Chakra-Fähigkeiten trainieren zu lassen. Hätte ich ihm nun erzählt, dass mich jemand heimgesucht hätte, der tatsächlich freie Zeit seines Lebens verschwenden und ihn unterrichten würde, so hätte er mir wohl nicht geglaubt. Und hätte ich ihm auch noch berichtet, dass es ein echter ANBU wäre, er hätte mich für verrückt erklärt. Außerdem hätte ich damit rechnen müssen, dass es für Yuuki eine riesengroße Enttäuschung gewesen wäre, würde Inu uns doch noch hier an Ort und Stelle versetzen. Und ich wäre letztendlich die Dumme, die ihm dann ein angebliches Märchen erzählt hätte. Diesem Streit und Stress war ich nun durch die selbst auferlegte Geheimhaltung ein wenig zuvorgekommen.

So langsam wurde es ungemütlich. Das Wasser lief in die Schuhe und durchdrang nun auch noch die dünnen Sommerjacken. Es regnet sehr selten in Konoha. Gerade der Juli war für seine Trockenzeit bekannt. Wieso regnete es ausgerechnet heute? Es fröstelte mich und auch Yuuki schien keine Minute mehr bereit zu sein, hier herumstehen zu müssen. Ich tadelte mich selbst eine dumme Nuss, dass ich auf die Zeitangabe „nachmittags“ eingegangen war. Je nach eigens-persönlicher Definition begann der Nachmittag so gegen 14 Uhr und endete kurz vor 18 Uhr. Wenn Inu es mit den Zeitangaben ebenso genau nahm wie bei seinem Besuch in der Vollmondnacht, dann würde der vielleicht erst aufkreuzen, wenn der Nachmittag fast vorbei wäre. Ein regennasses Schaudern kroch meinen Rücken hinunter und erinnert mich, wie die nasse Kleidung nur so auf der Haut klebte. Nein, so viele lange Stunden voller Füßeplattsteherei wollte ich hier garantiert nicht verbringen. Wütend kramte ich mein Handy hervor, zimmerte mit dem Zeigefinger auf das Icon der DropIn-App und sprach ihm eine Nachricht auf. Ich sollte mich wohl besser korrigieren: Ich brüllte ihm eine Nachricht. Wenn er die abrief, hätte er mindestens einen Tinnitus sicher. Das wäre die gerechte Strafe, mich hier unter einem Baum zu vergessen, nass bis auf die Knochen mit einem quengeligen Kind an der Hand. Den Nachmittag hätte man bei weitem besser verbringen können. Vermutlich hätten wir uns am nächsten Tag zur Krönung des Ganzen noch eine dicke Erkältung eingefangen.

Nach einer gute Viertelstunde checkte ich nochmal den Messenger. Neben meiner verschickten Sprachbombe hatte sich noch kein grünes Kreuz abgebildet. Das hieß, dass Inu sein Postfach noch nicht geöffnet hatte. Dafür wurden wir beide plötzlich aus heiterem Himmel von der Seite her angesprochen. Ein ANBU trat um den Baum herum und grüßte kurz, aber höflich. Ich selbst hatte mich vom Schreckmoment schnell erholt, erkannte ich doch die Katzenmaske wieder. Yuuki hingegen war von dem Auftritt des Maskierten total geplättet und lugte verschreckt hinter meinem Rücken hervor.

„Ich sollte dazukommen, weil er meine Meinung hören wollte“, erklärte die Katzenmaske etwas unsicher und stand dann recht verloren neben uns.

Die Katzenmaske war wenigstens so clever gewesen und hatte sich in einen weißen Regenponcho gehüllt. Interessanter Weise hatte er wohl gar nicht erwartet, seinen Kollegen vor Ort anzutreffen, denn er nahm dessen Abwesenheit stumm zur Kenntnis und fragte noch nicht einmal nach, ob dieser überhaupt schon hier gewesen wäre. Ihm entging jedoch keineswegs, dass sich Yuuki und ich wie zwei begossenen Pudel doch recht unwohl in unserer nassen Kleidung fühlten. Schnelle Fingerzeichen folgten und für Normalsterbliche, wie ich und mein Sohn es waren, tat sich ein halbes Weltwunder auf. Aus der Erde wuchsen rasend schnell kleine Zweige zu Ästen, dann zu Stämmen. Sie verflochten und und verformten sich. Kein Wimpernschlag später stand an Ort und Stelle ein kleiner Holzunterstand mit Bank. Alle Achtung. Zum ersten mal in meinem Leben war ich Zeuge eines nützlichen Jutsus. All das, was ich zuvor miterleben durfte, hatte zumeist etwas mit Gewalt zu tun. Zu dritt nahmen wir nebeneinander auf der Holzbank Platz. Wie Hühner auf der Stange hockten wir da und sahen aus der Ferne aus wie Leute, die in einem Wartehäuschen auf den Bus wartete. Nur, dass hier niemals ein Bus halten würde. Wir wechselten kein Wort. ANBUs im Dienst erzählten sowieso grundsätzlich nie etwas. Ich selbst hatte auch keine Idee, wie ich ein Gespräch anleiern könnte, welches nicht in einem Fettnäpfchen gipfeln würde. Und mein Kind saß da recht verwirrt und traute sich gar nicht, auch nur ein Wort zu verlieren. Man musste dazu sagen, dass er seit dem Horrortag auf dem Marktplatz ein halbes Trauma beibehalten hatte und vor jeder weißen Holzmaske Reißaus nahm. Dafür hielt er sich hier eben in dieser Situation geradezu wacker. Da nun die Katzenmaske unseren Wartekreis erweitert hatte, weihte ich Yuuki endlich in die Pläne ein. Plötzlich war er gar nicht mehr so zurückhaltend und war sehr aufgeregt. Ein fröhliches Strahlen legte sich über seine Wangen, wie ich es lange nicht mehr gesehen hatte. Seine Augen leuchteten, als wäre es der Morgen seines Geburtstags. Es verpasste mir ein tiefen Stich ins Herz, dass ich als Mutter nicht richtig eingeschätzt hatte, wie sehr es ihm etwas bedeutete, mehr über sein Chakrapotential zu erfahren. Ich musste ihn bremsen, den ANBU nicht schon vor dem Training mit seinen vielen, vielen Fragen zu durchlöchern. Aber der ANBU nahm es doch sehr locker und bat ihn, einfach noch ein wenig abzuwarten. Es kehrte wieder Ruhe ein in unserem Wartehäuschen. In die Schweigerunde platzte unerwartet das Piepen meines Handys. Es klang so ungewöhnlich laut gegen das Prasseln des Regens auf dem Dach an, dass ich kurz zusammenzuckte. Inu hatte tatsächlich eine Antwort geschickt, die mich zur Weißglut brachte.

„Vermisst du mich, Nina-chan? (grins-Smiley)

Vermissen?!? Nina-chan? Ich war binnen von Sekunden kurz vor dem Ausrasten. Da war es wieder. Dieses arrogante Amüsieren über meine Person. Das war doch garantiert Absicht, dass der uns hatte so durchregnen lassen. Und dann immer dieses Flirten auf billigstem Niveau. Boah, mein Blut war nicht in Wallung. Nein, es kochte über. Wenn ich den noch einmal allein antreffen würde, dann gäbe es einen Satz heiße Ohren. Es musste soviel Erregung in mich gekommen sein, dass ich nicht gemerkt hatte, wie ich aufsprang und mit der bloßen Faust mein Handy fast zerdrückt hätte. Dafür erntete ich erstaunte Blicke und brockte mir Erklärungsnot ein, der ich nur entging, da sich unvermutet die Ursache meiner Wut locker-lässig an den Pfosten des Unterstands lehnte. Er trug denselben Regenponcho wie sein Mitstreiter, aber im Gegensatz zu diesem die bereits bekannte Hundemaske. Mich hingegen nervte es total, dass diese Ninja-Bande immer so lautlos aufkreuzte, dass man sich augenblicklich zu Tode erschreckte.

„Können wir starten?“ fragte Inu, als hätte er mir niemals auch nur einen einzigen Buchstaben über DropIn übermittelt.

Er klang recht müde und sah mich durch seine Holzschlitzaugen nicht ein einziges Mal an, sondern wich meinem wütenden Blick sogar noch aus. Kein Rückgrat, der Idiot. Stattdessen warf er einen prüfenden Blick zum Himmel, stellte ein Aufklaren des Regenwetters fest und kam dann gleich zur Sache. Dabei redete er direkt zu Yuuki und tat so, als wäre ich aus Luft.

„Du hast neulich einen ziemlichen Wirbel veranstaltet.“, begann er freundlich und beobachtete ganz genau, wie mein Sohn, vom schlechten Gewissen gezeichnet, sofort auf der Bank zusammensackte.

„Ich möchte gerne, dass du genau noch einmal dasselbe machst, wie neulich auf dem Marktplatz. Wir beide möchten zu gerne sehen, wie das funktioniert.“

Inus Stimme war so ruhig und entspannt, fast einschläfernd, dass man gar keine Sorgen haben dürfte, etwas Falsches zu tun. Als wäre es das normalste der Welt, mal eben die Umgebung in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Dennoch warf mir Yuuki einen angsterfüllt Blick zu, um meine zustimmende Erlaubnis zu erbitten. Das entging auch Inu nicht, der noch ergänzte:

„Keine Angst. Auf diesem Platz hier ist das alles erlaubt. Und wir beide sind schon Kummer gewohnt.“

Dabei deutete er ein Kopfnicken hinüber zu seinem Kollegen an. Man konnte ganz klar ein Lächeln aus seiner Stimme heraushören, dass ihm ein sehr eindringlicher Erinnerunsgfetzen vor Augen geraten war.

„Oh jaaaaa...!“ zischte da ein trockener Kommentar mehr als unerwartet von der Bank hinter mir.

Ich wandte meinen Kopf und war erstaunt. Da ich mich nur auf Inu konzentriert hatte, war die Katzenmaske glatt in Vergessenheit geraten. Die Katze hielt wohl nicht so sehr viel von Geheimniskrämerei. Der Poncho hing zum Trocknen über einem herausgewachsenen Ast, ebenso wie die Holzmaske. Darunter zeigte sich nun bei Tageslicht eine vollständige sichtbare Person hab. Kurze braune Haare, große schwarze Augen, den Rollkragen bis über Kinnspitze gezogen und ein Stirnband, dessen Metallprotektoren sein Gesicht umschlossen. Ich schätze ihn ungefähr im gleichen Alter wie meines ein. An was auch immer ihn Inus Aussage erinnert hatte, man sah ihm ebenfalls ein kurzes Kopfkino glasklar an. Mit einer Mimik von tausend Fragezeichen sah er Inu und Yuuki hinterher, wie die beiden sich auf der Wiese in sicherem Abstand zu uns aufstellten, kurze Worte wechselten und Yuuki seine Handflächen wie zu einem Gebet faltete. So lax, wie die Katzenmaske neben mir stand, so hinterließ er bei mir den Eindruck, dass er weniger aus Interesse und freiwilliger Bereitschaft, sonder unter Einschränkung seiner Freizeit hierher bestellt worden war.

Zwischen Yuukis Händen flammte es orange auf. Es wurde größer und plastischer, bis eine Kugel ungefähr so groß wie ein Handball seine Handflächen auseinander drückte. Dann warf er die Kugel auf ein Zeichen Inus hin in Richtung Fluss, wo sie an dessen Ufer mit dem lauten Knall einer Explosion die ganze Erde aufriss.

Ich war mächtig geschockt, doch die Katzenmaske neben mir kommentierte monoton:

„Ranton! Ziemlich sicher, aber die Chakrafarbe ist ungewöhnlich.“

„Ist das jetzt gut oder schlecht?“, hakte ich unsicher nach, war ich innerlich doch nun gespannt wie ein Flitzebogen.

Keine Antwort. Wäre ja auch zu viel des Guten gewesen. Also schaute ich verstummt wie der ANBU neben mir wieder hinaus aufs Feld. Der Regen hatte nachgelassen. Es tröpfelte nur noch hier und da. Die Sonne brach durch und brachte die sommerliche Gluthitze zurück. Die Wiese dampfte. Die hohe Luftfeuchtigkeit erschwerte das Atmen. Dennoch tat es der Motivation meines Kindes keinen Abbruch. Klitschnass stand es dort, schnappte wie ein Fisch auf dem Trocknen nach Luft und formte schon zum zweiten Male eine orangene Kugel aus purem Licht. Aber es gelang nicht mehr so leicht von der Hand wie zuvor, sondern sah um einiges gequälter aus. Aber vielleicht täuschte das auch nur, weil das Wetter umschlug. Mein Kind, dass sonst so unleidlich war, wenn ihm das Wetter nicht passte. Oder wenn er sich mal länger an einer Sache die Zähne ausbeißen sollte, aber stattdessen lieber die Flinte ins Korn schmiss. Nun stand es da und strahlte mit der Sonne um die Wette.

Dann aber wurde die Übung aus nicht ersichtlichen Gründen abgebrochen. Vielleicht hatte Inu genug gesehen. Jedenfalls kehrten die beiden zum Bushäuschen zurück. Die beiden Ninjas tauschten sich wortlos aus. Dann nickten sie kurz und schien sich sehr einig zu sein. Was hatten die beiden eigentlich besprochen? Man kam sich so uneingeweiht sehr blöde und nutzlos vor.

„Wir beide sind uns im Grunde einig, ...“, kam es von der Hundemaske.

Wie einig? Wie habt ihr denn miteinander gesprochen? Gedankenübertragung? Telepathie?

„... wollen aber noch mal etwas testen...“

Testen? Vor meinem geistigen Auge tat sich ein ganzer Laboralptraum auf, wie mein Lieblingskind als Versuchsratte missbraucht an Schläuchen und Kabeln hing und endlose Test durchleben musste. Niemals! Was auch immer jetzt kommen würde, …

„... Das geht mit Papier.“

… es würde mich arg verwirren. Papier? Und schon wurden Yuuki in jede Hand jeweils ein Stücken Papier gedrückt, und er sollte noch einmal seine Kugel formen, aber bitte nur mit halber Kraft. Eine ganze Weile passiert gar nichts, bis die Katzenmaske kurz aufgluckste und dann Yuuki riet, sich doch nochmal an einer Kugel zu probieren. Kaum ausgesprochen, formte sich der Energieball. In just dem Augenblick wurde das eine Papierblättchen nass und das andere zerknitterte. Auch Inu lachte jetzt kurz auf:

„Ein „AN-oder-AUS-Jutsu“. Entweder volle Kraft oder gar nichts.“

Was war denn nun schon wieder so komisch? Ich hatte es aufgegeben, etwas zu fragen. Sie würden mich nur mit Missachtung strafen. Einer meiner Wutanfälle über diese Missachtung würde an ihnen abprallen wie Öl vom Wasser. Vermutlich hätten sie nicht einmal ein Problem damit, mich dumm sterben lassen. Ich musste wohl sehr traurig ausgesehen haben, weshalb ich vermutlich aus purem Mitleid eine Erklärung bekam.

„Erstaunlicher Weise hat sich Yuuki sehr viel selber beigebracht, allerdings recht unbrauchbar in der Handhabung. Sein Element ist Sturm. Das ergibt sich aus Wasser und Blitz. Es wundert mich sehr, wie er es schafft, durch ein eigens entwickeltes Jutsu, die Form und die Natur seines Chakras so zu manipulieren. Und da er das selbst auch nicht weiß, kann er es auch nicht dosieren. Entweder schmeißt er seine ganze Energie da hinein oder es passiert halt gar nichts. Darum habe ich auch den Witz gemacht, es wäre ein AN-oder-AUS-Jutsu. Ach, und seine Chakra-Reserve ist mittelmäßig bis gering. Daher sollte er seine Spielerei lieber lassen. Ein Chakraträger mit aufgebrauchtem Chakra verstirbt.“

Der letzte Satz war ein ziemlicher Tiefschlag in die Magengrube und etwas, was mir bis dato nicht im Geringsten bewusst war. Der Schock saß tief in den Gliedern und färbten mein Gesicht so weiß wie die Holzmasken der ANBUs. Ob es nun erneutes Mitleid oder doch offene Bestürzung war, sei dahingestellt. Die beiden versuchten in kurzen, aber warmherzigen, leisen Sätzen, mich zu beruhigen, dass alles nur halb so schlimm und alles durch ein paar Trainingsübungen zu beheben wäre. Meine Nerven zogen trotzdem blank. Selbstvorwürfe überschütteten mich. Das heimliche Training meines Kindes brachte nicht nur andere, sondern auch es selbst in Gefahr. War es also falsch gewesen, ihn nur auf eine normale Schule zu schicken? In diesem Augenblick fühlte ich mich wie die allerschlimmste Rabenmutter der Welt, die in sämtlichen Erziehungsfragen stets die falsche Antwort gewählt hatte. Alles hatte ich verkehrt gemacht. Es zog mir langsam den Boden unter den Füßen weg. Tränen bildeten sich in meinen Augen. Doch ich wollte stark bleiben und mir keine Blöße vor den beiden Ninjas geben. Also unterdrückte ich die aufsteigende Angst und die Tränen. Wie ein geprügelter Hund starrte ich den Boden an, er solle sich einfach nur vor mir öffnen und mich verschlingen. Ich wollte einfach nur noch weg.

Das Schicksal kam mir unerwartet zur Hilfe, als es zweimal vibrierte, die beiden Ninjas zeitgleich in ihren Hosentaschen kramten und jeder auf sein Tablet starrte. Ich hatte es vor ein paar Jahren aus der Presse entnommen: Missionsschriftrollen waren out. Es lief alles nur noch online.

„Die Pflicht ruft.“ meinte die Katze unbeeindruckt.

„Wir müssen los.“, ergänzte im gleichen Tonfall der Hund.

Und weg waren die beiden genauso schnell, wie sie noch vor einer guten Stunde hier aufgetaucht waren. Dabei verschwanden auch ihre Spuren. Die kleine Bushaltestelle bildete sich zurück und die Äste verschwanden wieder im Erdreich. Auch ich war froh, nun endlich nach Hause gehen und die nasse Kleidung gegen trockene tauschen zu können.

Wir hatten nicht geklärt, wie es mit dem Training weitergehen würde, doch konnte ich mir vorstellen, relativ schnell wieder etwas von Inu zu hören. Man würde in Kontakt bleiben... müssen.

5 – Der Tag, an dem ich eine Vorladung vom Hokagen erhielt

Schon mal bemerkt? Die besten Alpträume findet man immer im Briefkasten. Es müsste der Post verboten werden, schlechte Nachrichten zu transportieren. Anstelle netter Urlaubskarten oder lieb gemeinter Zeilen, wird man gerade zu von Rechnungen, Zahlungserinnerungen, Lieferscheinen oder bloßer,stumpfsinniger Werbung zugemüllt. Neben meiner Privatpost sammelte sich unten in dem großen Kasten in der Eingangshalle des Kontors auch die Geschäftspost an. Es war tagtäglich eine übler Papierberg, von dem ich grundsätzlich schon am Briefkasten einen Teil grob aussortierte und in den Mülleimer warf. Ich vertrat dazu schon die Meinung, dass viele Bäume für die Papierindustrie umsonst gestorben wären. Man schaffte es, weder alles an Briefen und Prospekten unter dem Arm hinauf ins Büro zu tragen, geschweige denn, all das überhaupt zu lesen. Diesmal jedoch war ein Brief dazwischen, den ich schon beinah fälschlicher Weise zum Altpapier befördert hätte, wäre ich einen Moment zu unaufmerksam gewesen. Da war wohl der Wunsch der stille Vater des Gedanken gewesen.

Meine Augen weiteten sich erschrocken, als ich den Absender las. Nervös blickte ich um mich, ob jemand von den Mitarbeitern bemerkt hatte, wie ich kreidebleich wurde und Angstschweiß auf meiner Stirn perlte. Hastig raufte ich den Briefhaufen zusammen und stahl mich unauffällig in mein Büro. Dort angekommen, warf ich den ganzen Stapel unachtsam auf die Schreibtischplatte. Ich nahm mir nicht die Zeit, einen Brieföffner zu suchen, sondern riss den Umschlag mit zittrigen Fingern auf. Das gelang nicht wie geplant, so dass der Umschlag einriss und ziemlich zerfetzt wurde. Langsam segelte er zu Boden, doch ich beachtete ihn gar nicht, sondern brauchte mehrere Anläufe, bis ich endlich den Papierbogen des Horrors auseinander falten und glätten konnte. Ich zitterte wie Espenlaub und meine Hände waren schweißnass.

Es war eine Vorladung zu einem Verhör direkt im Hokageturm. Gleich Anfang der nächsten Woche um Punkt neun Uhr hätte ich mich dort einzufinden. Ich hatte das Gefühl, mir würde der Boden unter den Füßen weggerissen. Mein Kreislauf gab nach. Mir wurde schwarz vor Augen. Nur mit Mühe grapschte ich noch nach der Armlehne meines Bürosessels und ließ mich einfach hineinplumpsen. Ich atmete einige wenige Male tief ein, legte den Kopf in den Nacken und versuchte mich zu beruhigen. Was würde mich da bloß erwarten? Eine saftige Rechnung für das zerstörte Haus? Einen Vorwurf wegen Verletzung meiner Aussichtspflicht und die Wegnahme meines Kindes? Letzterer Gedanke drehte meinen Magen auf links. Ich stürzte aus dem Büro hinüber zur Toilette und spendete mein komplettes Frühstück dem gierigen Keramikschlund. Ich würgte noch einmal nach, doch es kam nichts mehr. Am Waschbecken spülte ich kräftig nach, um den bitter brennenden Geschmack zu neutralisieren und prüfte dann mein Antlitz im Spiegel. Das Bild, welches mich ansah, erschreckte mich. Meine Haare waren zerzaust, die Augen gerötet und die Haut so bleich wie die einer Wasserleiche. In den letzten Wochen hatte ich diesem Anblick oft standhalten müssen. Ständig sah ich dauerhaft fertig und übermüdet aus, kippt mir viel zu viel Kaffee die Speiseröhre runter und schloss die Trinkaufnahme abends mit einem Wein ab. Passend dazu immer wieder Kohlenhydrate in allen verfügbaren Massen. Am Liebsten Schokolade.

Dabei hatte ich die Hoffnung gehegt, es hätte sich alles wieder bei uns daheim eingerenkt. Yuukis Training fand unregelmäßig statt. Eben halt so, wie es in Inus Gutdünken passte. Ich war nur dreimal auf dem Trainingsplatz gewesen. Manchmal hatte er dann Yuuki etwas gezeigt, was mein Sohn dann aber allein üben müsste, sich in meiner Nähe ins Gras gesetzt und wenige Wort mit mir gewechselt. Mein Misstrauen wich zurück. Also hatte ich dann doch beschlossen, Yuuki allein zum Training zu schicken unter der Bedingung, dass er wenigstens nach Hause gebracht würde. Ich konnte nicht klagen: Das lief super. Und obwohl Inu meist sofort wieder wie vom Erdboden verschluckt verschwand, hatte er es tatsächlich klammheimlich geschafft, meinen Argwohn zu unterwandern. Er gehörte schon praktisch zum Haushaltsinventar. Inu, von dem ich bis heute weder wusste, wie er hieß, noch wie er aussah. Das Training war dafür überraschend effektiv und man konnte nach wenigen Lektionen schon erste Erfolge sehen. Mein Sohn war ein Sensibelchen, welches oft Probleme mit den Lehrern hatte, sollte der Ton im Klassenraum einmal zu rauh werden. Doch von Inus stoischer Art war er komplett begeistert, redet ausführlich vom Training und wiederholte sich häufig. Er legte unglaublich viel Energie in die Übungen und war hochmotiviert, alles richtig zumachen. Ein rundum zufriedenes Kind. Ich hätte ebenfalls zufrieden sein müssen, aber mir bereitete es nur das pure schlechte Gewissen mich in Yuukis Sinne falsch entschieden zu haben.

Ich nahm stillen Abschied von meinem zweiten Ich dort im Spiegel und schlurfte wieder über den Flur zurück zu meinem Bürosessel. Ich konnte mich auf gar nichts konzentrieren und blätterte die aktuellen Einladungskarten einschlägiger Modeunternehmen durch. Nichts blieb in meinem Gedächtnis hängen. Ich war eh nicht der große Modefreak. Die schrillen Stoffefetzen, die da auf den Fotos von irgendwelchen magersüchtigen Kleiderständern über den Laufsteg geschleppt wurde, passten mir eh nicht. Dazu weit ich mit meinem Körpergewicht viel zu weit entfernt von den Hungerhaken. Ich würde mich nicht als fett bezeichne, aber das überflüssige Hüftgold war kaum zu kaschieren. Mit meinen stämmigen Fußballerwaden standen mir auch kurze Röcke überhaupt nicht. Und generell war ich mit mir unzufrieden. Aber wer war das nicht? Als Stoffekontor war es allerdings meine Pflicht, jeden nur erdenklichen Modestoff im Hause zu haben. Sonst würde die Konkurrenz uns auf dem freien Markt abhängen. Vielleicht würde mir eine Reise zu einigen Festivals gut tun, überlegte ich so vor mich her. In wenigen Wochen würden wieder Modewochen sein. Ich könnte mich vor Ort zerstreuen und neue Stoffe einkaufen. Werbung für mein Kontor war prinzipiell von Vorteil. Da war es wichtig, dass man auch zu den Designer gute Kontakte pflegte. Ich blätterte im Terminkalender, rief meine Sekretärin zu mir und ließ sie das Buchen der Hotelzimmer übernehmen. Meine Reisetermine überlappten sich wunderbar mit den Schulferien. Yuuki müsste sich überlegen, ob er mich tatsächlich begleiten wollte oder lieber bei seinen Großeltern die Zeit zu verbringen wünschte. Ich tippte eher auf Letzteres. Er war gerne bei seinen Großeltern in unserer Heimat. Und für uns beide war es allemal stressfreier. Der Beruf spannte mich jetzt schon sehr ein. Da blieb für mein Kind nicht immer die Zeit, die ich gerne mehr mit ihm verbracht hätte.

Ich war so vertieft, dass ich gar nicht merkte, wie sich hinter mir lautlos das Fenster aufschob und mir dann eine lachende Kinderstimme im Rücken hing:

„Wir sind zurück! Guck Mama, ich kann jetzt mit Chakra die Wand hochlaufen!“ jubelte mein Kind.

Ich selber aber jubelte gar nicht, sondern bekam heute zum zweiten Male einen Schock und ließ infolge dessen den Kaffeebecher fallen. Ein großer brauner See mit einem Aroma von edelsten Hochlandplantagen überflutete meinen Schreibtisch. Fuchsteufelswild fuhr ich herum und funkelte die beiden Urheber an.

„Ja, das hab ich gemerkt“, keifte ich aufgebracht los und besah mir das flüssige Malheur. „Und du? Du sollst ihm nicht so einen Blödsinn beibringen!“

Das ging nun an Inu. Beide hockten etwas bestürzt auf dem Fensterbrett. Ihr Timing, mich auf diese Weise begrüßen zu wollen, war denkbar ungünstig. Ziemlich betroffen murmelten sie gleichzeitig ein knappes:

„'tschuldigung...“

Während ich Yuuki aufforderte, aus der Küche einen Lappen zu holen, tupfte ich aussichtslos mit einer Packung Taschentücher auf der Tischplatte herum. Wütend warf ich dann aber die vollgesogenen Tücher mitten auf den Tisch, verschränkte die Arme und fuhr mir mit einer Hand durchs Gesicht. Es war ein ziemlich beschissener Tag.

„Was hat dich denn heute so aus der Bahn geworfen?“

Es konnte Inu nicht entgangen sein, dass es mir schlecht ging. Kein Wunder. Ich sah ja auch mal wieder zum Fürchten aus. Wenn ich recht darüber nachdachte, so sah ich meistens zum Fürchten aus, wenn wir uns trafen. Das fing langsam an, System zu entwickeln. Ich wischte den Gedanken beiseite, zog wortlos ein nun gebräuntes Vorladungsschreiben aus dem nassen Papiermatsch und hielt ihn Inu direkt vor seinen Augenschlitze. Es kam keine Antwort. Inu, bist du Analphabet oder kapierst du mein Problem nicht? Also setzte ich nach:

„Da, dein Chef will mich sehen. Was soll ich jetzt bloß machen?“

„Hingehen?“

Inu zuckte emotionslos mit den Schultern. Also kapierte er mein Problem wirklich nicht. Und so klärte ich ihn auf. Ich könnte weder den Schaden bezahlen, noch wollte ich mein Kind verlieren. Und eine Kontorschließung, weil ich so aufsässig gewesen war, käme einem Todesurteil gleich. Wieder kam ein Schulterzucken seinerseits, es würde schon alles gar nicht so schlimm werden. Es stünde ja noch nicht einmal in dem Brief drin, worum es denn tatsächlich ginge. Dein Wort in Gottes Ohr, Inu!

Inu machte sich in einem Anschein von Langeweile auf den Weg zurück zum Fenster, um mal wieder spurlos zu verschwinden. Und so stand ich da wieder komplett allein auf weiter Flur mit meinem Problem und meiner Angst.
 

Einige Tage später war dann der große Showdown. Mit dem Kaffee getränkten Brief in der Hand zog ich auf direktem Wege überpünktlich zum großen Eingangstor des Turms, welches mir sofort sämtliche Rückzieher und Fluchtwege abschneiden würde, fiele es hinter mir ins Schloss. Der Shinobi am Eingang besah sich stirnrunzelnd den Schrieb bevor er mich weiter lotste. Dann schluckte er ein Grinsen über den Brief herunter. Na, so ein versifftes Stück Papier war wirklich nicht der allerbeste Eindruck. Wenigstens sah ich diesmal nicht so zertrümmert aus. Meine Naturkrause war zu einem strengen Zopf gebändigt. Eingekleidet hatte ich mich in ein modisches Kostüm, wie ich es auch bei Geschäftsverhandlungen zu tragen pflegte. Alles in allem konnte ich als seriös gelten, wenn man über meine schweißnassen Hände und die glasigen Augen hinweg sah. Vielleicht würde man diese Zeichen als Erkältung, aber weniger als Panik deuten.

Der Hokageturm wirkte von außen größer und bulliger, als ich es später von innen her betrachten konnte. Und erst, als ich direkt davor stand, konnte ich Notiz davon nehmen, dass es sogar drei Türme waren. Ein dicker Hauptturm wurde rechts und links von zwei kleineren flankiert. Es lag an der Schutzmauer um das gesamte Gebäude drumherum, dass es mir noch nie zuvor aufgefallen war. Zwei Treppen musste ich im Hauptturm hinauf und fand das in der Vorladung erwähnte Bürozimmer. Ich hatte die sperrangelweite Tür noch gar nicht erreicht, da wurde ich schon Zeuge von den dort hausenden Büroknechten.

„Man, das nervt! Wo ist der blöde Ordner?“

„Oben links!“

„Welches links?“

Ein Kramen und Räumen schallte aus dem Zimmer heraus. Zwei Türschilder an der Wand genau neben dem Türpfosten gaben Auskunft. Nara Shikamaru und Maito Gai. Aha! Also denn mal abgebogen und rein in die Höhle des Löwen. Es war ein Anblick wie Tag und Nacht. Die Tür lag mittig des großen Raumes und gab dem Besucher die Möglichkeit, entweder in eine linke oder rechte Hälfte zu wechseln. In jeder dieser beiden Hälften stand ein Schreibtisch, umringt von unzähligen Regalen und Ablagen. Beide Zimmerseiten quollen über von Ordnern, Akten und Schriftrollen. Doch der Unterschied lag ganz klar in der Anordnung. Während in der linken Hälfte das Material recht sinnvoll gestapelt und beschriftet war, so drohten in der rechten Hälfte Aktentürme einzustürzen und Ordnerstapel bedrohlich zu wanken. In diesem Durcheinander schlurfte ein ziemlich missmutiger Kerl von Ende Zwanzig mit einem noch wilderen Pferdeschwanz als meiner und Kinnbart zurück in seine Chaosecke. Das gesuchte Ordernstück klemmte unter seinem Arm. Sein Gang wurde begleitet von lautem Lachen aus der aufgeräumten Ecke und ließ sich einem Typen mit Pilzkopffrisur und grünen Overall im Rollstuhl zuordnen. Ich schätzte ihn auf Anfang Vierzig und somit etwas älter als mich selbst ein. Ich wusste nicht warum, aber insgeheim hoffte ich, zu dem Typen in die Chaosecke gehen zu dürfen, denn vor dem grünen Clown gruselte es mich sehr. Zudem hoffte ich, der Vorladungstermin würde bei dem Kollegen mit der schlechten Stimmung schneller vorübergehen, schien er doch extrem genervt und wäre sicher froh, wenn ich wieder hurtig gehen würde. Unschlüssig stand ich in der Tür, spähte weiter nach links und rechts und trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen. Innerlich bettelte ich um Erlösung, endlich hereingebeten zu werden. Auf gar keinen Fall wollte ich hineinplatzen und sofort Aufmerksamkeit erregen.

„Oh, wir haben Besuch? Was kann ich für Sie tun?“, kam es neugierig von links.

Nein, verdammt! Der grüne Clown hatte mich zuerst gesehen, strahlte mich mit seiner weiß blitzenden Kauleiste abschreckend an und wollte mir mit einer Handbewegung einen Stuhl anbieten. Argh, konnte mich denn kein guter Geist erretten? Der gute Geist sollte dann tatsächlich der schlechtgelaunte Shinobi werden, denn er hatte in meiner Hand meinen Kaffeezettel gesehen, verwundert eine Augenbraue gehoben, dann aber nur monoton gemeint:

„Der is' von mir.“

Also folgte ich in die ersehnte Chaosecke, nahm auf einem Stuhl Platz und beantwortet die kurzen, mürrisch gestellten Fragen. Es ging um meine Personalien, was ich in Konoha zu tun hätte und ob es der erste Vorfall dieser Art gewesen wäre. Natürlich musste ich auch Angaben zu Yuuki machen. Bei dem ganzen Frage-Antwort-Spiel hatte ich versucht, so natürlich wie möglich zu sein und meine Aufregung zu unterbinden. Während wir miteinander sprachen und seine Finger klackend über die Tastatur glitten, als hätte er noch nie etwas anderes gemacht, wurde ich lockerer. Es lag nicht zuletzt an der Stimmung der beiden Ninjas untereinander. Man merkte schnell, dass sie sich schon seit ewigen Zeiten kennen mussten und auch dementsprechend miteinander umgingen, obgleich immer ein gewisses Maß an Anstand dabei war. Mein Verhör wurde immer wieder von kurzen Wortwechseln zwischen beiden unterbrochen.

„Shikamaru?“

„Ja?“

„Bist du nächste Woche bei der Alllierten-Sitzung dabei?“

„Ja.“

„Ist die wieder in Suna?“

„Ja.“

Das ging eine ganze Weile so. Die stumpfe Einsilbigkeit des Muffeligen war wohl die einzige Waffe gegen die Übermotivation des grünen Clowns. Und beide störte es nicht im Mindesten, dass ich Gast dieser ungewöhnlichen Comedy wurde. Mittlerweile fühlte ich mich von dem Programm arg erheitert und fand es fast schon schade, als der Typ, der wohl Shikamaru hieß, meinte, es wäre alles notiert worden. Die Akte wäre damit geschlossen. Geschlossen? Das klang wie Musik in meinen Ohren. Trotzdem hakte ich noch einmal nach, ob ich es tatsächlich richtig verstanden hätte. Ja, ja, das wäre alles nur ein Protokoll von Amts wegen. Ich schickte einen telepathischen Gruß an Inu, dass er Recht behalten hatte. Ich hätte da seiner Erfahrung mehr vertrauen schenken können und überlegte ernsthaft, ob ich meinen inneren Schweinehund überwinden und ihm meinen Dank persönlich sagen sollte. Aber soviel Vertrauen hatte der ANBU dann doch noch nicht verdient. Also verwarf ich fürs erste die Idee wieder. Der Tag hätte wirklich noch gut werden können.

Den Unterschriftenstempel in meiner Tasche suchend, merkte ich nicht, dass sich der Raum um die Anwesenheit einer weiteren Person bereicherte. Lautlos stand er wie aus dem Nichts einfach so da. Direkt neben mir. Bestimmt keinen halben Meter Abstand. Plötzlich kippte meine Stimmung in eine komplett andere Dimension. Ich war so angespannt, die Luft hätte elektrisch knistern können. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und sah in einer exakten Blickachse genau über alle Ordnerstapel hinweg zu Shikamaru. Am Liebsten wäre ich in meine Handtasche hineingeschlüpft und ganz tief unten in ihr versunken. Ich traute mich nicht, einfach nur aufzublicken, sondern stülpte mir fast die Augäpfel aus den Augenhöhlen, wie ich so aus dem Winkel nach oben linste. Dabei gab es heute tatsächlich mal was zu sehen. Kakashi in voller Lebensgröße von oben bis unten. Und nur in seiner Shinobi-Kleidung ohne weißen Mantel und roten Hut. Und so stellte ich zum ersten Mal fest, dass er graue Haare hatte. Ja, ich gebe es zu: Ich wohne nun schon seit fast neun Jahren in Konoha, von denen seit gut acht Jahren die Kakashi-Ära läuft, und ich hatte Plan von gar nichts. Schande über mein Haupt! Aber es interessierte mich einfach nicht die Bohne. Und nun begegneten wir uns innerhalb kürzester Zeit schon zum zweiten Mal, was an diesem Ort hier wohl kaum als ungewöhnlich zu bezeichne wäre.

„Oh, die Dame mit der pazifistischen Einstellung.“, stellte er fest, wie er zur Seite herabblickte und mich so notgedrungen zwang, meine Nase aus der Handtasche zu ziehen.

Ihn zu ignorieren, wäre sicherlich keine gute Idee, sondern würde einen hochnäsigen Eindruck erwecken. Verdammt, der hatte mir gerade noch gefehlt. Muffelkopf und grüner Clown hatten mir als Stückzahl an bizarren Gestalten für den heutigen Tag schon gereicht, auch wenn sie eine gewisse Eigenkomik nicht entbehren konnten. Warum musste Kakashi auch ausgerechnet jetzt aufkreuzen und dann auch noch in Schlagdistanz neben mir stehen? Was immer du von Shikamaru willst, Kakashi: Erledige es und verzieh dich wieder! Sofort!

Voller Höflichkeit blickte ich auf und grüßte demütig. Ich zuckte, als ich in sein Gesicht blickte. Müde Augen trafen meine. Vom fröhlich-frechen Blitzen wie neulich auf dem Markttag war nichts zu sehen. Er sah ziemlich überarbeitet aus und würde wohl sofort im Stehen an Ort und Stelle einschlafen, wenn man ihn lassen würde. Aber ein Hokage war grundsätzlich immer im Dienst und hatte nie frei. Da interessierte es auch niemanden, was seine persönlichen Belange waren. Ein Funke Mitleid keimte nur für eine Sekunde in mir für ihn auf. Aber das würde ihm jetzt auch nicht helfen. Also behielt ich den Funken in meinem Herzen, bis er wieder von allein erlosch.

„Haben Sie sich von dem Schock neulich erholen können?“

Wieso interessierte ihn das so brennend. Und warum fing er auch noch ein Gespräch an? Mir blieb auch nichts erspart.

„Ja, es geht uns gut und wir haben auch schon jemanden finden können, der meinem Sohn hilft, seine Kräfte unter Kontrolle zu halten. Das Training scheint gut zu laufen.“, gab ich kurz und knapp Auskunft in der Hoffnung, die Antwort würde Hokage-sama zufrieden stellen.

Natürlich tat sie das nicht, da er sofort neugierig nachhakte:

„Und wer trainiert ihn, wenn ich fragen darf?“

Wie ein Blitz schlug die Erkenntnis ein, dass ich Inu gerade übelst in die Scheiße geritten hatte. Inu hatte mir nie mitteilen wollen, ob er Yuuki ohne Einwilligung überhaupt trainieren durfte. Vielleicht wusste Kakashi gar nicht, was Inu für ein Spiel an ihm vorbei spielte. Oder war Kakashi eingeweiht in die Trainingspläne? Wenn Kakashi nichts davon wusste, würde Inu eine große Portion Ärger bekommen? Oder war das alles in Ordnung? Wie viel wussten beide voneinander? Nein, Inu hatte uns so sehr aus der Klemme geholfen, den konnte ich nun unmöglich opfern. Ich musste dessen Kopf retten.

„Nein, vermutlich nicht. Es ist jemand aus unsere Heimat“, log ich, dass sich die Balken bogen.

Was für eine bescheuerte Lüge! Vermutlich kannte Kakashi so ziemlich jeden Shinobi auf diesem Planeten. Ich war eine miserable Lügnerin. Etwas anderes war mir in der Not nicht eingefallen. Man sah es mir schon an der Nasenspitze an, wenn ich Lügen erzählte. Wenn Kakashi nun hartnäckig wäre und noch weiter nach einem Namen bohren würde, dann hätte ich verloren. Ich wich seinem Blick aus und wurde auf meinem Stuhl immer kleiner und kleiner. Trotzdem war mir nicht entgangen, wie er unter seiner Halbmaske grinste und das vorhin vermisste Augenblitzen wieder auftauchte. Ich war durchschaut. Gnadenlos durchschaut.

„Dann wünsche ich weiterhin gutes Gelingen“, sprach er, klaubte sich einen Ordner aus Shikamarus Zettelwirtschaft und verließ mich und seine Mannen wieder.

Ich konnte ihn überhaupt nicht einschätzen, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass da noch irgendetwas im Busche war. Und ich war mal wieder zu blöde, dass ich es durchschaute.

Ich wollte mich ebenfalls verabschieden, hatte ich doch meine Aufgabe erfüllt, und bemerkte jetzt erst die erstaunten Blicken, welche auf mir ruhten und wechselseitig hinter ihrem Chef hinterher wanderten.

„Was isse'n mit dem heute los?“ kam es verwundert aus der aufgeräumten Ecke.

„Das Flirtparadies gibt es jetzt im eBook-Format. Vielleicht ist es das?“, stöhnte es maulig ziemlich desinteressiert hinter einem Aktenstapel aus der rechten Ecke hervor.

„Ha, oder es hat ihn endlich die Kraft der Jugend eingeholt. Jetzt so kurz vor seinem Geburtstag.“

Flirtparadies? Kraft der Jugend? Hilfe, ich musste hier ganz schnell weg. Beinah hätte ich angefangen, diese Bande einen Hauch zu mögen, aber diese Abschlussrunde hatte es wieder zunichte gemacht. Die waren allesamt komplett irre. Sonst war ich immer mit dem Mundwerk vorneweg, jetzt war ich es mit den Beinen. Ein kurzes „Auf Wiedersehen“ und raus war ich aus dem Hokageturm.

6 – Der Tag, an dem ich eine Erinnerung teilte

Wie schnell Dinge zur Gewohnheit werden konnten, war doch sehr erstaunlich. Noch erstaunlicher war es dann, wie sehr man gewohnte Dinge dann plötzlich vermisste, wenn sie wieder fehlten. Es waren noch keine zwei Monate vorübergezogen, dass sich ein ANBU in unser Leben eingenistet hatte, doch der Zeitraum kam mir schon weit aus länger vor. Und noch immer hatte ich keinen blassen Schimmer, wie der unter seiner Maskerade überhaupt aussah. Neulich hatte ich mal Yuuki beim Frühstück ausquetschen wollen:

„Hast du Inu eigentlich mal zu Gesicht bekommen?“, fragte ich da ganz unverblümt.

Wir hatten uns mal irgendwann zwischendurch darauf geeinigt, ihn tatsächlich Inu zu nennen, wie man eben seinem Haustier auch einen Namen geben würde.

„Nö.“

„Und wie er heißt?“

Dennoch wäre es mir lieber, ich hätte mal einen richtigen Namen. Oder wenigstens seinen ANBU-Namen.

„Mann, Mama! Nerv` nich`! Frag ihn doch selber!“

Mein werter Sohn, der gerade mal vor seinem neunten Geburtstag stand, ging direkt von der frühkindlichen Trotzphase in die Pubertät über. Das fand ich zwar alles etwas verfrüht, aber solche Wortausbrüche mussten wohl oder übel die finsteren Vorboten sein, was mich in seiner späteren Teenagerzeit alles noch erwarten würde. Das würde kein einfacher Ritt werden, wenn er jetzt manchmal schon so zur Pampigkeit tendierte.

Die bereits erwähnte Gewohnheit brachte es mit sich, dass ich nun schon den Tisch für drei Leute deckte und nicht mehr für zwei. Inu tauchte immer irgendwie, irgendwann, irgendwo auf. Immer sehr unregelmäßig zu den schrägsten Tageszeiten, doch dann immer so, dass er grundsätzlich die Mahlzeit abpasste. Ich flachste schon, ob er denn daheim nichts anständig zu essen bekäme. Er entgegnete nur, dass es in Gesellschaft besser schmecken würde, woraus ich schloss, dass er wohl keine Familie hätte. Ob es wirklich so war, stand natürlich in den Sternen. Es lag aber nahe, dass er alleine war, denn er klebte wie Kleister an uns. Das hatte zwar einerseits etwas für sich, andererseits konnte ich mir solch ein aneinander kletten gar nicht erklären.

Er könne halt nicht ständig und regelmäßig bei uns aufkreuzen, er müsste ja auch mal richtig arbeiten, kommentierte er nur schulterzuckend seine zwischenzeitige Abwesenheit, wenn er sich wieder für ein paar Tage entschuldigte, an denen er uns nicht besuchte und das Training ausfiel. Er sprach es zwar relativ emotionslos aus, doch es war ihm nicht entgangen, dass es uns beide traurig machte. Dann suchte er tröstende Worte besonders für Yuuki, der selbst noch gar nicht gemerkt hatte, wie er Inu längst als Ersatzvater in Beschlag genommen hatte. Und als Inu dann mal für gute zwei Wochen komplett fernblieb, da zog sich schon etwas in meinem Innersten zusammen. Ja, ich gestehe, er fehlte mir ein wenig. Seine Art bereicherte unser Leben und ich vermisste schon lange jemanden an meiner Seite, obgleich eine Beziehung zu ihm wohl komplett aussichtslos wäre. Aber ein kleiner Flirt in Gedanken machte mich schon froh und damit begnügte ich mich. Nie wieder mit einem Ninja zusammen, nie wieder! Das war ein mir selbst auferlegtes Dogma, seit es mit Yuukis Vater so schief gegangen war.

Man merkte, dass sich der August langsam davonstahl. Die Nächte wurden allmählich wieder länger. Die Hitzeperiode war längst abgeflaut und so war es tags wie nachts angenehm warm, aber nicht mehr so schwül und stickig, wie es für den Juli typisch war. Da wurde nun endlich die Dachterrasse unser zweites Wohnzimmer. Unter dem Sonnensegel stand eine Sitzgruppe, wo wir unsere Mahlzeiten einnahmen, Yuuki seine Hausaufgaben erledigte und ich nebenbei meist ein Buch las oder einfach nur ruhte. Ich mochte diesen Ort, denn von hier blickte man über die Klippen des Hokagefelsen hinweg auf Alt-Konoha. Es war nur etwas schade, dass die Terrasse genau nach Süden ausgerichtet war. Für die Beobachtung der wirklich schönen Sonnenuntergänge musste man an die Brüstung gehen und zur westlichen Seite blicken. Aber auch von dort war es schön anzusehen und die warmen langen Sonnenstrahlen schafften es dennoch über das Dach.

Dafür konnte man das einmal jährliche Feuerwerk von meiner Terrasse um so besser verfolgen. Das wurde nämlich zwischen den östlichen Klippenwänden abgeschossen. Die Pyrotechniker gaben sich da jedes Mal große Mühe, so dass ich in der Heimat immer von dem schönen Feuerwerk allen Freunden und Verwandten vorschwärmte. Hana-Bi, das war doch jetzt Ende August auch wieder? Ich notierte mir den Termin ganz dick im Kalender, wollte ich ihn auf gar keinen Fall verpassen. Natürlich konnte man ein Feuerwerk kaum überhören, geschweige denn übersehen, aber vielleicht könnte man wieder eine nette Runde mit Freunden organisieren. Es war ein recht einfaches Fest ohne viele Rituale oder Umzüge durch Konoha, was wohl gerade deshalb Jung und Alt von nah und fern anzog. Man trug Yukata, traf sich mit Freunden zum Essen und versank hinterher im Alkohol. Es gab in de Parks und Gassen viele Prügeleien im Suff. Besonders die Männer nahmen meist nichts mehr vom Feuerwerk wahr, weil sie schon besoffen in irgendwelchen Ecken lagen und ihren Rausch ausschliefen oder sich erinnerungslos in die Arme eines leichten Mädchens verirrten. Am nächsten Tage gab es dann viel heimischen Stress mit der Ehefrau im ach so trauten Heim. Die Rate an Scheidungen stieg pünktlich zum Hana-Bi gravierend an. Wie viele Frauen aber mochten die Fehltritte ihrer Männer verziehen haben? Für mich käme so etwas nie in Frage.

Das Plätschern des Kaffeewassers versiegte und ein herrlich aromatischer Duft stieg mir in die Nase. Ich füllte den Kaffee in eine große Kanne um und nahm gleich zwei Bechertassen mit. Es war wieder einer dieser warmen Abende im Sonnenlicht. Die Schulferien hatten gerade begonnen und so störte es mich diesmal weniger, dass mein Kind noch zu so später Stunde eine Trainingseinheit hatte. Es konnte nicht mehr lange dauern und er würde zusammen mit Inu wieder auftauchen. Und garantiert würde sich Inu wieder für eine Weile auf einem der Terrassenstühle bequem machen, weil man ihn gut mit Kaffee ködern konnte. Bei mir gab es nämlich nicht die Durchschnittsbohne aus dem Supermarkt, sondern hochwertige Qualität aus der Heimat. Unser Kaffee war mit der schwarzen Standard-Plörre überhaupt nicht zu vergleichen, sondern schmeckte aromatischer, erdiger, vollmundiger, aber nie bitter. Das hatte unser Haus- und Hofshinobi fix herausgeschmeckt, weshalb man ihn ohne seine Portion Belohnungskaffee gar nicht mehr loswurde. Mit den Tassen und der Kanne in der Hand schlenderte ich durch das Wohnzimmer hinaus. Wie erwartet kamen die Zwei gerade über die Dächer gesprungen. Treppenhäuser und Haustüren waren total out. Ich seufzte. Mein Kind entglitt mir in eine Shinobiwelt ab, die ich immer verhindern wollte, aber nicht konnte. Neulich kam mir sogar der Gedanke, ich sollte ihn doch auf der Akademie anmelden. Mich schüttelte es bei solch einer Idee, weshalb ich sie sofort wieder verwarf. Ich würde über kurz oder lang nicht um das Thema herum kommen und würde Inu um Rat fragen. Da er bis jetzt keinerlei Anstalten gemacht hatte, uns in diesem Punkt zu irgendetwas zu drängen, hegte ich da ein gewisses Vertrauen, eine ehrliche Meinung zu erhalten. Erfreut über deren Rückkehr, begrüßte ich beide und sah dann noch Yuuki hinterher, wie er in sein Zimmer sauste. Mit den neusten Jutsus im Gepäck musste im Freundeskreis gleich mal per Messengerchat angegeben werden. Schweigend goss ich den frischen Kaffee in die Becher und nahm auf meinem Lieblingsstuhl platz.

„Was machst du an Hana-Bi?“, fragte ich direkt drauf zu.

Mir ging die Stille zwischen uns auf die Nerven. Die Frage überraschte ihn wohl sehr, denn es kam nicht sofort eine Antwort.

„Arbeiten?“, gab er dann doch von sich.

Ja, das war schlüssig. Die ANBUS mussten beim Hana -Bi immer durch die Straßen und Gassen ziehen und Konoha sichern. Da würde Inu sich wohl auch mit Sake-Leichen und Hobby-Karate-Kids herumschlagen dürfen.

„Armer Kerl!“, versuchte ich lachend etwas Trost zu spenden.

„Und was machst du?“, spielte er unverblümt den Ball zurück.

„Ich?“

Ich hatte tatsächlich noch nicht darüber nachgedacht. Normalerweise waren wir stets nur zum Abendessen bei Freunden gewesen, aber nachts daheim geblieben. Yuuki war früher immer schon lange vor dem Feuerwerk eingeschlafen. Erst seit den letzten zwei oder drei Jahren gelang es ihm, die Augen bis zum großen Abbrennen offen zu halten. Also saß ich allein auf der Dachterrasse, kippte mir eine Flasche Alkohol hinter die Binde und hatte dann einen sehr kurzen Weg ins Bett.

„Keinen Ahnung“, gab ich schulterzuckend zu. „Vermutlich sind wir wie jedes Jahr daheim. Ist halt blöde, so alleine ...“

„Ist vielleicht besser so. Sonst macht ihr beide wieder so einen Blödsinn wie auf dem Marktplatz“, unkte er.

Er stellte seine Tasse auf dem kleinen Tisch zwischen uns ab und beobachtete genau meine Reaktion. Es war neben dem Kaffeetrinken ein übliches Ritual geworden, dass wir uns einen albernen Schlagabtausch lieferten. Den konnte ich zwar oft nicht gewinnen, aber ich mochte einfach seine Stimme hören. Und ich mochte diese schlagfertige und zugleich freche Art gerne leiden.

„Blödsinn? Hm, was könnte man dagegen tun?“ überlegte ich laut und machte eine übertriebene Denkerpose, indem ich eine Hand an mein Kinn legte. Dann präsentierte ich grinsend die Lösung:

„Ich hab`s! Ich buche dich einfach für die Dauer des Festes als Begleitung.“

„Begleitung? Liebste Nina-chan, da hast du etwas falsch verstanden. Ich bin Shinobi und kein Callboy“, grinste es ebenso zurück.

„Ach, das ist im Preis nicht mit drin? Das ist aber schade!“, zwitscherte ich zuckersüß. „Aber nun Mal im ernst: Was kostet denn so ein Shinobi für eine Nacht?“

Ich wollte diesen herrlich dümmlichen Callboy-Witz, dessen Vorlage er selbst geliefert hatte, einfach noch etwas ausreizen, und da Hana-Bi sowieso eine Nachtaktion war, passte es zu allem Überfluss auch noch wie die Faust aufs Auge.

„Der kostet soviel, dass jemand wie du ihn dir gar nicht leisten kannst.“

Er lehnte sich wieder zurück an die Stuhllehne, streckte die Beine lang aus und hatte sichtlichen Spaß an der Blödelei. Deshalb fuhr er unbeirrt fort:

„Da man ja nicht dich vor der Welt, sondern die Welt vor dir beschützen muss, wird der Hokage mindestens einen S-Mission veranschlagen müssen.“

„Pff“, pfiff ich durch die Zähne. „Was soll das heißen, die Welt vor mir beschützen? Und dein Chef wird froh sein, dass der so einen wie dich überhaupt mal irgendwo einteilen kann. Und einen Becher Kaffee finde ich mehr als angemessen als Bezahlung. Ich kann ja noch eine Becher Reis dazu packen.“

Ha, diesmal würde ich den Schlagabtausch gewinnen. Ich war mir so was von sicher. Leider hatte ich eine Stolperfalle übersehen. Und Inu besaß das rednerische Talent, die Vorlagen meinerseits komplett zu ignorieren, aber dann an ganz anderen Stellen anzusetzen.

„Eine Tasse Reis? Sorry, aber probier das mal eher bei den Samurais aus.“, lachte Inu laut los und mir wurde das Fettnäpfchen umgehend bewusst. Samurais bezahlte man mit Reistassen. Ninjas nicht. Mal wieder einen Wortduell verloren. Ich zog eine Schnute und tat so, als würde ich tödlichst beleidigt schmollen. Dann schenkte ich noch einmal Kaffee nach, den wir ohne ein weiteres Wort zu wechseln austranken.

„Darf ich etwas persönliches fragen?“, fragte er mich.

„Klar, ich muss ja nicht antworten.“

Die Verwunderung in meiner Stimme war nicht zu überhören. Inu hatte noch nie etwas gefragt. Und schon gar nicht etwas persönliches. Man musste neidvoll anerkenne, dass er sehr viel über Yuuki und mich durch blanke Beobachtung herausgefunden hatte. Man könnte sogar sagen, er würde uns stalken.

„Warum hegst du so eine Hasskappe gegen meinen Berufsstand?“

Puh, das war direkt und durchbohrte mich wie ein Pfeil. Das Thema hasste ich wie die Pest. Es riss alte Wunden auf und brachte mir Heulkrämpfe. Ja, was genau war eigentlich mein Problem? Es war ein Problem, das einst mal aus lauter Trauer und Enttäuschung entbrannt war und mich rasend vor Wut machte. Dann konnte ich mich hineinsteigern und Dinge tun, die mir hinterher mächtig leid taten. Ich ordnete meine Gedanken in meinem Kopf, damit ich nicht gleich mit einer zittrigen Stimme beginnen und in einer Brülltirade enden würde.

„Hm, Kurzversion.“

Ich überlegte, wie ich mein innerstes Geheimnis am Neutralsten verpacken konnte.

„Yuukis Vater war auch so einer wie du. So ein ANBU. Aber der kam aus dem Blitzreich. Auf einer seiner Missionen ins Erdreich zog er auch durch meine Heimatdorf. Allerdings auf der Flucht und stark verwundet. So habe ich ihn im Stofflager aufgegriffen. Naja, und dann folgte das übliche Märchen: Ich pflegte den gesund, verknallte mich und wurde schwanger. Wir haben uns oft gesehen, allerdings ist er seit Ende des großen Krieges verschollen. Ich habe keine Ahnung, ob er sich verpisst hat oder ob er irgendwo tot im Wald liegt. Ich habe versucht, etwas herauszubekommen, aber man ließ mich immer nur abblitzen.“

Eine kurze Pause gönnte ich mir, um mich wieder zu beruhigen. Längst hatte ich die Hände zu Fäusten geballt. Die Fingernägel schnitten ins Fleisch, dass es weiß wurde. Er fehlte mir so und ich war oft gewiss, dass ich ihn vergessen und aus meinem Herzen gestrichen hatte. Aber wenn ich an ihn dachte, so tat es wieder weh. Was habe ich diesen Kerl geliebt.

„Ihr seid doch irgendwie alle gleich. Wenn man da als Normalsterblicher auftaucht, dann guckt ihr von oben herab auf uns Chakralosen. Als wären wir Menschen zweiter Klasse. Und dann immer diese bescheuerten Missionen. Tagelang, wochenlang seid ihr unterwegs. Und zuhause steht man tausend Tode aus, ob ihr überhaupt wiederkommt. Die ganze Zeit hat man diese furchtbare Angst. Total sinnlos. Ständig geht es nur darum, wer wem die Butter vom Brot klaut und dabei geht es immer über Leichen hinweg. Eigentlich seit ihr doch allesamt bezahlte Massenmörder. Was soll das? Macht doch einfach mal was Vernünftiges!“

Verdammt, nun hatte ich mich doch wieder in Rage geredet. Das wollte ich gar nicht. Da zitterten wieder meine Hände und meine Stimme. Die Lippen hatten ich fest aufeinander gepresst. Es waren sicherlich böse und verletzende Worte in Inus Ohren, der vermutlich für seinen Job brannte. Doch für mich war es exakt die Wahrheit, die meinem Leben eine böse Kehrtwende gegeben hatten und es seit dem bestimmte. Es waren meine Demütigungen und Erfahrungen, die ich ertragen musste.

„Und willst du es herausfinden?“, fragte Inu ruhig.

Verwundert blickte ich von meiner Kaffeetasse auf. Ich hatte erwartet, dass er vielleicht sauer sein würde. Oder gar beleidigt. Aber das schien er nicht im Mindesten und fragte mich sogar noch, ob ich etwas über meine verflossene Liebe wissen wollte. Ernsthaft dachte ich darüber nach. Ja, ich wollte immer wissen, was passiert war. Warum er einfach nicht mehr bei uns war. Er wusste ja von der Schwangerschaft und hatte sich so sehr gefreut, dass er tatsächlich drüber nachgedacht hatte, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Aber wollte ich wirklich alles wissen? Oder war es besser, die Geschichte auf sich beruhen zu lassen. Ich konnte es nicht mit mir selber klären, ob mir die Wahrheit innere Ruhe oder nur neue Traurigkeit bringen würde. Wäre es ein Abschluss des Themas? Wenn er auf einer Mission umgekommen wäre, so könnte ich damit leben, dass er Yuuki und mich nicht versetzt hätte. Es wäre ein ganz normaler Arbeitsunfall mit Todesfolge. Was auch immer daran „normal“ wäre. Man müsste nicht mehr warten, hoffen und bangen, dass er vielleicht doch eines Tages vor der Tür stehen würde. Wenn er sich aber irgendwo ein neues Leben aufgebaut hätte, würde ich mich verraten und verkauft fühlen. Mein Schmerz wäre dann wohl unendlich.

„Ich weiß es nicht ...“, murmelte ich unentschlossen, klammerte mich an meine Tasse und sah geistig abwesend in den Abendhimmel. Wir schwiegen uns eine längere Weile an, was doch recht ungewöhnlich war. Irgendetwas lag in der Luft.

„Yuuki kann sich nun so gut kontrollieren, dass er keinen Schaden mehr macht.“

Ah, das Thema hatten wir neulich schon einmal. Aber was genau lag da zwischen den Zeilen?

„Es gibt noch vieles, was er lernen könnte, aber ...“

Aber was?

„... ich werde in der nächsten Zeit kaum noch vorbei kommen können.“

Das hatte gesessen wie ein Faustschlag ins Gesicht. Völlig unvorbereitet. Es war klar, dass Yuukis Training irgendwann ein Ende haben würde, da er niemals eine komplette Ninjaausbildung absolvieren sollte. Und ich war Inu mehr als dankbar, dass er uns durch seine Hilfe mehr als gerettet hatte. Es war Ironie des Schicksals, dass ich schon oft darüber nachgedacht hatte, wie es weitergehen würde, wenn unser ANBU wieder das Weite suchend würde. Und da Inu eine alte Wunde aufgerissen hatte, fetzte sich in meinem Hirn eine Beleidigung über ihn mit der anderen. Dass Ninja eh alle gleich wären. Dass es kleine, blöde Arschlöcher wären, denen die Mission viel wichtiger als die Familie wären. Und so weiter.

Nun tat ich nicht nur schmollend, ich war wirklich traurig. Betrübt starrte ich in die Schwärze meiner Tasse und fand keinen tröstenden Gedanken. Obwohl wir keine Beziehung miteinander hegten und ich mein zartes Kribbeln im Bauch noch nicht einmal als Liebe bezeichnet hätte, kam es mir so vor, als hätte er eben mit mir Schluss gemacht. Klingt das nicht bescheuert? Inu musste meinen Schmerz bemerkt haben. Sichtlich getroffen, was seine Worte ausgelöst hatten, stammelte er eine Wiedergutmachung:

„Kaum-vorbeikommen ist nicht dasselbe wie nie-wieder-vorbeikommen...“

„Ach, ist doch alles in Ordnung!“, winkte ich hastig ab, sprang auf und griff nach seiner leeren Tasse. „Du hast ja auch noch anderes zu tun, als uns ständig zu bespaßen.“

Irgendwie musste ich ich raus aus dieser Situation, sonst wüsste ich nicht, was ich als nächstes täte. Da tobte plötzlich soviel in mir. Wut, dass ich am liebsten die Tasse auf den Boden geschmissen hätte. Traurigkeit, weil ich ihn wirklich gern mochte und keinen Freund verlieren wollte.

Inu war mit der Situation komplett überfordert. Er war aufgestanden, hatte wie immer die Hände in den Hosentaschen vergraben und starrte den Fußboden an. Natürlich besaß er keine Kristallkugel, die ihm meine Gefühlswelt offenbarte. Hatte er sich darüber überhaupt mal selber Gedanken gemacht? Garantiert nicht. Warum auch? Nun stand er da wie ein begossener Pudel und war sichtlich überfordert. Ja, der große Nachteil bei ANBUS: Sie haben es nicht so sehr mit den Gefühlen und zwischenmenschlichen Kompetenzen. Und als er mich nun auch noch ansprach, war es für ihn sicherlich nur ein Zeichen von Besorgnis, aber bei mir bohrte es tiefer.

„Kann ich dich jetzt allein lassen?“, fragte er verunsichert.

„Ja, alles super. Ich wollte eh gleich ins Bett gehen.“, murmelte ich mal wieder.

Er legte den Kopf schief und starrte mich durch seine Maske an. Nein, er glaubte mir kein Wort. Trotzdem hob er die Hand zum Abschied und verpuffte in einer Wolke. Arschloch, hatte ich nicht gesagt, dass ich keine Schattendoppelgänger in meinem Leben haben wollte? Wenigstens würde nun sein richtiges Ich den sentimentalen Schlag in die Fresse bekommen. Wo auch immer dieses richtige Ich auch war. Hoffentlich so, dass es viele Leute mitbekommen und es sehr peinlich für ihn werden würde. Ja, ich war schon wieder garstig, doch das war mir im Moment vollkommen egal. Ich stand verlassen auf meiner Terrasse mit zwei Kaffeetassen in der Hand, kaute auf der Unterlippe und spürte den riesigen Kloß in meinem Hals, der wuchs und wuchs. Ich wollte nicht heulen. Nein, ich würde nicht heulen. Ich war stark und würde mich nicht erschüttern lassen. Nein, nein, nein! Nicht für so einen Idioten. Einen Ninja, pffff!

Die erste Träne tropfte stumm auf die Fliesen.

7 – Der Tag, an dem die Feuerblumen blühten

Mit der Jahreszeit Sommer sollte man schöne Dinge assoziieren: Wärme, Strand, Urlaub, Baden, Eis essen, lange Abende im Sonnenuntergang. Für Yuuki und mich wurde es immer mehr zum Tal der Tränen. Er litt sehr darunter, dass Inu sich nun seit zwei Wochen nicht mehr gemeldet hatte. Stets bettelte er, ich solle ihm doch mal eine Nachricht tippen. Einmal sprach er sogar selber eine verzweifelte Nachricht auf. Doch der graue Punkt neben Inus Profilnamen wurde einfach nicht grün. Inu hatte es also noch nicht von Nöten gehalten, es einmal zu lesen oder abzuhören. Es herrschte eine absolute Funkstille, die uns unerträglich schien.

Da war es wieder: Mein Problem mit den Ninjas: Ewigkeiten fern von daheim und immer ungewiss, ob sie lebendig oder tot wären. Natürlich versuchte ich da auf ganz nüchterne Art und Weise meinem Sohn klar zu machen, dass Shinobi nunmal auf zugeteilte Missionen zu gehen pflegten, weil sie damit ihr Geld verdienten. Das könnte manchmal wochen- oder gar monatelang dauern. Und natürlich lief da alles unter strengster Geheimhaltung ab. Man wüsste nie, wo sie sich herumtreiben würden. Da war es doch klar, dass Inu sein Handy nicht eingeschaltet hatte. Vielleicht flog das sogar bei ihm daheim herum, wo immer das auch sein mochte. Oder verstaubte in seinem Arbeitsspind, sofern er denn einen hätte. So logisch das auch alles klang, keiner von uns beiden mochte sich damit anfreunden, dass Inu einfach so vom Erdboden verschluckt war.

Keiner mehr, der unverschämt auf dem Fensterbrett mitten in der Nacht hockte und mir den Schlaf raubte. Keiner mehr, der hier literweise Kaffee soff und sich trotz Koffeins bewegte wie eine Schlaftablette.

Keiner mehr, der Misosuppe inhalierte, als gäbe es keinen Morgen mehr.

Keiner mehr, der meinem Sohn eine große Freude bereitete, indem er dessen Interessen teilte und unterstützte.

Es war einfach nur grausam. Die familiäre Stimmung war komplett am Boden. Nicht mal das anstehende Hana-Bi konnte uns vom Frust ablenken.
 

Und mit solch einer Laune wie Sieben-Tage-Regenwetter zog ich durch die Einkaufsstraßen. Yuuki war mit einer befreundeten Familie zum Badesee marschiert. Den würde ich erst gegen Abend wiedersehen. Also genoss ich zur Abwechselung mal einen kinder- und arbeitsfreien Tag. Frustshoppen könnte mich auf andere Gedanken bringen. Außerdem interessierte es mich, was gerade in den Bekleidungsläden über die Verkaufstresen ging. Viele Hausfrauen schneiderten noch selber. Aus den Schaufenstern lachten mich große Blumenmuster in Rottönen an. Die Muster gefielen mir sehr, zumal ich sofort sah, dass diese Stoffe zum Großteil aus meinem Kontor bezogen wurden. Ja, da hatte mein Geschäftsfrauenherz wieder alles richtig gemacht und die Zentrale in meiner Heimat konnte stolz auf die guten Umsätze und mein Einkaufsgeschick sein. Dunkel erinnerte ich mich aber auch an eine Saison, in der ich total danebenlag und die falsche Auswahl getroffen hatte. Das gab neben großen, finanziellen Verlusten auch großen Ärger. Nur um Haaresbreite und einer sehr guten Notlösung, um die Verluste wieder auszugleichen, entging ich einem Rausschmiss. Daraus hatte ich gelernt und schaute lieber mehrmals prüfend auf Angebote, bevor ich im richtigen Moment zuschlug. Ich war tatsächlich wieder gut gelaunt, vergaß für den Nachmittag Inu und meinen Kummer, ihn so sehr zu vermissen und beschloss, mir eine neue Yukata schneidern zu lassen. Diese würde zwar nicht rechtzeitig zum Feuerwerksfest fertig werden, war das Fest doch schon heute Abend, doch man könnte sie auch zu anderen Gelegenheiten tragen.

Also ging es von den überfüllten Einkaufsstraßen hinweg in die kleinen Nebengassen, wo die Gebäude nicht solch moderne Glastempel, sondern noch hübsche Holzhäuser waren. Es war erstaunlich wie harmonisch sie wirkten, als hätten sie schon immer hier gestanden und Jahrzehnte überdauert. Aber ein jeder wusste ja, dass Konoha erst vor wenigen Jahren komplett neu wieder aufgebaut worden war und die Häuser demnach auch nicht älter sein konnten, als sie aussahen. In einem dieser Häuser wohnte eine alte Schneiderin mit ihren fleißigen Helferinnen. Wenn man jemandem Stoff anvertrauen sollte, dann genau dieser Schneiderwerkstatt. Die Schnitte waren perfekt gewählt. Es wurde kein Millimeter Stoff verschwendet. Die Näharbeiten und Stickereien strahlten nur so vor der Liebe zum Detail. Die Werkstatt hatte stattliche Preise, doch jeder Taler war es wert, hiergelassen zu werden. Und hier wurde auch nur die allerbeste Qualität ausgewählt und verarbeitet. Ich konnte mich entsinnen, dass die alte Schneiderin bei mir vor einigen Tagen eine dringende Eillieferung geordert hatte: Crepe de Chine Seide, naturbelassen, nicht vorgefärbt. Ich selbst hatte diesen Ballen vorbeigebracht, war er doch ein halbes Vermögen wert. Um die Seide nicht zu schädigen, hatte ich extra Handschuhe getragen. Trotzdem glitt sie so sanft durch die behandschuhten Finger wie eine Daunenfeder. So leicht wie eine Schneeflocke. Ein wunderschöner Stoff.

Als ich die Haustür zur Seite schob, wurde ich Ohrenzeuge eines Gesprächs, welches ich erst nicht zuordnen konnte. Doch ich erkannte glasklar die krächzende Stimme der Alten, wie sie jemanden tadelte. Sie tadelte eigentlich immer irgendjemanden. Daher durfte man das nicht so ernst nehmen, wenn sie einen mit einer härteren Tonlage ansprach. Es war nichts ungewöhnliches. Und der Getadelte tat gut daran, auch keine Widerworte zu geben. So kam man am Besten mit ihr aus. Und so war es auch in diesem Falle.

„... und dass er mir nicht wieder irgendwo hängen bleibt mit dem Mantel. Ich musste die gesamte Ärmelrückseite heraustrennen und neu einnähen. Sag' ihm das!“, ertönte ihr alte zittrige Krähenstimme, die keine Widerworte erlaubte.

Ohje, wenn sie ihr armes Opfer schon duzte, dann musste das zu reparierende Kleidungsstück wirklich einen ziemlichen Flurschaden inne gehabt haben.

„Vielen Dank für die sorgfältige Arbeit! Ich werde es ihm ausrichten.“, war die demütige, aber schlaue Antwort.

Dann raschelte es. Stoff wurde ordentlich zusammengelegt und in eine Tüte verpackt. Dann näherten sich Schritte aus dem Schneiderraum zum Empfangszimmer, in dem ich gerade meinen Straßenschuhen auszog, um mit meinen Füßen dann in die Gästehausschuhe zu schlüpfen. Also sah ich erst nur aus den Augenwinkeln, dass die getadelte Person die üblichen Beinkleider eines Shinobis trug und sich anschickte, seine Füße hastig, aber gekonnt in die Ninjastiefel zu zwängen. Die Tüte samt repariertem Stück Stoff hatte er sorgsam auf der Eingangsschwelle abgelegt. Meine Augen blieben daran hängen, denn ich erkannte den Stoff sofort: Crepe de Chine. Das war doch mein Stoff … Und dann machte es erst Klick in meinem Kopf. Fast schon ein bisschen zu spät, denn als ich mich aufrichtete, war der Ninja schon fast aus der Tür raus. Natürlich, Crepe de Chine Seide! Der Hokagemantel! Und den Abholer hatte ich auch schon zweimal in meinem eintönigen Leben getroffen. Der ANBU mit der Katzenmaske, welcher auf dem Dach Tee getrunken und bei Yuukis erstem Training neben mir gesessen hatte. Der Typ, der Holz wachsen lassen konnte. Es brannte eine Frage ganz tief in mir, die ich jetzt oder nie stellen musste, denn die Chance war günstig, obgleich ich mit einer Antwort nicht rechnen durfte.

„Warte...“, rief ich ihm leise nach, denn er war schon dabei, die Tür von außen zu schließen.

Perplex sah ich, wie die Tür sich wieder öffnete und ein erstauntes Gesicht herein lugte. Der hatte ja verdammt gute Ohren, wenn er mich noch gehört hatte! Und als ich ihm dann ins Gesicht blickte, wusste ich, dass es keine Verwechselung gab. Das kurze braune Haare, die großen schwarzen Augen und das Stirnband, an welchem der Stirnprotektor bis über die Wangen reichte. Innerlich seufzte ich, dass ich für diesen Typen auch keinen Namen hatte. Wenigsten konnte er sich an mich erinnern, denn er musterte mich eine Sekunde lang und hatte dann ein angehendes Lächeln im Gesicht, wie er mich grüßte.

„Ich weiß, dass ich wohl keine Auskunft bekomme.“, begann ich meine Bitte und spürte, wie ich im Gesicht errötete.

„Aber Inu hat sich schon seit gut zwei Wochen nicht gemeldet. Auch wegen des Trainings. Wie geht es ihm?“, stotterte ich mir zurecht und fand, dass ich total bescheuert klang.

„Inu?“

Zwei schwarze Augen guckten mich verwirrt an. War ja auch klar, die Ninja-Bande wusste, wie sie untereinander mit Vornamen hießen. Ich hatte mir ja Namen für die beiden ausdenken müssen. Meine Dummheit, von ihm hellseherische Fähigkeiten zu erwarten. Also musste ich es kurz erklären.

„Tut mir leid. Ich habe euch nach euren Masken benannt.“

Aus einem verwirrten Blick wurde ein verdutzter. Dann lachte er kurz auf und starrte mich dann plötzlich an, als würden sämtliche Kronleuchter über seinem Kopf hell erstrahlen. Da war in diesem Augenblick bei ihm ein besonders großer Groschen gefallen. Es schien mir aber, dass es nicht allein darum ging zu wissen, wer denn nun Inu war, sondern da hing noch eine ganz andere Geschichte dran, die ich einfach nicht kapierte. Ich hatte ein Déjà-vu wie ich neulich im Hokageturm auch eine Sache nicht kapiert hatte. Und obwohl mein Bauchgefühl rebellierte, ich müsste wachsamer sein, konnte ich den Sachzusammenhang noch nicht einmal greifbar machen. Da zog ein Handlungsstrang parallel an mir vorüber, dessen Teil ich war und es nicht wusste. Vielleicht bildete ich mir so etwas Aberwitziges auch nur ein, aber die Antwort, die ich dann bekam, brachte mich völlig aus der Bahn. Der ANBU überlegte kurz, grinste dann in sich hinein und sprach zu mir:

„Oh, ich denke, dem geht es eigentlich blendend. Da werde ich dem mal dezent auf die Füße treten.“

Dann ließ er sich entschuldigen, verabschiedete sich höflich und verschwand mit dem Hokagemantelpäkchen unter dem Arm in den Gassen Konohas. Ich starrte noch hinterher und hätte wohl den halben Tag gestarrt, hätte sich eine Schneidergehilfin nicht nach meinem Anliegen erkundigt.

„Sagen Sie, wie hieß gerade der Herr mit dem Paket unter dem Arm? Ich habe gesehen, meine Seide wurde vorzüglichst verarbeitet.“

„Das war General Yamato. Er leitet im Namen des Hokagen die ANBU-Einheit.“, erklärte mir die Helferin freundlichst und bat mich dann herein.

YEESS!! Ich hatte einen Namen! Den würde ich ganz tief in meinen Hirnwindungen parken. Bloß nicht vergessen! Das könnte mal irgendwann von Nutzen sein. Und dann war es mir auch klar, warum Yamato Inu auf die Füße treten konnte, wenn er dessen Vorgesetzte war. Allerdings störte es das Gesamtbild, dass bei den beiden Heimsuchungen, bei denen Yamato einmal draußen auf dem Dach und dann ein weiteres Mal neben mir auf der Bank saß, er nicht den Eindruck bei mir hinterlassen hatte, er wäre ranghöher als Inu. Alles sehr verzwickt und sehr verwirrend. Argh, was schnallte ich denn an der Geschichte nicht? Ich grübelte und grübelte und hätte beinah verpasst, was die Schneidergehilfin mir für wunderschöne Yukata auf dem großen Präsentiertisch vorlegte. Es gab nämlich zwei Anfertigungen, die aber von der Kundschaft nicht abgeholt, sondern der Auftrag insgesamt storniert worden war. Und ich hätte das unheimliche Glück, da ich hier als gute Geschäftspartnerin galt, ein Kleidungsstück sofort zu einem Spottpreis zu erwerben und müsste nicht auf eine eigene Anfertigung warten. Also betrachtete ich die hochwertige Handarbeit. Beide waren überragend. Da fiel die Qual der Wahl schwer. Ich wählte dann aber die mit dem rötlichen Grundton und den zarten Chrysanthemenmustern. Dazu suchte ich den passenden Obi in Dunkelblau aus. Fertig war mein Feuerwerksoutfit. Freudestrahlend zog ich durch die Gassen, stieß in einem Cafe mit einem Eiskaffee auf meinen Glückskauf und mich selbst an und vergaß darüber meine Begegnung mit Yamato. Inu war schon ganz weit aus meinem Kopf verschwunden.
 

Der Abend kam in großen Schritten näher und mein Sohnemann vom Badeausflug nach Hause. Schnell hängte ich das nasse Badezeug noch auf die Wäscheleine, dann kleideten wir uns unsere Yukata an, um dann bei der Nachbarschaft aufzuschlagen. Wir waren dort eingeladen worden, was wir fröhlich angenommen hatten. Bevor wir uns zum Nachbarhaus aufmachten, verabschiedete ich mich von meinem Spiegelbild, welches mich aus dem Flurspiegel anlächelte. Ich sah aufgeweckt aus, fast jugendlich. Makeup trug ich nie. Ich mochte es nicht. Aber meine Haare hatte ich zu einer Hochsteckfrisur gebändigt und noch zwei kleine Blumen mit eingeflochten. Im Gegensatz zu den letzten Tagen konnte ich mich endlich mal wieder zivilisiert sehen lassen ohne das die Leute vor Panik davon stoben, weil sie dachten, ein Monster stünde ihnen gegenüber. Ich fand mich zur Abwechselung mal hübsch, obwohl ich schon wieder den Verdacht hegte, die Speckrollen um meine Hüfte wären gewachsen. Auf die Waage stellte ich mich schon lange nicht mehr. Man musste sich nicht ständig selber schocken.

In der dortigen Familie, zu welcher wir nun gingen, gab es ebenfalls einen Sohn in Yuukis Alter. Beide kannten sich auch von der Schule, denn sie besuchten dieselbe Klasse, und verstanden sich gut. So war das Problem, dass Yuuki sich ohne die Gesellschaft durch Gleichaltrige langweilen würde, gelöst. Die Familie stammte aus dem Wasserreich, betrieb ein Kontor für Meeresfrüchte und servierte, wie könnte es anders sein, unzählige Spezialitäten aus dem Meer. Die Stunden verstrichen schnell, die Schüsseln und Teller leerten sich, die Mägen füllten sich, und die Stimmung wurde feuchtfröhlich. Ich hatte einen guten Wein als Gastgeschenk mitgebracht. Er passt vorzüglich zum Fisch und stieg einem schnell zu Kopfe. Doch es war mir gleich. Heute wollte ich nur für ein paar Stunden alles vergessen, was mich die letzten Wochen so sehr runter gezogen hatte. Ich wollte nichts hören von zerstörten Häusern, vererbten Jutsus und schon gar nichts von ANBUs. Inu hatte ich mit jedem Schluck Wein weiter verdrängt. Er war mir ja sowas von egal. Solle er doch tot über dem nächsten Zaun hängen, wenn er noch nicht mal Anstand besaß, sich bei uns zu melden. Idiot! Alle Ninjas sind doof! So, und fertig war die Meinung im Suff.

Mein Handy piepte. Ein Lieferant bestätigte mir in einer Mail den Zahlungseingang. Nein, ich wollte heute auch nicht an die Arbeit denken. Ich hatte frei! Jawohl! Aber dann verfluchte ich mich doch, auf das Handy geschaut zu haben, denn der graue Punkt neben Inus Profilbild hatte sich grün gefärbt. Hatte Yamato es tatsächlich bewirken können, das der Idiot seine Nachrichten mal abrief? Verflucht nochmal! Ich wollte doch heute lustig sein und nicht an blöde Ninjas denken. Ich seufzte laut hörbar, griff zur Weinflasche und schenkte großzügig nach. Als ich das Glas in einem Zuge runterkippte, wurde ich erstaunt gefragt:

„Alles in Ordnung, Sherenina-san?“

„Alles bestens!“, log ich gespielt freundlich zurück.

Die erste Rakete flog in den mittlerweile dunklen Himmel. Es war eine warme Sommernacht mit tausenden von Sternen. Der Alkohol zeigte Wirkung, denn ich wurde melancholisch. Guckte man sich solch einen tollen Sternenhimmel und solch ein buntes Feuerwerk nicht lieber zu zweit an? Wieder einmal stand ich hier als Single total allein. Vergessen von der Männerwelt. Vermutlich auch schon viel zu alt und abgewrackt. Ausrangiert aus dem Weltbild der suchenden männlichen Singles. Welcher Kerl brauchte schon eine Frau Mitte dreißig mit Kind? Frustriert stapfte ich von der Brüstung weg, wo sich alle aufhielten und das Feuerwerk bestaunten. Ich suchte den dunkleren Teil der Dachterrasse auf, wo sich der Tisch mit dem Buffet befand. Und natürlich mit dem Wein. Mann, ich war so traurig. Und dabei hatte ich eben noch gelacht.

Plötzlich zuckte ich zusammen und blickte mich hilflos um. Da war doch was? Es war ein Gefühl, als hätten einen Blicke durchbohrt, als wäre ein Kunai in meinen Rücken geflogen. Ich wurde beobachtet. Ich spürte es ganz genau. Aber ich war doch mal abgesehen von der hier wohnenden Familie ganz alleine? Die Dachterrasse war übersichtlich. Auf der einen Seite war Freifläche und die Brüstung, auf der anderen Seite waren Tische und Stühle eingebettet in einen Wald voller hoher Kübelpflanzen. Ich musste mich geirrt haben. Oder ich war schon zu sehr angetrunken, dass ich phantasierte. Schnell drehte ich mich wieder mit dem Rücken zum Pflanzenwald und zur Dunkelheit. Mit dem Glas in der Hand verlor sich mein Blick in dem bunten Feuerwerk.
 

Hana-Bi – Feuerblume. Und genauso wie dort oben am Himmel die Raketen explodierten, so explodierte es auch in meinem Magen in allen Gefühlsfarben. Es war ein warmes Kribbeln, was immer heißer wurde und sich in jede Zelle meines Körpers ausbreitete. Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen und wäre diesem wohligen Gefühl verfallen, hätte die ganze Welt um mich herum vergessen. Doch ich regte mich kein Stück und starrte wie gebannt in den Himmel auf die Feuerblumen. Verlegen kaute ich auf meiner Unterlippe und schniefte einmal auf. Als da wieder dieser Kloß war im Hals, der wuchs und mir die Tränen in die Augen presste. Dabei sollte ich total glücklich sein. Ich musste nicht zur Seite schauen, um Gewissheit zu haben, dass ich nicht alleine war. Seine Finger streiften die meinen. Sie verflochten sich ineinander und wollten sich wieder lösen, doch ich hielt sie einfach fest. Wie zwei schüchterne Schulkinder standen wir dicht an dicht, hielten Händchen und verfolgten stumm eine Rakete nach der anderen. Wir brauchten keine Worte. Das hier war eine einfache, simple Geste. Aber für uns beide war sie wohl im Moment das Innigste und Intensivste überhaupt.

Mit der letzten Rakete verschwand auch Inu wieder in die Dunkelheit der Nacht. Mit dem artigen Versprechen, von nun an den Kontakt regelmäßig zu halten. Das schlechte Gewissen sah man ihm sogar trotz Holzmaske an. Aber da war auch eine unendlich große Unsicherheit, die ich spürte, wie ich seine Hand hielt. Da wäre jeder Schritt, den ich auf ihn zulaufen würde, für ihn zu groß, zu hektisch, zu überfallartig und zu schnell. Erst jetzt wurde mir bewusst, warum er bei uns aufgekreuzt war, und ich war viel zu geblendet von meinen Enttäuschungen und habe so die Zartheit seines feinen Gefühles nicht sehen können. Es war so unendlich verrückt, sich auf jemanden einzulassen, der das Phantom spielte. Aber genauso aufregend, spannend und interessant war es auch.

Das Feuerwerk war abgebrannt. Unser Moment auch. Wieder stand ich da allein. Aber ich war so unendlich glücklich.

8 - Der Tag, an dem ich übers Wasser lief

Der August hatte sommerlich warm geendet. Es war zwar milder als in den letzten Jahren, aber tagsüber immer noch heiß genug, dass leichte Kleidung genügte und man auch in den Abend- und Nachtstunden nicht unbedingt auf eine dünne Jacke angewiesen war. Diese herrliche Wetterfront hielt sich noch bis in den September hinein und es war zu hoffen, dass es noch eine ganze Weile so bleiben würde. Generell hatte Konoha ein weit aus milderes Klima als das Erdreich. Hier konnte man noch lange auf Winterkleidung verzichten. Der Kälteeinbruch erfolgte meist erst zum Ende des Jahres und erstreckte sich über das erste Quartal. Dann aber fielen die Temperaturen schlagartig weit unter den Gefrierpunkt und es schneite heftig und viel. Der Ort versankt unter einer dicken Pulverschneeschicht. Die Häuser sahen aus, als trügen sie Zuckergusshauben. Eine eisige Romantik, die nur den heftigen Schneestürmen wich, welche dann unerbittlich alles Leben aus den frostigen Straßen in die warmen Stuben trieb.

Doch soweit voraus wollte ich, jetzt die letzten Strahlen des Sommers genießend, nicht denken. Es war Mitte September und die Sonne lachte von einem knallblauen Himmel herunter. Trotzdem spürte man die ersten Anzeichen der kommenden Jahreszeit. Die ersten Bäume hatten in ihrem grünen Laub vereinzelte gelbe und rote Tupfer. Die Tage wurde wieder kürzer. Das Licht war nun häufig abends orange. Konoha leuchtete golden.

Nachdem sich unser werter ANBU mal wieder zwei volle Wochen nicht hatte blicken lassen, aber wenigstens die Güte besaß mitzuteilen, dass alles in Ordnung wäre, stand nun heute ein allerletztes Training auf dem Plan. Ich glaubte zwar nicht so recht daran, dass es auch wirklich nun zu einem Abschluss kommen sollte, aber Inu war davon überzeugt. Er war der Fachmann. Also musste ich diesem Urteil vertrauen.

„Wenn er kein Shinobi werden soll, dann reicht das Erlernte aus. Und das macht er wirklich gut. Sehr beeindruckend.“, hatte er mir seine Entscheidung kurz und knapp mitgeteilt.

Per DropIn, nicht mündlich. Wäre ja sonst auch zuviel des Umstandes und überhaupt zuviel des sozialen Kontaktes gewesen. Ninjas waren halt so. Immer auf kurioser Distanz. Da konnte man nichts machen.

Um Yuuki nicht allzu traurig zu machen, hatten wir beide beschlossen, ihm davon noch nichts zu sagen. Das könnte man auch nach dem Training machen. Yuuki wunderte sich sehr, dass ich ihn zum Trainingsplatz begleitete, da ich sonst immer daheim geblieben war. Doch er glaubte mir sofort, als ich ihm sagte, dass ich nach den letzten Wochen der Abwesenheit gerne einmal zuschauen würde, wie die Früchte des Trainings aussahen. Und es war nicht gelogen, dass ich vor skeptischer Neugier platzte. Außerdem raste eine Unruhe in mir, wie Inu mir nach unserem Händchenhalten begegnen würde. Ich hatte schon die böse Vorahnung, er würde mich stumpf ignorieren. Und das wiederum machte mich unzufrieden und traurig. Ich mochte keine Ungewissheit und brauchte klare Fakten.

Nun saßen mein Kind und ich hier zu zweit im Gras, ließen uns die Abendsonne auf den Bauch scheinen und warteten auf den, der es irgendwie nie so recht mit den Zeitangaben genau nahm und deshalb auch schon gar keine mehr machte. Inu teilte immer nur als Termin „vormittags“ oder „gegen Abend“ oder so etwas ähnliches mit. Das war für mich, die streng nach einem gut getakteten Terminkalender lebte, eine echte Qual, aber für Inu wohl eine super Ausrede, dass man ganz grob den Zeitrahmen hielt ohne diskutieren zu müssen, warum man häufig später aufkreuzte. Eigentlich total clever, aber für mich echt die Hölle. Diese ganze Warterei war Mist. Mich machte sowas kribbelig, nervös und unruhig, zumal ich mir immer ausmalte, was ich anstelle von Zeitverschwendung lieber tun hätte können. Aber so war Inu nunmal und da ließ er sich auch garantiert nicht ändern.

Es war idyllisch am Fluss. Die Vögel zwitscherten. Eine leichte Brise wog die Grashalme hin und her. Yuuki erklärte mir, dass Inu ihn zwar immer warten ließ, aber es wäre nur ein kurzer Moment. Na, da blieb zu hoffen, dass es auch heute so wäre. Ich hatte schon wieder Hummeln im Poscher, wackelte nervös mit den Fußspitzen und verrenkte meine Finger ineinander.

Leider tauchte Inu nicht als erster auf, sondern drei Rotzbengel. Sie trugen Ninjakleidung, sprachen frech und beanspruchten den Trainingslatz für sich. Wir hätten doch bitte zu gehen, denn sie wollten hier in Ruhe etwas für den morgigen Schultag üben. Ich musterte die drei Jungen und schätzte sie auf Yuukis Alter. Natürlich versuchte ich, ruhig zu bleiben und wollte klar machen, dass wir hier ebenfalls auf ein Training warteten. Allerdings war das ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen mit den drei Kindern zu reden. Das Trio lachte laut auf und fragten spöttisch, was das denn für ein Training werden sollte und zu welchem Team Yuuki denn gehören würde. Die Arroganz floss nur so verbal aus ihren Mündern. Sie fühlten sich überlegen und im Recht. Der Platz war alleinig für das Shinobi-Training reserviert. Und da die drei Jungen meinen Sohn noch nie hatten in der Akademie sitzen sehen, schlussfolgerten sie logischerweise, dass dieser deshalb garantiert auch kein Ninja-Anwärter wäre. Demnach hätten wir auch kein Aufenthaltsrecht auf diesen Platz. Nun war für mich guter Rat teuer. Zwar fürchtete ich mich nicht vor diesen Rotzlöffeln, waren es doch noch Kinder, aber sie waren uns definitiv an Kampfkraft überlegen und sowieso nicht bereit, Argumente zu akzeptieren. Da blieb eigentlich nur noch als einzige Lösung, auf Inus Auftauchen zu warten. Denn eines hatte ich schon lange bei der Ninja-Bande beobachten können: Sobald auch nur ein einziger Ranghöherer aufkreuzte, zogen die Rangniederen meist, wenn auch widerwillig, die Köpfe ein und gaben klein bei. Und nach meiner Unkenntnis ergab es sich, dass ein ANBU garantiert als ranghoch anerkannt wurde.

Doch mir blieb nicht die Gelegenheit, auf unseren persönlichen Haus- und Hof-ANBU zu warten. Mein Sohn tat etwas völlig Unvorhersehbares. Er stand ruhig auf und bot den dreien an, um die Platznutzung zu kämpfen. Entsetzt blickte ich ihn an, denn das Verhalten war mir bis dato noch nicht untergekommen. Aus dem kleinen unscheinbaren Kind, war ein selbstbewusster Junge geworden. Auch wenn ich ihm ansah, wie ihm unter seiner Haut die Düse vor Angst ging. Aber er versuchte seine Angst zu meistern, verhielt sich ruhig und wartete auf eine Antwort. Erst erstaunt, dann hochmotiviert, schlug die Dreierbande in das Angebot ein. Man machte sich kampfbereit.

Mich hielt nichts mehr auf dem Rasensitzplatz. Wie von einer Tarantel gestochen sprang ich auf und konnte nicht fassen, was sich hier vor meinen Augen gleich abspielen würde. Ganz schwarze Horrorbilder spielten in meinem Kopfkino. Drei Genin-Anwärter gegen Yuuki ohne Rang und Namen. Ich sah in einer Vision, wie Yuuki in wenigen Sekunden von allen dreien gleichzeitig in der Luft zerfetzt und anschließend blutüberströmt in einzelne Gliedmaßen zerstückelt auf dem Boden liegen würde. Und die Krähen kreisten schon über dem Aas. Oh nein, oh nein! Konnte man das hier nicht irgendwie stoppen? Ich war verzweifelt. Inu, du Flachpfeife, wo bist du, wenn man dich mal wirklich braucht?

Und dann ging es auch schon los. Shuriken flogen auf Yuuki zu, der erstaunlich geschickt auswich und dem Trio ein Staunen auf die Gesichter zauberte. Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, dass Yuuki wirklich Plan hatte, von dem, was er hier tat. Also schmissen sie frustriert ein paar Kunai hinterher, und einer der Dreien verschwendete sogar Chakra und schickte ein Feuerkugel über die Wiese, die selbst auf einen Laien wie ich es war äußerst mickrig wirkte. Nach wenigen Metern verpuffte sie von ganz allein in der Luft, was dem Feuerspucker eine gehörige Portion Schimpfe durch seine beiden Teamfreunde einhandelte. Während die Drei sich stritten, wie sie weiter vorzugehen hätten, beobachtete ich voller Verwunderung, wie Yuuki tatsächlich zum Gegenschlag ausholte. Für mein Kind standen das Trio strategisch günstig am Fluss. Also machte er noch etwas unbeholfene Fingerzeichen und verharrte dann in einer hochkonzentrierten Haltung. Plötzlich wallte das Wasser im Fluss. Es schoss meterhoch, wie die Welle eines Tsunami und duschte die Bengel total überraschend eiskalt ab. Ziemlich verdattert blickten diese nun klitschnass drein, hatten nun aber wohl beschlossen, dass dieses hier ein sehr ernster Kampf werden würde. Sie nahmen sich nun wirklich die Mühe, etwas über den Gegner, den sie in allen Maßen unterschätzt hatten, herauszufinden.

„Du bist nicht bei uns auf der Akademie. Ich hab dich da noch nie gesehen. Wer hat dir das gezeigt?“, fragte einer der Bengel gereizt und ein andere ergänzte: „Das war mindestens ein C-, wenn nicht sogar ein B-Rang-Jutsu!“

C? B? War das gut oder schlecht?

„Mein Sensei!“, konterte Yuuki klug ohne auch nur ein Sterbenswörtchen über Inu zu verraten.

Ich war von meinem Kind geplättet. Als Yuuki geboren wurde, da fiel in Konoha der allererste Schnee. Er war als Baby so blass. Also dachte ich, dass Yuki doch ein schöner Name wäre. Yuki, der Schnee. Aber ich war noch nicht so mächtig der fremden Sprache, wie ich es heute bin und sprach Yuki mit einem langen U aus, so dass die Hebamme Yuuki mit Doppel-U notierte. Das hieß Mut. Und nun stand ich hier auf einem Trainingsplatz, sah unfreiwillig dem ersten Kampf meines Sohne zu und wusste: Mein Versprecher war kein Fehler, sondern ein Zeichen der Zukunft.

„Und wer ist dein Sensei?“, hakte einer der Dreien noch nach.

Dabei zog er das Wort Sensei so verstellt in die Länge, dass es nach großem Hohn und Spott klang. Man konnte sich also nicht vorstellen, dass es tatsächlich Kinder gab, die nicht auf der Akademie waren und demnach Privatunterricht bekamen.

„Ein ANBU!“, ließ sich Yuuki die Butter nicht vom Brot nehmen.

Erst herrschte kurze Stille, dann brach ein schallendes Gelächter los. Das Trio hatte die Weisheit mit Löffeln gefressen und war sich absolut sicher, dass ANBUs alles möglich trieben, aber sicherlich keine Zeit hätten, Kinder zu unterrichten. Und schon gar keine Kinder, die noch nicht mal auf der Akademie wären. Da hätte ein armer Irrer Yuuki aber so ziemlich an der Nase herumgeführt, wurde uns da ganz unverblümt aus naiven Kehlen an den Kopf geworfen. Ich spürte, wie sich Yuukis Fäuste ballten und er den Kopf senkte. Da lastete nun ein sehr hoher Druck auf seinem jungen Haupt. Er drohte, unter den blöden Sprüchen einzuknicken und die Konzentration zu verlieren. Und so übersah er auch, dass eines der anderen Kinder mit einem Erdjutsu die Erde zum holprigen Beben und Yuuki somit zu Fall brachte. Als er sich dann wieder auf die Füße rappelte, sah ich einen Blick, den ich so noch nie bei ihm gesehen hatte. Seine Augen waren hart und kalt geworden. Es war der Blick eines Menschen, der sich persönlich gekränkt fühlt und bereit war, nun eine große Dummheit zu begehen. Er war stolz auf sich und was er gemeistert hatte. Und Inu war für ihn sowieso der Allergrößte und Allercoolste. Häufig hatte er zuahsue geschwärmt, was er wieder alles gelernt hätte. Über Inu wurden durch andere also schonmal gar keine Witze gerissen. In meinem Magen zog sich alles zusammen. Hier würde gleich ein großes Unglück passieren. Konnte denn keiner diesen Wahnsinn beenden? Ich fühlte mich hier gerade so hilflos, nutzlos und überflüssig. Mir drehte sich der Boden unter den Füßen. Ich brauchte was zum Festhalten. Reflexartig griff ich neben mich, aber anstelle die Baumrinde das nahen Baumes an meinen Fingern zu spüren, ertastete ich einen Arm. Ohne zu Fragen umklammerte ich Inus Arm wie einen Schraubstock. Meine Finger bohrten sich so tief in sein Fleisch, dass es bis zum Knochen nicht mehr weit sein konnte.

„Mach was!“, zischte ich verzweifelt.

Ich sah ihn von der Seite an. Im Gegensatz zu mir war Inu mal wieder Mister Tiefenentspannt. Ich bewunderte es im Geheimen jedes Mal, wie jemand zwar mit kerzengeradem Rücken aufrecht stehen konnte, aber schier Null Körperspannung hatte. Jemand, der so lax herumstünde, müsste eigentlich zusammensacken wie ein Fragezeichen, doch Inus Kreuz war der Traum aller Orthopäden. Auch wenn er insgesamt recht schmal im Vergleich zu vieler seiner Kollegen war. Einer vom Typ Bohnenstange, aber nicht minder durchtrainiert. Das war mir neulich kurz aufgefallen, als er beim Pott Kaffee trinken seine Weste über die Stuhllehne gehangen hatte. Der Körperbau versteckte sich gut unter der Ninjakluft. Besonders die Westen mit ihren Polstern und Protektoren trugen dick auf und machten die Gesamterscheinung wuchtiger. Und was solch eine Weste wog... Ich kam nicht um einen Spruch umhin zu fragen, ob da Backsteine eingenäht wäre, weil sie so schwer war. Inu verneinte lachend und meinte augenzwinkernd, es wäre bloß ein halber Hausstand in den Taschen verstaut. Haha, wer's glaubt! Zumindest hatten wir da noch unseren Spaß. Aber das hier vor meinen Augen war überhaupt kein Spaß. Ich hatte Angst und zupfte nervös an seinem Arm, auf dass er doch endlich etwas unternehmen würde.

„Bis jetzt hat er die Oberhand.“, war seine kennerische Aussage und die Antwort darauf, warum er in den Kampf nicht eingriff und ergänzte frech: „Außerdem hab ich gleich einen gebrochenen Arm.“

Hmpf, mach dich nicht wieder lustig über mich. Du verlierst eben wieder Sympathiepunkte bei mir, Inu! Ich ließ ihn angesäuert wieder los und wandte mich wieder dem Kampf zu. Es war unfassbar, was Yuuki zustande brachte.

„Ranton Rêzâbîmu!“ hallte über den Platz und ich sah, wie Yuuki eine orangene Energiekugel in einer Hand formte und mit einen Hechtsprung von sich schmiss, wie Handballer es zu tun pflegten, wenn sie auf das gegnerische Tor warfen.

Das Ergebnis war, dass dort, wo eben noch das Trio gestanden hatte, ein riesiger Krater aufriss. Und die drei Jungen? Die blickten völlig entgeistert aus dem Krater heraus und bekamen nun zum zweiten Mal eine nasse Dusche, denn der Krater war nahe des Flussufers und lief sofort voll Wasser. Das alles hatte Yuuki in der kurzen Zeit gelernt? Ich war sprachlos. Und nun bildete mein Sohn noch einen weiteren Laserstrahl. Er war völlig weggetreten in einer ganz anderen Welt.

„Ok, jetzt übertreibt er!“, kommentierte Inu die Sachlage trocken, machte einen Satz vorwärts und war im nächsten Moment direkt an Yuukis Seite.

Ich hörte, wie Inu ihn einerseits lobte, wie präzise er seine Technik eingesetzt hatte. Andererseits gab es aber auch eine Rüge. Denn sein Ranton wäre immerhin ein A-Jutsu. Das schmisse man nicht einfach so durch die Gegend. Und schon gar nicht in Abwesenheit des Senseis und ohne Ninja-Ausbildung. Basta!

Das streitbare Trio war längst aus seinem Wasserloch geklettert und hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes vom Acker gemacht. Ziemlich bedröppelt und mit hängendem Kopf stand da nun Yuuki neben seinem Sensei und stammelt eine wüste Ansammlung an Entschuldigungen von sich, bis Inu ihm schmunzelnd als Geste der Versöhnung kurz durch seine schwarzen Haar strich. Da verstanden sich Zwei sehr gut. Ich beobachtete sie beide aus der nahen Entfernung und fühlte mich überflüssig. Und als sie sich dann auch noch zum Gehen wandten, war ich anscheinend restlos vergessen und abgestempelt worden. Ich lief ein paar Schritte, um sie einzuholen, blieb aber dann frustriert auf halbem Wege stehen. Luftlinie war dieses vor mir der direkte Weg nach Hause. Genau über den Fluss hinweg, durch die Baumwipfel und dann über die Dächer. Nur für Menschen mit Chakra. Ninjas können das. Ich nicht. Meine Angst war längst verschwunden, als ich sah, dass mein Sohn vorlief und mitten auf der Wasseroberfläche zum Stehen kam. Er stand auf dem Wasser, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Ja, in seiner Welt. Nicht in meiner. Und schon war ich wieder bei dieser Frustration, dass ich niemals zu dieser Welt gehören würde. Yuuki und Inu lebten in anderen Dimensionen. Weit weg von so einer wie mir, die sich zwar ein Leben lang den Buckel krumm gemacht hatte, um sich und ein Kind durchzubringen, aber nun wieder an ihrer Grenze stand. Ich war wütend und traurig zugleich, kaute wieder auf meiner Unterlippe und starrte auf den Fußboden, nur um nicht einem der beiden ins Gesicht blicken zu müssen.

Der Fluss lag so ruhig da. Die Abendhimmel spiegelte sich auf der feinen Strömung. Dort, wo Yuuki auf das Wasser trat, bildeten sich Wasserkreise, die immer größer wurden, bis sie auf dem Fluss ausliefen. Wie das wohl wäre, wenn man da so stehen könnte? So mitten auf dem Wasser? Ich würde es niemals erfahren.

Plötzlich rissen mich Stimmen aus den Gedanken. Ich blickte auf und stellte fest, dass Inu am Uferrand stand und auf mich wartete, während Yuuki dort auf dem Fluss mir Mut zurief und ungeduldig winkte.

„Na los, Mama! Das ist total einfach!“

Und schon sprang er weiter und gelangte sicher ans andere Ufer. Pff, total einfach. Sehr witzig! Ich zog einmal tief die Luft in meine Lungenflügel ein und atmete hörbar wieder aus. Erst jetzt sah ich, wie Inu mir seine ausgestreckte Hand entgegenhielt. Das musste er wohl schon eine ganze Weile tun. Was sollte das denn werden?

„Augen zu!“, befahl er leise.

Knurrend und angesäuert tat ich, wie er mir geheißen. Dann wurden meine Hände sanft gegriffen und eine Hitzeschauer durchzog mich. Es war nicht so ein warmes Kribbeln, wie man es verspürte, wenn man frisch verliebt war und bei seinem Liebsten zum ersten Mal in den Armen lag. Und es war auch nicht dieses elektrisierende Knistern, wie neulich beim Feuerwerk. Nein, das hier fühlte sich ganz anders an, wie ein angenehm brennender Strom unter der Haut. Er floss durch meine Hände und Arme, durch meinen Rumpf und hinab durch meine Beine. Es sammelte sich in meinen Fußsohlen. Und noch ehe ich das Ganze überhaupt verstehen konnte, wurde ich an meinen Händen mitgezogen. Schritt für Schritt, ganz langsam voraus. Weiter immer und weiter. Ich kniff die Augen zusammen und überlegte, was mir gleich wohl noch blühen würde, als sich schlagartig die Bodenbeschaffenheit unter meinen Füßen änderte. Ich zuckte zusammen, spürte aber, wie Inu meine Hände fester hielt und mir Sicherheit gab. Noch ein paar Schritte ging es weiter. Der Boden war komisch.

„Augen auf! Aber nicht schreien!“, sagte er mir nun und ließ an seiner Stimmlage durchblicken, dass er eine gewisse schelmische Vorfreude auf meine kommende Reaktion hatte.

Was tat wohl ein Mensch, dem man sagte, er solle am Berghang nicht nach unten sehen? Natürlich sah er nach unten aus einem Affekt heraus. Hier war es ähnlich. Ich sollte nicht schreien, tat es aber. Und zwar einmal laut und schrill. Derart erschrocken, was sich hier abspielte, hatte ich Inu in den Klammergriff genommen, wie man sich als Nichtschwimmer auch an einen Rettungsring klammern würde. Man hätte auch sagen können, ich wäre ihm vor Panik auf den Arm gesprungen. Wir beide gerieten gefährlich ins Wanken.

„Hey, du darfst nicht loslassen...“

Das hätte er nicht zu sagen brauchen. Ich würde garantiert nicht loslassen. Immer noch im Schockzustand hörte ich Yuuki am anderen Ufer lachen und sich am Boden kugeln. Meine Klammeraffenhaltung musste zu komisch aussehen. Und ab da wurde mir auch erst bewusst, was ich hier gerade tat. Ich hatte meine beiden Arme fest um seinen Hals geschlungen, dass er unter seiner Holzmaske bestimmt schon Atemnot hatte und Blau anlief. Langsam kam ich wieder ein wenig zur Ruhe. Nein, nein. Totaler Blödsinn, Sherenina. Durch die Umklammerung schmiegte sich mein Körper an seinen. Sein Brustkorb hob und senkte sich ganz deutlich. Also lief mit der Sauerstoffzufuhr auch nichts schief.

„Du bist ja heute anhänglich“, neckte er mich leise.

Meine Gesichtsfarbe färbte sich dunkelrot, weil mir auch nun erst klar wurde, dass seine Arme an meiner Taille und seine Hände in meinem Rücken ruhten. Fast gleichzeitig lockerten wir unsere Haltung und nahmen wieder die Armlänge Abstand ein, wie wir sie hatten, bevor ich meine Augen öffnete.

Ich! Stand! Mitten! Auf! Dem! Wasser!

Fasziniert starrte ich zum Boden, der gar keiner war. Es war der glatte Wahnsinn und so unbeschreiblich schön. Unter meinen Füßen sah ich auf den Grund des Flusses. Einzelne Fische schwammen vorbei. Einige Wasserpflanzen wogen sich in der Strömung. Ich hätte noch stundenlang hier stehen und in das Wasser starren können, doch Inu führte mich weiter. Einen Fuß vor den anderen, und dabei sah ich zu, wie sich feine Kreise auf dem Wasser bildeten, wenn ich mit den Fußspitzen die Wasseroberfläche berührte. So schön!

Leider war ein Fluss kein Ozean und so kam das andere Ufer unaufhaltsam näher. Viel zu schnell war der Lauf über das Wasser zu ende. Kaum hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen, ließ Inu meine Hände los und der heiße Strom durch meinen Körper endete.

„Sein Chakra!“, schoss es mir durch den Kopf.

Er hatte es durch meinen Körper fließen lassen, damit ich nicht unterging. Es war eine unglaubliche Erfahrung gewesen. Das schlechte Gewissen nagte an mir, da ich mich zu gern bedankt hätte. Doch mir kam nichts Passendes in den Sinn.

„Du bist unglaublich!“, murmelte ich vor mich her.

„Stimmt doch gar nicht“, winkte er schon fast ein wenig verlegen ab.

„Doch, doch. Auch, was du Yuuki in der kurzen Zeit beigebracht hast... Toll! Ich weiß gar nicht, wie ich das jemals gutmachen soll“, lobte ich, weil ich es einfach angebracht fand.

Zu meiner Überraschung kam Inu da aber gar nicht mit zurecht. Verlegen kratzte er sich am Kopf und erklärte, dass Yuuki doch alles schon vorher gekonnt hatte. Er hätte ihm doch nur gezeigt, wie man es optimieren könnte. Also alles gar nicht sein Werk. So toll wäre er gar nicht, stapelte er so tief, dass man einen Keller hätte ausheben können.

Wir hatten den Fluss und den Hain hinter uns gelassen, streiften durch die Gassen von Alt-Konoha und kamen nun an die Straßenkreuzung, wo es die Serpentinen durch die Häuser am Berghang hinauf auf das Plateau ging. Yuuki war schon vorausgeeilt, denn seine Lieblingsserie im Fernsehen neigte sich heute dem Staffelfinale zu. Das durfte ja auf gar keinen Fall verpasst werden. Inu war in seiner üblichen Einschlafhaltung mit uns gegangen, und ich überlegte, wo er wohl wohnte. Bis jetzt teilten wir dem Anschein nach denselben Heimweg.

Unerwartet hielt dieser aber an, räusperte sich verlegen und suchte nach den passenden Worten. So hatte ich ihn noch nie erlebt.

„Ich...“, stotterte er los. „...hab da ein kleines Attentat auf dich vor.“

„Ein Attentat?“, fragte ich ungläubig. „Und das wäre?“

Seine Körperhaltung sprach Bände wie ein Hörbuch. Es war ihm sichtlich unangenehm. Beinah so, als fürchte er, abgelehnt zu werden oder ein sehr unmoralisches Anliegen unterbreiten zu müssen.

„Kann ich bis übermorgen bei dir unterkommen?“

Mein Gesicht musste ein reines Fragezeichen gewesen sein. Es ratterte in meinem Kopf, musste ich mir die Frage und deren Bedeutung erst mal klar machen. Hatte ich da eben richtig gehört? Meine Antwort ließ wohl zu lange auf sich warten, denn sofort entschuldigte er sich bei mir, mich mit seinem Problem belästigt zu haben. Es wäre eine total dumme Frage von ihm gewesen und ich sollte sie doch einfach wieder vergessen. So hatte ich ihn wirklich noch nie erlebt. Ich musste mir ein Lachen echt verkneifen, weil er eben noch so selbstbewusst tat und nun so hilflos herumstammelte. Es war fast schon süß.

Ich hatte den ganzen Rückweg über einen Dank an ihn nachgedacht. Da war es die optimale Gelegenheit, sich für seine Hilfe der letzten Wochen zu revanchieren.

„Klar, kannst du!“, erfüllte ich seinen Wunsch und man sah, wie sich unter der dicken Schutzweste ein großer Gesteinsbrocken von seinem Herzen löste und bildlich krachend auf dem Boden zerschellte.

9 - Der Tag, an dem Inu einzog

Den Rest des Weges ging ich allein nach Hause, da Inu von einer Sekunde auf die andere vor meinen Augen verschwand. Er käme dann später nach. So, so. Was trieb den denn schon wieder um? Ich hatte längst aufgehört, mich über ihn und seine Macken zu wundern. Noch eine kurze Weile starrte ich auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Dabei ratterte die letzte Szene als Kurzfilm in meinem Kopf ab. Je öfters die Endlosschleife lief, desto mehr nagte wieder der Zweifel an mir, weil ich mal wieder mit dem Munde vorweg gewesen war anstelle mit dem Verstand. Hatte ich Inu wirklich den Gefallen getan, bei mir für eineinhalb Tage unterzutauchen? Mich musste der wilde Affe gebissen haben. Schließlich war es mir dann doch etwas mulmig bei der Sache. Da war garantiert ein versteckter Haken bei, weil es mir nicht geheuer schien. Was hatte der denn für Probleme, dass der nicht nach Hause konnte? Da blieb nur zu hoffen, dass es sich um so ein profanes Problem wie einen Wasserschaden in seiner Behausung handeln würde. Falls ihm aber jemand nach dem Leben trachten und er deshalb heimgesucht würde, wäre ich wenig begeistert. Keinesfalls wollte ich unschuldig in seine Angelegenheit hineingezogen und von seinen privaten Feinden auf meinem Grund und Boden überfallen zu werden. Dunkle Bilder tauchten auf, als einst ein Killerkommando meinen Ex-Freund aufsuchen wollte und dabei meine Hütte kurz und klein schlugen. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Noch lange Zeit hatte ich davon Albträume gehabt.

Letzteren Gedanken, Opfers eines Überfalls zu werden, schob ich nur deshalb beiseite, da er mir unlogisch schien. Ninjas sind allesamt Massenmörder. Die haben grundsätzlich irgendwelche Feinde, weil sie anderer Leute Leben zerstört hatten. Und sie konnten noch so gründlich auf ihren Missionen vorgegangen sein, es sickerte dann doch immer mal was durch, wer da wen bespitzelt oder gar getötet hatte. Wenn man wirklich das Kapitel seiner Shinobi-Karriere abschließen wollte, müsste man entweder bis zum Rest seines Lebens untertauchen, wie es damals mein Ex geplant hatte, oder stets auf der Hut sein. Daher blieb häufig nur die Alternative, dass man Ninja bis zum Tode war. Yuukis Vater hatte nämlich aus seinem Job aussteigen wollen, aber das hatte sich mit seinem spurlosen Verschwinden anscheinend alles von selbst erledigt. Ruhige Nächte hatte mir das noch eine sehr lange Zeit nicht beschert.

Ich beschloss trotz alledem, Inu da einmal kräftig auf den Zahn zu fühlen. Immerhin müsste ich den Typen bis übermorgen in meinen vier Wänden ertragen. Einerseits freute ich mich, ihn bei mir zu haben, weil ich mittlerweile mehr Gefühle für ihn hegte, als es mir eigentlich lieb war. Anderseits war er nach wie vor sehr reserviert und spielte weiterhin seine Rolle als Phantom. Zumindest hing er immer mit seiner Kapuze über dem Haupt bei uns ab. Von seiner Holzmaske konnte er sich zwar schon zeitweise trennen, aber die Kapuze in Kombination mit der Sturmhaube taten ihren Dienst der Verschleierung aufs Beste. Man sah nichts und man wusste nichts. Ich konnte ihn einfach nicht genug einschätzen. Weder in Bezug auf seine Ambitionen, uns beigestanden zu haben, noch ob es da irgendetwas zwischen uns beiden gab. Stets tat er nur so, als wären wir lediglich flüchtig bekannt, aber dann kreuzte er wiederum unerwartet zum Feuerwerk auf und suchte meine Nähe. Das war mir zu sprunghaft. Noch so ein Thema, dass mich bewegte und endlich geklärt werden müsste. Irrungen und Wirrungen. Chaos im Hirn. Wenn er tatsächlich morgen den ganzen Tag bei uns verbringen würde, dann säße er da zumindest in der Falle und man könnte mal die Daumenschrauben anlegen. Ein schelmisches Grinsen legte sich auf mein Gesicht. Vielleicht musste man Inus Not einfach mal schamlos für sich selbst ausnutzen.
 

Nach den vielen Grübeleien hatte ich gar nicht gemerkt, dass ich bereits zuhause angekommen war. Mein Kind war folglich mit dem Hausschlüssel vorausgeeilt. Schweigend stand ich kurz vor der Eingangstür und hoffte, dass Yuuki den Türschnapper nicht hatte einrasten lassen. Sonst hätte ich nun das Problem, dass ich bei meiner eigenen Wohnung klingeln und um Einlass bitten müsste, und Yuuki wäre nicht vor dem Fernseher wegzubewegen bis das Staffelfinale geendet hätte. Seufzend musste ich feststellen, dass sich die Haustür keinen Millimeter bewegt. Da konnte ich Zerren und Zergeln, wie ich wollte. Tief seufzte ich hörbar auf. Was hatte ich eigentlich erwartet? Also klingelte ich Sturm, nur um meine Befürchtungen wahr werden zu lassen. Ich war ausgesperrt. Es wurde höchste Zeit, dass mein Lieblingssohn einen eigenen Schlüssel für die Haustür bekam, damit ich meinen nicht mehr herausgeben müsste.

Der Arbeitstag war hart, das Training lang gewesen. Müde stand ich hier und spürte, wie ich immer angefressener wurde. Jeder falsche Wink konnte mich nun hysterisch ausrasten lassen.

„Was ist los?“ wurde ich unerwartet von der Seite angesprochen, dass ich erschreckt zusammenzuckt.

„Du sollst dich nicht immer so anschleichen!“, blaffte ich und war dann zugleich erstaunt. „Zur Abwechselung mal nichts übers Dach?“

Inu stand neben mir mit einem prallgefüllten Rucksack auf dem Rücken, einer Futonmatte unter dem einen und einem Stapel Schriftrollen unter dem anderen Arm. Müde blickte er die Fassade hinauf. Soviel Hausstand hatte der dabei? Ich dachte, er würde höchsten eineinhalb Tage verweilen. Das war fast ein halber Umzug, was er da so anschleppte. Irgendetwas hatte ich hier wohl bei der Absprache verpasst. Oder Inus und meine Definition von Raum und Zeit in Bezug auf die Verweildauer klaffte weit auseinander.

„Ich hab dich hier unten stehen sehen...“, erklärte er und konnte seinen Satz gar nicht beenden, weil ich mich schon wieder wie ein Stück Natrium im Swimmingpool benahm.

„Yuuki hat den Schlüssel oben und macht nicht auf.“, gab ich genervt zu verstehen.

„Ist es in Ordnung, wenn ich den Schüssel dir runterwerfe?“, fragte er mich mit seiner Einschlafhaltung.

Es war in meinem Innersten eine ernste Frage, ob er in diesem Übermüdungszustand tatsächlich noch die Hausfassade hochlaufen könnte. Zumindest vermutete ich, dass sein Plan so aussehen würde, wenn wir nicht die Haustür öffnen könnten, denn einen Dietrich schleppte man auch nicht alle Tage mit sich herum. Ich musterte ihn noch einmal von oben bis unten. Manchmal machte ich mir große Sorgen, wenn der wieder wie so ein Schluck Wasser in der Kurve hing.

„Wieso nimmst du mich nicht einfach so an den Händen mit wie vorhin übers Wasser?“

Meine Laune war weiterhin angefressen, weil ich es hasste, hier so dümmlich auf der Straße stehen zu müssen und nicht mal so eben Hauswände hoch laufen konnte wie er oder mein Kind. In dieser seelischen Verfassung hatte ich leider das Manko, Aussagen, die gar nicht bös gemeint waren, in den falschen Hals zu bekommen.

„Geht nicht. Das hat vorhin echt eine Menge Chakra gezogen.“

Nein, Inu meinte es nicht böse, sondern nur neutral und sachlich erklärend, aber es kam bei mir in der Wut ganz anders an. Ich interpretierte es falsch und ließ meinem Frust freien Lauf.

„Willst du sagen, ich bin zu schwer?“ brüllte ich ihn an und hob drohend die geballte Faust in die Luft, als würde ich ihm sofort an Ort und Stelle eine reinschlagen wollen. Ich erwartete gar kein Gegenargument oder eine Besänftigung. Ich hatte einfach nur genug von diesem Tag.

„Sieh zu, dass du den Schlüssel holst...“ befahl ich mit tiefster Grabesstimme.

Mein Blick musste wohl angsteinflößend und einem Todesurteil gleich gewesen sein, denn Inu war sofort die Wand hoch gehechtet, als wäre es der Wettlauf seines Lebens. Oder er fürchtete, die Bleibe auf Zeit doch noch zu verlieren, weil ich angesäuert war. Kurz danach klirrte es metallisch. Der Schlüssel lag neben mir auf dem Straßenpflaster.

Erst starrte ich perplex auf den Schlüssel, dann erst kam es mir in den Sinn, was ich gerade vollbracht hatte. Ich konnte nicht anders als herzhaft lachen. So ein Ninja im Haushalt hatte doch etwas Praktisches an sich. Neulich erst hatte mich meine Belegschaft gefragt, ob ich mir denn einen Hund angeschafft hätte, da mein Kind und ich ständig von einem Hund sprächen. Es hatte gedauert, bis ich die Frage verstanden hatte und dass sie sich auf Inu selbst bezog. Lachend hatte ich da abgewunken und im Stillen gedacht, dass wir keinen Hund, aber wohl nun so etwas ähnliches daheim hätten. Inu, unser Haustier. Der Gedanke amüsiert mich, weil der Hunde-Befehl „Hol den Schlüssel!“ eben gerade wunderbar geklappt hatte. Bei „Sitz“, „Platz“ oder „Gib Laut“ würde ich aber wohl eindeutig auf ganzer Linie in der Hundeerziehung scheitern. Inu ließ sich so rein gar nichts sagen und konnte mir gegenüber ein freches Mundwerk vorweisen, was aber nie unter die Gürtellinie ging. Ich mochte diese Neckereien. Er erweckte oft den Eindruck bei mir, dass er mich gern durch clevere Spitzfindigkeiten auf die Palme brachte. Und Dank meines Gefühlschaos schaffte er das zu meinem Leid recht oft. Noch schlimmer war es, dass ich ihm hinterher gar nicht mal böse sein konnte. Der Idiot hatte es tatsächlich zu Wege gebracht, mich auf eine ganz eigene Art und Weise zu manipulieren, so dass ich ihn mochte, und mich trotz meiner Ninja-Hasskappe auf seine Seite zu ziehen. Trotzdem knallte ich ihm bei jeder Begegnung eiskalt an den Kopf, was ich nach wie vor von ihm und seinen Kollegen zu halten pflegte. Die Traurigkeit der Vergangenheit saß einfach zu tief und schmerzte. Und er brauchte auch gar nicht erst merken, wie sehr ich ihn mochte.

Dennoch, so dachte ich mir beim Hochstapfen der unzähligen Treppenstufen zu meiner Wohnung, wäre es wohl trotz Erziehungsresistenz ratsam, ihm gleich mal die Hausregeln klar zumachen. Es gab bei mir daheim nur sehr wenige Regeln, aber die wurden streng beachtet. Und das galt auch für Gäste. Ja, das war ein guter Plan. Trapp, trapp. Das dritte Geschoss hatte ich schon passiert. Weiter ging's. Meine Güte, warum musste ich dumme Nudel eigentlich die Treppe hochkeulen und die anderen Beiden hocken garantiert schon oben gemütlich auf dem Sofa? Blödes Ninja-Pack! Schnaufend hangelte ich mich am Geländer des letzten Treppenabsatzes entlang hinauf. Mit der Zunge aus dem Hals hängend kam ich endlich oben an, schob mich durch die angelehnte Haustür und spähte ins Wohnzimmer. Ich konnte für Yuuki und Inu nicht zu überhören gewesen sein, denn ich schnaufte wie eine alte Dampflok und hätte meine Lungenflügel einzeln auslüften können. Wie erwartet parkte mein Sohn mit viereckigen Augen völlig gebannt vor der Glotze. Ein ohrenbetäubender Krach ballerte aus den Lautsprecherboxen.

„Yuuki, mach die Kiste leiser! Wir haben Nachbarn!“, brüllte ich gegen den Fernseher an.

„Ja, ja...“ war die uninteressierte Antwort und hätte auch mit einem „Leck-mich-am-Arsch!“ interpretiert werden können. Scheiß Pubertät!

Ich rollte die Augen und durchstreifte die Wohnung. In der einen Ecke nahe des Fensters hatte Inu seine Sachen deponiert. Fein säuberlich waren sie dort gestapelt, als hätte man sie mit dem Geodreick ausgerichtet. Alle Achtung! Wenigstens einer hier im Haushalt, für den „Ordnung“ wohl kein Fremdwort war. Zufrieden und halbwegs besser gelaunt wechselte ich zur Küche, wo mein Herz dann vollends erblühte. Inu saß am Küchentisch und schob mir einen frisch aufgebrühten Kaffee vor die Nase. Seine Tasse war längst geleert, aber das kannte ich bereits. Eine halbleere Tüte mit Studentenfutter fand den Weg zwischen meine Finger. Ich bot Inu etwas davon an, aber der lehnte mit einer dankenden Handbewegung ab. Kaum war die erste Ladung in meinem Mund verschwunden wurde ich gefragt:

„Über was denkst du nach?“

Hm, ich fühlte mich ertappt. Er hatte sehr gut beobachtet, dass ich zum Nachdenken Kohlenhydrate brauchte. Mir schoss so vieles durch den Kopf. Bei mir lief immer noch die komplette Stapelverarbeitung des Sommers ab. Wie alles begann, jeder einzelne Tag für sich, und wie es überhaupt dazu führte, dass ich nun hier in meiner Küche mit einem ANBU saß und Nüsse knabberte. Hinzu flossen noch die ganzen anderen Dinge ein, die ich immer schon mal wissen wollte. Aber eines brannte ganz besonders unter den Nägeln.

„Du weißt fast alles über uns, aber wir nichts über dich!“, platze es polternd aus mir heraus. „Warum ist das so?“

Ich sah gar nicht zu ihm herüber, sondern widmete mich der Tüte und dem Inhalt. Raschelnd durchwühlten meine Finger die Nussauslese und sortierten die Rosinen aus.

„Weil ich über das, was du sagtest, nachgedacht habe.“

Das Rascheln der Tüte hörte auf. Meine Hand blieb in der Tüte stecken. Überrascht schaute ich ihn an. Was hatte das denn mit der Frage zu tun? Und darüber hinaus: Ihn interessierte meine Meinung? Nun, von einer sachlichen Meinung über die Ninjawelt konnte keine Rede sein, war sie doch jedes Mal als große Beleidigung über einen ganzen Berufsstandes ausgefallen. Und das hatte er bis jetzt wortlos oder zumindest mit Humor zur Kenntnis genommen. Ein Wunder, dass er nicht schon nach den ersten Trainingseinheiten entnervt das Handtuch geworfen hatte. Mit meinem Sohn es auszuhalten, war sicherlich nicht schwer, doch ich musste jedes Mal wie eine Furie gewirkt haben. Das schlechte Gewissen machte sich breit, ob ich nicht zu viel Kodderschnauze präsentiert hatte. Aber würde er dann noch hier sitzen? Wohl kaum. Das waren alles zu viele Puzzelteile, die ich gerade nicht zusammenbauen konnte. Wie eine Porzellanvase, die heruntergefallen und in Millionen kleinster Teile zersprungen war. Da gab es meist auch nichts mehr zusammenzuflicken. Es sei denn, man hätte unendlich viel Zeit und Geduld. Beides Dinge, die mir zuwider waren.

„Und was hat das nun damit zu tun, dass wir weder deinen Namen, noch dein Gesicht kennen?“

Das war nun eine eher rhetorische Frage, denn die absolute Geheimhaltung bei ANBUs war total normal und gehörte mit zum Berufsbild, doch ich wollte durch Plumpheit mit der Tür ins Haus fallen und schauen, ob ich so meinen Fragenkatalog mal abarbeiten könnte. Angriff war immer noch die beste Verteidigung. Und seine Antwort zog mir eh fast die Schuhe aus. Und die hatte schon sehr viel Bedenkzeit seinerseits gebraucht, dass ich fast dachte, er würde gar nichts mehr antworten.

„Weil du mich dann vermutlich in hohem Bogen rausschmeißt.“

Ich verschluckte mich an einer Nuss, bekam heftigste Atemnot und verkrallte meine Hände panisch in der Tischplatte. Nur ein paar leichte Schläge von Inu auf meinen Rücken förderten die übeltäterische Nuss aus meine Halse heraus. Ich war komplett verwirrt, was er damit gemeint haben könnte, doch das Interview war schon beendet, noch bevor es überhaupt begonnen hatte. Inu ging von der Küche hinüber ins Wohnzimmer, setzte sich neben Yuuki auf das Sofa und überlebte die letzten Sendeminuten eines actiongeladenen Staffelfinales, was wohl nur vom jungen Publikum ertragen werden konnte. Na sowas, da war er einfach abgehauen. Also war meine Fragerei nervig und er wollte auf keinen Fall damit konfrontiert werden.

Ich schlurfte hinterher, fragte nach Essensvorschlägen für die Abendmahlzeit und machte dann wieder kehrt. An sich waren die beiden Herren auf dem Sofa essenstechnisch pflegeleicht. Mein Sohn aß von morgens bis abends am liebsten Fastfood und Inu konnte man alles vorsetzen, solange es nicht süßlich oder zu fettig war. Ich war an diesem Abend herrlich unmotiviert und einfach nur noch müde. Nach einem entgeisterten Blick in den gähnend leeren Kühlschrank war es eine einfach Entscheidung, Okonomiyaki zu braten. Das war nicht aufwendig, ging fix und schmeckte normalerweise jedem. Nach dem Abendbrot schickte ich Yuuki ins Bett und wandte mich meinem Gästeproblem zu, denn ein Gästezimmer hatte ich nicht.

„Ok, dass das klar ist. Du kannst gerne dich im Wohnzimmer ausbreiten. Ab 22 Uhr ist hier Ruhe im Haus. Bei uns wird im Sitzen gepinkelt und nach dem Duschen die Wände mit dem Abzieher abgezogen. Kapiert?“, stellte ich die Hausregeln auf und überlegte, ob ich nicht noch etwas vergessen hätte. Ich klang sicherlich sehr gereizt, war aber zu der fortgeschrittenen Stunde auch nicht mehr harmoniebedürftig genug, dass zu vertuschen.

„Ich werde mich bemühen.“, war die kurze, trockene Antwort.

Ich spürte seinen aufmerksamen Blick unter seiner Kapuze hervor, wie er mich ruhig beobachtete. Er lehnte an dem Türpfosten, hatte die Hände in den Hosentaschen und schwieg. Es konnte ihm nicht entgangen sein, dass ich nervös war. Ich bohrte mir die Fingernägel in das eigene Fleisch, kaute auf der Unterlippe und starrte immer wieder meine eigenen Füße an. Eigentlich müsste man sich nur umdrehen und gehen. Aber ich konnte es einfach nicht. Und so, wie der dort knapp eine Armlänge vor mir stand, machte er es mir nicht unbedingt leichter. Seine ganze Art war eine reine Provokation. Sie machte mich unruhig, weil ich ein hibbeliger Mensch war und nicht abwarten konnte. Mich nervte auch die Stille zwischen uns. Inu hingegen saß die ganze Situation aus, indem er einfach seelenruhig abwartete, bis ich wieder einmal explodieren würde. Diesmal quälte er mich nicht so lange, sondern kam mir zuvor.

„Spuck's aus, was ist los?“

Diese ruhige Stimme tat mir gut. Sie gab mir vertrauen. Trotzdem suchte ich nach der rechten Formulierung meines Problems.

„Naja, weißt du...“, stotterte ich los. „Ich wurde in meinem eigenen vier Wänden mal heimgesucht, weil mein Ex auf der Abschlussliste von irgendwelchen Leuten stand... Das will ich nicht nochmal erleben...“

Ich spürte seine prüfenden Blicke auf meiner Haut, weil ich ihn nicht ansah, sondern noch immer Löcher in den Fußboden starrte.

„Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Hier taucht keiner auf“, wurde ich beruhigt.

„Schlaf gut, Nina-chan.“

Nina-chan. Das hatte er zwar schon oft geschrieben, aber heute erst zum zweiten Mal laut ausgesprochen. Argh, sowas hielt doch keiner aus. Inu hatte dem Türpfosten längst den Rücken gekehrt und war in das von ihm beschlagnahmte Wohnzimmer gegangen. Ich verabschiedet mich ebenfalls und verschwand ins Schlafzimmer. Morgen war ein neuer Arbeitstag. Vielleicht würde mir eine Mütze voll Schlaf einfach gut tun.

10 - Der Tag, an dem alles zu weit ging

Die beschissenste Nacht war grundsätzlich die Nacht, in der man einfach keinen Schlaf fand. Man wälzte sich von einer Bettseite auf die andere, strangulierte sich mit der Bettdecke bis zur Atemnot und erstickte dann aber im Kopfkissen. Nebenbei aalte man sich im eigenen Schweiße bis das Nachthemd und des Bettzeug klatschnass waren und man vor sich selbst Ekel empfand, weil es nur noch ungemütlich war und man sich selbst auch nicht mehr riechen konnte. Auch in dieser Nacht war es so, und es gab da genau zwei Dinge, die mich in diese Misere trieben. Und nein, ich brütete definitiv keine Erkältung aus.

Da war zum Ersten eine ganz subtile Sache. Morgen war Monatsmitte, und die Belegschaft erhielt ihre wohlverdiente Lohntüte. Voller Vorfreude würden die schon morgens alle vor meiner Bürotür Schlange stehen, um ihren Lohn in Empfang zu nehmen. Und genau da steckte das Problem. Es könnte so einfach sein, wenn man für jeden Mitarbeiter nur eine bloße Überweisung tätigen würde. Doch das Hauptkontor hatte uns Nebenstellen einst angewiesen, immer am 15. eines Monats für jeden Angestellten eine Barauszahlung nebst Abrechnung auszuhändigen. Ich musste an dieser Stelle gestehen, dass mich die Ereignisse dieses Sommers ziemlich beschäftigt hatten und ich daher meine Arbeit hatte schleifen lassen. Mir ging die Arbeit weit weniger gut von der Hand wie sonst. Meine Gedanken schweiften häufig ab. Es war überhaupt nicht meine Art, mich so gehen zu lassen. Selbst meine Mitarbeiter merkten das schon und munkelten Dinge, die ich gar nicht so genau wissen wollte. Und so waren in diesem Falle zwar die Abrechnungen alle termingerecht fertig, doch den Weg zur Bank hatte ich noch nicht geschafft. Ich würde also mein Team morgen früh vertrösten müssen, bis ich meinen Dienstweg zum Bankschalter am Vormittag vollbracht hätte. Begeistert wären die allesamt sicherlich nicht von dieser stundenweisen Zeitverzögerung, doch es war halt nicht zu ändern.

Langsam drehte ich meinen Kopf zum Radiowecker, dessen Ziffernanzeige mir unmissverständlich klar machte, dass der neue Tag bereits wenige Stunden jung war. Bald würde das Ding losplärren und mich endgültig aus dem warmen Bett treiben. Aber eben war mein Bett vom Schweiße klitschnass und eh kein bisschen warm und gemütlich. Also sprang ich widerwillig auf, riss die Bezüge und das Laken runter und schmiss sie in hohem Bogen in die Ecke, wo ich in der Dunkelheit den Wäschekorb vermutete. Dann bezog ich den ganzen Kram wieder mit frischer Bettwäsche und schlich mit einem sauberen Nachthemd unter dem Arm in Richtung Bad. Eine reinigende Dusche würde mir sicherlich gut tun und mich ablenken.

Zu meiner Verwunderung war der Flur schwach beleuchtet. Es rührte dann aber daher, dass die Wohnzimmertür halb geöffnet war. Durch sie drang der Schein der Stehlampe, welche beim Sofa stand. Ich änderte meinen Kurs und steuerte auf die Tür zu. Ich konnte gar nicht genau sagen, was mich auf diesen Kurs gebracht hatte. Vermutlich war es die reine Neugier, oder die Hoffnung, Inu mal anzustarren, wenn er es nicht wüsste. Da war es nämlich: Mein zweites Problem, welches mich schlaflos machte. Man kann einfach nicht ruhig in einem Bett liegen und schlafen, wenn der Kerl, für den man mittlerweile gewisse Gelüste hegte, auf der anderen Seite der Wand im Nebenzimmer hockte. Und noch schlimmer war es, dass man nicht einfach mal so an ihm rumsabbern durfte. Mal ehrlich, das war doch echt zum Ausrasten! Noch zwei oder drei Schritte weiter und ich hätte die Tür erreicht. Hätte ...

„Kannst du nicht schlafen, Nina-chan?“, fragte er mich ruhig und so unerwartet, dass ich zusammenzuckte, als hätte man ein Kind beim Bonbon klauen erwischt.

Scheiß-Ninja! Woher wusste der, dass ich mitten auf dem Flur gestanden hatte? Ich war doch echt mal leise gewesen. Der schlechte Lauschangriff war aufgeflogen und ich nun extremst maulig. Ich hatte mir soviel Mühe beim Anschleichen gegeben. Bei einem Normalsterblichen hätte das unter Garantie geklappt. Also legte ich die letzten Meter im Normalschritt zurück, stubbste das Türblatt an, auf dass sich die Tür sich noch ein Stück weiter öffnete und stand bedröppelt im Türrahmen. Auf dem Sofa saß Inu umringt von unzähligen Dokumenten und Schriftrollen, weil der Couchtisch für die Masse an Unterlagen wohl nicht ausreichte. Während er die Akten durchsah, notierte er gelegentlich etwas auf einem Block oder fütterte seinen Laptop mit irgendwelchen Daten, denn er tippte ständig darauf herum. Ziemlich viel Papierkram, was so ein Ninja anscheinend abzuarbeiten hatte. Ich wunderte mich schon ein wenig darüber. Aber er würde wohl schon wissen, was er da zu tun hätte. Von seinem ärmellosen Sweatshirt mit Kapuze und einer kurzen Stoffhose hatte er sich noch nicht befreit, aber die restliche Kleidung lag fein säuberlich auf einem Stapel neben seiner Futonmatte, welche einen Platz nahe des Fensters gefunden hatte. Das war nicht viel nackte Haut von ihm, was es zu sehen gab, aber mir reichte das schon wieder, um mich schwach werden zu lassen.

„Ja, also … ich wollte nur mal Duschen...“, stotterte ich mir zusammen.

Meine Güte, das klang ja schon fast wie eine Entschuldigung, mitten in der Nacht das Bad zu blockieren. Das hier war meine eigene Wohnung. Ich musste mich vor niemanden rechtfertigen. Daher machte ich auf dem Absatz kehrt und nahm eine selbstbewusste Pose ein. Der sollte bloß nicht denken, dass ich neugierig gewesen war, auch wenn es der Wahrheit entsprach. Aber vermutlich hatte er auch diese Tatsache durchschaut und lachte sich unter seiner Kapuze gerade ins Fäustchen. Über die dumme Nina-chan, die ganz durcheinander war und die man so herrlich verschaukeln konnte. Wenn es um Inu und meinen Gefühlscocktail ging, war mittlerweile hin- und hergerissen zwischen total verfallen und extremst sauer.

Im Bad schob ich meinen Duschhocker zurecht, suchte mein Lieblingsshampoo aus dem Regal und drehte die Dusche weit auf. Vor ein paar Jahren hatte ich den Standardduschkopf gegen eine Regendusche ausgetauscht. Nun tropften unzählige dicke, heiße Tropfen wie bei einem Sommerregen auf mich hernieder. Herrlich! Sie wuschen den Schweiß aus den allerletzten Poren, entwirrten meine zerzauste Lockenpracht und massierten meine Schultern und Nacken. Während es so auf mich entspannend herabregnete, hatte ich mich mit dem Rücken an die Wand gelehnt. In den ersten Sekunden waren die Fliesen abstoßend kalt und ließen mich jedes Mal zusammenzucken. Doch schon einen Wimpernschlag später erwärmten sie sich durch die eigene Körpertemperatur und ließen diese entspannte Sitzhaltung zu. So hätte ich stundenlang auf meinem Hocker unter der Dusche sitzen können. Mit geschlossenen Augen spüren, wie das Wasser Ruhe brachte, die Sorgen weg wusch und einen schläfrig machte. Leider endete die Duscherei viel zu früh damit, dass die Wassertherme leer war. Das heiße Wasser war nur noch lauwarm. Kurz darauf floss es kalt nach. Müde drehte ich den Wasserhahn zu. Ich war in keinster Weise motiviert, mich von meiner Bequemlichkeitshaltung zu erheben, die Haare zu trocknen und dann wieder ins Bett zu gehen. Wie spät mochte es mittlerweile sein? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer. Vermutlich würde es schon bald dämmern.

Ich fröstelte, wie ich aus meiner Duschkabine hinausstieg, föhnte die Haare nur soweit, dass sie zwar noch feucht, aber nicht nass waren, zerrte mir das Nachthemd über und war unschlüssiger Dinge. Ob Inu mit seinem Papierkram langsam mal fertig wäre? Mit dicken Backen starrte ich mein Spiegelbild an und beobachtete, wie ich die Luft von einer Backe in die andere schob und wieder zurück. Alberne Grimassen voller Langeweile. Oder würde Inu schon schlafen? Nein, völlig ausgeschlossen bei dem Doppelzentner Kaffeekonsum. Eine Mischung aus Seufzen und Schnaufen entfuhr mir unkontrolliert laut. Doch es war mir gleich. Einerseits war ich totmüde, anderseits total aufgekratzt, dass ich kaum einschlafen könnte.

Unzufrieden mit meiner Stimmungslage wechselte ich zur Küche. Ein Mitternachtssnack würde meine Gehirnzellen anregen und mir eine Idee geben. Meine Augen durchforschten den Kühlschrank von oben bis unten, aber da war nichts, was meinem holen Zahn Befriedigung verschaffen könnte. Wieder schnaufte ich genervt auf. Diese Nacht war echt mal zum Kotzen. Ein Grummeln entwuchs mir aus unbekannten Gefilden meines Gefühlssystems. Ich hatte schlechte Laune und steckte voller überschäumender Energie. Die musste man doch zu irgendetwas gebrauchen können. Ich entkorkte eine Rotweinflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Diese Sorte hatte ich neu beim Weinhändler entdeckt und schmeckte sogar noch besser, als das Etikett versprach. Zufrieden leckte ich mir über die Lippen, schmeckte das Aroma von Sauerkirschen und träumte dem Bouquet von Sommerwind hinterher. Passend zu der heißen Regendusche von Außen, wärmte dieser Traubenjahrggang auch herrlich von Innen. Ein wohliges Kribbeln zog sich von meiner Bauchgegend durch meinen ganzen Körper und entspannten ihn auf eine ganz eigene Art und Weise. Ich fühlte mich super und abenteuerlustig. Also wohin mit der Energie?

Der Teufel ritt mich, als ich zum Wohnzimmer ging, die Tür sachte aufstieß und in dem Moment beschloss, meine Energie einfach an meinem selbst eingeladenen Gast auszulassen, indem ich den einfach ein bisschen ärgern würde. Immerhin war er der Übeltäter meiner schlaflosen Phasen. Inu war gerade dabei, seine ganzen Papierstapel wieder zu einem tragbaren Haufen zusammen zu schichten, als seine Kapuzenöffnung zu mir aufsah. Obwohl er nichts sagte, glühte ein imaginäres Fragezeichen über seinem Kopf, wie ich da so in der Tür stand und ihn wie ein gefundenes Fressen anstierte. Dabei störte es mich keineswegs, wie ich hier nur mit einem Nachthemd bekleidet und einer Pulle Rotwein in der Hand stand. Zur Erinnerung: Das hier war MEINE Wohnung! Da konnte ich machen, was ich wollte.

„Was machst du da eigentlich?“, fragte ich, um meinen Überfall zu rechtfertigen.

„Nichts, was ich dir erzählen dürfte,“ war die zuvorkommende Antwort, die nichts aussagte.

„Hm, hab' ich mir fast gedacht.“, gab ich mich übertrieben grummelig und setzte mich einfach ganz ungeniert dreist neben ihn, zog dabei die Knie an und balancierte mich am langen Weinflaschenarm aus.

Mehr Peinlichkeit und Plumpheit ging eigentlich nicht. Doch was soll's? Das war immerhin mein Sofa. MEINES! Dabei unternahm ich den halbherzigen Versuch, ihm über die Schulter auf den Laptop zu schauen. Natürlich gelang es nicht wie gedacht, da er in dem Moment zur Seite rutschte, den Laptop zuklappte und er es sich selber einhandelte, dass meine Bewegungslegasthenie mich nur noch näher an ihn heranbrachte. Ich fiel nämlich wie ein Mehlsack zur Seite und landete mit meiner Wange an seinem Oberarm. Mein Haut vereinte mich mit seiner Haut. Was mich bei der Annäherung durchfuhr, war ein elektrisches Prickeln, wie ich es seit langem nicht mehr gespürt hatte. Es war aufregende und erregend zu gleich. Und erst jetzt wurde mir bewusste, wie sehr ich es auch in all den Jahren des Alleinseins vermisst hatte, berührt und liebkost zu werden. Mein peinliche Berührtheit überspielte ich mit einem unbeholfenen Schluck aus der Weinflasche. Der knallroter Kopf sollte ja nicht darauf hinweisen, wie verlegen ich war, sondern dass die Gesichtsfarbe eindeutig vom Alkohol stammte. Sollte er doch von mir und der Weinflasche denken, was er wollte. Ewig hätte ich hier liegen können, jedoch irritierte mich Inus Verhalten. Der war nämlich urplötzlich zu Salzsäule erstarrt und gab keinen Ton von sich. Weder, ob es in Ordnung war, oder ob er mein Anschmiegen absolut daneben fand. Also nuschelte ich mir ein „Tut mir leid.“ heraus und wollte mich aufrichten, vergaß aber die Pulle in meiner Hand. Ein roter Weinschwall platschte heraus. Auf meinen Teppich, mein Sofa und mich und Inu. Es traf seine Handinnenfläche.

Und auf einen Schlag kippte die Stimmung von Schönwetter auf unheimlich düster. Es war nicht so, dass er sich wegen des roten Traubensaftes aufgeregt hätte. Aber die rote Flüssigkeit musste ein Kopfkino der Superlative bei ihm losgetreten haben. Der Wein tropfte wie dunkelrotes Blut aus seiner Hand heraus und er stierte und stierte. Sein Atem ging plötzlich so schwer und keuchend, dass es nicht zu übersehen war. Und wenn ich vorhin gemeint hätte, er wäre zur Salzsäule erstarrt, dann gab es nun noch eine Steigerung hin zu stocksteif. Unerwartet heftig ballte er die blutrote Hand so fest zusammen, dass sich die Fingernägel ins Fleisch bohrten und sich der letzte Tropfen Wein aus dem Inneren herauspresste. Dabei drehte er den Kopf zur Seite, als fühlte er tiefste Schuld und Traurigkeit. Auf keinen Fall wollte er seine Faust erblicken. Er nahm nichts mehr wahr. Alles um ihn herum schien weit weg und außerhalb seines Traumas zu liegen.

Das war gruselig. Schockiert sprang ich auf, entschuldigte mich mehrmals völlig überfordert und schaffte es dann echt noch mit meiner Hektik, dass die Weinflasche entzwei ging und ich eine Schnittwunde hatte, die passend zum Weinblut nun richtig blutete.

„Sherenina, du dusselige Kuh, was machst du denn da?“, schallte ich mich die ganze Zeit selbst tonlos. „Inu hat einen Traumaausbruch und du machst alles nur noch viel schlimmer.“

Ich kannte solche Traumata aus meiner alten Beziehung. Die kamen und gingen, wie sie wollten. Immer unerwartet. Die Ninja-Bande konnte noch so eine unberührte, so emotionslose und hartgesottene Fassade aufbauen und präsentieren, innerlich gab es sie das gar nicht. Da waren viele seelische Wunden, die zwar vernarbten, aber nie verheilten. Es gab eine ganz unscheinbare Sache, die alte Erinnerung zu Kurzschlusshandlungen auslösten und dann war meist Land unter. Aber so schlimm hatte ich es noch nicht miterleben müssen. Ich stratzte zur Küche, um wenigstens einen feuchten Lappen zum Aufwischen zu holen und meine Hand verbinden zu können. Wie Inu aus seiner Bedrollie entkommen würde, machte mir Angst und ich betete, dass er das auch von allein könnte. Ich kannte die Vorgeschichte zu dieser Reaktion nicht, und so wusste ich auch nicht, wie man ihm hätte helfen können. So unglaublich sauer auf mich selbst, diesen Stress produziert zu haben, suchte ich einen Eimer und einen Lappen zusammen. Der Schnitt auf der Haut war nicht tief. Er würde schnell verschorfen und abheilen. Für die Weinflecke würde ich wohl Salz benutzen müssen. Und Inu? Ich hatte keinen Plan.

Als ich wieder zurück ins Wohnzimmer kam, war der Spuk schon wieder vorbei. Inu hatte die Scherben so weit es möglich war auf einer alten Zeitung aufgelesen. Schweigend kniete ich mich dazu und drückte auf den Rotweinflecken auf dem Teppich herum, bevor ich Salz darüber gab. Ob es die Farbe des Teppichs mit heraussaugen würde, war mir eben gerade Zweierlei.

„Mir sollte es leid tun, nicht dir. Zeig her!“, forderte er mich betroffen auf und griff nach meiner Hand. „Das ist jetzt nicht so mein Spezialgebiet.“, folgte der Versuch einer Entschuldigung, die gar nicht gebraucht wurde.

Seine Worte hatten mich verwirrt und so wartete ich stumm ab, was nun passieren würde. Ein paar wenige Fingerzeichen und seine Finger leuchteten grün. So etwas hatte ich noch nie gesehen und fand es total abgefahren, wie dieses grüne Licht Besitz von meiner Wunde nahm, als seine Fingerspitzen darüberfuhren. Es brannte ein wenig, konnte aber nicht als unangenehm bezeichnet werden. Kurz darauf verschloss ein dickes Schorf den Hautschnitt. Ich war so erstaunt, dass ich gar nichts sagen konnte. Doch Medizinprofis mussten diese Technik wohl besser beherrschen, denn ich wurde rasch aufgeklärt:

„Ich habe das nie so richtig trainiert. Und du hast kein Chakra. Sonst wäre der Schnitt nun verschwunden.“

Perplex starrte ich immer noch auf meine Wunde und war trotzdem mehr als beeindruckt, auch wenn Inu meinte, es hätte nicht gut funktioniert. Zu zweit beseitigten wir meinen Weinflaschenunfall und standen nun etwas verloren im dunklen Flur herum, da Inu beim Verlassen der Küche das Licht gelöscht hatte und die Tür zum Wohnzimmer nur einen Spalt breit angelehnt war. Das schlechte Gewissen nagte an mir und war wohl auch in der Dunkelheit nicht zu übersehen.

„Alles wieder gut, Nina-chan?“

„Nichts ist gut. Ich hab dir echt Stress bereitet.“

„Nein, hast du nicht. Eigentlich bin ich drüber hinweg. Und manchmal kommt es einfach wieder...“

Ich ließ ihn nicht ausreden, denn ich konnte nicht anders, als einfach meine Arme um seinen Hals zu schlingen. Diese Nacht war eh alles schon schief gelaufen. Was sollte da noch weiter schief gehen? Aber nun waren meine Antennen empfindsamer. Da war es wieder. Diese Salzsäulenhaltung bei Inu. Es war keine Ablehnung, sondern eine Überforderung. Warum auch immer war er es nicht gewohnt, so in den Arm genommen und getröstet zu werden. Das machte mich nun schon ein wenig traurig, weil ich mit meinem Sohn viele Gefühle teilten, um sie besser aushalten zu können. Zu meiner Familie gehörte Freud und Leid ebenso ganz dicht zusammen, wie man sich da auch zusammen wieder heraushalf. Deutlich konnte ich Inus aufgeregten Herzschlag spüren. Und als er zaghaft seine Arme und meine Hüften legte und seine Hände auf meinem Rücken ruhen ließ, war das etwas ganz unsicheres und vorsichtiges. Kurz darauf schmiegte er seinen Kopf an meinen. Am liebsten hätte ich ihn ewig so festgehalten. Aber ewig ist eine viel zu lange Zeit und einfach nicht machbar.

„Ich will nicht allein in mein Bett zurück“, quengelte ich, weil ich diese Minuten in seinen Armen so kostbar fand und sie nicht aufgeben wollte.

„Brauchst du auch nicht. Es dämmert schon. Hinlegen lohnt sich nicht mehr für dich.“, kam da der altbekannte Sarkasmus wieder bei ihm durch.

Ich musste grinsen, löste meine Umarmung und strich mit einer Hand langsam über seine Schulterblätter. Dann wagte ich das Unmögliche. Ich fuhr mit meinen Fingern aufwärts, krallte sie in seinen Kapuzenstoff und zog langsam an jener, dass sie sein Haupt freigab. Die Dämmerung verwischte alle Konturen zu einem Grauschleicher. Sie hatte noch nicht die Helligkeit, die Farben in die Welt zu zaubern. Bis auf Inus Umrisse war da nichts zu erkennen. So konnte ich nur seine kurzen, strubbeligen Haare mit den Fingern ertasten, und Inu ließ es einfach so geschehen. Dann vergrub ich mein Gesicht an seiner Schulter und genoss still und leise.

Es war das wilde Piepen des Radioweckers aus meinem Schlafzimmer, das uns trennte. Es war schrill und laut und nervig. Die Nacht war endgültig vorbei. Langsam wurde es heller und wir verabschiedeten uns wortlos. Gleich würde Yuuki verschlafen aus seinem Zimmer gekrochen kommen und in der Küche seine Müslischüssel suchen. Vielleicht würde er sich noch wundern, weshalb ich hier in einem Nachthemd auf dem Flur stehen würde. Aber kommentieren würde er das nicht. Aber vielleicht würde es ihn noch interessieren, ob unser Gast unsere spartanische Frühstückstafel mit seiner Anwesenheit bereichern würde. Ich glaubte nicht daran.

Der morgendliche Alltagswahnsinn würde nur in wenigen Augenblicken wieder von uns allen Besitz ergreifen und gnadenlos in den Tagesablauf übergehen. Wie sollte ich nach so einer Nacht den kommenden Tag überleben?

11 – Der Tag, an dem ich eine Schwachstelle fand

Da stand ich nun wie bestellt und nicht abgeholt mitten auf dem Flur und nahm die aufgehende Sonne und deren helle Strahlen wie durch Wattewolken war. Das konnte doch alles nicht wirklich passiert sein, oder etwa doch? Mein Kopf hatte Pudding inne, so durcheinander war ich. Geistesabwesend streichelte meine Hand zärtlich meine eigene Wange, wo eben gerade noch Inus Gesicht sich angeschmiegt hatte. Die Wohnzimmertür war längst sachte ins Schloss gefallen und hatte seine und meine Welt auf eine sehr merkwürdige Art getrennt. Obwohl wir auf engsten Raum in meiner Wohnung waren, so kam mir diese Tür wie eine unüberwindbare Mauer vor, und das Wohnzimmer lag eben gerade in einer völlig anderen Dimension weit außerhalb der meinigen. Das war natürlich nüchtern betrachtet alles absoluter Quatsch, aber so bizarr kam mir die Szenerie samt seiner Geschehnisse vor.

Mit dem Handrücken matschte ich mir in meinem Gesicht herum. Wacher wurde ich davon nicht, weshalb ich wiederholt ins Bad ging. So oft, wie ich in der vergangenen Nacht diesen Raum heimgesucht hatte, so hätte man von einer Zeitschleife reden können, die sich immer wieder aufs Neue wiederholte. Bad rein, Bad raus. Total abgedreht. Dort schon wieder angekommen, gönnte ich mir per Waschlappen eine Ladung kaltes Wasser. Davon bekam man zwar keine Lebensgeister zurück, aber wenigstens eine gesunde Gesichtsfarbe. Danach kämpfte die Haarbürste ihre Schlacht mit meinen Haaren. Hinterher spülte eine Menge Zahnpastaschaum den bitteren Geschmack im Munde weg. Der nachfolgende Ablauf war die übliche Routine. Kaffeemaschine anschmeißen, Frühstückstisch spartanisch decken und sich selbst für den Job angemessen ankleiden und zurecht machen. Im Hintergrund hörte ich, wie sich bei meinem Sohn langsam das Leben regte. Er pflegte immer nach mir das Bad aufzusuchen und sich dann übellaunig an den dürftig gedeckten Tisch zu setzen. Es ging normalerweise schweigend bei uns zu, da wir beide Morgenmuffel waren. Da wurde in aller Stille das Frühstück heruntergeschlungen, Verpflegung für die Schule gemacht, Tee in Thermoskannen gegossen und mit der Tageszeitung geraschelt. Die einzige lärmende Utensil war das kleine Küchenradio, was uns das Reden abnahm und vor sich herplärrte.

„Wo is'n Inu?“ platze da so unerwartet mein Herr Sohn in unser morgendliches Ruheritual, dass ich fast den Kaffee aus meiner Tasse verschüttete.

„Ich habe mitbekommen, dass der noch die halbe Nacht Papierkram bearbeitet hat. Vielleicht nutzt der mal die Gunst der Stunde und schläft sich aus?“, überlegte ich, während ich an meinem Honigtoast kaute.

Mit einer bedrückten Miene schob Yuuki seine leere Reisschüssel von sich weg. Er hatte wohl gehofft, seinen inoffiziellen Sensei beim Frühstück anzutreffen. Ich beruhigte ihn, dass Inu sicherlich noch hier wäre, wenn er am Nachmittag aus der Schule kommen würde. Das hob die Stimmung nicht mäßig viel, aber immerhin genug, dass Yuuki seine Schulsachen und seine Teekanne nahm und sich von dannen trollte. Mir blieb da nur noch die Arbeit, die Küche wieder in den Ausgangszustand zurückzusetzen und nahm dann die Beine in die Hand. Schnell zur Bank, Lohntüten verteilen und dann ab ins Bett. Ich hätte ja gerne das Sofa für einen Mittagsschlaf vorgezogen, wenn sich da nicht ein gewisser Untermieter auf Zeit bei mir einquartiert hätte. Ich brauchte aber dringend ein oder zwei Stunden Schlaf. Danach wäre ich zumindest wieder soweit reguliert, dass ich den Tag überleben würde. Auf dem Flur überlegte ich noch, ob ich Inu doch noch eine Schüssel Reis, Sojasoße und ein Ei auf den Küchentisch bereitstellen sollte, entschied mich dann aber doch dagegen. Sollte er selbst entscheiden, was er frühstücken wollte.

Inu... Wenn ich daran dachte, dass noch vor nicht mal einer Stunde meine Finger durch seine strubbeligen Haaren fuhren und wir uns so nahe standen wie noch nie zuvor, dann glühte ich wie ein Stück heiße Kohle vor mich her und trieb mich innerlich an, meine Dienstwege noch schneller zu erledigen. Ob ich es mir nun eingestehen wollte oder nicht: Inu war schon ein Ansporn, zackig wieder daheim aufzuschlagen.

Die Straßen Konohas erwachten gerade zum Leben. Lieferwagen blockierten die Gassen. Das übliche Hupkonzert setzte ein, da es jeder irgendwie eilig im Vorankommen hatte, aber jeder wie Perlen auf der Schnur hintereinander im Stau stand. Da ging nichts vor und nichts zurück. Als Fußgänger war man hier nach wie vor im Vorteil, umrundete die urbanen Hindernisse wie beim Slalom und quetschte sich zwischen den motorisierten Gegnern hindurch. Obwohl ich schon viele Jahre in Konoha lebte, kannte ich bei weitem noch nicht alle Straßen und Ecken dieses Ortes. Und wenn ich mal aus Neugier einen anderen Weg fern ab der üblichen Gewohnheit ausprobierte, so war ich immer wieder überrascht, wie spannend es doch abseits der üblichen Marschroute war. Auf diese Weise hatte ich einen urigen Teeladen, einen super leckeren Onigiri-Stand oder auch den kleinen Reishändler entdeckt, um nur einige meiner Lieblingsgeschäfte zu nennen. Aber auch die Parks und das Flussufer hatte idyllische und ruhige Seiten. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich hätte schon immer hier gelebt, so sehr hatte ich mich eingewöhnt. Ja, ich mochte dieses Kaff, was eigentlich gar kein Kaff mehr war, auch wenn es KonohaGAKURE hieß.

Nach zwei Straßen und drei Häuserecken weiter stand ich nun endlich vor dem Bankgebäude. Zumindest dachte ich das, trennten mich doch ein unerwartetes Hindernis von meinem Ziel. Mich empfing das Ende einer Menschenschlange, welche bei besagtem Zielobjekt anstand. Nein! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Anstehen und Warten war so rein gar nicht mein Ding. Ich war von Natur aus ungeduldig und sprunghaft. Alle paar Minuten eine neue Meinung meinerseits. So schnell gewechselt wie Unterwäsche. Das war ein absoluter Negativpunkt, wenn ich mich selbst beschreiben müsste, aber so war ich nun einmal. Also holte ich mir noch einen Pott Kaffee auf die Faust an einem Kaffeewagen und reihte mich entnervt ein. Das war so ziemlich das Ungünstigste, was mir hätte passieren können. Zum einen würde es nun mit den Lohntüten und meiner anschließenden Schlafpause noch länger dauern und zum anderen bekam man durch das Dumm-Rumstehen ziemlich viel Langeweile und somit bescheuerte Ideen, wie man sich die Zeit vertreiben könnte. Ich kramte mein Handy hervor und beantwortet gestresst Arbeitsmails und anderweitigen Blödsinn. Das klappte schneller als gedacht, doch die Schlange hatte sich noch keinen Meter bewegt. Ich schnaubte hörbar, erntete dafür aber nur empörtes Stirnrunzeln und verärgerte Blicke von den anwesenden Passanten. Ja, die Ausländerin hatte keine Geduld im Gegensatz zu den Einheimischen, sollten diese Gesten bedeuten. Ich störte mich aber nicht weiter daran und ignorierte die Meinung der Anderen über mich, indem ich gelangweilt die Kontaktliste bei DropIn hoch- und runterscrollte, ob ich einen beruflichen Kontakt vergessen haben könnte. Nachdem ich das arbeitsbedingte Pflichtprogramm abgearbeitet hatte, überlegte ich kurz und tippte Inu dann:

„Guten Morgen, schon wach? Soll ich was zum Mittagessen mitbringen? :-)“

Vielleicht würde Inu antwortet. Allerdings kam das generell nicht so häufig vor. Ein Umstand, der bei mir keine Chance hatte, akzeptiert zu werden. Meine Ungeduld forderte eine sofortige Antwort. Das perlte aber an Inu ab wie Öl auf der Wasseroberfläche. Umso freudig überraschter war ich, als mein Handy kurz darauf piepte:

„JETZT bin ich wach. ;-)“

Und nach ein paar weiteren Minuten des Nachdenkens:

„Mittagessen wäre nett.“

Mein Herz macht einen kleinen Stolperer. Warm durchfloss es mich in dem Moment. Der ANBU hatte es wirklich geschafft, mich um den Finger zu wickeln mit seiner ganz eigenen, besonderen Art. Es sollte nie wieder ein Ninja sein, der mein Herz erobern könnte. Nun hatte ich doch wieder so einem meine Liebe geschenkt. Und dann auch noch ausgerechnet so eine kompliziertes, freches Kaliber. Die Ironie des Schicksals.

Die Menschenschlange hatte nun eine gemäßigte Fahrt aufgenommen, denn der Bankschalter hatte pünktlich um 9 Uhr geöffnet. Es es war mir lange ein Rätsel geblieben, weshalb Kleinstbeträge nicht einfach am Geldautomat gezogen wurden, bis ich dahinter kam, dass einige Firmen ihren Angestellten Wechselscheine und Verrechnungsschecks ausstellten. Eine sehr altmodische Art, die im Erdreich gar nicht mehr betrieben wurde. Allerdings wurde von Jahr zu Jahr die Schlange der Wartenden beachtlich kleiner, was darauf schließen ließ, dass die Schecks auch hier bald der Vergangenheit angehören würden. Eine Viertelstunde später war ich endlich an der Reihe, erhielt meine abgezählten Geldbündel, welche sorgfältig gestapelt in meiner dafür passenden Tasche verschwanden und machte mich dann auf den Rückweg. Die ersten Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn und das allgemeine Schwitzen begann. Ich hasste es, mit soviel Geld im Gepäck durch die Gegend zu laufen. Ein ungutes Gefühl, überfallen zu werden, machte sich jedes Mal in mir breit, wenn ich von der Bank zurück zum Kontor stiefelte. Ein Grinsen legte sich auf mein Gesicht. Vielleicht sollte ich doch noch einmal ernsthaft nachfragen, was ein Ninja so kostete, wenn man ihn für eine Mission buchen würde. Dann könnte der anstelle meiner das Geld abholen und sich gegebenfalls einen über den Kopf ziehen lassen, obgleich man wirklich zugeben musste, dass Konoha sehr sichere Straßen hatte. Sowohl tags, wie nachts.

Leidvoll verwarf ich den Gedanken wieder. Die Hauptzentrale würde es mir wohl niemals gestatten, geschweige denn finanzieren, einen Shinobi aus Konoha anheuern zu dürfen. Wenn überhaupt, würden die jemanden zum Schutze des Kontors wohl aus dem Erdreich senden. Ich hingegen würde allerdings nur Inu akzeptieren und der war, wie ich es schon längst beobachtet hatte, tatsächlich so, wie er einst mal im Witze behauptete: unbezahlbar. Da könnte ich mein komplettes Kontor samt Ware einsetzen, es würde kaum reichen, solch eine Mission bezahlen zu können. Also musste die bittere Pille geschluckt werden, weiterhin immer zur Monatsmitte mit viel Geld in der Tasche, aber ohne Begleitschutz, durch die Straßen zu ziehen.

Vollkommen in meinen Gedanken versunken, kam ich durch die Gasse, die ich salopp „Frischeabteilung“ nannte. Hier wurden frische Lebensmittel feilgeboten. Ich entschied mich für Gemüse und Fisch. Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen. Möglicherweise hätte ich auch bei Inu eine Chance. Mensch, nun machte ich mir schon einen Kopf darum, was ich dem kochen sollte! Da konnte ich nur über mich selbst die Augen rollen.

Daheim angekommen, verstaute ich die Lebensmittel erst einmal im Kühlschrank und flitzte dann wieder hinunter ins Büro, verteilte in Rekordzeit die Geldscheine in die Lohntüten und brachte sie unters arbeitende Volk. Und schon war ich dem Büro wieder entschwunden. Beim Treppensteigen spürte ich die nachlassende Wirkung des Koffeins. Die letzten Stufen hangelte ich mich nur noch nach oben und kämpfte gegen die Müdigkeit an. Kaum hatte ich meine Korridortür hinter mir geschlossen, sackte meine ganze Haltung zusammen. Wie ein geprügelter Mehlsack schlich ich über den Flur, gähnte ungeniert laut und platzte in mein Wohnzimmer. Mein Blick fuhr herum über ein leeres Sofa, einen aufgeräumten Couchtisch, wo sauber gestapelte Dokumente und ein zugeklappter Laptop lagen, über ein ordentlich zusammengerolltes Futon und endete bei einem Inu, der lesend in der breiten Fensterbank saß und nun seinen kapuzenbedeckten Kopf zu mir drehte. Schade, ohne Kapuze letzte Nacht war es viel spannender gewesen. Die kurzen strubbeligen Haare. Das schmale Gesicht, was meine Hände erfühlt hatten. Allein der Gedanke daran verursachte wieder einmal mehr diese wohligen Hitzeschauer.

Ich verabschiedete mich noch in der Tür, dass ich eine Mütze voll Schlaf bräuchte und dass ich später etwas kochen würde. Noch eine Minute länger und ich hätte ihn in meinem Wahn von Schlafmangel angesprungen und abgeschlabbert. Zum Abschluss wäre ich in seinen Armen eingeschlafen. Armer Inu, man gut, dass der hoffentlich keine Gedanken lesen konnte. Und so wartete ich noch nicht einmal eine Antwort oder wenigsten eine Reaktion seinerseits ab, dass ich mich sofort unter meiner Bettdecke vergrub und bösen obszönen Fantasien nach hing. Es war schon echt übel. Definitiv war ich einfach viel zu viele Jahre allein gewesen.
 

Verdammt, ich hatte verschlafen! Als ich erwachte und den Kopf hob, nur um damit meine Bettdecke ebenfalls um ein paar Zentimeter zu lüften, zeigte mein Wecker eindeutig eine späte Nachmittagszeit an. Genervt fiel mein Kopf zurück in die Matratze und die Bettdecke trennte mich wieder vom Tageslicht. Und es war noch nicht einmal das Erreichen eines durchschnittlichen Schlafpensums, was mich wieder in die Wachwelt befördert hatte, sondern dass die Haustür krachend ins Schloss fiel und Yuuki fragend nach mir rief. Also rappelte ich mich doch hoch, um ihn nicht weiter zu beunruhigen. Ich hätte nur ein wenig Kopfschmerzen gehabt und alles wäre wieder gut. Kindern reichten oft solch plausiblen Kurzerklärungen. Mein Magen meldet sich nun auch noch knurrend zu Worte. Menno, ich hatte doch was Fixes Kochen wollen. Das hatte ich nun zeitlich verpasst. Es würde kein Mittagessen, sondern schon ein halbes Abendessen werden. Übellaunig zog es mich in die Küche und erstarrte dann voller Verwunderung. Da stand auf der Arbeitsplatte der Küchenzeile ein Teller mit einem gebratenen Fisch und lecker aussehendem Pfannengemüse. Ich musste so perplex auf den Teller gestiert haben, dass ich plötzlich eine sachte Hand im Rücken spürte, die mich in die Küche und somit auf den Boden der Tatsachen schob.

„Mir hing der Magen durch...“, wurde sich da kleinlaut für die gutaussehende Kochkunst entschuldigt.

Ungläubig auf dieses kleine Festmahl schauend kramte ich aus der Schublade eine Gabel hervor. Zwar konnte ich auch mit Essstäbchen sehr gut umgehen, doch es war einfach die Macht der Gewohnheit, von Kindheitstagen an Messer und Gabel zu benutzen. Natürlich war die Speise schon erkaltet, doch was sollte ich sagen? Es war nicht einfach nur lecker, sondern es war köstlich. Einfach nur perfekt. Verlegen schielte ich aus den Augenwinkeln hinüber, wie Inu sich damit beschäftigte, die Kaffeemaschine mit Pulver und Wasser zu befüllen. Nicht nur das Essen war perfekt, der ganze Kerl war perfekt. In mein Gesicht schoss die pure Röte und ein kleiner Kloß bildete sich in meinem Hals. Es wurde mir wieder ein Stückchen mehr bewusste, wie weit unsere Welten auseinander lagen. Er war das krasse Gegenteil von mir. Inu merkte alles, wusste alles und konnte alles. Ich fühlte mich daneben einfach nur groß, fett, hässlich und dumm. Sicherlich übertrieb ich maßlos, hatte ich doch hohe Bildungsabschlüsse in Rekordzeit erlangt. Immer mit Bestnoten. Meine berufliche Karriere war auch steil nach oben gelaufen und hielt sich dort wacker. Mir ging es gut. Man war gesund und finanziell sorgenfrei. Mein Kind entwickelte sich prächtig und hatte bis dato nie größere Probleme bereitet. Ich war stolz auf Yuuki. Nach wie vor befand ich, dass mein Sohn und ich den Alltag mit all seinen Hürden gut meisterten. Was regte ich mich also auf? Leider gab ich mich viel zu häufig grundlos den Selbstzweifeln hin. Trotz der vielen positiven Eigenschaften, die ich besaß, kam ich mir in den letzten Wochen hilflos und unnütze vor. Es waren die Kleinigkeiten, die den Unterschied ausmachten. Und eine Handvoll Chakra. Mal davon ab, dass zwischen Inu und mir womöglich gar nicht so viel lief, wie ich es mir kürzlich in meinen blühenden Fantasien ausmalte, drängte sich doch mehr und mehr die Frage in den Vordergrund, ob eine Art von Beziehung bei solch Gegensätzen nicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Es war schon bei meinem Ex eine holprige Angelegenheit gewesen, doch kam es mir vor, als wäre Inu auf einer ganz anderen Ebene. Ich konnte es gar nicht in Worte fassen oder überhaupt als Gedanken klar umreißen. Es war einfach nur so ein blödes Gefühl. Mich machten diese Gedanken sehr traurig, dass mir das leckere Essen gar nicht so schmecken wollte, wie es das Gericht verdient hätte. Mein Traurigkeit war nicht unentdeckt geblieben. Inu hatte sich zu mir gedreht, lehnte rücklings an der Zeilenkante und hatte wie so üblich die Hände in den Hosentaschen verborgen.

„Was ist los? Nicht dein Geschmack? Das tut mir leid.“, fragte er nach.

„Nein, nein, alles super. Es ist total lecker.“, murmelte ich beschwichtigend.

„Aber?“, klang es nun schon ernster mit Nachdruck.

Stumm blickte ich auf den Teller, weil ich ihn nicht ansehen konnte. Da war es wieder: Inu sieht alles, weiß alles, kann alles. Ich wusste nicht, wie ich es ihm erklären könnte, dass es mich irgendwie bedrückte und erdrückte. Schon gar nicht sollte er sehen, wie traurig, hilflos und unschlüssig ich war.

„Na schön, wir reden nachher drüber.“, war nun seine Ansage, bei welcher jeglicher Protest von vornherein ausgeschlossen war.

Es war nur ein Satz, aber er fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Nachher würden wir reden. Nein, wohl eher, er würde mit mir reden. Vielleicht ausquetschen wie eine reife Tomate. Das wollte ich umgehen und rätselte nach einer guten Ausrede. Ich wollte das Thema gar nicht bereden. Es war sicherlich am besten, man vergaß das alles sowieso. Morgen würde er wieder über alle Berge sein. Dann herrschte eh wieder Funkstille, zumal er angedeutet hatte, dass Yuukis Basistraining eh abgeschlossen wäre. Es dürfte kaum einen Grund geben, hier noch zu verweilen.
 

Der restliche Nachmittag verlief unspektakulär. Ich umschiffte die Klippe „Inu“ ganz geschickt, da ich mich einfach nach unten in das Büro verkrümmelte. Yuuki hatte sich mit Schulfreunden nicht weit von unserem Haus verabredet. Da konnte ich ihn schon sehr gut alleine hinschicken und abends wieder nach Hause kommen lassen. Die Gastfamilie war sehr nett und würde mein Kind wohl noch nicht einmal ohne eine abendliche Mahlzeit entlassen.

Die Büroabrechnungen gingen mir leichter von der Hand als gedacht. Schnell hatte ich die Ablagen geleerte, Rechnungen abgeheftet und endlich wieder Übersicht und Ordnung auf meinem Schreibtisch einziehen lassen. So war es schon immer gewesen. So sollte es auch bleiben. Es wurde dringend Zeit, dass die alte Routine wieder die Oberhand gewann.

Die große Eingangstür klappte und eine Jungenstimme rief „Bin wieder da, Mama!“. In gleicher Lautstärke ertönte mein „Ja! Bin auch gleich fertig!“ zurück. Danach polterte es im Treppenhaus aufwärts. Ich schob den letzten Ordner beiseite und schloss im Erdgeschoss alle Türen ab. Hier war nun für heute Feierabend. Ein Kontrollgang durch die nächsten drei oberen Etagen lenkte mich ab von dem, was ich oben in meiner Wohnung fürchtete und befürchtete. Fern des grauen Alltags war ich abgetaucht in die Welt der Formen und Farben. Ein Stoff schöner als der andere. Ja, hier war meine Welt noch ganz und unversehrt. Zufrieden erreichte ich die Wohnungstür. Dahinter herrschte das normale Treiben am Abend. Yuuki hatte schon wie vermutet bei seinem Schulfreund zu Abend gegessen und hing längst in seinem Zimmer vor der Spielkonsole. Ich ermahnte ihn, endlich die Zähne zu putzen und sich bettfertig zu machen. Immerhin müsste er am nächsten Morgen wieder früh raus zur Schule. Spätestens um acht Uhr abends hätte bei Grundschülern das Licht ausgeschaltet zu sein. Da war ich im Gegensatz zu vielen anderen Eltern knallhart und diskussionslos. Nachdem Yuuki in den Federn lag, wirbelte ich einmal durch die Bude und machte soviel Haushalt, dass es auf den ersten Blick mehr als gut wirkte. Man durfte nur nicht unbedingt nach rechts und links schauen.

Mit einem Glas Wein zog ich nach getaner Arbeit ins Wohnzimmer. Zu allem bereit, mein Sofa wieder zurückzuerobern, denn es war Mittwochabend und auf einem der Spartenkanäle lief meine Lieblingsdoku über ferne Länder. Die wollte ich um keinen Preis verpassen, und für tiefgründige Gespräche hatte ich beim fernsehen auch keine Zeit. Es bedurfte gar keinen so großen Kampfe um das Sofa. Inu saß auf der einen Sofahälfte und las völlig vertieft auf seinem Handy und ich saß auf der anderen Hälfte und guckte fern. Da waren kaum Worte gefallen. Ich hatte das Fenster zum Lüften gekippt, denn die Nacht war mild. Eine kleine Insektenduftkerze auf dem Tisch, die Dämmerung, die Flimmerkiste und Inus Tablet waren die einzigen Lichtquellen. Es störte uns nicht. Diesmal hatte es mir die Sendung besonders angetan, denn es war eine Doppelfolge. Erst ging es um die Grenzgebiete des Graslandes, dann würde eine Reportage über meine Heimatregion folgen. Der erste Teil war wirklich gut recherchiert, bis eine ganz entscheidende Stelle kam. Es ging um eine Brücke, die vor gut zwanzig Jahren instand gesetzt und vor kurzem sogar saniert worden war, um den heutigen Verkehr besser aufnehmen zu können. Ich kannte die Brücke, weil ich selbst darüber reiste, wenn ich in die Heimat wollte, aber dass sie einst mal gesprengt worden war, wusste ich nicht. Eine Moderatorenstimme aus dem Off säuselte dazu:

„... die außergewöhnliche Architektur der Kannabibrücke fiel vor rund dreißig Jahren einer Sprengung zum Opfer. Eine neue Brücke wurde direkt daneben errichtet, um die Handelsstraße ...“

„27 Jahre.“, murmelte Inu sehr leise . „ Es sind 27 Jahre...“

Tatsächlich musste die Brückengeschichte höchst interessant sein. Inu sah von seinem heißgeliebten E-Book auf und starrte gebannt die Mattscheibe an. Sein Kopfkino konnte man förmlich miterleben.

„Hast du was gesagt?,“ fragte ich dennoch nach, weil ich nicht so recht wusste, ob ich es so richtig verstanden hatte.

„Es ist nichts.“, gab er zu verstehen, doch selbst mir als Unwissende war sofort klar, dass das eine glatte Lüge war.

Er war vollkommen weggetreten. Regungslos. Bei Leibe lief da ein ziemlich heftiges Kopfkino ab. Ninjas haben immer irgendwelche Kopfkinos von ihren Missionen. Ich war mir unsicher, ob ich die Sendung einfach laufen lassen oder die Glotze lieber ausschalten sollte. Man nahm mir die Entscheidung ab. Das Szenenbild wechselte von der Brücke weg und zeigte den Bergpass, wo sich das Zollhäuschen zwischen Erdreich und Grasreich befand. Nur wenige Kilometer weiter lag meine Heimatstadt. Aber das würde erst Inhalt des zweiten Teils der TV-Doku werden. Was sollte ich tun? Ich gab meiner Kodderschnauze den Vortritt.

„Gestern bei dem Weinfleck hast du auch gesagt, es wäre nichts. Aber du hast keinen Wein, sondern in der Sekunde Blut auf deiner Hand gesehen. Stimmt's oder hab ich recht? Und das eben hat dich doch auch an etwas erinnert. Warum weißt du, dass die Brücke vor exakt 27 Jahren gesprengt wurde?“

Stille. Es war einfach nur Stille. Ich hasste Stille. Mensch Inu, sag was! Ungeduld, gib Ruhe! Tatsächlich kam auch was:

„Weil ich die Brücke selbst gesprengt habe!“

Eigentlich wollte ich einen Schluck Wein zur Beruhigung trinken. Nun flog der Inhalt wieder aus der Backe heraus in das Glas zurück und ich musste kräftig husten. ER hatte die Brücke gesprengt? Himmel, wie alt war der eigentlich? Ich machte Augen so groß wie Kuchenteller und so platzte es dann aus mir bohrend heraus:

„Wie alt bist du denn überhaupt?“

So alt hätte ich ihn gar nicht geschätzt. Zur Brückensprengung müsste er auf jeden Fall Kind gewesen sein. Ich schnaufte kurz auf bei der Schlussfolgerung, war es mir doch zuwider, wenn man Kindersoldaten in den Krieg schickte.

Er atmete einmal tief durch, starrte nun durch seine Kapuzenöffnung nicht mehr auf das Fernsehbild, sondern wohl recht verlegen an die Zimmerdecke und wägte kurz ab, ob er etwas über sich erzählen sollte. Man sah zwar nicht seine Mimik, aber die Körpersprache war lesbar wie ein aufgeschlagenes Buch. Er machte sich nicht die Mühe etwas zu verbergen.

„Auf den heutigen Tagen genau 40 Jahre.“, gab er dann doch etwas genervt und ertappt zu.

In meinem Schädel arbeitete es. Auf den heutigen Tag genau... Ich klatschte mir mit der flachen Hand vor die Stirn, als über meinem Kopf nicht nur ein Lichtlein, sondern ein ganzer Kronleuchter aufging. Natürlich! Inu hatte heute Geburtstag! Ich lachte schallend, dass ich fast vom Sofa fiel.

„Sag jetzt nicht, du bist Geburtstagsmuffel und versteckst dich hier vor denen, die lieber mit dir feiern würden?“

„Ja, du hast mich ertappt.“, stöhnte er auf und kratzte sich verlegen den Kapuzenstoff am Hinterkopf.

Aber bei denen kommt nur Blödsinn raus. Mit solchen Freunden braucht man keine Feinde.“, fügte er noch erklärend hinzu, um mir glaubhaft zu vermitteln, dass seine Unterkunft bei mir ein absolut notwendiges und sicheres Versteck wäre.

Für diesen Abend schien das Eis zwischen uns gebrochen zu sein. Vom Wein beflügelt wollte ich mich bei ihm am Oberarm anlehnen. Ungefragt zog er mich zu sich. Nun ruhte mein Kopf in seinem Schoss. Meine Hände strichen behutsam über sein Knie und Oberschenkel, während seine Hand meine Rücken kraulten. Das hätte er ewig so machen können. Sachte schloss ich genießerisch meine Augen und bekam so gar nicht mehr viel von meiner Sendung im TV mit. Als der Abspann lief, schaltete ich die Kiste aus. Draußen war es schon längst dunkel geworden. Nur noch Inus Handy und die Duftkerze leuchteten vor sich her, wobei die Kerze schon arge Mühe hatte, den letzten Rest an Wachs aufzusaugen und zu verbrennen. Auch sie sollte bald erloschen sein.

„Was liest du da eigentlich die ganze Zeit?“ hakte ich schon wieder nach und wollte dreist das Handy vom Tisch angeln.

„Vergiss es!“, klapste es da drohend auf meine Finger. „Warum warst du vorhin so traurig?“

„Vergiss es!“, äffte ich nach und befand, dass wir nun Remis hatten.

Ich lauschte in die Dunkelheit und Inu hinein. Seine Finger hatten längst ihr Erkundungsareal vergrößert, waren meinen Rücken hinunter über meinen Po bis zu den Oberschenkeln und wieder zurückgewandert. Sie streichelten meinen Hals und meine Wange und verirrten sich in meinen Haaren. Obwohl seine Handbewegung so ruhig und gleichmäßig über meinen Körper fuhr, verbarg sein Innerstes nicht seine Anspannung. Lautlos kicherte ich in mich hinein, als ich seinen Herzschlag wahrnahm, wie der wild bis zu seinem Halse schlug. Mein ach so toller und perfekter ANBU hatte also doch eine Schwachstelle. Er war ganz schüchtern.

12 - Der Tag, an dem es versaut wurde

Als ich zur weit vorgerückten Nachtstunde erwachte, lag ich eng umschlungen auf einem Futon in meinem Wohnzimmer. Es war wohl die fehlende kuschelige Bettdecke, die mich hatte frösteln lassen. Diese lag nämlich ziemlich verrutscht irgendwo zu unseren Füßen. Ich lächelte in Inus Shirt hinein, war es nämlich gar nicht so genau zu sagen, ob mich seine zwei Arme schützend festhielten oder eher am Weglaufen hindern sollten. Wie war ich eigentlich hierher geraten? So genau konnte ich das gar nicht mehr rekonstruieren. Inu musste mich wohl in der Haltung, wie ich auf seinem Schoß gesessen hatte und eingeschlafen war, im Schlafe die wenigen Meter vom Sofa bis zu seinem Nachtlager getragen haben. Mich, die Wuchtbrumme. Aber Glaube … ähm … Chakra versetzte ja bekanntlich auch Berge und machte selig. Was fand der eigentlich an mir, dem hässlichen Ding mit der Kodderschnauze? Ach Sherenina, du bist nie zufrieden! Die ganze Zeit wünscht du dir seine Nähe, und nun hast du sie und stürzt dann in dumme Selbstzweifel. Ein hoffnungsloser Fall. Oder ich war seit Kindesbeinen an in einem Genjutsu gefangen, sah mich selbst im Spiegel als Paradebeispiel für akute Hässlichkeit, war aber in den Augen anderer wunderschön. Ja, so musste es sein. Naja, wer's glaubte … Aber man dürfte ja wohl noch träumen. So, wie diesen schönen Traum hier eben.

Die Dunkelheit verbarg meine Verlegenheit bei so vielen Gedanken. Langsam schob ich meinen Kopf nur einen Hauch von ihm entfernt noch ein Stück höher, so dass meine Nasenspitze sachte durch den Stoff seines Shirts bis hin zu seiner Halsbeuge fuhr. Dort legte ich meinen Kopf wieder ab und konnte einfach nicht anders, als mit meinem Lippen seinen Hals zu liebkosen, auch wenn der Stoff ein wenig störte. Ganz automatisch begannen mein Hände, ihn dort zu streicheln, wo sie gerade noch geruht hatten. Auf seinem Brustkorb und in seinen Haaren. Wenn er mich schon so sorglos in sein Bett einlud, dann musste er es jetzt halt ertragen, dass an ihm herum gefummelt wurde. Selber Schuld, grinste ich diabolisch in die Nacht.

„Bist du schon wieder anhänglich?“, fragte er leise und verschlafen.

War ja klar, dass Inu davon aufwachte. Manchmal glaubte ich, Ninjas schliefen nie, sondern waren nur in so einen Standby-Modus geschaltet. Einmal Antippen und die waren wieder voll bei der Sache.

Lippen trafen zärtlich meine Stirn, was mich perplex machte. Ich wurde geküsst. Von ihm. Ganz still und leise, schüchtern und fragend zugleich. Meine Finger gingen auf Erkundungstour. Vorwärts durch strubbelige Haare, die ich schon kannte.

„Welche Farbe haben die?“, bohrte ich vermutlich mal wieder erfolglos.

„Jedes Jahr ein bisschen heller.“

Boah,ey! Manchmal wünschte ich, Inu wäre nicht so überdurchschnittlich clever, dass ihm jedes Mal immer eine passende, nichtssagende Antwort einfallen würde. Ich wollte mich diesmal jedoch nicht ärgernd lassen und überhörte es einfach. Ihn so an meiner Seite zu haben, war Entschädigung genug für solche frechen Antworten. Weiter ging es über Hautpartien, die ich noch nie berührt hatte. Am Rande der Stirn über die Schläfe hinab. Sein Gesicht war vollkommen bloß.

„Und welche Farbe haben deine Augen?“, fuhr ich unbeirrt fort.

„Dunkelgrau.“

YES! Meine erste Antwort überhaupt! Ein sarkastischer Mensch würde das doch glatt mal als Abfeiergrund deklarieren. Da konnte man auch stumpf den inneren Einwand ignorieren, ob die Aussage nun wahr oder falsch wäre. Obgleich ich jeden Millimeter von ihm ertastete, wollte sich kein klares Bild von ihm in meinem Kopf zusammensetzen. Meine Hand strich sanft über seine rechte Gesichtshälfte, entlang an einer schmalen Nase. Bei der Augenbraue stutzten meine Fingerspitzen und fühlten bei einer feinen Vertiefung, die dort nicht so recht hinpasste, etwas genauer. Es musste eine Narbe sein. Quer über das Auge hinweg bis zur Wange. Am Kinn schloss sich ein Leberfleck an.

„Und was ist da passiert?“, fragte ich neugierig, denn so eine Narbe mitten im Gesicht ohne das Augenlicht zu verlieren war schon etwas besonderes.

„Eine viel zu lange Geschichte. Der Anfang vom Ende.“

Das war nun fast schon unheimlich, obwohl das sicher sein üblicher Sarkasmus war, und machte mir Unbehagen, ob ich tatsächlich alles aus seinem Leben wissen wollte. So eine Geschichte wäre trotz alledem bestimmt spannend, doch beschloss ich, ganz anderen Geschichten auf den Grund zu gehen. Es war gerade eben nicht meine Stimmung, Geschichten anzuhören, sondern ich wollte lieber eine erleben. Meine Finger, die auf seinen feinen Lippen ruhten, tauschten mit meinen Lippen ihren Platz. So unerwartet unsere Zungen miteinander spielten, so intensiver zog es uns in einen Bann, dass ich erst gar nicht merkte, wie sich seine Hand in meiner Lockenmähne verfing und mich nahe bei ihm festhielt. Wir unterbrachen unser wildes Spiel, nahmen unseren warmen Atem auf unserer Haut wahr und setzten fort, was wir begonnen hatten. Ich hatte Feuer gefangen und wurde frecher. Meine Küsse machten eine Wanderung hinab und legten eine Rast auf seiner Brust ein. Mich an ihn schmiegend hört ich sein Herz schlagen. Aufgeregt und schnell. Und als er langsam über meinen Rücken strich, meinte ich, seine Hände würde fast unmerklich vor Schüchternheit zittern. Mein diabolisches Grinsen wuchs. Ich fühlte mich überlegen, obgleich das sicherlich nur Einbildung war. Mal sehen, wohin die Reise noch ging, denn die setzte ich nämlich weiter fort. Und er ließ mich einfach ziehen. Über seinen Bauch hinweg bis zum Hosenbund.

„Hast du etwa einen Stehen?“, prustete ich leise los.

„Hmm...“, brummte es bejahend und war das Synonym für „Ja,-und-das-ist-alles-deine-Schuld!“.

„Soll ich dir helfen, dass es wieder aufhört?“, fragte ich mädchenhaft unschuldig, konnte mich aber kaum im Zaum halten.

Ich war aber auch böse und hatte echt Mühe, mir ein Kichern zu verkneifen, denn Inus Streicheleinheiten in meinem Nacken und Haaren stoppten abrupt in der Bewegung ab, als Zeichen dessen, dass er wohl gerade knallrot wie eine Tomate anlief und ernsthaft über das Angebot nachdachte. Die Denkphase fiel kurz und die Antwort stumm aus. Stattdessen folgten Taten und er befreite seinen Unterleib vom einzwängenden Hosenstoff. Seine Hände suchten ihren Weg vorbei an meinem Kopf, öffneten einen Reißverschluss und schoben den Bund seiner Unterhose beiseite. Es steckte in Jedem halt eine kleiner Perversling. Sein kleiner Freund hatte wohl zu dieser späten Nachtstunden nicht mehr mit liebevollen Zuwendungen gerechnet. Der sprang nämlich etwa zaghaft ins Freie, konnte aber schnell durch ein massierendes Zungenspiel überzeugt werden, zu wachsen und eine feste Größe anzunehmen.

Von Inu selbst hört und merkte man wenig. Auch nicht als ich Hand an seinem besten Stück anlegte. Dabei konnten die äußerliche Ruhe nicht über die flache, ungleichmäßige Atmung und die erregte Anspannung hinwegtäuschen und auch nicht verbergen, wie sein Verstand gerade blank zog. Fast unmerklich kraulten seine Finger meinen Nacken, wanderten über meinen Rücken und vergruben sich wieder einmal mehr in meinen Haaren. Plötzlich riss er meinen Kopf mit sanfter Gewalt hinauf und küsste mich wild. Unsere Berührungen um seinen Liebesknochen vereinten sich und bildeten einen gemeinsamen Takt. Ein Zucken ging durch seinen Unterleib. Ein kurzes Aufkeuchen. Ein Schwall von Pudding füllte unsere Hände und tropfte auf seinen Bauch. Er atmete noch einmal tief durch, küsste mich und vergrub sein Gesicht unter seinem freien Arm. Der andere hielt mich eng bei ihm.

„Du machst Sachen mit mir …“, murmelte es darunter hervor.

Bei Inu war definitiv der Kreislauf im Keller. Der sortierte gerade sich, seinen Körper und seinen Verstand neu. Obgleich ich selbst wenig Befriedigung von dieser einseitigen Nummer erhalten hatte, erfüllt es mich auf eine ganz interessante Art und Weise mit Freude, wie er da so lag. Wie Wachs in meinen Händen zerschmolzen und hörig. Völlig willenlos und handlungsunfähig, kuschelte er sich ruhebedürftig eng an mich und war einfach nur selig. Es hatte schon was für sich, wenn Jungs nach dem Abspritzen so neben einem lagen. Ganz zufrieden mit sich und der Welt, hatten sie zumeist auch mal zur Abwechselung keinen Blödsinn im Kopf.

„Is' schon Schluss?“, musste ich ihn einfach necken.

Der Schalk saß mir im Nacken und flüsterte mir ganz üble, versaute Sachen ins Ohr, die ich mit meinem wehrlosen Lieblingsshinobi noch treiben könnte.

„Ich sagte, ich bin vierzig, nicht zwanzig, geworden,“ brummelte es genervt als Erklärung.

Es kam recht unerwartet, wie schnell seine Lebensgeister zurückkehrten und er sich dann doch zum Sitzen aufrichtete, kurz nachdenklich verharrte und zu mir heruntersah. Zwar ins Dunkle, aber doch irgendwie genau in mein Gesicht.

„Bin gleich wieder da.“, ließ er mich wissen und wandte sich von mir und unserer Spielwiese ab.

Seine Schritten tapsten durch die Wohnung und stoppten im Bad. Klar wollte der die Soße wieder von seiner Männlichkeit und seinem Bauch loswerden. Sein Shirt müsste auch begossen worden sein. Mir genügte für den Anfang ein Taschentuch, welches ich aus einer Packung vom Couchtisch fischte. Ich mochte es generell nicht, die Soße zu schlucken oder abzulecken und fand es wirklich ehrlich von ihm, sich nicht dreist in meinem Mund zu entladen.

Ein Wasserhahn wurde zugedreht. Schritte kamen zurück und schon tauchte Inus Umriss in der Tür auf. Er steuerte auf das Sofa zu, wo das Shirt zum Trocknen über die Lehne flog und die Hose sich zu seinem restlichen Hab und Gut gesellt. Dann wurde ich als Ziel auserkoren. Sich zu mir niederlassend schwang er ein Bein über mich, so dass er über mir kniete und meine Hände zu fassen bekam, welche er über meinen Kopf zog und dort festhielt. So lag ich da nun unter ihm. Fest fixiert und keine Chance auf Flucht.

„Und was mache ich nun mit so einem bösen Mädchen wie dir?“, raunte er tief, dass mir Hören und Sehen verging.

Nun war ich in der Situation, dass es überall in mir kribbelte, dass mein Herz bis zum Hals schlug, und dass meine Atmung schneller wurde. Inu ohne Klamotten, mal abgesehen von der Unterhose. Das musste hier ein Traum sein. Dazu noch seine Stimme, die ich mehr als mochte. Er hätte mir auch das Telefonbuch mit dieser Stimme vorlesen können, ich wäre feucht geworden.

Nach einem Kuss, der mir die Luft nahm, gab er mich wieder frei, schob seine Hände unter meine Bluse und beschäftigten sich einfühlsam mit meiner üppigen Oberweite. Währenddessen lasen meine Finger auf seinem Oberkörper eine ungelesene Geschichte. Durchtrainiert, athletisch bemuskelt, kein Gramm Fett zu viel. Mir gefiel das sehr. Ich stand mehr auf schlank hochgeschossenen Männer und weniger auf solche mit breitem Kreuz und deutlichen Muskelpaketen. Mit jedem Stückchen Haut, was ich ertastete, wurde mir bewusster, welch Perfektion sich unter der Ninjakleidung verborgen hatte. Womit hatte ich das eigentlich verdient? Und da kam es dann wieder, dieses ungute Gefühl in meiner Magengegend, welches alles zerstören könnte und den Selbstzweifeln sehr viel Raum zugestand. Ich, die dicke Nudel, und Inu, das verkannte Topmodel. Ich kam mir so schäbig und billig vor.

„Was ist?“ wurde ich dann zu allem Überfluss auch noch gefragt, denn meine Lockerheit war einer Schockstarre gewichen.

Schützend schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper, um seinen musternden Blicken nicht standhalten zu müssen. Das war natürlich absoluter Quatsch, hatte die Nacht doch nach wie vor ihr Tuch über uns gespannt.

„Ich bin dick und hässlich.“, maulte ich und drehte meinen Gesicht zur Seite, weil ich das Gefühl hatte, er würde mich trotz Dunkelheit mit seinen Augen weiter ausziehen.

„Bitte was?“, war die erstaunte Antwort.

Nun war es Inu, der auflachte und mir zu verstehen gab, dass er solch einen Blödsinn nicht noch einmal von mir hören möchte. Ich würde maßlos übertreiben.

„... und du hast ein hübsches Gesicht mit wunderschönen dunklen Augen.“, beendete er seine liebevolle Belehrung.

So viele Komplimente am Stück hatte ich noch nie von jemanden gehört. Das musste der Moment gewesen sein, wo der Knoten endgültig geplatzt war. Inus Schüchternheit war vollends verflogen. Auf einmal waren seine Hände überall und nirgends, genau wie seine Lippen. Ich ließ mich einfach fallen und gab mich ihm ganz völlig ausgeliefert hin. Eine Strudel voller Emotionen und Leidenschaft ergriff mich und trieb mich einfach mit sich. Am Liebsten hätte ich Inu ins Ohr geschrien, dass er mich nehmen könnte, so wie ich war. Jetzt sofort. Hart und schnell. Er hätte wohl so alles mit mir anstellen können. Und als sein Haupt auch noch zwischen meinen Schenkeln verschwand und meiner Perle wahre Wellen absoluter Explosion entlockte, konnte ich nicht glücklicher sein. Dabei hatten wir nicht einmal miteinander geschlafen.
 

Der nächste Morgen danach war heftig. Das hing nicht damit zusammen, dass wir uns in unserer körperlichen Zweisamkeit die Nacht um die Ohren geschlagen und ausgelaugt hätten, sondern an einer viel schlimmeren Tatsache. Der neue Morgen graute erst ganz wenig, doch es war schon die Stunde geschlagen, zu der ich allein zurückgelassen wäre. Das wusste ich und so hatte es Inu auch zu mir gesagt. Wenn ich erwachen würde, hatte er mich vorgewarnt, dann wäre er sicherlich schon längst auf den Beinen. Ich solle nicht traurig sein, hatte er mich zu trösten versucht, wie ich mich da an seinen Arm klammerte und mich gemeinsam mit ihm unter der Bettdecke vergrub. Nein, ich wollte nicht, dass er wegging. Das kannte ich schon von früher und ich hatte es immer so sehr gehasst. Da zogen die Ninjas einfach zu den bescheuersten Uhrzeiten zu ihren Missionen und hinterließen Frust und Angst in den Familien. Man wachte ganz allein in einem Bett auf, dabei war man doch noch vor wenigen Minuten noch zu zweit. Das war ein Mangel an diesem Beruf, denn ich niemals akzeptieren könnte.

Ich bewegte mich nicht, sollte mein Arm gar nichts erst ins Leere greifen und mir klipp und klar beweisen, dass er weg war. Trotzdem tat der Arm es unerlaubt, dass er sich ausstreckte und den Platz neben mir befühlt. Blöder Arm! Der Platz war wie erwartet leer, aber noch warm. Ich schnellte hellwach hoch. Bis auf das Nachtlager waren alle Spuren von Inus Anwesenheit beseitigt. Also sackte ich wieder zusammen und schob den Wunsch beiseite, mich noch einmal kurz verabschieden zu können.

Stimmen? Nein, ich täuschte mich nicht. Da waren Stimmen, die nicht von der Straße herauf drangen, sondern auf meiner Terrasse sprachen. Zwei Menschen unterhielten sich angeregt. Hoffnungsvoll schälte ich mich aus der Bettdecke, schlüpfte schnell in meine Kleidung und trat an meine Terrassentür.

„... und du weißt, du kannst nicht einfach so abhauen!“, beschwerte es sich da höflich aber bestimmt.

„Bin ich doch gar nicht. Ich war die ganze Zeit hier.“, antwortete es unbekümmert.

Ja, das kannte ich auch von Inu. Immer diese Ausreden, als wäre alles in Ordnung. Und nur wir hätten eine falsche Sichtweise auf die Dinge. Nicht er. Da war ich doch froh, dass er diese Nummer bei anderen auch abzog und nicht nur bei mir. Längst lehnte ich am Türrahmen, fröstelte in der Morgenfrische und beobachtete die beiden. Inu schulterte gerade seinen Rucksack, während Yamato die ganzen Schriftrollen unter seinen Arm geklemmt hatte. Garantiert hatten sie beide mich bemerkt, ignorierten es jedoch einfach.

„Du weißt ganz genau, wie ich das meinte, Senpai!“ setzte Yamato noch einen drauf.

„Ja, ja, und genau deshalb hab ich ja dich, Tenzô, der mich immer und überall wiederfindet...“, lachte Inu. „Die sollen sich mal alle nicht so anstellen!“

Tenzô? Ich dachte, der hieß Yamato? Und die Anrede „Senpai“ ordnete Inu nun doch in der Hierarchieliste über Tenzô ein und nicht wie einen gewöhnlichen ANBU unter ihm. Jedenfalls blieb Inu von Tenzôs Beschwerden absolut unbeeindruckt, während Tenzô wiederum innerlich kochgar tobte, es aber nur mit einem langen Seufzer nach außen zeigte. Der wusste wohl, dass er bei Inu auf Granit beißen würde. Was hatten die denn für einen Stress miteinander?

Jedenfalls unterbrachen sie nun ihr Streitgespräch und wandten sich mir zu. Inu tat das Übliche. Er hob nur kurz zum Abschied die Hand, teilte mit, dass er den Rest später abholen und sich mal melden würde. Keine Umarmung, keine Zärtlichkeit. Verhüllt unter seiner Kapuze. Dabei hatte ich doch gerade noch jeden Zentimeter Haut von dem berührt, liebkost und verwöhnt. Das es kommen würde, war mir irgendwie total klar, tat aber auch irgendwie total weh. Tenzô lächelte mir freundlich zu. Dabei machte er einen Gesichtsausdruck, als würde es ihm leid tun, Inu einfach so von mir wegreißen zu müssen. Und schon waren beide wie vom Erdboden verschluckt. Shinobis halt.

Mir war kalt. Und die plötzliche Leere in mir kühlte mich noch mehr ab. Traurig schlich ich ins Bad und sprach stumm mit meinem Spiegelbild. Ich zog mir meine Bluse aus, warf sie in Richtung Waschmaschine und entdeckte etwas, was mein Spiegelbild mir vor ein paar Stunden noch nicht reflektiert hatte. Mein ANBU hatte mich markiert. Nein, nicht mit einer Chakraspur, obwohl ich die von ihm vielleicht trotzdem bereits hätte, sondern mit einem ziemlichen Knutschfleck auf meinem Schlüsselbein. Man gut, dass der nicht am Hals saß. Verlegen biss ich mir auf die Unterlippe. Wenn ich daran dachte, dass Inu nun stattdessen ein paar Kratzer von meinen Fingernägeln auf dem Rücken haben müsste, wurde mir wieder heiß. Das Blut pulsierte automatisch unter der Haut wie ein brennender Strom Lava.

Ich liebe dich, Inu!

13 - Der Tag, an dem ich traurige Gewissheit bekam

Die ersten Herbstwinde trieben im Oktober den Sommer endgültig aus den Toren der Stadt hinaus. Es fühlte sich so an, als würde nicht nur der Sommer, sondern auch ein halbes Leben mit verwehen. Nein, wenn ich ehrlich sein sollte, so war der Sommer wie ein komplettes Leben gewesen. Ich hatte schon viele Höhen und Tiefen in meinem Leben meistern müssen. Aber nichts war so intensiv, wie diese drei Monate gewesen. Ich trauerte ihnen tatsächlich nach.

Der Herbst in Konoha war Rot, Gelb, Grün. Auch wenn das Laub nun an den Bäumen bunt leuchtete und die Sonne wie immer von einem azurblauen Himmel herab schien, so kehrte trotzdem der graue Alltag wieder ein. Der Sommer war nicht nur vom Kalenderblatt, sondern auch aus unseren Herzen entschwunden und hatte tiefe Risse hinterlassen. Ich arbeitete nach wie vor im Kontor und kam auch langsam wieder in den alten Tritt. Dabei schob ich eine Überstunde nach der anderen. Nicht, dass die Arbeit überquoll. Nein, es mochte wohl der Grund sein, dass ich Zerstreuung brauchte. Vieles purzelte in meinem Kopf herum, was noch nicht richtig sortiert war. Doch in allererster Linie nahm Inu unglaublich viel Raum in meinem Kopf ein. Ständig platzte er in meine Gedanken und hielt mich in Tagträumen fest.

Währenddessen schlug sich Yuuki gelangweilt Stunde um Stunde in der Schule um die Ohren. Nach wie vor waren seine Leistungen gut, doch seine Motivation war im Keller. Durch Inus Training hatte der längst Blut geleckt, was er mit seinem Chakra alles anstellen und bewirken könnte. Es hatte noch keine weitere Trainingsstunde stattgefunden und so langsam mussten wir uns wohl tatsächlich damit abfinden, dass die Trainingseinheit abgeschlossen war. Yuuki beherrschte seine Kräfte in so weit, dass er wohl keinen Schaden mehr anrichten würde. So war es besprochen worden, so war es umgesetzt worden. Nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem bekam ich mit, wie Yuuki heimlich weiter übte, bis ich ihn zu Rede stellte. Noch nie zuvor hatte ich solch einen Wutausbruch bei ihm erlebt, als ich ihm unzählige Vorwürfe machte, was ich davon hielte und wie gefährlich solch Jutsus wären. Und dann kam ein Echo, was ich so noch nie erlebt hatte und so auch nie von meinem Kind erwarte hätte. Ich wäre die blödeste Mutter überhaupt. Andere Eltern fänden das toll, wenn ihre Kinder so was könnten. Andere Kinder würden so was auch machen. Und so weiter und so fort. Eingeschnappt war er dann in sein Zimmer marschiert, hatte die Tür geknallt, dass diese fast aus den Angeln gesprungen wäre, und hatte auch sein Abendessen verschmäht. Erst am nächsten Morgen verließ er sein Zimmer zur Schule. Wortlos zog er an mir vorüber und strafte mich mit Missachtung. Ich fühlte mich dabei wie die schlechteste Mutter der Welt. Mein Herz zersprang in tausend Stücke. Unsere Situation war verfahren. Er wusste genau, dass ich nichts von einem Wechsel auf die Akademie hören wollte. Doch sein trauriges Gesicht sprach Bände. Unsere familiäre Beziehung stand vor der Zerreißprobe, obwohl er nach wie vor kein Wort über das Thema sagte. Aber auch Schweigen kann eine Folter sein, die im tiefsten Inneren hart schmerzte. Überhaupt waren die vergangenen Wochen reinste Folter, seit ich Inu das letzte Mal gesehen hatte.

Inu war mal wieder wie vom Erdboden verschluckt. Wenigstens hatten wir einen regen Austausch über den Messenger. Er musste sogar zwischendurch mal kurz in meiner Wohnung gewesen sein, denn das Futon, welches ich sorgfältig gereinigt und zusammengerollt hatte, war wenige Tage später verschwunden. Ich erhielt einen überschwänglichen Lob inklusive Zwinker-Smiley, weil ich sein Bettzeug mit Waschmittel gewaschen hatte, welches kaum Duftstoffe enthielt und gering dosiert war. Shinobis achteten nämlich peinlichst darauf, keinen Körpergeruch zu entwickeln. Daher aßen sie auch kurz vor der Mission nicht mehr alle Lebensmittel, die Körpergeruch erzeugten. Das fing bei A wie Alkohol an und hörte bei Z wie Zwiebeln auf. Der Feind würde ihren Geruch durch Körper oder Kleidung sofort riechen und ihre Tarnung auffliegen lassen. Man konnte sagen, dass Shinobis fast geruchsneutral waren und selbst eine absolut geübte Nase Schwierigkeiten hatte, sie aufzuspüren. Erstaunt war ich darüber, dass manch ein Shinobi darauf trainiert war, Blut zu riechen, um verletzte Feinde aufzustöbern. Was es nicht alles gab.

Und noch etwas war an dem Tage geschehen, als das Bettzeug verschwand: Auf meinem Küchentisch lag ein großer brauner Versandumschlag. Post von Inu. Eine schön geschriebene Handschrift klärte mich auf, diesen Umschlag bitte nur zu öffnen, wenn ich wirklich bereit dazu wäre. Es wäre eine Kopie. Ich könnte sie aufheben, verbrennen oder missachten. Völlig egal. Sie müsse nicht zurückgegeben werden.

„Es tut mir leid für Dich!“, war der abschließende Satz.

Wenn Inu das so schrieb, dann meinte er das auch so. Da war er absolut ehrlich und glaubwürdig. Meine Hände zitterten, als ich mir den Umschlag genauer ansah und meine Finger durch das Papier hindurch den Inhalt abtasteten. Eine innere Vermutung machte sich breit, was denn in diesem Umschlag sein könnte. Das Kuvert war bereits einmal geöffnet und anschließend wieder mit Klebestreifen sorgfältig verschlossen worden. Dorthin, wo dieser Brief ursprünglich ausgeliefert worden war, kamen womöglich Dutzende Briefe an. Da guckte wohl der Sachbearbeiter die Poststelle automatisch hinein, um dann später den Inhalt an die richtige Abteilung weiterzuleiten. Dieses aber war ein direktes Schreiben vom Raikage an den Hokage. Wow, ich hielt hochoffizielle Post in den Händen, die gewöhnlich nicht für die Augen von Normalsterblichen gedacht war. Sollte ich mich nun geehrt fühlen? Und wieso brachte ausgerechnet Inu diesen Umschlag jetzt mit? Der Eingangsstempel hatte schon ein paar Tage auf dem Buckel. Also musste die Akte schon eine ganze Weile früher angefordert worden sein. Das machte mich stutzig, vertrieb aber nicht meine Neugier, welche die entsetzten Warnrufe meines Verstandes ignorierten. Wenn der Inhalt das wäre, was mir gerade die Schweißperlen auf die Stirn und Hitzeschauer über den Rücken trieb, dann war es keine geheime Spionagearbeit, die ich in den Händen hielt, sondern auf dem Amtswege angeforderte Informationspost. Die Dörfer schienen sich tatsächlich sehr gut zu verstehen, wenn sie solch brisanten Dinge austauschten. Oder das Vertrauen der amtierenden Kage musste untereinander riesig sein.

Immer noch zitterten meine Finger, so dass sie den Klebestreifen vom Papier nicht lösen konnten. Ich musste aus der Küche eine Schere zu Hilfe nehmen, schnitt mir aber vor Aufregung glatt in den Finger. Rote Flecke zierten nun das Kuvert. Fluchend suchte ich ein Pflaster. Schnell verarztet, konnte ich endlich in den Brief hineinsehen. Meine Hand förderte eine komplette Personalakte zutage. Mein Ex. Yuukis Vater.

Geschockt stopfte ich die Akte wieder in den Umschlag zurück. Mir wurde schwindelig. Ich musste mich setzen. Als der erste Anflug von Schwindel sich wieder gelegt hatte, sprang ich auf, riss die Kühlschranktür auf und zog eine Flasche Sake ans Tageslicht. Ich nahm mir nicht die Mühe, mir ein Schälchen aus dem Schrank zu nehmen. Ein kräftiger Schluck floss direkt aus dem Flaschenhals meine Kehle hinunter. Dann noch einer und noch einer. Schon war die Hälfte des flüssigen Lebenselixiers in meinem Magen und breitete sich dort durch ein wohliges Gefühl aus. Es beruhigte mich nur mäßig, ordnete aber meine Gedanken.

Die Personalakte von meiner einst größten Liebe lag nun hier auf dem Küchentisch. Der Mann meiner Träume und Vater meines geliebten Kindes. Doch meine große Liebe war irgendwo dort draußen verschollen und bis heute nicht mehr aufgetaucht. Damit hatte ich mich abfinde wollen und sollen. Aber Gefühle konnte man nie so einfach abstellen, besonders wenn es noch einen Funken Hoffnung gab. Die Hoffnung, er würde doch eines schönen Tages vor der Tür stehen und alles wäre wieder gut. Mit jedem Jahr, das verstrich, verglimmte der Funke wieder ein kleines bisschen mehr, aber erloschen war er nie gänzlich. Ein kleines bisschen Glut glimmte nach wie vor, was ich nie war haben wollte, jetzt aber wieder aufloderte wie ein Fackel im Sturm. Das war echt zu viel. Ich solle den Umschlag erst öffnen, wenn ich dazu bereit wäre, mahnte mich Inus Handschrift. War ich dafür bereit? Eben wusste ich es nicht mehr. Dabei hatte ich es all die Jahre geglaubt, für alle möglichen Lösungen offen und stark genug zu sein. Und nun hielt ich die Lösung aller Fragen und Ungewissheiten nach dem Verbleib meines Freundes unausweichlich in meinen Händen. In nur wenigen Sekunden könnte ich Gewissheit haben. Wollte ich es aber überhaupt wissen? Ich versank in einem Gefühlsstrudel. Mein Herz raste.

„Es tut mir leid für Dich...“, erinnerte mich der handgeschriebene Satz von Inu, in dem eine unheimliche Botschaft steckte, als müsste man zwischen den Zeilen lesen.

Tat es das wirklich? Ja, bestimmt tat es das. Wobei mir Inu in vielen Punkten nach wie vor undurchsichtig war. Einerseits waren wir uns verschmelzend nahe, andererseits war er dann wieder tagelange abgetaucht. Wenn Inu schon solch einen Satz auf den Umschlag schrieb, dann musste er wohl auch um seinen Inhalt wissen. War der Satz nicht schon ein düsteres Omen an sich? Es klang, als könnte nur einzig und allein eine negative Nachricht darin enthalten sein. Wieder blieb ich am Eingangsstempel hängen. Die Personalakte hatte Konoha bereits erreicht, als ich noch nicht zum Verhör im Hokageturm antanzen musste. Da musste man kein Mathematiker sein, um Eins und Eins zusammenzurechnen. Man wusste schon jegliches Detail im Hokageturm über Yuuki und mich, noch bevor wir überhaupt den Mund aufmachen konnten. Boah, diese Drecksspionagetruppe! Wie viel wusste Inu vorher? In wie fern war der involviert und gebrieft? Ich fühlte mich verraten und verkauft. Mir kamen sogar so boshafte Ideen, Inu wäre nur auf mich angesetzt worden, um mich und mein Kind auszuspionieren. Mein Ex hatte auch mal unter viel Alkoholeinfluss durch die Blume verraten, dass er auf einer Mission nur deshalb ein Mädel ins Bett kriegen musste, um Informationen aus ihr herauszubekommen. Das war zwar im Bett ein temporärer Spaß, aber hinterher, so gab er es bedröppelt zu, fühlte er sich extremst beschissen. Wenn ich selbst nun auch nur so eine Missionsziel wäre, dann würde das auch Inus Zurückhaltung mir gegenüber erklären und warum er immer nur zeitweise hier aufkreuzte. Hatte er nicht selbst zu mir gesagt, er wolle sich mir nicht preisgeben, weil ich ihn sonst rausschmeißen würde? Nein, das konnte ich nicht glauben! Das wollte ich nicht glauben! Tränen der Wut brannten heiß auf meiner Haut. Die Sakeflasche wurde am Hals gepackt und flog voller Wucht gegen die Wand, dass es nur vor Glas so splitterte. Die Splitter rieselten wie feinste Kristalle auf die Fliesen und reflektierten das Neonlicht im Alkoholsee.

Nein, nein, nein! Das war so nicht. Inu war nicht so. Bestimmt nicht. Ich will das nicht!

Ich stützte mich auf die Küchentischplatte und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Was könnten also seine Ambitionen gewesen sein, mir die Akte von meinem ehemaligen Freund zu beschaffen? War die Akte nun wissentlich mir übergeben worden oder hatte Inu die geklaut?

Ein neuer Gedanke formte sich, weil ich einfach eine Erklärung brauchte. Und so spann ich einen neuen Faden aus meiner überschäumenden Fantasie zusammen. Ein boshafter Schelm entsprang aus dem Wollknäuel, der Inu Schlechtes unterstellte. Er flüsterte mir zu, dass dieses unverständliche Benehmen vielleicht Inus sehr subtiler Weg wäre, um meine Nähe zu finden. Allerdings würde ich Inu auf Grund seiner zeitweiligen Verschlossenheit und Schüchternheit nicht so einschätzen, dass er um ein Mädchen kämpfen würde. Wie viele mochte der vor mir gehabt haben? Ich vermutete, dass es man sie an einer Hand abzählen könnte. Wenn überhaupt. Und da rief der böse Schelm in meinem Kopf wieder, dass es garantiert keine Nettigkeit von Inu war, weshalb ich die Akte erhalten hatte, sondern weil er selbst einen Konkurrenten um mich weniger wissen wollte. Ganz einfach und typisch menschlich. Wütend schmiss ich den Schelm aus meinem Kopf hinaus und wollte diese Art von boshaften Unterstellungen nicht wahrhaben. Das war ebenso böse und gemein, wie die schräge Idee, ich wäre nur sein Missionsinhalt.

Die Küchenuhr tickte. In der Stille tickte sie viel zu laut und dröhnte mir schon beinahe in den Ohren. Also raffte ich mich hoch und beseitigte die Scherben meiner Wut mit Besen, Kehrblech und Wischlappen. Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, nahm ich allen Mut zusammen und zog die Personalakte wieder aus dem Umschlag heraus. Damit bequemte ich mich auf das Sofa und blätterte erst ein wenig wahllos herum. Dann begann ich zu lesen. Der Lebenslauf meines damaligen Freundes zog einem wahrlich die Schuhe aus und rollte die Fußnägel hoch. Unglaubliche viele schwierige, aber erfolgreiche Missionen von Mord und Totschlag reihten sich wie Perlen auf der Schnur. Es waren Dinge, die ich bis dato nur geahnt und verdrängt, aber nie wirklich gewusst hatte. Doch noch mehr schockierte es mich, dass man von seiner Beziehung zu mir schon damals wusste. Es war nur eine einfache Aktennotiz, die meinen Namen nannte und dass ich schwanger gewesen war. Sogar, dass ich einen Jungen gebar, der zu allem Übel des Blitz-Reiches einen Pass aus dem Feuer-Reich besaß, durfte ich dort lesen. Ich fühlte mich zum zweiten Mal am heutigen Tage ausspioniert und verarscht. Dieses Drecksninja-Pack. Wie sehr ich sie doch hasste. Allesamt!

Ich fror innerlich, legte die Akte kurz aus der Hand und schlang meine Arme um mich selbst, als würden sie mich wärmen. Mein halbwegs heiles Bild von meinem Ex war ziemlich zertrümmert, obwohl ich doch genau wusste, was der beruflich getrieben hatte. Aber es war vorbei. Er war tot. Von einem Kameraden auf dem Rückweg im Stich gelassen. Erstochen auf der letzten Mission. Und seine Gebeine waren irgendwo verscharrt auf einem kleinen Friedhof im Wasserfall-Reich. Vermutlich würde nicht einmal einen Namen seinen Grabstein zieren, wenn er denn einen hätte. Stumme Tränen rannen abermals über meine Wangen hinab. Sie verschleierten die Sicht auf die Schriftstücke. Zugleich verschleierten sie aber auch Bilder der Erinnerungen. Es war so, als würde meine Tränen die letzten Erinnerungen an meinen Freund auswaschen und verschwinden lassen. Das Kapitel war nun beendet und konnte geschlossen werden. Die Warterei hatte urplötzlich ein trauriges Ende.

Ich schob die Zettel alle wieder säuberlich zusammen. Ein Personalfoto segelte aus den Blättern heraus. Es zeigte meinen Freund noch in sehr jungen Jahren. Erst jetzt wurde mir die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Sohn vollends bewusst. Sie waren sich wie aus dem Gesicht geschnitten. Als ich meinen Freund das letzte Mal sah und mich von ihm verabschiedete, war er gerade achtundzwanzig Jahre alt geworden. Doch die Zeit ist weitergelaufen. Er ist gegangen und ich musste bleiben. Heute wäre er wohl achtunddreißig. Aber in meinen Träumen würde er immer achtundzwanzig bleiben. Für immer.
 

Die Korridortür klappte. Der Nachmittag war längst im Zenit. Yuuki kehrte aus der Schule heim und sah mich verdattert an. Natürlich sah man meine verheulten Augen und die gerötete Nase. Für einen kurzen Moment hatte ich überlegt, was ich nun mit der Personalakte tun sollte. Erst wollte ich sie verschwinden lassen und meinem Sohn erst aushändigen, wenn er volljährig werden würde. Ich hatte mit Yuuki nie über seinen Vater gesprochen. Irgendwann war es mir dann doch mal entfahren, dass er ein Jonin aus dem Blitz-Reich war. Doch nun hatte ich mich umentschieden. Er wurde in wenigen Wochen neun Jahre alt und war kein bisschen auf den Kopf gefallen. Er würde die Geschichte bestimmt ein wenig verstehen, wenn ich das Geheimnis lüften und mit ihm teilen würde. Ich erhoffte mir davon eine Erleichterung und eine Besserung der Beziehung zwischen mir und Yuuki. Zu sehr hatte sie in der letzten Zeit gelitten. Es war an der Zeit, der Wahrheit ins Auge und dann in die Zukunft zu blicken. Yuuki sah aus wie sein Vater und beherrschte auch das Handwerk seines Vaters. Und wenn er nun doch in seine Fußstapfen treten würde, so könnte ich es nicht ändern. Mein Sohn hatte einen starken Willen. Den konnte man nicht aufhalten.

Ich zwang mir ein Lächeln auf und winkte mein Kind zu mir auf das Sofa heran. Gemeinsam blätterten wir Arm in Arm die Personalakte durch, schaute uns Fotos an, die ich später noch aus einer alten Kiste aus dem Schlafzimmerschrank zauberte, und ich erzählte sehr viel, was mir noch so über seinen Vater einfiel. Es war ein sehr ruhiges Gespräch voller Vertrautheit. Wir hatten unseren Familienfrieden wiedergefunden.

Es dunkelte langsam. Ich musste die Stehlampe einschalten. Unser Stöbern in alten Familienangelegenheiten war nun beendet. Yuuki flitzte mit dem Bild von seinem Vater los und klebte es zu den anderen Bildern an seine Kinderzimmerwand. Mächtig stolz prangte es nun wie eine Trophäe mittig zwischen Fotos von ihm und mir und anderer Verwandtschaft und Bekanntschaft. Kurz darauf gesellte er sich zu mir in die Küchentisch, wo ich das Abendessen servierte. Schweigend kaute er auf seinem Essen herum. Da war doch noch eine Sache, die ihn wohl beschäftigte.

„Wenn du aus dem Erd-Reich und Papa aus dem Blitz-Reich kommst, wohin gehöre ich dann?“

Das war eine sehr gescheite Frage, die mir selbst klar war. Er war hier geboren und gehörte hierher. Nach Konohagakure. Ich hing nicht mehr sonderlich an meiner Heimat, weshalb ich mich im Konsulat des Erd-Reichs nie um Papiere für ihn gekümmert hatte. Trotzdem fragte ich bei ihm nach.

„Wo möchtest du denn hingehören?“

„Hierher!“

Dabei strahlte er wie der hellste Sonnenschein. Er kannte ja auch nichts anderes als Konoha. Und die wenigen Tage im Jahr, die wir in der Heimat meine Verwandtschaft besuchten, erzeugten nicht wirklich einen ernsthaften Bezug zum Erd-Reich, obgleich wir dort gerne zu Besuch waren.

„Na, dann ist doch alles in Butter. Du bist ein Kind Konohas!“, erklärte ich lachend.

In fröhlicher Runde aßen wir auf und räumten die Küche auf. Ich verzichtete darauf, mich mit ihm um das Fernsehprogramm zu streiten, weshalb wir später zu Bett gingen, als gewöhnlich. Yuuki musste unbedingt die unzähligste Wiederholung seines Lieblingsanimes gucken. Mein Kind war begeistert, für mich zog sich die Sendung wie Kaugummi in die Länge. Wenigstens war unser Familienfrieden im Hause wieder hergestellt.

Als es endlich an der Zeit war, das Licht zu löschen und die Nachtruhe einkehren zu lassen, stand ich noch einen Moment in der Kinderzimmertür. Ich wollte nur eine „Gute Nacht!“ wünschen und dann gehen, doch etwas hielt mich auf. Yuuki sah mich erwartungsvoll an, denn normalerweise stand ich nie so lange in der Tür.

„Ok, du hast mich überzeugt. Wir werden uns mal bei der Akademie erkundigen und ...“

Weiter kam ich nicht, denn ein Kind voller Freude sprang aus den Federn mir direkt um den Hals.

„Hey, hey,“ bremste ich die Begeisterung. „Ich sagte „erkundigen“, nicht „anmelden“.“

Aber meinem Sohn war es egal. Er freute sich, als würden alle Feiertage, die es gab, auf ein und denselben Tag fallen.

„Das ist super! Darf ich Inu eine Nachricht schreiben?“

Große Kulleraugen gucken mich an, wusste er doch, dass ich Inu als DropIn-Kontakt in der Liste hatte. Meine Laune verfinsterte sich jedoch. Ach ja Inu, den gab es ja auch noch...

14 - Der Tag, an dem eine Bombe platzte

Natürlich wurde ich von meinem quengelnden Sohn schon am Frühstückstisch genervt, dass wir doch sofort zur Akademie gehen könnten. Am besten noch vor Sonnenaufgang und vor dem Frühstück. Yuukis Aufregung im Zaum zu halten war schwieriger, als einen Sack Flöhe zu hüten. Nur mit viel Mühe konnten wir uns beide gegenseitig darauf verständigen, dass ich mich noch im Laufe des Vormittags über die Aufnahmebedingungen und den Unterricht erkundigen und ihm alles erzählen würde, sobald er aus der Schule zurück wäre. Wie ein Flummiball hüpfte er nun die Treppenstufen hinunter, als würde der Tag schneller vergehen, je schneller er sich selbst bewegte. Ich seufzte lächelnd, brachte in der Wohnung noch alles in Ordnung und ging ebenfalls hinunter in mein Büro.

Es war gerade mal halb acht in der Frühe, wie ich als Erste das Haupttor zur Straße aufschloss und somit das Kontor für die Kundschaft freigab. Die Kundschaft hatte nämlich nicht wie ich durch eine Tür direkt von der Straßenseite Zutritt, sondern musste über unseren wirklich reizvollen, kleinen Innenhof schlendern. Die Ruhe vor dem Sturm beherrschte eben noch die leeren Geschäftsräume, denn wir hatten neue Stoffe für die kommende Winterzeit eingekauft. Da würden einige Kunden bei uns zeitig aufschlagen, nur um bereits als Allererste die brandneue Ware begutachten zu können. Diesmal waren es viele gedeckte Farben wie Nachtblau, Anthrazit oder Moosgrün. Aber auch frostige Töne waren angesagt. Da grellte einem die blanke Kälte in Nuancen von Eisblau, Mint oder Schneeweiß entgegen. Die Muster waren toll und die Farbauswahl auch, aber es war nicht so ganz das Meinige. Ich musste einfach noch auf reine Intuition hin Brombeer, Orangegelb und Rostrosa dazu bestellen. Mal sehen, wie das von der Kundschaft angenommen werden würde. Die Sonne kroch über den Horizont und wärmte mit ihrem gelb getönten Licht die Wände. Der frisch gebrühte Kaffee erfüllt den Raum mit einem herrlichen Aroma von Heimat. Wenn man aus dem Fenster den wolkenlosen Himmel und in der Ferne die bunten Laubwälder erblickte, so hatte man Lust, einfach draußen in der freien Natur spazieren zu gehen. Es war mild. Man bräuchte nur eine leichte Jacke und ein paar Münzen für eine Mittagsverpflegung unterwegs. Das war eine löbliche Sache, die ich hier im Ort sehr schätzte. Egal, ob Garküche, Essensstand oder Restaurant: Das Essen war immer frisch, von guter Qualität, aber extrem preiswert. So günstig konnte man gar nicht selber einkaufen und kochen, weshalb ich oft etwas an den Ständen in der Mittagszeit kaufte. Dennoch schwang ich gern den Kochlöffel, gab es hier doch so gut wie keine Gerichte aus meiner Heimat zu erstehen. Ich kehrte aus meinem Tagtraum zurück, als das Türglöckchen der Haustür aufgeregt klingelte. Die Frühschicht trabte gerade herein, knipste ihre Schreibtischlampen an und setzte das erste Teewasser auf. Bald würden auch die beiden Servicekräfte für den Verkaufsbereich auftauchen. Dann könnte der Arbeitstag erfolgreich starten. Niemand von der Belegschaft schien gerade etwas von mir zu wollen. Somit hätte ich wohl eine ruhige Minute für mich allein. Also fuhr ich den Rechner hoch und surfte im Netz einmal quer durch das Schulregister Konohas. Infos über die Akademie waren schnell zu finden, denn immerhin war es die größte Schule im Ort. Und da Konoha seit jeher ein Shinobidorf war, war sie auch die erste Schule im Dorfe überhaupt. Ich klickte auf den Link, der die Geschichte der Schule abriss.

Vor rund sechzig Jahren unter dem Zweiten Hokage gegründet, um den Notstand an Shinobinachwuchs zu lindern, wurde alsbald neben den gewöhnlichen Fächern auch Ninjatechniken gelernt. Allerdings gab es keine einheitlichen Pläne, weshalb viele Ausbildungziele weiterhin innerhalb der Clans gelehrt worden waren. Erst unter dem Dritten Hokage mussten alle Kinder eine einheitliche Ausbildung absolvieren. In der Regel dauerte sie sieben Jahren. Beginnen konnte man im zarten Alter von fünf Jahren. Wichtiges Ziel war es damals und wäre es noch heute, dass jedes Kind sich ganz individuell entwickeln könnte, um seinen eigenen „Weg des Ninjas“ zu finden.

Ohje, mein Kind würde Ende Januar schon neun Jahre alt werden. Hoffentlich war er noch nicht zu alt für den Schulwechsel. Nun allerdings recht interessiert konnte ich weiterlesen, sollte es mit dem Ninjaleben doch nichts werden, könnte jedes Kind am Ende der sieben Jahre Schulzeit dennoch einen gewöhnlichen Abschluss erlangen, der einen auf höhere Schulen bringen würde. Na, das war doch der Punkt, der Eltern beruhigende Nächte bescherte. So sehr man sein Kind auch liebte, so wollte man es dennoch im erwachsenen Alter auf eigenen Füßen stehen sehen. Ich klickte mich weiter durch die Homepage und gelangte zu einer Terminliste. Es gab einmal im Quartal eine Vorauswahl, um die Vielzahl an Bewerbern zu filtern. Bestehende Kandidaten wurden dann erst zu den offiziellen Aufnahmeprüfungen zugelassen. Das konnte ich mir gut ausmalen. Konohas Stadtentwicklung hatte in den letzten Jahren wahrlich geboomt. Viele Zugezogene, so wie ich, bereicherten das Stadtleben. Logisch, dass da nicht jeder auf die ach so tolle Akademie, sondern nur auf die Schule für normalsterbliche Zivilisten gehen konnte. Das Glück lag auf unserer Seite. Der nächste Vorauswahltermin würde schon in zehn Tagen stattfinden. Man sollte nur ein Formular ausgefüllt und sich selbst mitbringen. Na schön, ein Versuch war es wert. Innerlich war ich mit mir nicht im Reinen und hoffte, Yuuki würde einfach durchfallen. Dann lag es aber nicht an mir und meiner Ninja ablehnenden Einstellung, sondern allein die Shinobilehrer hätten ihm fehlendes Talent bescheinigt und wieder Heim geschickt. Dann wäre das Thema mit dem Ninjaleben vielleicht ein für allemal vom Tisch. Oh, welch boshafte Gedanken! Sollte man nicht voller Stolz und Zuversicht zu seinem Kind halten? Ich schämte mich fast dabei und notierte den Schultermin im Kalender. Garantiert würde meine Vision vom Durchfallen eh nur ein frommes Wunschdenken bleiben, waren sich doch Tenzô und Inu von der ersten Sekunde an einig, dass Yuuki eine ganz besondere und seltene Chakraform hätte. Und die beiden hatten, meiner laienhaften Einschätzung nach, definitiv Plan von dem, was sie taten und wovon sie sprachen. Inu... Der hatte mal wieder ewig nicht von sich hören lassen. Ewig ist eine sehr lange Zeit, und mir kamen die letzten fünfzehn Tage wie eine unendliche Ewigkeit vor.

Mein Handy piepte. Eine Nachricht von Inu. Konnte der eigentlich Gedankenlesen, wenn er genau in der Minute ein Lebenszeichen von sich gab, wenn ich meine Gedanken für ihn verschwendete? Ich hatte am gestrigen Abend Yuuki nicht davon abringen können, dass er Inus Sprachbox voll quatschte. Er war so aufgeregt, dass sich seine Stimme überschlug und ich schon fürchtete, Inu würde kein einziges Wort aus dem schrillen Kauderwelsch verstehen können. Nervös blickte ich auf das kleine, blinkende Lämpchen, das mich ermuntern sollte, die Nachricht zu lesen. Was sollte ich tun? Natürlich war es klar, dass Inu sich irgendwann irgendwie mal wieder melden würde. Aber ich war mir unsicher, ob ich genau hier und jetzt mit ihm reden wollte. Die Personalakte, die ausgerechnet durch seine Hand nun zu diesem Zeitpunkt bei mir aufgetaucht war, hatte mich aus der Fassung gebracht. Es verwirrte mich immer noch. Ich konnte nicht damit umgehen.

Noch immer blinkte das Lämpchen am Handy. Es blitze rasch auf und erlosch sachte. Unermüdlich. Ein kurzes Durchatmen, dann sausten mein Finger über das Display. Er wünschte mir einen „Guten Morgen“ und fragte nach, ob ich mir denn bei der Akademie-Entscheidung sicher wäre. Immerhin hätte ich mich stets nur negativ zu dem Thema geäußert und eine mehr als ablehnende Haltung an den Tag gelegt. Meine Finger tippten einen längeren Text, wie ich die Akte gelesen und sie später mit Yuuki zusammen durchgeblättert hätte. Dass ich nach wie vor Ablehnung empfinden würde und dass ich trotzdem den Lauf der Dinge wohl nicht ändern könnte. Es wäre Yuukis Leben und nicht meines. Ich starrte auf den Absende-Button und konnte ihn einfach nicht drücken. Mehrmals flogen meine Augen über meine eigenen Zeilen. Wollte ich ihm das wirklich so schicken? Ich haderte mit mir selber, denn ich kommunizierte mit einer Person, in die ich mich Hals über Kopf verliebt, die aber auch mein Vertrauen komplett erschüttert hatte. So, wie es gerade zwischen uns lief mit diesem ganzen Versteckspiel, konnte es auf gar keinen Fall weitergehen. Das missfiel mir. Es machte mich eher traurig als glücklich. Man sollte doch glücklich sein, wenn man jemanden liebte, oder etwa nicht? Inu war nicht entgangen, dass meine Antwort für meine Verhältnisse viel zu lange auf sich warten ließ. Auch konnte er am DropIn-Status sehen, dass ich getippt hatte, aber nichts abschickte. Stattdessen löschte ich meine vollständige Nachricht und erwiderte den morgendlichen Gruß. Ohne weiteren Text. Ich brauchte noch ein paar Minuten zum Nachdenken. Zurück kam prompt:

„Was ist los?“

Inu kannte mich mittlerweile zu gut. Der spürte, dass etwas nicht in Ordnung war und es war seine liebenswerte Art, jederzeit nachzufragen. Es schien ihm wichtig zu sein, dass es allen um ihn herum gut ging und Probleme gleich aus dem Weg geräumt wurden. Am liebsten hätte ich mir den Frust von der Seele geschrieben, wie es mich fertig machte. Ich wusste gar nichts über ihn. Und dann war er auch stets nur sporadisch hier gewesen. So, wie es ihm passte, aber nicht mir. Die Personalakte war der Gipfel. Dass ich nun auch noch starke Gefühle hegte, verschlimmerte alles. Auch Yuuki hatte seine eigene kleine Trauer, mochte er Inu gern und musste nun aber wohl auf das geliebte Training verzichten lernen. All das geisterte mir durch den Kopf, aber nichts brachte ich davon getippt in das Messengerfeld.

„Ich weiß, dass du da bist, Nina-chan.“

Ja, ich grübelte zu viel und schrieb nichts. Das dauerte ihm auf der anderen Seite der kabellosen Leitung viel zu lange. Wieder einmal gewann meine Wut, die mir alles falsch zu verstehen gab. Dann tobte ich und wurde vulgär und beleidigend. Meine aufbrausende Eigenschaft hatte schon einiges an Freundschaften gekostet. Ich hatte meine Frustanfälle zeit meines Lebens nicht in den Griff bekommen können.

„Woher weißt du das? Stalkst du mich etwa?“

Dahinter setzte ich eine gefühlte Hundertschaft wutschnaubender Teufelsmileys. Ich war sauer. Jawohl!

„Wohl kaum. Dazu bin ich viel zu weit weg von zuhause. ;-)“, kam es postwendend als Antwort.

Er besaß die stoische Ruhe so groß wie ein Ozean, meine Sprunghaftigkeit einfach zu ignorieren. Dafür konnte ich ihm eigentlich nur dankbar sein. Wäre ich ein Presslufthammer und er eine Wand, er hätte nach meinen Einschlägen wohl nicht einmal einen feinen Haarriss.

Obwohl ich weiterhin böse auf ihn sein wollte, schaffte er es mal wieder, dass ich schmunzeln musste. Meine Wut löste sich auf.

„Wo bist du denn?“

„In Salt Lake Village in Umi no kuni.“

Ich rief mir die Weltkarte ins Gedächtnis. Wow, das war wirklich sehr weit weg. Mit Zug und Fähre konnte man die Reise vielleicht in fünf Tagen absolvieren. Allerdings nur, wenn das Wetter auf See mitspielte. Starke Strömungen und heftig drehende Winde verschoben häufig die Fährzeiten. Manchmal tagelang. Mit dem Luftschiff reiste man natürlich an einem einzigen Tag, aber da war die Passagieranzahl doch sehr stark eingeschränkt. Zudem flog das Luftschiff nicht häufig auf allen Routen. Welch Art von Mission verschlug einen denn so weit weg von daheim? Spannend, dass er ein bisschen von der Arbeit erzählen durfte.

„Wann kommst du zurück?“, tippte ich als unaufdringliches Synonym, dass ich ihn vermisste.

„Hoffentlich zur Auswahlprüfung.“

„Du willst dabei sein? O_O“

„Klar, bevor Yuuki die halbe Arena in Schutt und Asche legt... XD“

Inus Humor konnte gelegentlich trockener sein, als der Salzsee des Städtchens, wo er sich gerade angeblich befand. Ich mochte das, denn sonderbarer Weise übertrug sich seine Entspanntheit auf mich. Ich musste einfach lernen, dass ich mein Schicksal, wenn ich selbst nicht weiter wusste, in andere Hände legte, denen ich vertrauten sollte.

„Und was hat dich vorhin nun so sauer gemacht?“, hakte er nochmal nach.

Hmpf. Wieso hatte er das nicht einfach vergessen können? Das war so eine negative Eigenschaft von ihm. Er tat oft oberflächlich und desinteressiert. Doch das war alles nur blanke Tarnung! Er war extremst neugierig. Und dann beschäftigte er sich solange mit der Sache, bis die Neugier befriedigt war. Was sollte ich nun antworten? Nochmal den ganzen Romantext tippen? Nein, so was ging meist gründlich schief, weil geschriebene Worte so unpersönlich und nackt waren. Die konnten auch ganz schnell einer falschen Interpretation erliegen. Man kam wohl nicht umhin:

„Ich würde gern etwas mit dir besprechen wollen.“

„Und was?“

Ha, diese Neugier! Etwas schelmisch kam mir genau der passende Satz in den Sinn.

„Es ist kompliziert.“

So, nun hatte ich nichts verraten und zur Abwechselung hatte ich mal keine Grübelei, sondern die ging nun am anderen Ende der Welt los. Diabolisch grinsend freute ich mich wie ein frisch paniertes Schnitzel. Nur nicht so krümelig. Die Neugier würde Inu schon beschäftigen. Ich schob mein Handy beiseite und beschloss, Inu einfach stumpf zu ignorieren. So drehte ich den Spieß um, wurde ich von ihm immerhin auch gerne mal ignoriert.
 

Mit einem Blick auf meine Bürozimmeruhr stellte ich fest, dass die Zeit schneller davongerannt war, als ich es wahrgenommen hatte. Ich musste dringend einige wichtige Geschäftsbriefe am Postschalter aufgeben. Wenn ich noch pünktlich bis zur Mittagsruhe bei der Post aufschlagen wollte, so musste ich mich sputen. Zudem wollte ich einen Schlenker zur die ortsansässige Bibliothek machen. Denn auch ich hatte meine Neugier. Seit der Fernsehdokumentation über das Gras-Reich und die Kannabibrücke trieb es mich innerlich um. Wenn Inu mir keinen Bären aufgebunden hatte, dann müsste es doch herauszufinden sein, wer damals alles bei der Brückensprengung dabei gewesen war. Und da ich nun von meinem Haus- und Hofninja nun auch das exakte Geburtsdatum wusste, müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich das Geheimnis nicht lüften ließe. Es hatte mich schon stutzig gemacht, solch dicke Hinweise zu erhaschen. Dafür konnte es eigentlich nur zwei Lösungen geben. Entweder wusste er ganz genau, dass es nirgends etwas zu finden gab, oder er wollte, dass ich es herausbekäme. Die erste Lösung war für mich völlig inakzeptabel. Die zweite Lösung spornte mich an.

Flux eilte ich zur Post und wechselte dann drei Straßen weiter zur Bibliothek. Irgendwo in diesem riesigen Gebäude voller Druckerzeugnisse und Online-Datenbanken musste es doch eine Abteilung geben, die sich mit der Geschichte Konohas beschäftigte. Chroniken, Legenden, Sachtexte. Vielleicht gab es ja auch ein Bekanntgaberegister über Geburten und Sterbefälle. Aufmerksam schlenderte ich durch die vielen Regalreihen. Allein der Anblick war faszinierend. In meiner Heimat hatte seit jeher die Buchbindung dominiert. Hier aber rollte sich eine halbe Kultur auf Schriftrollen. Lange hatte ich nicht verstanden, warum man im Feuer-Reich in alten Epochen die Schrift von rechts nach links und von oben nach unten anordnete. Es war also genau umgekehrt zu dem, was ich aus dem Erd-Reich kannte. Es war mir schlüssig, da die meisten Menschen Rechtshänder waren, von links nach rechts in Reihen zu schreiben, um die Tintenschrift nicht mit der Schreibhand zu verwischen. Erst als ich eine Schriftrolle in den Händen hielt und sie öffnete, kapierte ich das befremdliche Schreibsystem. Auch hier waren die Menschen zum Großteil Rechtshänder. Zog man nun an der Rolle, so rollte sie sich demnach nach rechts ab. So tauchte Spalte um Spalte, nicht Zeile um Zeile, auf. Heutzutage mit dem Einzug der digitalen Medien hatte man aber auch im Feuer-Reich die Zeilen anstelle der Spalten für Schriftstücke entdeckt.

Ich mochte Bücher. Noch mehr mochte ich so alte Schinken, in welchen die kunstvolle Handschrift, die Federzeichnungen und die Tuscherei sich zu einem Gesamtkunstwerk verbanden. Da war allein schon die Gestaltung ein Meisterwerk, und man mochte solch ein Buch oder solch eine Schriftrolle gar nicht aus der Hand geben noch bevor man überhaupt nur einen einzigen Buchstaben oder Schriftzeichen gelesen hatte. Meine Finger glitten kaum merklich über die Einbände. Ich versank einem Traum voller Schriftsprache und Kopfkino. Es befanden sich tatsächlich Bücher über die Geschichte und die Folklore Konohas in der Sammlung. Und das waren nicht mal wenige. Meine Motivation sank. Ich hatte nicht viel Zeit im Gepäck und musste zum Nachmittagsgeschäft dringend wieder im Kontor sein. Niemals würde ich diese Menge an Literatur in knapp einer Stunde, die mir noch verblieb, sichten können. Fieberhaft dachte ich nach und beschloss, klammheimlich die eventuell passenden Buchseiten und Schriftrollen mit dem Handy ab zu fotografieren. Das war zwar verboten, doch ich würde viel Zeit sparen und könnte meine Ausbeute in Ruhe zu Hause lesen. Selbst wenn ich nicht heute zum Ziel käme, so fänden sich vielleicht Stichworte, nach denen ich beim nächsten Besuch gezielter stöbern könnte. Ja, das war ein guter Plan! Ich war hektisch, rannte mir die Zeit gnadenlos davon. Ein Buch nach dem anderen, welches auch nur das Mindeste mit dem Gras-Reich oder dem Dritten Ninjakrieg zu tun hatten, zog ich heraus, suchte nach der Kannabi-Brücke und knipste, was das Zeug hielt. Das Blitzlicht hatte ich vorsorglich ausgeschaltet, wollte ich kein Aufsehen erregen. Hoffentlich wurden die Bilder bei dem schwachen Licht auch wirklich etwas und ich hätte nicht zu sehr vor Aufregung verwackelt. Und leise musste ich sein, was mir in der Eile wirklich schwer fiel. Da wünschte ich echt zum allerersten Mal, ich wäre auch Ninja und könnte gut geschult der heimlichen und schnellen Spionagearbeit nachgehen. Die große Glocke im Eingangsbereich der Bibliothek wurde dreimal kräftig geschlagen. Mist! Mir blieb nur noch eine Viertelstunde. Hastig stellte ich alle Bücher wieder sorgsam an ihre Plätze in den unter der Last ächzenden Holzregalen. Und die Geburtenregister? Die gab es garantiert nur unzugänglich im Verwaltungsarchiv Konohas. Dennoch kroch ich von einem Gang in den nächsten und überflog die Buchtitel. Da gab es tatsächlich Chroniken und Stammbäume. Doch die waren alle längst historisch und entstammten aus vergangenen Zeiten lange vor der Geburt meines gesuchten Anbus. Seufzend gab ich die Suche auf und verließ die Bibliothek.

Schnellen Schrittes ging ich in Richtung Hochplateau. Das Wetter war herrlich. Nicht zu warm und nicht zu kalt. Ich saugte frohen Mutes meine Lungen voller frischer Herbstluft. Die Sonne schmeichelte meine Haut. Warum auch immer hatte ich gute Laune und genoss den Tag. Trotz der vielen Alltagssorgen lief es doch im Grunde genommen gut bei mir. Was sollte mich in dieser Minute erschüttern? In Rekordzeit bog ich in unsere Straße ein. Nur noch wenige Meter trennten mich von meinem Zuhause. Und plötzlich ward alles anders ...

Es krachte ohrenbetäubend, als hätte direkt neben mir ein Blitz eingeschlagen und seinen Donner entladen. Ein Druckwelle warf mich zu Boden. Da prasselten auch schon Gesteinsbröckchen auf mich hernieder, brachten mir blaue Flecke, Platzwunden und ein angebrochenes Handgelenk. Staub flog empor und verklebte meine Augen. Feuergeruch und Qualm brannte in meiner Nase. Meine Lungen, die eben noch voller Frische waren, quälten sich schmerzvoll. Mir blieb der Atem aus. Panik ergriff mich und steigerte sich in Todesangst. Ich ersticke! Ich ersticke! Meine innere Stimme schrie hysterisch. Aber meine Stimmbänder blieben schwingungslos. Und dann sah ich die Menschen. Viele Menschen jagten durch die Staubwolke. Sie waren ebenso wie ich. Voller Angst. Verletzt und hilflos.

Zitternd kauerte ich auf dem Straßenpflaster und war unfähig, mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Doch was war überhaupt geschehen? Ich starrte um mich, würde aber die Bilder des Grauens erst sehr viel später in meinem Gedächtnis abspeichern und verstehen können. Und so blickte ich auf ein Nachbarhaus unserer Straße und kam einfach nicht darauf, was sich zum Teufel hier und insbesondere an dem Haus verändert hatte. Erst später erfuhr ich von einem Medizin-Ninja, dass ich einen starken Schock erlitten hatte. Hektisch hetzten plötzlich viele Shinobis umher, sicherten das Nachbarhaus und halfen den Verletzten. Irgendwann wurde sich meiner sanft angenommen. Man griff mir unter die Arme und brachte mich auf wackeligen Beinen zum Ende der Straße, wo der Rettungsdienst uns Opfer versorgte.

Es hatte den Teekontor erwischt. Das registrierte ich nun, wie ich hier auf einer Matte saß, eine schützende Decke um die Schultern gelegt bekommen hatte und mich an einer heißen Tasse Tee festhielt. Der Dampf mit seinem beruhigenden Aroma stieg mir in die Nase und gab ihr den Geruchssinn wieder. Immer wieder und wieder guckte ich fassungslos auf das Loch. Wie ein ausgeschlagener Zahn prangte nun dort in der Häuserreihe eine Lücke. Der komplette Teeladen war gesprengt worden. Noch nie hatte ich so etwas erlebt. Meine Heimatstadt war vom Kriege verschont geblieben. Kriegserfahrungen fehlten mir gänzlich. Als Yuukis Chakraball Anfang diesen Sommers ein Haus zum Einsturz gebracht hatte, war es nur durch den kreisrunden Einschuss in sich zusammengefallen. Das hatte zwar auch gescheppert und gestaubt, war aber mehr in sich zusammengefallen, als in alle Richtungen zu versprengen. Das hier war einfach nur grausam. Eine Detonation mitten in Konohagakure. Warum? Wieso?

Schlückchenweise schlürfte ich die kleine Teetasse leer. Der Medizin-Ninja, der mir die Decke und die Tasse zuvor gereicht hatte, ging zu einer Gruppe weiterer Ninjas, die hier Untersuchungen trieben, um den Vorfall zu klären. Er sprach etwas zu diesen, deutete aber immer wieder mit einem Kopfnicken zu mir. Die redeten tatsächlich über mich. Möglichst unauffällig drehte ich leicht meinen Gesicht zu ihnen, um die Gruppe genauer zu betrachten. Doch das hätte nicht Not getan, denn sofort bewegten sie sich auf mich zu und musterten mich sonderbar lange von oben herab. Ich musste mit einem solch totem Blick zurück gestarrt haben, dass sie wohl zuerst nicht wussten, was sie mit mir anfangen wollten.

„Würden Sie uns bitte folgen. Wir hätten da einige Fragen an Sie!“, kam es dann barsch von dem Einen.

Fragen an mich? Ich verstand nichts. Was wollten die von mir?

„Ich übernehme das schon...“ forderte da eine bekannte Stimme die Gruppe auf, mich nicht länger zu belästigen.

Überrascht riss ich meinen Kopf herum. Anbus waren aus ihren Verstecken gekommen, war deren Aufgabe wohl für heute erledigt, denn sie entfernten sich vom Schauplatz. Ein Zischen und keiner von denen ward mehr gesehen. Aber ein einziger Anbu war noch geblieben. Die Gruppe, welche mich abführen wollte, salutierte vor meinem unerwarteten Retter und trollte sich dann wieder ins Geschehen.

„Alles in Ordnung?“ fragte Tenzô, der vor mir in die Hocke gegangen war und mich prüfend ansah.

Ich nickte zwar bejahend, war mir aber gar nicht so sicher.

„Was ist denn bloß los?“

„Irgendwer hat aus Haushaltsmitteln eine Bombe gebaut und im Teekontor hochgehen lassen. Warum weiß man noch nicht.“, klärte er mich bereitwillig auf.

„Und was wollten die?“, fragte ich und deutete mit einem unauffälligen Fingerzeig auf die Ninjas.

„Nunja...“, kratzte sich Tenzô verlegen am Kopf und wurde leicht rot. „Sagen wir mal so, du trägst eine ziemlich auffällige Chakraspur an dir. Zwar nur ganz leicht, aber für Profis spürbar. Da waren die misstrauisch und neugierig zugleich.“

„Chakraspur? Ich habe doch gar kein Chakra.“

„Nee, DU nicht.“

Langsam dämmerte es mir, dass Inus Chakra an mir haftete. Und was war daran jetzt so schlimm? Und wieder war ich in der Situation, von der Shinobi-Welt keinen blassen Schimmer zu haben und verstand deshalb mal wieder rein gar nichts. Alle um mich herum sprachen einen Code, den ich selber nicht entschlüsseln konnte.

„Hat er dir denn immer noch nichts gesagt?“, setzte Tenzô dem Mysterium noch eines oben drauf und sah mich sehr mitleidig an, so als wolle er etwas sagen und durfte aber nicht.

Ich schüttelte einfach nur mein Haupt, und Tenzô kommentierte es mit einem gequälten Seufzer.

15 - Der Tag, an dem ich aus allen Wolken fiel

Die Explosion im Teekontor sollte noch weite Kreise ziehen. Man musste etwas näher ausholen und erklären, dass unser Kontorviertel einen Sonderstatus innerhalb Konohas hegte, kamen wir Händler doch alle aus verschiedenen Reichen. Niemand aus Konoha oder dem übrigen Feuer-Reich handelte hier Waren. Das brachte uns in der restlichen Stadt einen exotischen Ruf ein, der jedoch keineswegs negativ gebraucht wurde. Wir „da oben“ waren einfach „die Anderen“ oder „die Auswärtigen“. Wir waren wie eine kleine Stadt in der Stadt, hatten zum Teil unsere eigenen Regeln und einen Gemeinschaftsvorsitzenden, der direkt mit dem Feudalherren des Feuer-Reiches kommunizierte. Das Kontorviertel war eine Freihandelszone mit vorteilhaften Zollregularien und Steuerfreiheit. Mit dem Ältestenrat oder gar dem Hokage hatten wir demnach nichts zu schaffen. Wenn man es persönlich so gewollt hätte, so hätte man sich hier oben in unserem Viertel sogar verschanzen können, ohne jemals nur das kleinste Bisschen Kontakt zur Konoha-Welt zu haben.

Nun trug es sich aber zu, dass es in einem Dorf voller Shinobi gar nicht gern gesehen wurde, wenn dort eine Bombe am helllichten Tage hochging. Immerhin waren die Eingangstore sorgsam bewacht und die Kontrollen der mitgebrachten Gepäckstücke und Güter hoch. So eine Detonation ließ die Ninja-Bande natürlich sofort rätseln, wer einen Sprengsatz ins Dorf geschmuggelt haben könnte. Mal eben so vorbei an allen Sicherheitsmaßnahmen. Die Frage nach dem Warum war da fürs Erste gar nicht mal so wichtig. Die wurde großzügig nach hinten geschoben. Die Ninja wollten sofort die Lücken im System finden. Und man spürte, wie es in den Straßen im Hintergrund fast unmerklich hektisch wurde. Alle Schlupflöcher und sensible Punkte wurden gefilzt. Es sollte tatsächlich so sein, wie es Tenzô bereits am Anschlagstage mir gegenüber vermutet hatte: Der Sprengsatz wurde erst innerhalb der Stadtmauern zusammengesetzt aus Mitteln, die man sich jederzeit in jedem billigen Baustoffladen kaufen konnte. Doch da das Kontorviertel als Enklave in Konoha lag, war der Fall für die Anbu nicht weiter von Bedeutung. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass es die Bande so emsig umtrieb, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Durch ein nebenbei belauschtes Gespräch zweier Shinobi-Frauen an der Supermarktkasse bekam ich eher zufällig mit, dass Hokage-sama nämlich schon seit Tagen aus seinem Büro zu einem Kagetreffen ausgeflogen war. Da war es der führerlosen Truppe entweder total oberpeinlich, dass sie ihr Dorf in seiner Abwesenheit nicht im Griff hatten. Oder sie fürchteten das absolute Hammerdonnerwetter, wenn ihr Chef wieder im Dorfe wäre. Vielleicht auch beides. Einschätzen konnte ich das nicht. Aber diese eigenwillige Art der Vertuschung und des blinden Aktionismus amüsierte mich, obgleich ich gar nicht mal so genau sagen konnte, warum.

Das Rätsel des Anschlages hingegen konnte schon zwei Tage nach eben diesem Geschehen auf der nächsten Vollversammlung aller Kontorleiter gelöst werden. Wir trafen uns regelmäßig einmal im Monat. Nun hatte es aber die Situation verlangt, außerplanmäßig zu tagen. Der Leiter des Teekontors und seine ganze Familie hatten ihr Leben lassen müssen. Zwei Mitarbeiter waren schwer verletzt worden und befanden sich immer noch in stationärer Behandlung. Kleinlaut gab der stellvertretende Teekontorleiter dann zu, dass sie schon eine längere Zeit lang erpresst worden wären. Viel Geld wäre schon geflossen. Dem letzten Erpresserschreiben habe man nicht zustimmen wollen, da das Teekontor nicht mehr über die möglichen finanziellen Mittel verfügte und kurz vor der pleite stand. Ein Raunen ging durch unsere Reihen, denn es war eine Information, die uns alle beunruhigte. Auch wir hätten Opfer von Erpresserbriefen werden können. Der Stellvertreter versuchte uns zu beruhigen, dass es sich hier um eine lokale Angelegenheit zwischen dem Kaffee-Reich und dem Tee-Reich handelte. Wir müssten nicht fürchten, mit hineingezogen zu werden. Trotzdem war unser Vertrauen untereinander erschüttert. Man hätte diese Information allein zum Selbstschutz schon zu gerne früher gewusst. Zumindest waren wir froh, dass es „nur“ das Teegebäude getroffen hatte und nicht eines unserer Häuser, obgleich der Schaden durch die Detonation schon sichtbar war. Selbst mein Haus hatte, obwohl es weiter weg stand, hier und da zerbrochene Fensterscheiben durch herumfliegende Trümmer erlitten. Doch der Klopfer des Abends sollte noch kommen: Der Feudalherr des Feuer-Reiches interessierte sich natürlich mächtig für den Vorfall und überlegte, der Kontorgemeinschaft die Unabhängigkeit zu entziehen, wenn sie nicht für ihren eigenen und den Schutz von Anderen bürgen könnte. Im Klartext hieße das, wir müssten uns als Viertel zu Konohagakure eingliedern und hohe Steuern und Zölle abführen. Somit stünden wir in unmittelbarer Konkurrenz zu den anderen Händlern des Ortes und müssten zukünftig knallhart kalkulieren und Preisschlachten führen. Natürlich stießen diese Ideen in den jeweiligen Kontorhauptsitzen nicht auf freudige Ohren. Ganz im Gegenteil: Man überlegte sogar, dass eine oder andere Kontor zu schließen. Meine Leitung hatte sich aus dem Erd-Reich noch nicht gemeldet. Man wollte die Entscheidung des Feudalherren noch abwarten. Mir war mulmig zumute, wollte ich doch aus Konoha eigentlich nie wieder wegziehen müssen. Ich liebte mein neues Zuhause. Und noch mehr liebte ich nun einen hier ansässigen Anbu.

Und genau das war das Stichwort, weshalb mich plötzlich alle Augenpaare anblickten und die gerade noch hitzig diskutierende Gruppe verstummte. Ich hatte jedoch nicht zugehört und vor mich hergeträumt. Eher Albträume, wie ich heulend meine Sachen packen und zurück ins Erd-Reich fahren müsste.

„Die Jibek“, raunte da jemand in die Stille. „Die hat doch schon Draht zu diesen Konoha-Ninjas...“

Äh ja, wie war das Thema doch gleich? Da ich wohl wie ein Fragezeichen in die erwartungsvollen Gesichter schaute, erklärte mit der Vorsitzende noch einmal die Sache. Die Hirngespinste waren folgende, dass man Kompromisse finden müsste. Wenn man die Sicherheit durch eine Zusammenarbeit mit den Konoha-Shinobis gewährleisten könnte, so könnte man vielleicht die Selbstständigkeit des Kontorviertels bewahren. Wie heuerte man denn so einen Ninja an? Ich hätte ja schon einen. Neulich stand nämlich einer mit mir zusammen vor meiner Tür. Und vorgestern nach dem Anschlag hätte ich mit einem weiteren Ninja sehr vertraut geredet. Und was kostete der so als Entlohnung? Würden die solche Missionen übernehmen und unser Viertel bewachen?

Da prasselten ziemlich viele Fragen auf mich ein. Und erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr man doch von der eigenen Nachbarschaft bespitzelt wurde. Das Fenster zur Straße war das Tor zur Welt. Ja, Inu hatte vor der Tür gestanden, als Yuuki mich versehentlich ausgesperrt hatte. Und ja, mit Tenzô hatte ich kurz geredet bis ich mich schlotternd mit weichen Knien zu meiner Wohnung hinauf geschliffen und anschließend ausgiebig geduscht hatte. Den Staub auf meiner Haut und in den Haaren hatte ich nicht länger ertragen können. Außerdem war meine Kleidung zerrissen, als mich die Wucht der Explosion über die Straße fegte. Spannend, welche Beziehungsgeflechte da nun hineininterpretiert wurden, nur weil ich mit Konoha-Ninjas sprach. Überrumpelt fuchtelte ich mit den Händen in der Luft, während ich mit hochrotem Kopf die Beobachtungen meiner Nachbarschaft herunterspielte. Nein, ich hätte definitiv keine Missionen oder Ninjas gebucht. Die hätten sich mir quasi aufgedrängt, als es um das Missgeschick meines Sohnes ging. Im Geiste ergänzte ich noch für mich selbst, dass diese Exemplare, mit denen ich gesichtet wurde, eh unbezahlbar wären. Da würde es noch nicht einmal ausreichen, wenn man auf das gesamte Kontorviertel eine Hypothek aufnehmen würde. Und Lust hatten beide auf so einen Eierschaukeljob bestimmt auch nicht. Dazu war das Leben in unserer Straße einfach viel zu langweilig, als dass man sie rund um die Uhr bewachen müsste. Allerdings spielte mir mein Kopfkino die Komödie vor, wie Inu den lieben langen Tag auf meinem Sofa lümmeln würde, schlafend oder lesend, ab und zu einen Kontrollblick hinunter in die Straßenschlucht werfen würde und ansonsten wohl von der Urlaubsmission restlos begeistert wäre. So verschlafen, wie der durch die Gegend zog, täte dem Urlaub sicherlich mal gut. Mit einem leichten Grinsen kehrten meine Gedanken zurück zur Sitzung. Ich könnte mich mal bei den Shinobis erkundigen, wimmelte ich die aufmerksamen Zuhörer ab. Trotzdem wurde ich argwöhnisch beäugt. So verunsichert nach Luft schnappend kannte mich hier gar keiner. Sonst war ich eiskalt und energisch in Krisengesprächen. Was war denn da los? Die Geschichte wollte ich auf gar keinen Fall mit den hier Anwesenden vertiefen. Glücklicherweise wandte man sich von mir als Gesprächsmittelpunkt wieder ab. Unsere Versammlung löste sich nach einem wieder aufkommenden, emotionsgeladenen Wortgefecht zur späten Nachtstunde auf.
 

Als ich aus dem stickigen und viel zu heißen Versammlungssaal heraus an die frische Luft trat, schlug sie mir viel zu kalt entgegen, obwohl es für Ende Oktober mild war. Ein sternenklarer Himmel öffnete sich über mir. Unschlüssig blickte ich die Straße hinab und haderte mit meiner Entscheidung, was ich nun tun könnte. Es hatte sich gut gepasst, dass Yuuki heute bei einem Klassenkameraden übernachten wollte. So hatte ich weder einen Babysitter organisieren, noch die Versammlung frühzeitig verlassen müssen, da ich es hasste, wenn mein Sohn so lange abends alleine daheim wäre. Nun passierte etwas, was ich als Alleinerziehende schon seit Jahren nicht mehr gehabt hatte: Ich hatte kinderfrei!

Nun stand ich hier auf der Straße nahe meines Zuhauses, wo ein kuscheliges Bett mich rief. Aber noch mehr rief mich die Altstadt von Konoha, die ich bis auf wenige abendliche Geschäftsessen noch nie erleben durfte, weil ich stets allein zuhause hockte und Yuuki hütete. Ich hatte keine Ahnung, wohin man sich so allein als Frau nachts herumtrieb. Es würde mir wenig Freude bereiten, in einer Lokalität zu landen, wo man nur deshalb angebaggert wurde, um als One-Night-Stand zu enden. Das war einfach nicht mein Stil. Mit Stolz konnte ich von mir behaupten, eine treue Tomate zu sein. Und wenn das mit Inu wirklich etwas werden sollte, dann brauchte es nicht mit so einem Fehltritt anfangen, mich abends irgendwo abschleppen lassen zu müssen. Ich schlenderte noch etwas unentschlossen die Straße hinab, aus unserem Viertel heraus und erreichte einen kleinen Aussichtspunkt. An dieser Stelle führte die Serpentinenstraße hinunter nach Alt-Konoha. Fröstelnd lehnte ich an dem Geländer, sah die hübsch funkelnden Sterne über mir und das Glitzern der Stadt unter mir. Die Glocke der Nachtwache schlug elf. Na los, Sherenina! Füße vertreten und irgendwo etwas trinken ist doch für den Anfang super! Nein, ich wollte kein Abenteuer. Ich wollte nur ein bisschen unter Leute kommen und vielleicht durch Zufall Gesellschaft zum belanglosen Quatschen finden. Also ging ich weiter die Straße hinab. Nun aber mit festerem Schritt, denn das Frösteln ließ auch bei meinem strammen Marsch nicht nach. Für solch einen späten Nachtspaziergang im Herbst war ich einfach nicht passend gekleidet. Unter meinem Übergangsmantel versteckte sich nur eine schlichte Bluse mit passendem Rock. Dazu Strumpfhose und kniehohe, absatzlose Stiefel. Ich war ja davon ausgegangen, nur zur Versammlung, aber nicht ins Dorf zu gehen. Eine Handtasche hatte ich auch nicht dabei. Mein halbes Leben, bestehend aus Schlüsselbund, Portmonee und Handy, verstaute sich in den Manteltaschen.

Mein Streifzug durch die Kälte trieb mich zuerst in ein Nachtcafé. Es war nett dort, klein und übersichtlich. Eine bunt zusammengewürfelte Ansammlung an Tischen und Stühlen und die Teelichter als einzige Lichtquellen machten es urgemütlich. Unaufdringliche Hintergrundmusik plätscherte beruhigend vor sich hin. Die Lokalität war gut besucht, dennoch herrschte keine Hektik oder Gedränge, dass stets irgendwer irgendwo herumrannte. Man lümmelte um die Tische und unterhielt sich bei einem leckeren Getränk in der Hand und ein wenig Fingerfood zum Naschen. Für den Anfang meines Ausfluges befand ich dieses Café als guten Start. Ich suchte mir einen freien Tisch in einer Ecke, bestellte einen Pott Kaffee und beobachtete eine Weile einfach nur die Szenerie. Hier war viel ziviles Publikum anwesend. Nur vereinzelt sichtete man mal eine Person in Ninja-Uniform. Der Kaffee wärmte mich innerlich wieder auf. Entspannt lehnte ich mich zurück und durchforstete mein Handy. Seit dem Anschlag war ich weder dazu gekommen, alle Nachrichten zu checken, noch meine Bibliotheksausbeute zu begutachten. Dabei hatte ich es kaum erwarten können, endlich mal die Texte zu lesen. Doch ich hatte sie zwangsweise ganz verdrängt. Das wollte ich nun nachholen. Da hatte sich so einiges an Nachrichten und Anrufen angesammelt. Und zu meinem großen Erstaunen entstammten viele entgangene Anrufe und Sprachnachrichten von Inus Anschluss. Erst wollte ich mich freuen, hatte mein Plan doch funktioniert, Inus Neugier herauszufordern. Dann aber schoss es mir eiskalt den Rücken herunter, als hätte ich einen Eimer Eiswasser über den Kopf bekommen. Hoffentlich hatte der nicht gedacht, Yuuki und ich wären bei der Explosion ums Leben gekommen, weil ich mich nicht mehr gemeldet hatte. Ohje, zu solch Auswüchsen der Fantasie hatte ich das Spiel nicht treiben wollen. Das war dann doch dumm von mir gewesen. Andererseits, sagte ich zu mir selbst, konnte ja auch niemand ahnen, dass sich kurz nach unserem Chat unsere Straße in eine Art Schlachtfeld verwandelt hatte. Da konnte ich nur hoffen, Tenzô hätte ihm berichtet, es ginge uns gut, falls sie sich deren Wege gekreuzt hätten. Ich seufzte und orderte bei der Bedienung eine Flasche Sake, weil sie keinen Rotwein auf der Getränkekarte hatten. Den ersten Schluck leerte ich auf Ex, dann durchforstete ich meine Fotogalerie der geknipsten Buchseiten. Leider war es schon so, wie ich es fast befürchtet hatte. Viele Bilder waren zu dunkel oder verwackelt. Enttäuscht löschte ich sie sofort wieder runter von meinem Handy. Doch das, was ich da noch zu lesen bekam, genügte mir, um mich immer kleiner auf meinem Stuhl werden zu lassen. Die Legende von der Kannabi-Brücke. Und sie erzählte mir definitiv viel mehr, als meine Nerven gerade vertragen konnten. Je mehr ich da so las, desto mehr schwante mir ganz Übles, wer oder was sich da ausgerechnet in meinem Leben und in meinem Herzen eingenistet hatte. Die Sakeflasche war schnell geleert. Ich spürte einen aufkommenden Schwindel, hatte ich zuvor noch nicht viel gegessen. Die alkoholbedingte Hitze stieg mir zu Kopf. Außerdem musste meine aufsteigende Nervosität damit zusammenhängen, dass ich mich auf einen Schlag hundeelend fühlte. Abwechselnd wurde es mir heiß und kalt. Mein Magen zog sich zusammen. Der Brustkorb schmerzte stechend. Doch es war mir gleich. In dem Moment hatte ich einfach nur das gnadenlose Verlangen, mich hemmungslos ins Koma zu saufen, obwohl ich so etwas nie tat. Ich bestellte eine zweite Flasche, bezahlte aber sogleich und machte mich aus dem Lokal hinaus auf die Straße.

Die Temperatur war gefühlt noch einmal drastisch gesunken, aber der Alkohol im Blut gaukelte wohlige Wärme vor. Ich warf den Kopf in den Nacken und starrte zu den Sternen. Sie verschwammen vor meinen Augen, weil sich in ihnen Tränen sammelten. Ja, da oben wäre ich jetzt auch zu gerne. Ganz weit weg von den vielen Problemen, die man immer ständig hatte. In absoluter Stille könnte man da oben funkeln und alles aus der Ferne betrachten. Ich konnte meine Gefühle, die in mir tobten, nicht beschreiben. Der Sake machte mich bekloppt in der Birne. Sollte ich heulen oder lachen, weil ich so verarscht worden war? Boah, ich kam mir so verarscht vor! Warum, dass konnte ich nicht genau definieren. Ich fühlte mich einfach so. Die zweite Flasche trank ich viel zu hastig zur Hälfte leer. Ich verschluckte mich und hustete einen Teil wieder aus. Dann torkelte ich einfach weiter. Ganz ohne Ziel. Immer an der Wand lang. Unterwegs begegnete ich einigen wenigen Passanten, die ebenfalls Mühe hatten sich auf den Beinen zu halten. Einem von diesen wich ich unbeholfen mit einer halben Pirouette aus und landete hart an einem Bretterzaun. Man sah mich verwundert an, lallte ein „'tschuldigung!“, weil man mir den Weg versperrt hatte, und ließ mich mit meinem Ballett des sterbenden Schwans allein zurück. Dort auf dem Holz verweilte ich, bis der Schmerz auf der Wange verging und die Straße vor meinen Augen ihren Wellengang beendete. Wie eine schiefe Leiter lehnte ich nun am Zaun, konnte kaum die schweren Lider oben halten und war wenig motiviert, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Erst sich nähernde Schritte von Unbekannten setzten mich in Bewegung. Ich mochte nicht von Fremden angequatscht werden. Längst wusste ich schon gar nicht mehr genau, in welchem Stadtteil ich gelandet war. Hier war ich noch nie gewesen, und falls ich irgendwann mal wieder nüchtern wäre, würde ich bei Tage diesen Straßenzug wohl auch gar nicht mehr wiedererkennen.

Langsam schlossen sämtliche Lokalitäten der Stadt. Nur wenige Geschäfte und Bars hatten durchgängig geöffnet. Vor einem kleinen Kiosk überlegte ich ernsthaft, ob einen dritte Flasche Hochprozentiges noch angemessen wäre. Trotz benebelten Verstandes zog ich ohne neuen Getränkevorrat davon. Die halbvolle Flasche in meiner Faust musste als Wegzehrung für die letzten Nachtstunden ausreichen. Wenn ich es noch recht mitgezählt hatte, schlug die nahe Uhrglocke der Nachtwache dreimal. Drei Uhr nachts, und ich war völlig fertig, unterwegs im Nirgendwo, weit weg vom warmen Bett. Ja, mein Bett zum Rausch ausschlafen wäre super. Da könnte man im Liegen auch viel besser Achterbahn fahren. Die Male, an denen ich in meinem Leben besoffen gewesen war, konnte man an einer Hand abzählen. Es waren keine schönen Erinnerungen, weshalb ich den Zustand des Betrunkenseins stets vermied. Und jetzt war ich es. Voll wie zehn Haubitzen. Nur wegen solch eines Idioten und meiner akuten Blauäugigkeit. Ich torkelte gegen einen Zaunpfosten. Der bohrte sich dumpf in meinen Magen und hätte beinahe den ganzen Mageninhalt dazu gebracht, Bekanntschaft mit dem Straßenbelag zu machen. Dieses blöde Karussell fahren im Kopf nervte mich. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich mich auf einem großen flachen Stein zur Ruhe bettete. Wie auch immer, war ich an einen Park gelangt, durch dessen Mitte der Fluss floss. Der Fluss, über dessen Wasseroberfläche ich kürzlich erst mit Inu zusammen gelaufen war. Inu … Warum heulte ich jetzt eigentlich los? Große flache Steine säumten das Flussufer. Zum Teufel, wie ich hierher geraten war. Nun lag ich da mit dem Rücken auf dem eiskalten Fels, hatte die längst leere Flasche als Flaschenpost auf Reisen geschickt und verlor mich in den Sternen. Wie schön sie hier in der Dunkelheit erst erstrahlten. Da sah ich Sterne, wie ich sie seit meiner Kindheit nie wieder gesehen hatte, weil die Dörfer und Städte nachts durch die moderne Bebauung immer heller wurden und den Glanz der Sterne raubten. Um mich herum drehte sich weiterhin alles. Keinen Schritt könnte ich noch weitergehen. Ein wehrloses Opfer für jeden, der hier vorbeikäme. Da wurde mir ein bisschen mulmig zu Mute. Ich wollte auf gar keinen Fall überfallen oder gar missbraucht werden, nur weil ich hier so in der Gegend herum lag. Das hatte ich mir zwar durch den Suff selber eingebrockt, aber ich schob bekanntlich die Schuld sehr gerne anderen zu. Und das war alles Inus Schuld, weil er gar nicht Inu hieß. Ohne Inu hätte ich mich nicht besaufen müssen. Mir fehlten Tränen zum Weiterheulen.

Wieder und wieder fielen mir die Augen zu. Aber wenn ich hier einschlafen würde, so würde ich mir den Kältetod holen. Die Wirkung des Sakes verursachte bei mir depressive Anflüge. Ich beweinte mich selbst tränenlos, dass ich mein liebes Kind nie wieder sehen würde, wenn ich hier erfror. Das fand ich selber total bescheuert und ermahnte mich, mich endlich zu erheben, aber mein Körper wollte nicht gehorchen. Als ich mich dann doch müde aufraffen wollte, fiel ich plump zur Seite und auf die Nase. Also deckte ich mich grobmotorisch mit meinen Mantel zu, als wäre er eine wärmende Decke. Ziemlich verheddert das Ganze. Dann weinte ich wieder ein bisschen vor mich her. Ich wollte Inu hassen und am liebsten in tausend Stücke zerreißen. Warum hast du mir das nicht gesagt, Inu? Warum das ganze Theater? Und dann dachte ich wieder an so viele andere Dinge, die den aufkommenden Hass löschten. Da waren die ganzen Bilder in meinem Kopf. Sie erzählten mir im Rückwärtslauf jede einzelne Szene noch einmal und noch einmal. Nun fügten sie sich ganz anders zusammen. Und plötzlich war ich ganz am Anfang, wo wir uns das allererste Mal begegnet waren. Wo die Zeit plötzlich still stand und ich komplett in seinen dunklen Augen versunken war. Ja, es stimmte. Sie waren dunkelgrau. Und seine Narbe quer über das Auge hatte ich damals gar nicht wahr genommen, weil ich so ertrunken in diesen Augen war. Es hatte schon begonnen zwischen uns, noch bevor wir es wussten. War es ihm auch so ergangen?

Im Sake musste eine Substanz vermischt worden sein, die definitiv nicht in Sake hineingehörte, denn ich hatte plötzlich Halluzinationen. Eine kalte feuchte Nase schnupperte an mir herum und stubbste mich an. Vermutlich hielt mich die Nase für Tod und wollte sich vergewissern, dass noch ein Hauch Leben in mir steckte. Müde blinzelte ich aus schmalen Schlitzen den Rest der Nase an. Ein Mops. Wo kam der denn her? Streunte der hier herum? Aber das war kein gewöhnlicher Mops. Das musste eine alkoholbedingte Illusion sein. Ja, bestimmt! Sein rechtes Vorderbein hatten einen weißen Verband. Anstelle eines Halsbandes trug er ein Ninja-Stirnband um den Kopf und eine blaue Weste mit einem Henohenomoheji auf dem Rücken. So etwas konnte nur eine Halluzination sein. Das unscharfe Bild vor meinen Augen fokussierte ich mit viel Mühe auf sein Gesicht. Möpse guckten immer etwas grimmig mit ihrer platten Nase, aber der hier besonders. Vermutlich weil die Nachtzeit nicht die Seinige war. Dass es ein Traum sein musste, wollte ich mir dann definitiv glaubhaft einreden, als der Hund auch noch zu sprechen anfing. Leider nicht zu mir, sondern in eine andere Richtung.

„Ich hab sie gefunden!“, rief er in die Dunkelheit hinein.

Mit wem sprach der Hund? Wieso konnte der überhaupt sprechen? Argh, mein Kopf schmerzte schon bei dieser kleinen Denkleistung. Ich würde es bestimmt gleich erfahren, war ich eh außer Gefecht gesetzt und bewegungsunfähig. Flucht unmöglich. Ich musste ziemlich erbärmlich aussehen. Der Hund setzte sich dicht neben mich hin und kratzte sich mit der Hinterpfote am Ohr. Musste das sein? Vielleicht hatte der Flöhe und ich hätte dann auch welche? Igitt, ich wollte keine Flöhe. Ich atmete einmal tief durch, es klang aber nur nach einem schwer seufzenden Schnaufen.

„Das hast du gut gemacht, Pakkun!“, hörte ich dicht hinter mir eine ruhige Stimme.

Ich kannte diese Stimme. Ich liebte diese Stimme. Dann wurde alles Weiß. Es umschlang mich schützend und wärmend wie Daunenfedern. Als würde ich mich als Raupe eben in einen Kokon verpuppen, verlor ich mich in einem Traum aus Crepe de Chine Seide. Wie ein kostbares Paket wurde ich sorgsam eingewickelt. Arme schoben sich unter meinen Kniekehlen und Schulterblätter, dann wurde ich hochgehoben.

Ausgerechnet jetzt wurde ich gefunden, wo ich aussah wie ein Häufchen Elend und das jämmerlichste Bild abgab, was man sich vorstellen konnte. Ich wollte nicht gerettet werden! Ich war schon groß und könnte ganz bestimmt auch allein nach Hause laufen. Jawohl! Bestimmt. Irgendwann später mal … Wenn das Karussell die letzte Fahrt beendet hätte. Und das sah auch gar nicht so aus, dass ich hier erfrieren würde. Mein bescheuerter Stolz war nach wie vor ungebrochen.

Ausgerechnet hier wurde ich gefunden. Mitten in der Nacht in einem Park, wo sich um diese Uhrzeit zu dieser Kälte niemand mehr draußen vor der Tür herumtrieb. Eigentlich noch nicht mal Hunde, außer dem Mops. Der saß auf seinem Hinterteil und beobachtete skeptisch, wie sein Herrchen mich liebevoll auf den Armen trug. Kam wohl nicht so oft vor.

Ausgerechnet von ihm wurde ich gefunden. Und es war noch nicht einmal ein dummer Zufall, sondern er hatte ganz gezielt nach mir gesucht. Dabei wollte ich doch ganz furchtbar wütend auf ihn sein und ihn gar nicht wiedersehen. Das war natürlich dummes Zeug, weil es nur so eine impulsive Wut aus der Situation heraus war. Ganz oberflächlich ohne jeglichen Tiefgang. Eine Emotion, für die man sich am nächsten Tage wieder selber tadelte und die einem leid tat.

Und was aber machte ich? Ich versuchte ganz sauer zu sein. Auf ihn, weil er mich so verarscht hatte. Am liebsten wollte ich ihn zum Teufel jagen. Und mit den Fäusten auf ihn eintrommeln. Und die Augen auskratzen. Und ganz böse Wörter an den Kopf schmeißen. Und …

… ganz automatisch meine Arme um seinen Hals schlingen. Mein Kopf ruhte an seiner Halsbeuge, als würde es auf der ganzen großen weiten Welt gar keinen anderen Platz für mein Haupt zum Ruhen geben. Mein Kopf gehörte einfach dahin. Völlig selbstverständlich. Tief vergrub ich mein Gesicht an seinem Westenkragen. Ich war so froh, dass er wieder da war, auch wenn es mir verborgen blieb, wie er es in der kurzen Zeit nach Konoha zurückgeschafft hatte.

„Du machst wieder Sachen, Nina-chan.“, flüsterte er sanft, dass nur wir es hören konnten. „Mach das nie wieder! Hörst du? Nie wieder!“, mahnte es eben so leise, aber mit tiefem Ernst.

„Was? Dass ich besoffen bin?“, nuschelte ich.

„Dass du dich nicht meldest.“

„Machst du auch nie.“ lallte ich beschwerend. „Und du hast mich die ganze Zeit angelogen. Du. Hast. Mich. Verarscht! Und. Ich. Hasse. Dich! Hasse. Dich...“

Bei jedem Wort knuffte meine kraftlose Faust ihn gegen die Schulter, was er ignorierend über sich ergehen ließ. Erst da merkte ich, dass wir uns längst in Bewegung gesetzt hatten. Zusammen hüpften wir erst blitzschnell über die Steine und den Fluss, dann durch die Baumwipfel und über die nächtlichen Dächer einer verschlafenen Stadt. Und genauso wie Konoha schlief, schlief ich unterwegs auch ein. Sicher und geborgen.

Mein Anbu hieß Kakashi.

16 - Der Tag, an dem ich in fremden Betten schlief

Mein Schlaf war unruhig. Eine wilde Achterbahnfahrt dominierte meine Träume. Und irgendwie gab es nur Loopings. Dabei wären geradeführende Streckenteile anstelle kurviger echt mal eine Erlösung gewesen. Wenn man jedoch einen Fuß unter der Bettdecke an die kühle Nachtluft hervor schob, so ergab das ein illusorisches Gegengewicht, welches einen auf einer halbwegs geraden Bahn hielt. Doch immer, wenn meine Gondel wieder Fahrt aufnahm und dann zackig durch die nächste Kurve donnerte, war ich heilfroh, mich mit beiden Armen an der vorderen Gondelstange festhalten zu können. Das mag alles sehr albern klingen. Es beschrieb aber genau die Art von Schlaf, die ich gerade durchleben und überleben musste.

Als es mich wieder einmal mehr eine Schraubdrehung abwärts in die Tiefe riss und ich mich festkrallte, erwachte ich nur für den einen Moment. Ich öffnete kurz die Augen, nahm das Abbild vor mir wahr, aber verarbeitete es überhaupt nicht. Und das, was ich sah, musste ein Traum im Traum sein, weil es so unwirklich war. Nahe meines eigenen Gesichts ruhte ein weiteres Gesicht. Es bettete sich auf dem selbigen Kissen wie meines und schlief in aller Stille. Dessen Mimik war vollkommen entspannt. Obgleich es feine Gesichtszüge hatte, sah man ihm erste Spuren seines Alter an, denn rechts und links neben der schmalen Nase zog sich eine angehende Falte. Mehr erhaschte ich nicht mehr, verfiel ich doch wieder dem tiefen Schlaf der Ausnüchternden.
 

Ein Sonnenstrahl kitzelte mich an der Nasenspitze und stupste mir in die Augen. Ziemlich mit mir selbst verknotet, lag ich bäuchlings unter einer verhedderten Bettdecke. Nach einer durchzechten Nacht hatte ich zwar nie einen Schädel oder gar einen Filmriss, doch ich fühlte mich zumeist gerädert und hegte keine Ambitionen, solch einen Ort der Gemütlichkeit zu verlassen. So zog ich mir die olivgrüne Decke über den Kopf. Olivgrün... Seit wann hatte ich olivgrünes Bettzeug?

In meinem Kopf begann ich an einem Groschen zu feilen. Wie war das noch letzte Nacht? Ich bin gefunden und mitgenommen worden. Dabei war ich eingeschlafen. Als ich in das Bett gelegt wurde, war ich kurz aufgewacht und sofort wieder weg gedämmert. Und alles war stockdunkel. Ratternd rollte der Groschen einen recht langen Weg durch meine Hirnwindungen, bis er endlich fiel. Das Bett... Mein Bett... Das war gar nicht mein Bett!

Wo war ich überhaupt? Langsam drehte ich den Kopf unter der Bettdecke etwas hervor und blinzelte. Nur schwerlich gewöhnten sich meine Augen an die Helligkeit des bereits laufenden Tages. Total verwirrt schaute ich in ein mir völlig fremdes Zimmer. Vielleicht hätte ich mich auch noch weiter umgesehen, wenn mein Blick nicht augenblicklich am Zimmerbesitzer hängen geblieben wäre. Der saß nämlich nahe bei mir auf einem Stuhl, hatte lässig die Beine übereinandergeschlagen und war ganz vertieft in sein Tablet. Munter bewegten sich seine Augen über den Bildschirm. Der Finger scrollte die Seiten weiter. Erst als ich mich in seinem Bett regte, wandte er sich mir zu und legte das Tablet auf den Schreibtisch neben ihm.

Ich wurde scheu angelächelt, und ich musste sagen, dass es ein wirklich schönes Lächeln war. Es gefiel mir sofort. Dazu die dunklen, frechen Augen und die zerzausten hellgrauen Haare, welch trotz ihrer mittleren Kürze in alle Richtungen standen. Obgleich seine Haut wohl nie viel Sonne abbekam, war seine Teint eine Nuance dunkler als meine. Ebenso, wie hier alle in Konoha eher dunklerer Hautnatur waren. Das harmonierte ausgesprochen gut mit seinen hellen Haaren. Mit den dunklen Augen zusammen schmolz ich dahin. Nun auch verstand ich, warum ich die Narbe quer über seine linke Gesichtshälfte zwar ertastet, aber damals bei unserer Begegnung nicht sofort gesehen hatte. Sie musste schon viele Jahre alt sein und war demnach ziemlich verblasst und verwachsen. Ansonsten steckte er in einem einfachen weißen T-Shirt, einer gräulichen knielangen Baumwollhose und hatte Schlappen an den Füßen. Wenn man es wusste, so konnte man die Anbu-Tätowierung erahnen, welche unter dem linke Ärmel hervorlugte. Und schlank war er, obgleich er schon mal behauptet hätte, durch das viele Herumsitzen bei seiner Arbeit hätte er schon am Bauch angesetzt. Ja, er mochte wohl mindestens 500g zu viel Fett auf den Rippen haben. Luxusproblemchen! In der Situation wäre ich auch gerne mal, mich bei meiner Figur über ein paar Gramm aufzuregen. Pfff! Innerlich seufzte ich kurz auf, doch der Seufzer wurde sofort von dem Gesamtpaket, was sich da mir so gegenüber präsentierte, verdrängt. Kurzum, mit dem Fisch, den ich mir da geangelt hatte, konnte ich zufrieden sein. Obwohl man ja eher sagen musste, dass er gezielt bei mir angebissen hatte, wobei ich die Angel gar nicht bewusst ausgeworfen hatte.

Ich hatte mich aufgerichtet ohne meinen Blick von ihm abzuwenden. Das registrierte ich aber erst, nachdem sich sein Lächeln zu einem leicht spöttischen Grinsen wandelte. Zugegeben lief ich peinlich berührt ein wenig rot an. Es war aber auch einfach zu bizarr. Vorher kannte ich ihn nur in die Anbu-Kleidung gehüllt und nun saß er hier völlig enttarnt. Was auch immer mein Gesicht für Bände sprach, es amüsierte ihn nicht nur, es malte auch ihm einen Rotschimmer auf die Wangen. Er wich dem Ganzen aus, indem er die Stille durchbrach:

„Jaa...“, zog er das Wort nachdenklich in die Länge, als wüsste er nicht so recht, wie er den Satz beenden sollte. „... mich gibt`s auch in zivil. Das ist zwar für 99,9% der Bevölkerung schwer vorstellbar... aber naja ...“

Es schien ihm sehr schwer zufallen, nun ein richtiges Gespräch mit mir anzufangen. Unsere Ausgangslage war nicht die einfachste. Wir waren uns schon mehr als nahe gekommen, schwammen aber wie zwei verlorene Seelen im Goldfischglas umeinander herum. Meine Kodderschnauze kehrte, ob nun gut oder schlecht, mal wieder früher zu meinen Lebensgeistern zurück, als der rational denkende Teil des Hirns.

„Und wer sind die 0,1%?“, fragte ich neugierig.

„Nur Tenzô und du,“ war die Antwort.

„Das sind 0,1% von der Gesamtbevölkerung?“, grübelte ich vor mich her, denn mein kaufmännisches Hirn konnte nicht anders und musste solche Sachverhalte genaustens überprüfen ohne, dass man es dazu aufforderte.

Nein, in Konoha musste viel mehr Leute wohnen als zweitausend Menschen. Man, ich war so durcheinander, dass ich den Witz überhaupt nicht kapiert und es tatsächlich ausgerechnet hatte. Wie doof war ich eigentlich? Kakashi lachte und meinte, es wären so um die sechshundertsiebzigtausend Einwohner. Er musste es ja wissen.

„Nina-chan hat wieder nur Zahlen im Kopf. Auch einen?“

Sein Kopfnicken deutete auf eine leere Kaffeetasse auf dem Schreibtisch. Mein plötzlich einsetzendes Strahlen musste so hellleuchtend und eindeutig gewesen sein, dass er sich von seinem Stuhl erhob und durch die Tür davonzog. Man hörte es nebenan klappern. Wasser floss rauschend in eine Kanne.

Ebenso rauschte es in meinem Kopf. Nur zwei Personen kannten ihnen? War der nie beim Arzt? Oder hatte der noch nie eine Freundin? Also da musste ich da doch definitiv mal nachhaken, wenn sich die Gelegenheit böte.

Nun erst hatte ich endlich Zeit, die Schlafstätte meiner letzten Nacht zu begutachten. Ich saß unverrückbarer Weise in Kakashis Bett. Spannend, wie wohnte denn ein Hokage so? Ziemlich gewöhnlich und schlicht, kaum persönlich. Allerdings hatten mir meine Mitarbeiter in einer der Mittagspausen auch mal berichtet, dass durch die wiederholte Zerstörung Konohas neben Haus und Hof auch sehr viele persönliche Dinge verloren gegangen waren. Vielleicht mochte das bei Kakashi auch so sein, dass da nicht viel übrig geblieben war. Und in seiner Position als Hokage war er wohl eh nicht oft daheim, sondern im Büro oder auf Sitzungen anzutreffen, weshalb er wohl nur zum Schlafen nach Hause kam. Das erklärte natürlich sofort, weshalb der mir so selten geantwortet hatte. Der war ständig dauerbeschäftigt. So langsam wurde ich erleuchtet. Die ganze Anbu-Maskerade hatte ihm einen winzigen Freiraum verschafft, in welchem er unabhängig und unbeobachtet von allem und jeden er selbst sein konnte. Ich kaute auf meiner Unterlippe. Das übliche Zeichen, dass ich mal wieder viel zu viel grübelte. Wie lebte man eine Beziehung, die so ein Versteckspiel war? Hatten wir überhaupt eine Beziehung? Ich wusste es wirklich nicht. Auch nicht, ob ich zu so etwas bereit war. Ja, meine elendigen, persönlichen Prinzipien: Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Jonin an meiner Seite haben zu wollen, nun hatte ich wohl mit Hokage-sama den Jackpot erwischt. Ausgerechnet, Kakashi!

Ich schaute auf Fotos, die eingerahmt auf dem Schreibtisch standen. Das eine zeigte eine Vierergruppe und einen sehr jungen Kakashi, sichtlich genervt, fast schon arrogant. Vermutlich waren die Personen dort sein damaliger Sensei samt Team. Ha, die Haare waren ja tatsächlich mal dunkler. Irgendwie in Richtung sturmgrau. Und auch etwas länger als heute. Wenn man meinte, sie würden heute vom Winde verweht wachsen, so musste damals ein Sturm auf seinem Haupt gewütet haben. Doch das Foto daneben toppte noch alles. Definitiv Orkan. Ich kicherte. Wie alt mochte er da gewesen sein? Mit der Maskierung überhaupt nicht einzuschätzen. Vielleicht Mitte zwanzig? Doch seine Schülertruppe überraschte mich. Die Gesichter der damaligen Kinder und somit heute Erwachsenen waren selbst mir nicht entgangen. Na sowas!

Was gab es noch zu sehen? In diesem Raum war das Bett, auf dem ich saß. Gegenüber ein relativ aufgeräumter Schreibtisch, aber darüber ein überquellendes Pinbrett. Ein mannshohes Bücherregal, das genauso aus allen Nähten platzte wie das Pinnbrett, stand quer zum Tisch wie ein Raumteiler. Obig am Kleiderschrank war ein Kleiderbügel eingehakt. Er trug den Hokagemantel nebst Hut und Schlaufschal. Erst da fiel mir auf, dass ich die Nacht schlafend in meiner Kleidung verbracht hatte. Nur die Stiefel an den Füßen fehlten mir. Na, das war doch anständig von ihm, dass ich hier nicht ausgenutzt und halb entkleidet aufgewacht bin. So hätte ich ihn auch gar nicht eingeschätzt. Andernfalls hätte ich vermutlich arge Bedenken gehabt, ob ich nicht doch einen Filmriss gehabt hätte und meine Menschenkenntnisse so derart schlecht wären.

Doch dann wurde es mir siedendheiß: Yuuki! Das Kontor! Wie spät war es überhaupt? Ich raufte mir die Haare. Heute war Freitag. Yuuki würde früher als sonst aus der Schule heimkommen und eine leere Wohnung vorfinden. Dazu war er durch die Übernachtung beladen wie ein Packesel mit dem Schlafsack und allerlei Klimbim. Auch meine Mitarbeiter würden sich sicherlich sorgen, dass ich, ohne eine Nachricht von mir zu hinterlassen, nicht in meinem Büro sitzen würde. So gerne ich hier geblieben wäre, die Pflicht rief mich mahnend. Wo lag Kakashis Wohnung überhaupt in Konoha? Weit weg vom Kontor? Ich reckte meinen Hals, sah aus dem Fenster, doch die Häuser draußen kamen mir nicht bekannt vor. Man sah wohl vom Dorfzentrum weg und nicht hinzu. Da war nicht ein einziges markantes Gebäude zu sehen oder wenigstens der Hokagefelsen, an dem man sich hätte orientieren können. Dazu müsste ich mich wohl direkt zum Fenster bewegen, um mir eine bessere Übersicht zu verschaffen.

Noch bevor ich eine Entscheidung fällen oder in tiefste Verzweiflung versinken konnte, ging die Tür auf und zwei heiße Kaffeetassen schoben sich samt Träger hindurch. Mir wurde eine Tasse mit Milchkaffee in die Hand gedrückt. Ich pustete und probierte. Eine leichte Süße schmeichelte meine Zunge. Ja, das war super! Ein vollwertiges Getränk mit Eiweiß, Kohlenhydrate und Koffein. Kakashi hatte sich wieder auf seinem Stuhl platziert und trank wie so üblich seinen Kaffee schwarz.

„Geht's dir wieder einigermaßen gut?“, fragte er mich.

Ich musste verdutzt geschaut haben. Eigentlich müsste ich mich doch bei ihm entschuldigen. Ich war letzte Nacht so wütend auf ihn gewesen und hatte es heftig an ihm ausgelassen. In dem Punkt schien er aber nicht nachtragend zu sein. Trotzdem fand ich es angebracht, eine halbherzige Entschuldigung loszuwerden.

„Ich fühle mich nur ein bisschen gerädert. Wenigstens ist mir nicht mehr schwindelig. Tut mir leid.“

„Für was?“

„Ich war sauer auf dich.“

„Hab' ich gemerkt. Erst wurde ich übelst beschimpft und dann auf mich eingeprügelt. Und als du endlich eingeschlafen warst, hast du dich die ganze Nacht an meinen Arm geklammert, dass er kurz vor dem brechen war.“, rekapitulierte er trocken die vergangenen Stunden, doch das amüsierte, leichte Grinsen blieb. „Ja, du hattest ja recht mit dem, was du gesagt hattest. Aber mir fiel so schnell kein anderer Weg ein.“

Betretendes Schweigen.

Ich hatte recht? Wenigstens wusste ich nun, dass die Gondelstange aus meinem Traum in Wirklichkeit Kakashis Arm gewesen war. Mir fiel nichts ein, was ich nun sagen sollte. Eigentlich hätte ich so viel sagen und fragen wollen, doch ich war überfordert, eine sinnvolle Reihenfolge meiner Anliegen zu basteln und vorzubringen. Es brauchte Zeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Leise trank ich meine Tasse aus und starrte auf den Fußboden.

„Ich muss nach Hause. Yuuki macht sich sonst bestimmt Sorgen. Und das Kontor wird auch eine Vermisstenanzeige starten. Wie spät ist es eigentlich?“

„Es ist schon kurz vor elf. Aber um den Rest brauchst du dich nicht kümmern. Ist schon erledigt. Soll ich dich nach Hause bringen?“

Was ist schon erledigt? Es war interessant, ihn zu beobachten. Nach außen tat er so unglaublich cool und gefasst, doch innerlich brach bei ihm eben eine komplette Welt zusammen, als ich ihm sagte, ich müsste nun gehen. Er hatte wohl gehofft, ich würde noch etwas bleiben. Ich warf die Bettdecke beiseite und stand auf. Meine Kleidung war ziemlich zerknittert. Meine Haare waren dem eines Wischmopps ähnlich. Insgesamt fühlte ich mich müde und ungepflegt. Ein herzhaftes Gähnen entwich mir. Ich machte mir nicht die Mühe, es zu unterdrücken.

„Bad ist nächste Tür links,“ sagte er, als könnte er Gedanken lesen und versteckte seine Enttäuschung hinter der Kaffeetasse.

Übermüdet schlurfte ich los. Auf dem Flur entdeckte ich im Vorbeigehen meine Stiefel und meinen Mantel. Im Bad angekommen umkurvte ich einen voll behangenen Wäscheständer und gelangte zum Waschbecken. Eine Ladung kaltes Wasser trieb die Lebensenergie rasant durch den Körper und machte mich wach. So schlimm, wie ich befürchtet hatte, sah ich gar nicht aus. Nur halt etwas müde. Nach dem Toilettengang verließ ich wieder das Bad und stieß auf Kakashi, der sich schon längst wieder in seine Ninja-Uniform gekleidet hatte. Er war gerade dabei, seine Weste anziehen. Den Rollkragen hatte er noch nicht zur Halbmaske hochgezogen. Tenzô und ich wären die einzigen, die ihn so kennen würden, schoss es mir wiederholt durch den Kopf. Seine Identität musste also ein großes Geheimnis sein, und wenn nur Tenzô und ich eingeweiht wären, so herrschte seinerseits schon eine unglaublich große Vertrauensbasis zu uns. Das verblüffte mich, welchen Stellenwert ich bereits nach der kurzen Zeit für ihn haben musste. Manch einer sagte solch Floskeln wie „Ich hab' dich lieb“ oder so was. Kakashi hatte damit wohl so seine Schwierigkeiten, hingegen er eher mit anderen Gesten sein seelisches Innerstes offenbarte. Musste er auch, denn so wie es bis jetzt gelaufen war, hatte das Ganze einen bitteren Beigeschmack. Da galt es ein paar Pluspunkte zu sammeln. Ich musterte ihn in seiner Arbeitskleidung. Er wirkte so total anders als eben. Unnahbarer, unantastbarer, respektvoller. Irgendwie hätte ich gerne lieber wieder den Kakashi vom Stuhl gehabt, als den Kakashi als Shinobi.
 

Wir schlenderten zusammen los. Kakashis Wohnung lag relativ zentral, aber in einer ruhigen Seitenstraße. Ich kannte mich hier in diesem Stadtteil absolut nicht aus, benutzte ich doch wie so oft nur die Hauptstraßen drumherum. Konohas Nebenstraßen konnten äußerst verwinkelt und eng sein. Meist passt noch nicht einmal ein Wagen durch. Wie in einem Labyrinth konnte man sich dort innerhalb der verbauten Häuserblöcke verirren. Dennoch prägte ich mir den Weg gut ein, denn wir gingen bis jetzt immer nur geradeaus. An einer unscheinbaren Häusernische stoppte Kakashi abrupt. Neugierig lugte ich hinein und staunte. In diese kleine Nische zwischen zwei Häusern quetschte sich ein winziger Onigiriladen. Ohne zu fragen, schob mich Kakashi durch die Eingangstür, um direkt dahinter mit einem Wandregal und den unterschiedlichsten Onigiri konfrontiert zu werden. Am Ende des schwach beleuchteten Ganges war die Küchenecke und die Kasse. Man konnte nur hintereinander gehen, wollte man zur Kasse gelangen.So schmal war es dort drin. Überholen wäre nur mit engstem Körperkontakt möglich.

„Kurz vor Mittag ist die beste Auswahl“, klärte mich Kakashi auf. „Noch bevor die ganzen Leute zur Mittagspause gehen und hier einfallen.“

Ich hatte noch nie so viele Onigirisorten gesehen. Ich wählte den Standard mit Mayo-Thunfisch und eine ausgefallene Variante mit Erdnuss. Für Yuuki wählte ich Huhn süß-sauer. Kakashi zog mit drei scharfen Auberginen und zwei Makrelenpasten davon. Meine Güte, wo versteckt der all die Kalorien? Und als er sich an mir vorbei zur Kasse mogelte, schlang er nur für den Augenblick streifend seinen Arm um meine Taille und ließ seine Finger über meinen Bauch gleiten. Es zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Frecher Schleimer! Ich folgte ihm zur Kasse. Ein junges Ding mit rötlichen Haaren und blauen Augen von vielleicht gerade mal zwanzig Jahren begrüßte uns mit den feinsten Höflichkeitsfloskeln. Sie war so ein dünnes Mädchen, worauf Männern abfuhren: Klein, süß und niedlich. Ein Blick sagte mehr als tausend Worte. Während sie bei Kakashi schmachtend einen Rosaschimmer auf den Wangen hatte, wurde ich mit den tödlichsten Giftpfeilen belegt. Typischer Fall von total verknallt. Obwohl ich nicht glaubte, dass das Mädel auch nur den Hauch einer Chance hätte, so grummelte es tief in mir, weil ich von diesen Niedlichkeitsfaktoren keinen einzigen erfüllen konnte. Und bestimmt gab es unzählige solcher Mädels in Konoha, die Hokage-sama auf diese Weise anstarrten. Mein Grummeln hörte auch nicht auf, wie ich beobachtet, dass Kakashi sie freundlich, aber bestimmt abfertigte. Nur ein „Hallo“ und „Tschüß“. Ich bräuchte also gar keinen Grund zum Grummeln haben. Trotzdem musste ich noch draußen vor der Tür einen Gesichtsausdruck zwischen fragend und bodenlos eifersüchtig aufgehabt haben, denn Kakashi kommentiert nur unbeeindruckt:

„Lass das! Das steht dir nicht.“

Block um Block ließen wir kauend hinter uns. Die Onigiri waren wirklich ausgezeichnet. Vermutlich die Besten, die ich bis dato gegessen hatte. Plötzlich änderte sich die Szenerie. Es waren nur noch wenige Meter zu gehen, bis wir an einer größeren Straße standen, die ich sogar wiedererkannte. Nur zwei Häuser weiter ging es die Serpentinenstraße hinauf zum Hochplateau. An der Ecke, wo wir uns befanden, war auch ein Kaffeehändler, den ich gerne besuchte. Ja, das war leicht zu merken! Den Weg zu Kakashis Wohnung würde ich wiederfinden.

Im Schatten der Häuser an einer Wand standen wir uns nun nahe gegenüber. Hier war unser Spaziergang unausweichlich zu ende. Kakashi musste links herum zum Turm und ich rechts die steile Straße hoch. Unsere Kultur im Erd-Reich war herzlich und offen. Menschen, die man mochte und liebte, wurden nicht nur hinter verschlossenen Türen, sondern auch auf offener Straße überschwänglich begrüßt, gedrückt und geküsst. Das hier im Feuer-Reich nicht so. Man war sehr viel verschlossener außerhalb seiner vier Wände und zeigte wenig Emotionen, obwohl zu beobachten war, dass die jüngere Generation sich in diesem Punkt weniger zurückhaltend zeigte.

Wir verabschiedeten uns und ich ging trat hinaus aus dem Schatten ins Sonnenlicht. Zur Mittagszeit war hier regelrechter Hochbetrieb. Noch während ich die Straßenseite wechselte, drehte ich mich einmal um die eigenen Achse, um ihn vielleicht noch einmal sehen zu können. Er wartete tatsächlich noch dort drüben und sah mir aufmerksam nach. Selbst auf die Entfernung und des Häuserschattens konnte man deutlich sehen, dass er strahlte wie die Sonne. Dann hob ich lässig wie immer kurz seine Hand zum Abschied und war schon im nächsten Wimpernschlag verschwunden.

Ich setzte meinen Weg fort und merkte gar nicht, wie schnell ich vor der Tür des Kontors stand, weil ich innerlich hin- und hergerissen war, wie es zukünftig weitergehen würde. Schon im Geschäftsraum stürmte eine Mitarbeiterin auf mich zu.

„Oh, Sie sind wieder da, Jibek-san. Wir waren ganz in Sorge, als wir hörten, Sie wären wegen eines Schwächeanfalls im Krankenhaus. Geht es Ihnen wieder gut?“, platze sie sogleich heraus.

Krankenhaus? Schwächeanfall? Blitzartig machte es „Klick“ in meinem Hirn.

„Ja, äh.. Ich hatte gestern auf dem Rückweg einen Kreislaufzusammenbruch und ... Ähm, nichts ernstes. Es geht mir gut. Ich war nur zur Beobachtung im Krankenhaus“, stammelte ich vor mich her.

Ich ließ mich entschuldigen, dass ich für heute noch Ruhe bräuchte und mich in meine Räume zurückziehen würde. Man nickte mir aufmunternd zu. Nur die alte Akka war heute mal wieder im Laden und grinste mich an wie ein Brummkreisel. Ahnte die etwas?

Als ich die Haustür aufschloss, erschrak ich sehr. Zur Salzsäule erstarrt blieb ich mitten in der geöffneten Tür stehen und wagte es nicht, mich auch nur einen Meter zu bewegen. Mitten auf dem Flur lag ein großer, braunschwarzer Hund und schlief. Eine Bulldogge. Es war nicht so, dass mir Hunde Angst machten, doch ich hatte keinen in meiner Wohnung erwartet. Doch der Höhepunkt ließ nicht auf sich warten. Der Mops von letzter Nacht hatte wohl das Türöffnen gehört, kam also aus meinem Wohnzimmer getrabt und stand nun vor mir.

„Wir müssen nicht mehr auf Yuuki warten. Sie ist wieder da!“, rief Pakkun in meine Wohnung hinein.

Meine Güte, wie viele von den Viechern gab es denn noch? Die Antwort folgte auf dem Fuße. Auf einen Schlag war ich umzingelt von acht, noch einmal zum Mitschreiben ACHT (!), Hunden unterschiedlichster Rasse. Sie hörten auf solche Namen wie Pakkun, Buru, Urushi, Shiba, Bisuke, Akino, Ûhei und Guruko. Das brachte mein Kurzzeitgedächtnis völlig zum Überlaufen. Noch immer starrte ich perplex auf das Rudel, das sich untereinander angeregt über mich unterhielt. Ich war mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht war.

„Ist das die Neue?“

„Riecht nach ihm.“

„Hat sie's nicht lange bei ihm ausgehalten, oder warum ist sie so früh wieder da?“

„Sie scheint nett zu sein.“

„Ist Kakashi im Büro?“

Fassungslos konnte ich nur sprachlos nicken oder den Kopf schütteln. Und als ob sie einem inneren Befehl folgen würden, stürmten sie alle Acht urplötzlich wie vom Blitz getroffen an mir vorbei die Treppe hinab. Ich war wieder allein, immer noch zur Salzsäule erstarrt, mit der Türklinke der geöffneten Tür in der Hand.

Der Ninja-Wahnsinn, den ich so viele Jahre gehasst und verflucht hatte, hatte mich wieder eingeholt. Es war der Moment, wo ich eine Entscheidung in Bezug auf Kakashi getroffen hatte.

17 - Der Tag, an dem die Aufnahmeprüfung war

Es gab Dinge, die erstaunten einen immer wieder aufs Neue. Natürlich hatten ich damit gerechnet, dass sich unzählige Bewerber um einen Akademieplatz am Prüfungstage einfinden würden. Sicherlich würde man wohl sogar etwas Wartezeit in Kauf nehmen müssen, um die Formularien zu klären und eine Startnummer zu erhaschen. Soviel hatte ich mir nämlich schon bei einem Pott Kaffee in meiner Küche von Hokage-sama berichten lassen.

Es war nur ein inniger Wunsch gewesen, nicht immer diese zwischenzeitliche Stille zwischen uns beiden ertragen zu müssen. Sie machte mich übellaunig, doch ich sprach mein Problem ihm gegenüber nicht aus. Trotzdem meldete er sich unaufgefordert nun regelmäßig, um nicht zu sagen, er spammte mich zu. Und zwei Tage später stand er sogar auf der Matte. So wie immer: Unangemeldet kam er wie üblich durchs Fenster. Ziemlich spät in der Nacht, als wir hier zuhause eigentlich schon alle im Bett lagen. Aber zur Abwechselung ohne Anbu-Kluft, sondern in seiner alltäglichen Shinobiuniform. Erstere war eh nur Mittel zum Zweck gewesen. Erwartet hatte ich ein Treffen so schnell nicht, gefreut hatte ich mich trotzdem riesig, ihn wiederzusehen. Es musste ihm wohl doch sehr ernst mit uns beiden sein, auch wenn er sich überrumpelt fühlte, als ich ihm einfach so überschwänglich um den Hals fiel und mich lange an ihn schmiegte. Damit konnte er noch nicht umgehen. Wird bestimmt noch, sagte ich mir selbst immer wieder.

Wie dem auch sei, kamen wir um das Thema Aufnahmeprüfung bei dem besagten Pott Kaffee nicht herum, stand doch schon in fünf Tagen das große Event an. Kakashi meinte so nebenbei, da kämen immer mal so „ein paar mehr“ vorbei. Ich sollte mich nicht wundern, dass es sich über den ganzen Tag hinziehen würde. Dann schwieg er zu dem Thema, doch sein Grinsen war nicht zu übersehen. Ich konnte nerven, betteln und zickig sein, wie ich wollte. Es war nichts aus ihm herauszubekommen. Da war doch wieder etwas, was mir nicht passte und genau aus diesem Grunde nicht ausgesprochen wurde. Mein Gefühl sollte mich nicht enttäuschen.

Wir hatten uns überlegt, meinem Sohn bis zur Aufnahmeprüfung nichts zu verraten. Weder welche Person sich hinter „Inu“ verbarg, noch dass wir Gefühle füreinander hegten. Natürlich hätte Kakashi mein Kind jederzeit selber per Brief und Siegel ohne Prüfung auf die Akademie holen könne, doch für Yuuki wäre es ein sehr viel größerer, persönlicher Erfolg, wenn er die Prüfung aus eigenen Stücken bestehen würde. Außerdem bestand die Gefahr, dass futterneidischen Mitschüler ihm von Beginn an Bevorzugung unterstellen würden. Immerhin war Yuuki keine Verwandtschaft von Kakashi, sondern ein kleines Mischlingsnichts ohne Clan-Tradition des Feuer-Reiches, und das würde für neugieriges Staunen im Dorfe sorgen. Ein alberner Spießroutenlauf wäre die Folge. Das wäre zwar dummes Zeug, doch so etwas konnte man ja schon im Vorfeld steuern und ausblenden. So, wie es jetzt war, wäre Yuuki bei der Prüfung ein Kind wie jedes andere auch. Und das war gut so.

Also gingen ein extremst aufgeregt zappelnder Yuuki und ein im Vorfeld genervtes Ich mehr als zeitig in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus, um dann an der Arena einen ersten Schock zu bekommen. Was auch immer Kakashi unter „ein paar mehr“ verstanden hatte, so hatte er definitiv eine komplett andere Definition von Menschenmassen als ich. Um es anders auszudrücken, mein werter Sohn und ich kamen gar nicht erst zur Arena, da die Warteschlange schon gefühlte hunderte Kilometer lang war und mindestens halb Alt-Konoha umrundete.

„Manche melden sich jedes Mal wieder, auch wenn sie schon -zigmal durchgefallen sind.“, hatte Kakashi erklärt. „Und die sind zum Teil wirklich talentiert. Früher wären die allesamt aufgenommen worden. Aber in Friedenszeiten braucht man keine so große Truppe mehr. Und die Anzahl der Aufträge nimmt in Zeiten von moderner Kriegsführung auch stetig ab. Da kann ich nicht jeden auf die Akademie lassen und schon gar nicht in den Dienst übernehmen. Selbst wenn der- oder diejenige noch so gut ist. Ich muss ja auch zusehen, dass ich die ganze Bande irgendwie finanziert und bezahlt bekomme. Zur Abwechselung mal ohne Stress mit dem Feudalherren.“

Das klang in den Ohren einer Kauffrau wie mir alles mehr als plausibel und vernünftig. Hokage-sama musste nicht nur seine Bande hüten, sondern auch die Kriegskasse verwalten. Und ich hatte auch schon mitbekommen, dass Konoha in Bezug auf die Missionspreisliste im Gegensatz zu anderen Dörfern doch recht teuer war. Ich konnte nicht widerstehen, ihn über seinen Job aufzuziehen. Er könnte es mal so machen, wie ich es beim quartalsmäßigen Ausverkauf mit meinen Stoffen anbot: Zwei Missionen zum Preis von einer. Wenigstens nahm er so was immer mit Humor und winkte lachend ab.

Dann verstummt ich und nagte an meiner Unterlippe. Mir schoss eine Erinnerung durch den Kopf. Als wir uns beide zum ersten Mal begegnet waren, hatte ich mit meiner Aussage wohl einen wunden Punkt getroffen. Bis heute hatte ich mich dafür nicht bei ihm entschuldigen oder gar mit ihm darüber reden können.

„Stimmt das, dass du keine Missionen mehr an Kinder vergibst? Aber neulich lief da bei den Anbu der Größe nach auch ein Kind mit herum.“

Kakashi sah mich überrascht an und dachte kurz nach. Mir war weder die Ausbildungs-, noch Karriereleiter der Shinobiwelt bekannt. Also musste sie mir kurz und knapp erklärt werden.

„Es ist tatsächlich so, dass man Missionen nach Ausbildungsrang und Fähigkeiten und nicht nach dem Alter des Shinobi vergibt. Und in den ersten zwei oder drei Jahren habe ich das auch so gehandhabt. Wie meine Vorgänger es eben auch getan hatten. Ich selber kannte es ja auch nicht anders. Es war total klar, dass man in Konoha geboren zum Shinobi ausgebildet wird. Alternativen waren unvorstellbar. Erst als meine ehemalige Schülerin mich ansprach, dass sie ein Sanatorium für traumatisierte Kinder aufbauen möchte, haben wir uns zum ersten Mal ernsthaft mit dem Thema auseinandergesetzt. Seitdem können Jugendliche zwar auch an C- oder B-Missionen teilnehmen, werden aber nicht bezahlt. Das heißt, sie brennen zwar darauf, endlich auf Mission zu gehen, haben aber gar keinen Anreiz oder erhalten eine Belohnung. Das hat die Reihen ganz schön ausgedünnt. Auf A- oder S-Mission schicke ich die grundsätzlich nicht. Das war ein ganz schwieriger Mittelweg, dass mit dem Hohen Rat und dem Feudalherren auszumachen. Und tatsächlich ist so manch ein Talent aus Konoha abgewandert.“

Kakashi machte eine Pause und hing für einen Moment seinen Gedanken nach. Was auch immer da mal wieder in seinem Kopfkino für ein Film lief, es machte keinen Sinn nach dem Inhalt seines Streifen zu fragen. Müde erhob ich mich und griff mit einer Hand die Henkel der beiden Tassen, um sie in den Spüler zu räumen. Dabei streifte ich Kakashi, der wortlos den Arm ausstreckte, um meine Taille schlang und mich zu ihm heranzog. Er vergrub sein Gesicht an meinem Bauch und hielt mich einfach nur fest. Schweigend und bedrückt. Mit einem langen Arm streckte ich mich, um mich der Tassen zu entledigen. Dann tat ich es ihm gleich und umarmte ihn, als bräuchte er Schutz und Geborgenheit.
 

Nun aber war also der große Tag gekommen. Es ging recht zügig in der Warteschlange voran. Schneller als gedacht erhielten wir unsere Startnummer zugeteilt und eine dünne Mappe mit einem langem Fragebogen und dem Tagesablauf ausgehändigt. Dabei sah mich der Shinobi am Ausgabetisch für den Bruchteil der Sekunde ziemlich skeptisch an, als er mir die Mappe überreichte. Seine Augen stachen scharf zu mir. Mit kleinen schwarzen Pupillen wurde ich von oben bis unten gescannt. Was auch immer mich zu etwas Besonderem machte, es überforderte den Shinobi am Tisch vor mir. Und genau das war wohl auch der Grund, dass er mir plötzlich nur noch ein höfliches „Auf Wiedersehen!“ schenkte und mir argwöhnisch hinterher blickte, wie ich mich mit Yuuki auf die Tribüne der Arena verzog. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck im ersten Moment nicht einordnen. Während des Wegdrehens kam mir der passende Blitzgedanke. Ja klar, Kakashis Chakraspur! Die war sicherlich genauso auffällig und bekannt wie ein bunter Hund. Knallrot lief ich an und war froh, dass mir der Farbwechsel im Gesicht erst beim Weggehen passierte und nicht, als ich von dem Shinobi angestarrt wurde.

Der Aufnahmetest bestand aus zwei Prüfungsteilen. Beim ersten Teil sollte man ein beliebiges Jutsu anwenden. Die Prüfer würden es beurteilen und vielleicht noch die eine oder andere Frage dazu stellen. War man erfolgreich, wurde man für den zweiten Teil zugelassen: ein Zweikampf. Yuuki war zwar aufgeregt, aber hochmotiviert und guter Dinge. Mir hingegen wurde schlecht und der Boden begann sich unter meinen Füßen zu drehen. Das war es also, was Kakashi mir verschwiegen hatte! Von unserem guten Warteplatz auf der Tribüne aus tackerte ich übelst sauer eine Hassansprache nach der anderen an Hokage-sama, dass ich so was wie einen Zweikampf gerne vorher gewusst hätte. Nicht auszudenken, wenn Yuuki zu Tode käme.

„Hätte ich es dir gesagt, hättest du gleich wieder einen Aufstand gemacht.“, war die lakonische Rückantwort.

Boah, Kakashi! Wenn du wieder bei mir zu Hause auftauchst, dann knallt's, dass die Wände wackeln! Jawohl! Wo steckte der eigentlich? Mit schnellen Blicken suchte ich die Arena ab, konnte ihn aber noch nirgends ausmachen. Hatte er nicht gesagt, er würde dabei sein? Müsste er das als Hokage nicht so oder so? Heißer Atem schnaufte aus meiner Nase. Kakashis innere Uhr entsprang nicht unserer weltlichen Zeitmessung. Vermutlich kreuzte er erst auf, wenn alles vorbei wäre und seine Truppe bereits die ganze Arbeit in seinem Namen erledigt hätte. Faule Socke! Wenn er zu Yuukis Auftritt zu spät käme, knallt's nochmal! Und bei mir ihm Bett bräuchte der dann auch nicht schlafen. Pfff! Meine Fingernägel bohrten sich in das Fleisch meiner Hände, dass die Haut schon ganz weiß wurde. Unsere Sitznachbarn rutschen erschrocken ein paar Meter auf der Sitzbank von uns weg. Vermutlich sahen sie meinen hochroten Kopf, die imaginären Hörner an meiner Schädeldecke und die Dampfschwaden, die ich beim Atmen ausstieß. Nur schwer beruhigte ich mich.

Wie ein kleines Häufchen Elend sackte ich auf meinem Sitzplatz zusammen, kaute an einem Onigiri, welche ich extra für unseren Picknickrucksack gemacht hatte und starrte bedröppelt Löcher in die Luft. Erst mein Sohn holte mich aus meinem Tagalbtraum zurück in den Trubel der Arena, als er mich anstieß und auf ein kleines Mädchen mit grauen Zöpfen wie Rattenschwänzen hinwies. Es sah recht süß aus mit ihren dunklen Augen und ihrem viel zu großen Pullover. Ihr Fingerzeichen verhedderten sich ständig in den Ärmeln. Sie machte einen angestrengten Gesichtsausdruck als würde sie ein achtes Weltwunder heraufbeschwören wollen. Doch spannender als das Mädchen war das Jutsu, welches sie zeigte. Eine kleine Windhose kreiselte vor ihr im Sand. Das wäre wohl allein nichts Ungewöhnliches an sich, doch die Windbewegung wuchs und wuchs und wuchs, wurde zu einem meterhohen Tornado, der lose Dinge selbst hier oben auf der Bühne mit sich riss. Mittlerweile hatte das Mädchen die komplette Aufmerksamkeit der ganzen Arena auf sich gezogen. Plötzlich schlug die anfänglich aufkommende Bewunderung des Publikums in Unruhe um. Der Tornado geriet außer Kontrolle, tanzte und hüpfte dort unten von einer Wand zur nächsten und zog seine Verwüstungsspuren im Sand. Nur mit Mühe konnte die Kleine ihren Sturmteufel wieder bändigen und warf sich einen Moment später überglücklich einer Frau Ende Zwanzig um den Hals, die wohl ihre Sensei sein musste. Erst jetzt fiel mir auf, wie ich die nachfolgenden Teilnehmer musterte, dass die so gut wie alle ihren Ausbilder anbei hatten. Ich schielte zu meinem Sohn hinüber, der nervös eine alte Konservendose mit seinen Fingern umspielte. Ob es ihn traurig machte, dass er allein antreten musste ohne Sensei-Unterstützung?

Es kamen noch einige interessant anzuschauende Jutsus. Und schlussendlich starrte auch ich wie alle die anderen hinunter in die Arena und war ziemlich beeindruckt von dem, was dort unten geboten wurde. Für einen Weile vergaß ich meine Ängste und Sorgen. Ich fühlte mich wohl.

Dann war es endlich soweit: Yuuki betrat den Platz und reichte seinem Prüfer den Anmeldebogen. Der nickte ihm aufmunternd zu und fragte noch etwas. Leider konnte man das Gespräch hier oben auf den billigen Plätzen nicht verstehen. Doch das geknickte Kopfschütteln meines Sohnes konnte eigentlich nur eine Sache bedeuten: Er trat allein an. Inu stand ihm nicht bei. Yuuki stellte die Dose in einer recht weiten Entfernung auf den Boden, schritt einige Meter ab und versuchte sich zu konzentrieren. Der Prüfer beobachtete jede Bewegung und machte gelegentlich Notizen auf seinem Klemmbrett. Wer Yuuki nicht kannte, der würde in ihm dort unten ein zielsicher, selbstbewusstes Kind sehen, doch ich wusste es besser. Er hatte Angst. Riesengroße Angst. Prüfungsangst war seit jeher das Hauptproblem für unzählige schlechte Klassenarbeiten, die viermal wiederholte Schwimmprüfung und sein Rausschmiss aus dem Baseballteam, weil er sich nie aufs Spielfeld traute, wenn er sich als Mittelpunkt des Geschehens beobachtet fühlte. Ich war jetzt schon stolz, dass er den Weg dort hinab marschiert war ohne panisch in Tränen auszubrechen. Und er war so allein. Sollte ich an die Brüstung rennen und aufmunternd zurufen oder würde ihn das irritieren? Ich wusste nicht, ob ich nun verzweifelt sein sollte, weil ich mein Kind nicht unterstützen konnte, oder ob ich stinksauer auf Kakashi sein sollte, weil er nahe dran war, sein Versprechen zu brechen.

Dann sah ich, wie Yuuki mit seinen Händen eine Höhle formte und der orangene Energieball zum Leben erweckt wurde. Aus einem schwachen Glimmen wuchs es bis gleißende Strahlen sich zwischen seinen Fingern hervor mogelten. Dann öffnete er seine Hände, zentrierte die Laserkugel wie einen Handball in seiner rechten Hand, nahm Anlauf und warf aus dem Sprung ab. Die Kugel flog so schnell wie ein Blitz, dass man sie mit bloßem Auge gar nicht fliegen sehen konnte, doch die Auswirkungen folgten auf dem Fuß. Die Konservendose zerfetzte in viele kleine Metallsplitter. Yuuki hatte es geschafft!

Es raunte bewundernd durch die Mengen. „Ah!s“ und „Oh!s“ waren zu vernehmen. Vereinzelt klatschte es Beifall. Meine Gefühle waren gemischt. Ich war sehr stolz, dass er diese Aufgabe gemeistert und seine Kräfte beherrschen gelernt hatte. Allerdings kannte ich auch seinen Ehrgeiz. Dieses Jutsu war sein Paradestück. Er konnte es tausendmal besser als diese gezwungene Aufführung und war sicherlich mit sich selber mehr als unzufrieden, dass sein Glanzstück nur so mickrig ausgefallen war. Wenigstens wussten das nur wie beide, aber nicht das Publikum und der Prüfer. Die Leute befanden das Gesehene als gut. Trotzdem schlurfte Yuuki weiterhin geknickt durch den Arenasand. Die beeindruckte Mine seines Prüfers nahm er gar nicht mehr wahr, wie er seinen Startzettel wieder in die Hand gedrückt bekam. Zwischendurch hielt er inne, suchte mit seinen Augen die Ränge ab, sah aber nur mich und nicht denjenigen, den er gesucht hatte. Ein trauriges Lächeln warf er mir zu, dann wandte er sich wieder ab. Ich hätte nie gedacht, wie viel es ihm bedeutete, Inu-sensei wäre hier.

Ich suchte unseren Tribünenplatz wieder auf, goss mir einen Kaffee ein und wartete auf die Rückkehr meines Sohnes. Es dauerte. Er ließ sich Zeit. Meines Erachtens ließ er sich viel zu viel Zeit. Da wird doch wohl nichts passiert sein? Als ich meine Tasse geleert hatte, packte ich alles zusammen. Es beunruhigte mich, dass der immer noch nicht aufgekreuzt war. Ich wollte ihn suchen. Aber wo? Instinktiv wählte ich einen Weg, der zur Arena führen müsste und hoffte, dass er einfach unterwegs aufgehalten worden war. Ich musste nicht lange suchen. In dem schlecht beleuchten Gang zwischen den vielen Menschen saß er auf dem Fußboden, lehnte rücklings an der Wand und vergrub seinen Kopf in den Händen. Ich kämpfte mich durch den Strom der Leute, kam aber nur schlecht voran. Es sollte jemand anderes vor mir bei ihm ankommen, dass ich perplex auf halben Wege stehen blieb und einfach nur staunte.

„Warum bist du traurig? Du hast es geschafft.“, wurde ein am Boden zerstörter Yuuki angesprochen, der nicht aufsah, sondern nur die Stimme hörte.

„Inu-sen... !“

Der Rest blieb im Hals stecken, als er seinen Kopf ruckartig hob. Mit weit aufgerissenen Augen wie zur Eisfigur erstarrt, stierte er sein Gegenüber an, als könnte er es gar nicht glauben, wer da in einem Anbu-Mantel vor seiner Nase hockte und ihn unter der Kapuze anstrahlte wie die aufgehende Morgensonne. Yuukis Hirn war total überfordert mit der neuen Information.

Die beiden bildeten einen eigenen kleinen Kreis für sich, als sie kurz miteinander sprachen. Da blendeten sie vollkommen alle anderen aus, die an ihnen vorbeigingen, teilweise stehen blieben und neugierig herab schauten, tuschelten und dann weiterzogen. Ich beobachtete, wie sich bei meinem Kind ein Schalter im Inneren umlegte. Zufrieden sprang er auf und schwor hochmotiviert seinem Sensei den kommenden Wettkampfsieg. Eine kleine Gruppe an jodelnden Menschen rempelte mich an, ich verlor mein Gleichgewicht und strauchelte. Die Wand fing mich auf. Und als ich wieder aufschaute, so strahlte mich ein überglücklicher Yuuki an. Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. Mit glänzenden Augen und roten Wangen schnatterte er fröhlich los.

„Mama, weißt du wer Inu ist?“

Das Thema war mir ein zu heißen Eisen, als dass es nun hier unters Volk gebracht werden musste. Kakashi war längst wieder entschwunden. So wie immer. Mit meinem Kind am Arm suchte ich den Weg zurück zur Tribüne. Natürlich waren unsere Plätze bereits weg, denn die angekündigte Pause hatte bereits begonnen. Die Prüfer trugen ihre Aktennotizen zusammen und trafen nun die Auswahl, wer es in die zweite Runde schaffen würde. Es summte und brummte wie in einem Bienennest. Alle fieberten gebannt den Ergebnissen und den zukünftigen Wettkampfpaarungen entgegen. Mir war es hier definitiv zu laut, zu voll und zu stickig. Die Ergebnislisten würden nicht vor dem späten Abend ausgehängt werden. Uns war bereits bei der Anmeldung mitgeteilt worden, dass es sehr viele Anmeldungen gegeben hatte und dass man einen zweiten Prüfungstag festlegen würde. Für uns, die aus Konoha kamen, machte es Sinn, nicht die Zeit auf der überfüllten Tribüne totzuschlagen, sondern zwischenzeitlich nach Hause zu gehen. Also schlug ich meinem Sohnemann vor, ein verspätetes Mittagessen in einem Lokal seiner Wahl einzunehmen. Man könnte ja später, wenn der große Ansturm vor dem schwarzen Brett abebben würde, die Listen sichten. Auf den Weg durch die Straßen von Alt-Konoha pingte es in meiner Jackentasche. Ich kramte mein Handy hervor.

„Sorry für die Planänderung, aber Yuuki saß da wie ein Trümmerhaufen. Wir sehen uns übermorgen. Ok?“

Ja, das hatte ich schon gemerkt. Hokage-sama änderte gerne und oft den Plan ohne Absprache. Unerklärlicher Weise funktionierte der Plan dann trotzdem immer noch. Nun waren wir also beide die Inu-Eingeweihten. Mal sehen, wie sich das zukünftig entwickeln würde.

„Ja, ist ok. Kommt er denn eine Runde weiter?“

Es pingt noch zweimal. Schnappschüsse von handschriftlichen Zetteln.

„Muss ich noch abtippen...“

Ich zoomt die Fotos heran und brauchte etwas Zeit, bis ich mich in den fotografierten Tabellen zurecht fand. Yuuki war eine Runde weitergerutscht. Als Nummer 35 von 50. Immerhin! Und er würde übermorgen als einer der ersten an den Start gehen. Das war gut. So müsste er nicht allzu lange warten und das Lampenfieber samt Prüfungsangst ertragen. Ich behielt die Infos für mich. Sollte doch Yuuki heute Abend seinen Namen am schwarzen Brett auf den Listen selber finden und sich freuen.
 

Übermorgen kam schneller als erwartet. Nervös wie Kinder am Einschulungstag rutschten wir auf unserer Tribünenbank unruhig hin und her. Mein Sohn zitterte vor Versagensängsten. Ich zitterte vor Panik, ich müsste ihn in Einzelteilen aus dem Sand sammeln. Auch wenn es bei Strafe verboten war, seinen Gegner umzubringen, so ging man hier nicht zimperlich um. Bereits der erste Kampf war schon nach wenigen Minuten beendet, weil der eine Junge den anderen überraschte und im wahrsten Sinne das Wortes gegrillte. Jaulend ging der Verlierer in einer Flammenwand unter. Ich war total geschockt und auch Yuuki wurde es mulmig zu Mute. Immerhin wusste er über seinen Gegner rein gar nichts. Auch hatten wir schon die Feststellung gemacht, dass viele der Kinder und Jugendlichen schon intensiveres Training und erste Kampferfahrung hinter sich hatten. Für diese war es ein Leichtes, sich binnen Sekunden eine Strategie zurecht zu legen. Yuuki aber musste auf sein Bauchgefühl hören. Da beruhigte es ihn auch nicht, dass schräg gegenüber der Arena Kakashi lässig an der Brüstung lehnte und das Treiben aufmerksam verfolgte. Yuuki stierte mit einem Tunnelblick auf den Kampfplatz und hatte vor Aufregung für Freund und Feind keine Augen und Ohren mehr übrig. Ein Kampf nach dem anderen wurde absolviert. Der eine dauerte länger, der andere war kürzer. Noch zwei Kämpfe und Yuuki würde sein Können und Talent unter Beweis stellen müssen. In meiner Begleitung fand er sich am Treffpunkt ein. Dort musste ich ihm dem Wettkampfrichter übergeben. Ich musterte Yuukis Gegner. Es war ein junges, hageres Mädchen. Vielleicht schon elf oder zwölf Jahre alt und daher ein ganzes Stück größer als mein Kind. Ihr wasserstoffblondes Haare hatte sie zu einem einfachen Zopf gebunden. Ansonsten war sie wohl ein stilles, unscheinbares Kind. Ihre Augen waren so wässerig und leer. Ihr Haut so blass wie Schnee. Aber stille Wasser sind bekanntlich tief und dreckig. Da dürfte man sich nicht täuschen lassen.

Ich eilte zu meinem Platz zurück und bohrte die Fingernägel ins Fleisch. Dabei hockte ich so angespannt auf der Bank wie ein Affe auf dem Schleifstein beim Kacken. Welch ein peinliches Bild. Ich merkte gar nicht, dass ich derart unter Strom stand und stetig zappelte.

„Hör doch mal mit dem Hampeln auf. Die ganze Arena wackelt schon!“, wurde ich trocken aus einer schwarzen Kapuzenöffnung heraus aufgezogen.

Erschrocken zuckte ich zusammen und blickte zwischen der Brüstung und dem Platz neben mir hin und her.

„Du warst doch vor einer Sekunde noch da drüben?“

Eine Antwort erwartete ich gar nicht erst. Reflexartig griff ich nach Kakashis Hand, die ich trotzdem fand, obwohl sie sich irgendwo im schwarzen Ärmelstoff des Anbu-Umhanges versteckte.

Dann ging es los. Yuuki und das Mädchen stellten sich gegenüber auf, der richtende Shinobi gab das Startzeichen und sofort griff das Mädchen auf eine erstaunliche Art an. Sie hockte sich hin wie ein Sprinter am Startblock, legte die Hände flach auf den Boden und verwandelte selbigen in Lava. So schnell wie die Lava näher kam, konnte Yuuki gar nicht weglaufen. Er tat es trotzdem. Doch als er eingekesselt wurde, musste er schnell handeln. Ein Wasserschwall quoll unter seinen Füßen aus dem Boden. Er erhob sich zu tanzenden Wellen. Einerseits kühlte das Wasser die Lava ab und brachte sie zu Gestein erstarrt zum Stehen. Andererseits verdampfte die Hitze des Lavas auch eine große Menge an dem kostbaren Nass. Bald schon füllt der Wasserdampf die komplette Arena aus. Es wurde stickig und heiß. Die Kleidung klebte durch die Luftfeuchtigkeit am Körper. Das Atmen fiel einem unerträglich schwer. Man sah nichts mehr. Weder ob das Mädchen mit der Lava die Oberhand gewann, noch ob Yuuki die Arena fluten konnte. Es war ein chakrafressendes Spiel und wer zuerst kein Chakra mehr hatte, müsste aufgeben. Plötzlich durchschoss ein Lavaball den Dunst. Das Mädchen musste in ihrer Verzweiflung versucht haben, Yuuki zu treffen, um ihn aus dem Rhythmus zu bringen. Man hörte es platschen. Also musste dort unten sehr viel Wasser sein. Die Dunstschwaden verzogen sich schnell, denn das Lava-Mädchen hatte ihr Justu aufgeben. Sie kauerte im Wasser und keuchte vor Entkräftung. Aber auch bei Yuuki sah es nicht besser aus. Der war fix und fertig mit den Nerven, hatte sich in eine von Wasser umgebenen Luftblase zurückgezogen und schwamm mit ihr auf seinem künstlichen angelegten See dahin. Er hatte es tatsächlich geschafft, die komplette Arena unter Wasser zu setzen. Wenn man nun gedacht hätte, der Kampf wäre beendet, so irrte man gewaltig.

„Isses endlich vorbei?“, fragte ich ängstlich.

Mein Gesicht vergrub sich in Kakashis Ärmel. Irgendwann hatte ich aufgehört, dem Kampf zuzusehen.

„Nein, sie wird noch zwei oder drei Lavabälle zustande bringen können.“, war die seelenruhige Antwort.

Wie konnte man da nur so ruhig und gelassen zuschauen? Ich war währenddessen schon tausend Tode gestorben und versteckte mich wieder. Eisern hielt ich seine Hand und schmiegte meinen Kopf an seine Schulter.

„Schau mal!“

Nein, ich wollte nicht schauen. Aber seine Stimme war so leise und ruhig, dass es sich auf mich übertrug. Langsam wandte ich mein Gesicht wieder dem Szenario zu. Ich konnte es nicht anders beschreiben: Obwohl es so tödlich war, war es doch so unglaublich schön. Das Mädchen hatte es geschafft, die Luftblase zum Platzen zu bringen, doch mein Sohn hatte all seine allerletzten Chakrareserven mobilisieren können. Er streckte seine Hand gen Himmel und die Laserkugel fing an zu strahlen. Nein, es war der falsche Ausdruck. Sie gleißte nur so dahin, als würde er einen millionenfach geschliffenen orangenen Diamanten in das Sonnenlicht halten. Feinstes und reinstes Licht als filigranes Kunstwerk. Selbst Kakashi schien zur Abwechselung mal erstaunt zu sein.

„Er hat ja wirklich geübt ...“, murmelte er mir leise zu.

„Jede freie Sekunde, wo du nicht da warst...“, murmelte ich ebenso zurück.

Es war ein Augenblick später, in welchem zeitgleich das Mädchen einen allerletzten Lavaball und Yuuki seine Lasersonne aufeinanderkrachen ließen. Es blitze so hell auf, dass ein jeder seine Augen schließen musste. Und als man sie wieder öffnete lagen beide Kinder wie Tod im Wasser. Am Ende sämtlicher Kräfte, völlig ausgepowert. Nur ein leichtes Zucken verriet ihren Hauch des Lebens. Es war mucksmäuschenstill in der Arena. Nur das Plätschern des ablaufenden Wassers gurgelte durch die Tunnelgänge hinaus. Was würde nun geschehen? War es ein unentschieden?

„Wer hat gewonnen?“

„Ehrliche Meinung?“

„Hmmm...“

„So wie es ausschaut, wäre es oberflächlich gesehen eine Pattsituation. Man muss jetzt mal hinter die Kulissen schauen. Da ist zum einen das Chakra. Yuuki hätte noch genügend, um noch einen zweiten Angriff zu starten. Der wäre zwar äußerst schwach, aber es würde im Ernstfall ausreichen, einen Gegner zu töten. Bei Seren ist es anders. Ihr Chakra ist so gut wie aufgebraucht. Da kommt nichts mehr. Das ist in so fern äußerst bedauerlich, weil sie schon seit vielen Jahren privat trainiert, aber nun zum vierten Mal durchgefallen ist. Sie entwickelt sich nicht weiter, obwohl sie die Jutsus sauber und perfekt ausführt. Da hätte sie heute aufgrund ihrer Vorerfahrung eindeutig mehr leisten müssen. Bei Yuuki ist das, wie du selber weißt, anders. Der ist absoluter Anfänger und wäre ihr gegenüber deshalb eigentlich im Nachteil gewesen. Ich habe sie trotzdem beide in dieser Konstellation ausgewählt, weil sie beide ein Kekkei Genkai besitzen. Wobei man anmerken muss: Yuukis „Sturm“ ist Serens „Lava“ von Natur aus überlegen. So hat sich der Nachteil wieder ausgeglichen. Kurzum, Yuuki müsste den Sieg davontragen. Und ich denke, das sieht der Rest auch so.“, analysierte Kakashi die Gesamtsituation nüchtern.

Ich spürte, wie sich seine Hand aus meiner Hand löste. Er konnte doch jetzt noch nicht gehen? Entgeistert sah ich ihn an. Doch, er musste jetzt gehen. Bevor seine engste Truppe wieder nachhaken würde, wo er sich herumgetrieben hätte. Das ginge die Truppe im Prinzip zwar nichts an, aber Nervtöterei wäre äußerst lästig. Immerhin hielt er sich hier nicht privat, sondern leider, leider beruflich auf. Ja, er hatte recht. Traurig war ich trotzdem.

Der Shinobi, welcher den Wettkampf leitet, schritt die beiden Kinder ab, die sich langsam wieder berappelten. Er prüfte ihr Befinden, wechselte wenige Worte mit beiden und stellte sich in die Mitte der Arena, die nun aussah wie ein ausgetrockneter Teich mit seinem Lavagrund. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde die weiße Siegesfahne dann in Yuukis Richtung erhoben. Yuuki hatte gewonnen! Und ich war platt. Der tosende Applaus aus den Rängen löste die angespannte Atmosphäre auf und holte mich zurück in die Realität.

Nur wenige Minuten später stand ich in einem Krankenzelt neben der Arena an der Krankenliege meines Kindes, dass schon wieder ziemlich munter war und sich freute wie ein Schneekönig im Sommer. Uns hatten die beiden Prüfungstage viel Angst, Stress und Aufregung in der Seele und einen angebrochen Fuß, einige Verbrennungen zweiten Grades und drei gequetschte Finger am Körper eingebracht. Wobei die Finger nicht die von Yuuki waren, sondern Kakashis, weil ich so energisch seine Hand gehalten hatte.

18 - Der Tag, an dem ich zweifelte

Freud und Leid lagen eng beieinander. Das mochte nur eine dumme Redewendung sein, doch holte sie einen immer wieder im Alltag ein. Gerade hatten wir alle noch gelacht, wie Yuuki seinen ersten Wettkampfsieg eingefahren hatte und zur Aufnahmeprüfung zugelassen wurde. Stolz fischte er den Brief vom Hokagebüro aus der Post. Fast hätte er vor Aufregung den gesamten Brief zerrissen, als er mit seinen Fingern den Umschlag öffnen wollte. Es war nur ein Standardbrief mit formellen Textbausteinen, wo man in einige Lücken im Text auf Strichen Anrede und Namen notierte. Darunter der offizielle Hokagestempel. Das war's. Eher unpersönlich, doch bei der Masse an Briefen wohl für Kakashi nicht anders machbar. Yuuki aber war es gleich. Er fuchtelte mit dem Schreiben freudig in der Luft und tanzte durch die ganze Wohnung. Beinahe hätte er Kakashis PostIt-Nachricht übersehen, dessen Klebestreifen den Freudentanz nicht aushielt und zwischen Flur und Wohnzimmer zu Boden segelte.

„Dienstagabend auf Trainingsplatz 4? Kakashi“, teilte der neongrüne Zettel mit, den ich seufzend auflas und mit dem Magneten an den Kühlschrank heftete.

Da waren schon sehr viele Zettel an unserer Kühlschranktür und so raffte ich mich endlich einmal auf, die Zettelwirtschaft gründlich auszumisten. Längst veraltete Stundenpläne, Arzttermine, Einkaufsgutscheine und sonstiger Papierkram, der schon längst sein Ablaufdatum überschritten hatte, wanderte in den Papierkorb. Nun prankte da neben Yuukis aktueller Stundenplan nur noch zwei Notizen mit Terminen, eine Handvoll Telefonnummer, die man nicht vergessen sollte, und Kakashis knallfarbiger PostIt. Den würde Yuuki sicherlich nicht übersehen, geschweige denn vergessen. Ich wusste bereits, worum es auf dem Trainingsplatz ging. Kakashi würde meinem Sohn schonend beibiegen müssen, dass er nicht ewig und ständig als Ausbilder zur Verfügung stehen könnte. Das ließ sein Amt als Hokage zeitlich einfach nicht zu. Es blieb abzuwarten, wie Yuuki diese bittere Pille schlucken würde.

Ich lächelte, als ich Kakashis Handschrift sah und augenblicklich an ihn denken musste. Es war ein herrlicher Morgen. Auch wenn es nun schon Herbst war und die Nächte länger wurden, konnte die morgendliche Dunkelheit dort draußen vor den Fenstern meine gute Stimmung nicht verderben. Dachte ich zumindest. Yuuki hatte gerade die Wohnung verlassen. Ich hörte noch seine Fußtritte auf der Treppe poltern. Ich wollte nur noch die restliche Post sichten und ebenfalls hinab ins Büro gehen, als ich zusammenzuckte. Ein Brief aus dem Erd-Reich? Als hätte ich eine böse Vorahnung gehabt, gefror mein Lächeln. Ich öffnete hastig den Umschlag und faltete ein hochoffizelles Schreiben der Hauptverwaltung auseinander. Schnell überflogen meine Augen die Zeilen. Nüchtern wurde mir offenbart, dass man keine Einigung mit dem Feudalherren des Feuer-Reiches in Bezug auf die Sicherheit des Kontors, die Steuererhebung und die Einfuhrzölle erzielen konnte. Zum Jahresende würde der Kontorstandort in Konohagakure geschlossen werden. Man würde mit mir persönlich bereden wollen, welchen Posten es nun für mich irgendwo anders auf der Welt gäbe. Eventuell stünde sogar ein ganz neues Aufgabengebiet zur Debatte. Interessante Bereiche und attraktive Bezahlung. Man wollte das Negative für mich äußerst positiv verpacken und mir schmackhaft machen. Die verlockenden Anwerbeversprechen zwischen den Zeilen erreichten mich nicht. Ein Besprechungstermin im November folgte in dem Schreiben, doch er verschwamm vor meinen Augen, die sich längst mit Tränen füllten. Nein! Ich wollte nicht weg auf Konoha. Ich wollte hierbleiben. Ich war doch hier mittlerweile zuhause! Natürlich konnte ich bleiben, aber wovon sollte ich ohne Arbeitsstelle unseren Unterhalt bestreiten? Und es wäre nicht nur die Arbeitsstelle, sondern auch diese Wohnung für uns passe. In einem Heulkrampf versunken, vergrub ich meinen Kopf in meinem Armen auf der Tischplatte.

Nachdem ich mich beruhigt hatte und die geröteten Augen wieder getrocknet waren, verkroch ich mich ins Büro und ordnete meine Gedanken. Ich überlegt mir einen Schlachtplan. Nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitarbeiter. Die würden ja nun in wenigen Wochen arbeitslos werden. Das war eine ganz bittere Angelegenheit. Wie sollte ich dass nur der Belegschaft ohne einen Sturm der Entrüstung verkaufen können? Vermutlich war so etwas gar nicht möglich. Also betrat ich die Höhle des Löwen und teilte allen mit, dass es am kommenden Tage eine Notfallbetriebsversammlung geben würde. Alle hätten ausnahmslos zu erscheinen. Ohne Wenn und Aber. Meine Vorzimmerdame hatte bereits alle Briefe bearbeitet und in Umschläge eingetütet. Traurig und missmutig zugleich nahm ich den Schwung Briefe an mich und machte mich auf. Ein Spaziergang an der frischen Luft würde mir guttun, die Kopf frei blasen und die Nerven beruhigen.

Es war heute sehr herbstlich. Ein kühler Wind wehte mir um die vor Schnupfen triefende Nase und rupfte die letzten, welken Blätter von den Bäumen. Gelegentlich schauerte es kurz, aber kräftig. Dann aber riss wieder die Wolkendecke auf und die Sonne spiegelte sich in den Pfützen auf der Straße. Auf der Serpentinenstraße hielt ich inne und verlor mich in den dicken schweren Wolken. Sie zogen hektisch vorbei, zerfetzten sich und setzten sich sogleich wieder selbst zu immer neuen Gebilden zusammen. In meiner schlechten Stimmung hätte ich noch ewig in die Wolken schauen und Figuren finden können, doch in der Ferne wurde es schon wieder schwarz. Die nächste Regenfront jagte vom Winde getrieben auf Konoha zu. Wenn ich die Brief noch trockenen Fußes zur Post bringen wollte, so musste ich mich sputen. Ich schaffte es pünktlich und streifte noch etwas durch die kleinen Gassen Alt-Konohas. In einem Teehaus gönnte ich mir eine fruchtige Teemischung, die den sonnigen Namen „Wohlfühloase“ trug. Er vertrieb zwar nicht meine Sorgen, wärmte aber für den Moment Hände, Gaumen und Seele. Nach der geleerten Tasse zog ich unschlüssig weiter. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mich wieder hinter den Schreibtisch zu verziehen. In meinem Kopf tobte es ebenso durcheinander, wie der Wind durch die Straßen Konohas pfiff. Ich brauchte Trost. Natürlich war es blöde von mir zu glauben, Kakashi wäre zuhause. Sicherlich hockte der ebenso an seinem Schreibtisch wie ich es um diese Zeit auch tun müsste. Trotzdem sehnte ich mich nach ihm und seiner Nähe. Seiner ruhigen Stimme. Seiner schützenden Umarmung. Zu gerne würde ich jetzt zu ihm gehen, doch das ginge auf gar keinen Fall. Ich konnte unmöglich bei ihm im Büro auftauchen und ihm vor all seinen Leuten die Hucke voll heulen. Das war ein absolutes No-Go. Und ihm sicherlich dazu noch oberpeinlich.

Ein Obststand hielt mich kurzum von meinen schweren Gedanken ab. Die leuchtend roten Äpfel sprangen mir gerade zu ins Auge und wollten unbedingt gekauft werden. Also nahm ich eine Tüte davon. Einen der Äpfel aß ich noch an Ort und Stelle. Er war herrlich süß und saftig. Unbewusst hatten mich meine Füße in eine Gasse weitergetragen, die ich neulich erst kennenlernen durfte. Ja, am anderen Ende müsste doch Kakashis Wohnung sein. Wissentlich, ihn definitiv nicht dort anzutreffen, ging ich dennoch die Gasse entlang. Wenn man schon hier war, so konnte man sich den Weg noch einmal gut im Gedächtnis abspeichern. Ich besaß zwar einen Orientierungssinn, doch war dieser nicht sonderlich gut ausgeprägt. Ich musste eine Strecke mehrmals passiert haben, um sie gut zu kennen.

Weit sollte ich nicht kommen, denn schon aus der Entfernung wurde ich Opfer einer Szene, die ich so in meinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte. Vor seiner Haustür stand Kakashi mit dem Rücken zu mir. Es war kein Zweifel daran, denn immerhin war es seine Haustür, und die hellen Haare standen unverwechselbar in alle Himmelrichtungen. Kakashi war wohl einer der wenigen Shinobi auf der Welt, die man einfach nicht verwechseln konnte. Doch das war es nicht, was mich so schockierte. Ein kleines Kind war auf seinem Arm, hatte beide Hände fest um seinen Hals geschlungen und sich eng an ihn geschmiegt. Es war das Mädchen mit den grauen Rattenschwänzen. Genau jenes, welches in der Arena den Tornado in Gang gesetzt hatte. Und um die ganze Szene noch zu krönen, stand ihm dicht gegenüber die Frau, welche ich in der Arena als Sensei des Mädchens zugeordnet hatte. Der Wind zerriss die Stimmen. Es war mir nicht möglich, den Inhalt des Gesprächs mitzubekommen, doch die Körpersprache der beiden erzählte wahre Romane. Sie stritten sich. Und es ging wohl nicht darum, ob es das Mädchen auf die Akademie geschafft hatte oder nicht. Oh nein! Der Gesichtsausdruck der Frau spuckte Gift und Galle. Ihr hübschen Augen waren zu wütenden Schlitzen verengt, ihre Mine versteinert. Was auch immer sie Kakashi an den Kopf schmiss, es musste übelst sein und setzte Kakashi schwer zu. Und Kakashi gab ihr wohl ebenso Kontra. Der Wind weht die langen wallenden und dunklen Haare der Frau ins Gesicht. Sie strich die Strähnen weg, wandte ihren Blick einen Moment von Kakashi ab und verstummte. Nach nur einer Sekunde funkelte sich mich hämisch an, dass ich erschrocken die Tüte mit den Äpfeln auf den Boden fallen ließ. Ich nahm das Pollern und Kollern weder war, noch bückte ich mich nach dem Obst. Ich war zur Salzsäule erstarrt. Unfähig, mich von dieser Tatsache vor meinen eigenen Augen abwenden zu können. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Kakashi, sag mir, dass es nicht das ist, wonach es aussieht! Als mich die Frau ins Visier genommen hatte, war es Kakashi nicht entgangen, dass er in dem Augenblick nicht mehr Streitmittelpunkt war. Er drehte sich mit dem Mädchen auf dem Arm zu mir, um den Grund der Streitunterbrechung zu klären und sah mich. Völlig überrumpelt riss er die Augen entsetzt auf. Keineswegs hatte er mich als Zeuge vor seinem Hause erwartet. Die Frau nutzte ihr Chance, schnappte sich von einem überforderten Kakashi das Kind und war vom Erdboden verschwunden. So, wie es Shinobis für gewöhnlich zu tun pflegten.

Ich hatte keine Ahnung, wie das Szenario dort in der Gasse endete, denn meine Schockstarre war in dem Wimpernschlag verschwunden, als sich unsere Blicke trafen. Da drehte ich mich um und stapfte mit strengem Schritt davon. Und als ich mich außer Sichtweite wähnte, war ich sogar ein paar Meter gelaufen, um den Stress in meinem Körper abzubauen. Genauso gut hätte ich auf sämtlich umherigen Gegenstände liebend gern eingeschlagen. Meine Äpfel vergaß ich. Ich glaubte, Kakashi rief meinen Namen, doch ich registrierte es nicht, denn ich wollte nicht. Der schicksalshafte Schlag in der Gasse tat weh. Er tat so sehr weh. Dumme, dumme Sherenina. Bist einem Ninja komplett auf den Leim gegangen. Bist verarscht, verraten und verkauft worden. Es passt nun endlich jedes Puzzleteil zusammen. Hokage-sama hatte bereits Frau und Kind. Ich war ausschließlich benutzt worden, um an Yuuki heranzukommen. Und das auf einem ganz billigen Niveau! Die liebeshungrige Mutter um den Finger gewickelt und das vaterlose Kind für die Streitkräfte einkassiert. Boah, wie hatte ich mich nur so täuschen lassen können? Da passte es doch, dass Kakashi dazumal sofort die Akte von meinem Ex angefordert hatte, um die Sachlage abzuchecken. Der wusste vermutlich schon bei unserer ersten Begegnung mehr über mich, als ich jemals über mich selbst.

Der Wolkenbruch öffnete alle Schleusen. Regentropfen mischten sich mit Tränentropfen. Auf einer abgelegenen Parkbank fand ich Zuflucht und ließ mich einregnen. In meinem Kopf galoppierte es. Eine Wut wie brennendes Feuer fraß sich durch die Hirnwindungen. Kakashi! Und dann dieses Erschleichen von Vertrauen …! So ein Arschloch! Kein Wunder, dass der so zurückhaltend war, wenn wir uns so nahe waren. Oft hätte er die Gelegenheit gehabt, mir an die Wäsche zu gehen, tat er aber nicht. Vermutlich war ich ihm doch viel zu dumm und zu hässlich. Ich war also doch nur eine stumpfe Mission wie unzählige andere Missionen und keine wahre Liebe. Was hatte ich mir selbst eigentlich eingebildet? Dass er sich in so eine Normalsterbliche wie mich verlieben würde? So gewöhnlich und durchschnittlich und unansehnlich wie ich war. Da war es mir sogar scheißegal, dass er die Mission selbst ausgeführt und sich selbst dafür hergegeben hatte. Hätte er ja auch jeden anderen schicken können. Immerhin hatte er einen riesigen Aufwand betrieben, mich total zu blamieren. Ich fühlte mich so missbraucht und dreckig. Wie ein benutzter und weggeworfener Einweg-Kaffeebecher.

Irgendwann erhob ich mich und schlurfte schweren Schrittes nach Hause. Ich hinterließ eine Wasserspur auf der Treppe und schmiss die nassen Sachen so wie sie waren in den nächsten Wäschekorb. Getrocknet und geföhnt wechselte ich zur Küche, setzte Kaffee auf und verharrte an der Küchenzeile. Mein Blick blieb an dem neongrünen PostIt! hängen. Sauer rupfte ich es von der Kühlschranktür. Nichts sollte mich an Kakashi erinnern. Später würde ich Yuuki einfach anlügen, der Zettel wäre beim Einräumen des Kühlschranks von der Tür gesegelt und wie schon unzählige Zettel vor ihm und unter den Küchenschränken verschwunden. Das war glaubhaft und kam häufig bei uns vor. Yuuki, was sollte ich ihm bloß sagen? Den hatte Kakashi längst clever auf seine Seite gezogen. Würde ich meinem Sohn ein Treffen verbieten, dann würde er heimlich dorthin laufen. Ich hatte mein Kind an Hokage-sama verloren. Langsam rutschte ich an den Küchenschränken nach unten und hockte auf dem Fußboden. Ich heulte wie ein Schlosshund. Arbeit weg, Wohnung weg, große Liebe weg! Was für ein Scheißtag!

Die Kaffeemaschine blubberte mit den prasselnden Regentropfen auf der Fensterscheibe um die Wette. An solch einem Tage konnte man sich eigentlich nur noch einen Strick nehmen und aufhängen. Mittlerweile hatte ich für meinen Liebeskummer keine Tränen mehr, sondern schluchzte nur noch mit Rotzfahnen in der Nase vor mich her. Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich das leise Schieben der Fensterscheibe nicht hörte. Elegant wie eh und je hockte Kakashi nur eine Sekunde später auf der Arbeitsplatte der Küchenzeile, zog die nassen Schuhe aus und glitt lautlos auf den Küchenfußboden. Meine Augen verfolgten seine Bewegungen, wie mein Fenster wieder geschlossen und die die verloren geglaubten Äpfel auf meinem Küchentisch abgestellt wurden. Er erhaschte den Inhalt des Briefes, der die Schließung des Kontors prophezeite, sagte dazu aber nichts. Dann ging er vor mir in die Hocke und sah mich mit seinen dunklen Augen an, in die ich mich schon wieder zu verlieren drohte. Seine Maske gab nichts von seinem Gesicht preis. Doch ich kannte es und so ergänzte mein Hirn die untere Gesichtshälfte ganz automatisch. Die schmale Nase, die leicht geschwungenen Lippen und den Leberflecke am Kinn. Da war nichts aus seinem Gesicht zu lesen. Und die Maske half ihm dabei. Das absolut perfekte Pokerface. Es musste immer noch regnen, denn es tropfte aus seinen Haaren, die selbst durch die Nässe noch strubbelig waren, und perlte von seiner Weste. Obwohl wir uns so nahe waren und uns schon viel näher gekommen waren, schien er so unendlich unantastbar und fern. Unsere unterschiedlichen Lebenswelten schienen sich wieder voneinander zu trennen.

Wir sprachen lange nichts miteinander. Die Stille knisterte in der Luft. Sie war unerträglich. Wir suchten wohl beide dir richtigen Worte, um es nicht eskalieren zu lassen. Doch mir fielen gerade nur Hasstiraden ein, die böse wie die Hölle und zerschneidend wie ein Katana wären. Kakashi entschied sich wohl innerlich dafür, dass Angriff die beste Verteidigung wäre.

„Es ist so, wie es aussah. Das Kind ist meins, aber mit dessen Mutter hab ich außer Stress nichts mehr zu tun. Wir waren noch nicht mal richtig zusammen gewesen.“

Klar, knapp und frei heraus. Völlig sachlich und emotionslos. Da war wieder kein einziger Anhaltspunkt in seiner Mimik auszumachen, ob es ihn bewegte oder nicht. Wie stand er heute noch zu dieser Sache? Und ich? Ich gab mich meinen Emotionen total hin. Es klang doch so einfach und logisch. Jeder schleppte eine Vergangenheit mit sich herum und hatte Leichen im Keller. Wo war der Haken an der Sache, dass ich es in Kakashis Falle nicht einfach akzeptieren konnte? Vielleicht lag es bloß daran, dass mein Tag so bescheuert begonnen hatte mit dem Brief von der Kontorleitung aus dem Erd-Reich, dass es so ein unglaublich trübes Wetter war und dass ich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Und vielleicht lag es auch daran, dass ich so gut wie gar nichts über Kakashi und seine Vergangenheit wusste. Absolut nichts.

Ich registrierte nicht lobend, dass Kakashi sich Gedanken über mich gemacht hatte und sogar zu mir gekommen war, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Im Moment war ich nur auf Krawall gebürstet und legte ihm alles nur erdenkliche negativ aus. Es wäre einerlei gewesen, was auch immer er mir jetzt erzählt hätte. Also musste auch das folgen, was dann bei mir immer folgte: Meine Kodderschnauze hatte freie Bahn.

„Wann hättest du mir so was erzählt?“, versprühte ich Giftpfeile.

„Wenn es sich gepasst hätte.“

„Aha...“ giftete ich weiter, tat tödlichst in der Seele verletzt und legte noch eine Schippe obenauf.

„... und wie viele Ableger rennen da von dir so durchs Dorf?“

Kakashi zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

„Wie viele Ableger? Ich weiß ja nicht, was du da hineininterpretierst und wo nun dieses schlechte Bild von mir herkommt...“

Ich schnitt ihm ungeniert das Wort ab. Es brüllte aus mir heraus, ohne dass ich es wollte:

„Du hast mich die ganze Zeit nur verarscht! Du wolltest nur Yuuki haben und sonst gar nichts! Ich bin dir doch scheißegal!“

Dicke Tränen rannen schon wieder über meine Wanken. Doch auch Kakashi konnte austeilen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Zwar brauchte der nicht zu brüllen, wie ich es tat, doch der scharfe Ton in seiner sehr ernsten Stimme fuhr durch mich wie ein Schwert, dass ich zitternd zusammenzuckte.

„Jetzt mach aber mal einen Punkt, Sherenina! Ich hab dich nicht eine Sekunde verarscht. Und um das mal klarzustellen: Ich betreibe hier den ganzen Aufwand nur, weil DU mir wichtig bist. Soviel Aufwand habe ich noch für irgend eine Frau betrieben wie für dich! Ich gehöre nicht zu der Sorte, die sich quer durch die Betten vögelt.“

Wieder war da diese ätzende Stille. Ich musste so wütend schauen, wie die Mutter von Kakashis Tochter vorhin in der Gasse. Ich strafte ihn mit Missachtung, indem ich gar nichts sagte, sondern nur wie eine Medusa schaute.

„So, wo ist denn nun dein vorlautes Mundwerk?“, hakte er eisern nach.

Seine Stimme war nur noch hart klingend. Seine Augen hatten sich verändert. Kleine schwarze Pupillen durchdrangen mich eiskalt, fast todbringend. Ich bekam Angst, versuchte es aber zu verbergen. So hatte ich ihn wahrlich noch nie erlebt.

„Wir können keine normale Beziehung führen, so wie du es dir vielleicht ausmalst. Ich bin für die nächsten Jahre noch beruflich mit dem ganzen Dorf verheiratet und habe meine Gründe, weshalb ich nicht beziehungstauglich bin. Und...“, er dachte einen Moment nach. „... ich brauche mehr Zeit, wenn das wirklich was ernstes werden soll mit uns beiden. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann lass es bleiben. Hier und jetzt!“

Damit stand er auf und stützte sich mit den Händen auf die Küchenzeile. Sein Blick verlor sich in den Wassertropfen auf der Fensterscheibe. Es waren wieder klare Worte. Nun war ich doch perplex, wie viel Seelenstriptease er hatte in die wenigen Worte verpacken können. Nie hätte ich geglaubt, dass es ihn so aufwühlte. Genauso wie es in mir wühlte.

„Ich weiß nicht, ob ich das akzeptieren kann...“ murmelte ich verwirrt.

„Dann lass es bleiben!“

Wütend stemmte er sich weg, schwang sich in seine Stiefel und war schon in der nächsten Sekunde oben in dem geöffneten Fenster.

„Ich dachte echt, du wärst anders ...“, waren seine einzigen Abschiedsworte.

Kein Blick zurück. Nichts. Nur das wütende Zuschieben des Fensters, dass es drohte, aus dem Rahmen zu springen. Erst das Zuknallen des Fensters legte einen Schalter in meinem Kopf um, der mir schimpfend mitteilte, was ich eben in meiner großen Dummheit zerstört hatte.

Dumme, dumme Sherenina! Da hatte ich wohl das leckerste und begehrteste Stück Fleisch von ganz Konoha auf meinem Teller serviert bekommen. Und was tat die dumme Sherenina in ihrem falschen Stolz voller Egoismus? Sie schmiss das Stück Fleisch in die Mülltonne.

19 - Der Tag, an dem die grüne Rettung nahte

In meiner Heimat hatte der November immer ein mystische Facette. Lange, dunkle Nächte. Weißer, dicker Nebel. Graue, verblühte Natur. Nasskalte Temperaturen. Und wenn eben dieser Nebel die Hochebenen wie in einer Decke einbettete oder durch die Täler langsam wallte, so erzählte er in der Fantasie schaurig schöne Sagengeschichten und täuschte das menschliche Augen mit Märchengestalten. Eine pure Symbolkraft von Traurigkeit und Vergänglichkeit.

Obgleich das Klima in Konoha milder war und die Vegetation weitgehendst ganzjährig grün blieb, so überbrachten die einsetzenden Tage voller Dauerregen und die vielen kahl gewehten Bäume zwischen den wenigen grün gebliebenen Laubtupfern eine ähnliche Stimmung. Und ebenso gleich spiegelte sich dieser Monat in unserem Leben wider. Es herrschte eine traurige Aufbruchstimmung und tagtäglicher Familienstreit.

Natürlich hatte Yuuki den von mir vernichteten PostIt-Zettel vom Kühlschrank nicht vergessen und war überpünktlich zum vereinbarten Treffpunkt zu Kakashi marschiert. Ich kam nicht umhin, es Kakashi hoch anzurechnen, dass er die Missstimmung zwischen uns nicht in einen Topf mit Yuukis Ausbildung warf und ihn stattdessen so weiterbehandelte wie eh und je. Trotzdem kam mein Sohn geknickt heim, denn ich wusste ja bereits im Vorfeld, was Kakashi ihm mitteilen würde: So viele Trainingseinheiten wie bisher würde es in Zukunft nicht mehr im gewohnten Maße geben. Die Stimmung kippte dann gänzlich, als ich meinem Sohn dann auch noch die Kontorschließung beichten musste und dass es sehr ungewiss wäre, wie es mit uns weitergehen würde. Ich erzählte ihm auch von dem Termin im Erd-Reich, an dem sich alles entscheiden würde. Das war eine tränenreiche Enttäuschung und eine geknallte Kinderzimmertür. Endlich hatte sich sein Wunsch erfüllt, ein Shinobi werden zu können und nun musste er vielleicht die Koffer packen. Niemals würde ich zustimmen, dass er allein hier in Konoha bleiben dürfte. Die darauffolgenden Tage schleppte wir beide uns mit blanken Nerven durch den Alltag. Erstaunlicher Weise hatte es wenigstens meine Belegschaft nach außen hin mit Fassung getragen, dass sie zum Jahresende bald allesamt auf der Straße stehen würden. Trotzdem war die Luft raus. Zwar erledigten sie nach wie vor vorbildlich ihre Aufgaben, aber der frühere Elan, das Lachen und der Eifer waren wie weggeblasen.

Um endlich meine berufliche Zukunft wieder ins Lot zu bringen, hatte ich den Termin aus dem offiziellen Schreiben meines Arbeitgebers wahrgenommen und war eine Woche später Anfang November zusammen mit Yuuki ins Erd-Reich gereist. Seine Großeltern strahlten überglücklich, als sie ihn nach so langer Zeit wiedersahen, konnten aber sofort spüren, dass ihr Lieblingsenkel nicht der aufgeweckte Sonnenschein war, wie sie ihn zuletzt in Erinnerung hatten. Durch nichts, was ihn früher erheitert oder worauf er sich im Hause seiner Großeltern gefreut hatte, konnte seinen fast schon als depressiv zu bezeichnenden Gemütszustand ändern. Sorgenvoll und fragend blickten mich meine Eltern an. Schon am ersten Abend, nachdem ich Yuuki nach dem Essen zu Bett geschickt hatte, wurde es Zeit, die Fakten auf den Tisch zu legen.

Die Unterredung bei meinen Vorgesetzten am vorherigen Tage war kurz ausgefallen und hatte mir nur zwei Optionen gelassen, die ich als Wahl zwischen Sodom oder Gomorrha bezeichnen würde. Überschwänglich wurde ich während des Gesprächs mit Lob überschüttet, wie vorbildlich ich das Kontor in Konohagakure in der Vergangenheit geleitet hatte und nach wie vor wirtschaftliche Gewinne einheimsen würde. Umso bedauerlicher wären da doch die unüberbrückbaren Differenzen zwischen der Kontorleitung und dem Feudalherren. Daher würde man mich nun gerne in der Chefetage im Hauptsitz oder aber als Haupteinkäuferin sehen wollen. Letzteres setzte hohe Reisebereitschaft auf allen Erdteilen voraus. Wäre ich kinderlos, ich hätte sofort die firmenfinanzierte Weltreise genommen. Doch mit Yuuki war es mir nicht möglich, alle Herren Länder abzuklappern. Heute hier und morgen dort. Ein schöner Traum, den ich sofort begrub. Wenn ich also nicht arbeitslos werden wollte, so müsste ich in den sauren Apfel beißen und Konoha für eine unbestimmte Zeit den Rücken kehren.

Übel gesagt musste ich sogar gestehen, dass es mir zum damaligen Zeitpunkt so rein gar nichts ausmachte, müsste ich nun hier alle Zelte abbrechen. Nach dem großen Knall mit Kakashi fürchtete ich jede Sekunde, er könnte mir über den Weg laufen. Wie hätte ich ihm begegnen sollen? Die viele Aufregung um das Kontor hatte mich gehindert, mir über Kakashi und seine plötzliche 180-Grad-Wendung Gedanken zu machen. Sonst wäre mir wohl aufgefallen, dass da etwas nicht ganz stimmig war. Immerhin hatte er mir schonungslos eine Seite präsentiert, die ich von ihm nicht kannte. So unerwartet und so verwirrend. Doch ich war viel zu aufgewühlt und mit mir selbst unrein, in den nächsten Tagen die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Ich konnte und wollte Kakashi nicht sehen, geschweige denn einen Gedanken über ihn oder unser letzte Aufeinandertreffen verschwenden. Es gebot meine persönliche Situation, es mir übertrieben einfach zu machen und ihn als Idioten zu deklarieren, als mir die näheren Hintergründe anzueignen. Also ging ich nur noch die notwendigsten Wege zur Post, zur Bank oder zum Einkauf, um bloß jeglichen Kontakt zu vermeiden. Man könnte auch glatt sagen, ich würde mich vor ihm verstecken. Und er machte es mir leicht, hatte er doch den Kontakt vollends zu mir abgebrochen. Im Nachhinein total bescheuert, wie es so schlagartig explodiert war, doch es war damals mein Bauchgefühl gewesen, welchem ich blind folgte. Kein Funke in mir, dass es auch meine Schuld gewesen sein könnte, warum es war, wie es war. Da war ich damals einfach zu egozentrisch gepolt gewesen. Ein Schock allerdings war es für Yuuki gewesen, als ich ihm die frustrierende Botschaft überbrachte, wir müssten Konoha vielleicht sogar für immer verlassen. Und so folgte, was folgen musste. Wieder einmal mehr war ich die bescheuertste Mutter auf der ganzen Welt, Türen wurden geknallt und meine Person mit Missachtung gestraft.

Bevor ich aus meinem Elternhaus wieder abreiste, zog es mich noch einmal auf einem Spaziergang durch die Straßen meiner Heimatstadt. Ich kannte hier jeden Winkel, doch in meinen Erinnerungen war hier vor vielen Jahren die Zeit stehengeblieben. In der Realität aber war die Zeit weiter verstrichen. Zum ersten Mal verspürte ich so etwas wie ein Fremdeln meiner selbst. Auch wenn es noch kein vollständiges Jahrzehnt her war, als ich diesen Ort verlassen hatte, so kam er mir plötzlich ganz anders vor. Der Blumenladen an der Ecke war verschwunden. Die alte Frau aus dem dritten Stock war verstorben und würde nun nie wieder in den Hof hinab keifen. Einige Familien aus der Straße waren weggezogen. Nun wohnten dort neue Gesichter. Das Reihenhaus am Ende der Straße war abgerissen und durch ein moderneres Gebäude ersetzt worden. Ja, der Ort war topographisch gesehen der Ort geblieben, aber seine Bewohner und seine Geschichten hatten sich verändert. Die alte Stimmung, die mir dieser Ort durch schönen Erinnerungen erhielt, war nicht mehr. Ich kam mir ebenso fremd vor wie Yuuki sich fühlen müsste, würde er nun hier leben müssen, hatte er doch so rein gar keinen Bezug hierher. Heftige Zweifel nagten an mir, ob ich wirklich Konoha verlassen sollte. Das war auch der erste Moment, indem sich meine Gedanken langsam begannen, in Bahnen zu ordnen. In welchem viele Erinnerungsfetzen und vergilbte Traumbilder durch meinen Kopf jagten. Da waren viele liebgewonnene Dinge zu sehen, die aus der Vergangenheit nie wieder zurückkommen würden. Sie waren für immer verschwunden und hatten mich allein zurückgelassen. Man wäre fremd in der eigenen Stadt. Melancholisch stellte ich fest, die Rückkehr ins Erd-Reich nur eine Notlösung, aber nichts Zufriedenstellendes wäre. Dennoch fiel mir das Fällen einer Entscheidung unendlich schwer. Ich hing an diesem verdammten Ninjadorf, an dem angenehmen Klima und an den vielen, lieben Menschen dort. Und ja verdammt, besonders an einem ...

Zurück in unserem Kontor angekommen, wurde es die kommenden Wochen immer bedrückender. Die Mitarbeiter hatten gute Arbeit geleistet, als sie die Ware umetikettierten. Der Ausverkauf hatte begonnen. Die Regale leerten sich schnell. Bald waren nur noch wenige Stoffe im Angebot. Da ich meinem Team die noch offenen Urlaubstage genehmigt hatte, verbrachte ich nun viel Zeit allein in den gähnend leeren Lagern und kramte hier und da noch die eine oder andere Stoffrolle hervor. Irgendwann später hatte ich alle Rollen unten in der Empfangshalle ordentlich aufgebahrt und in Szene gesetzt. Neue Preise wurden von mir über alte Schilder geklebt, denn ich hatte einen zusätzlichen Preissturz einkalkuliert. Und dann gab es nur noch das große Warten, wann ein Kunde sich noch das letzte Schnäppchen sichern würde. Viele aus dem alten Stammkundenkreis erwähnten bei jedem Besuch, wie sehr sie die Schließung bedauern würden. Es war kaum möglich, die Träne im Knopfloch zu verstecken. Aber auch in unserer Wohnung verschwanden immer mehr persönliche Dinge in großen, braunen Umzugskartons. Dabei war noch immer nicht geklärt, wohin unser Lebensweg führen würde. Weder hatte ich einem Angebot meines Arbeitgebers zugestimmt, noch abgesagt. Stattdessen ertappte ich mich immer öfters dabei, wie ich die Angebote an den Schwarzen Brettern in der Innenstadt filzte. Mein Bauchgefühl wollte mir unbedingt eine neue Bleibe in Konoha beschaffen. Also las ich höchst interessiert die Wohnungsanzeigen. Teilweise wurde mir schlecht. Ohne Einkommen würden wir vom Ersparten leben müssen. Bei den himmelhohen Mietpreisen kämen wir nicht einmal ein gutes Jahr über die Runden.

Auch heute war so ein nasskalter Novembertag, an dem ich mich zur Mittagszeit in ein Kaffeehaus zurückgezogen hatte und die Anzeigen im örtlichen Tagesblatt filzte. Es war nicht so, dass es keine Wohnungen auf dem Markt gab, aber es war noch nicht das richtige dabei. Zu teuer, zu klein, zu schlechte Lage. Schnell wurde mir klar, warum Wohnungssuche sehr stressig sein konnte. Kurzum, ich würde zu einer eventuellen Besichtigung Yuuki mitnehmen wollen. Immerhin wohnten wir logischerweise unter ein und demselben Dach. Dann wäre er wohl auch nicht mehr so traurig, sondern hätte tröstende Hoffnung, dass wir beide Konoha erhalten blieben.

Die Tür des Cafés wurde hastig aufgestoßen. Und zwar so hastig, dass sie bis zum Anschlag aufschwang und durch den eigenen Rückstoß an der Türangel sofort zurückgeworfen wurde. Sie klatschte gegen das Rad eines Rollstuhls, dass es metallisch schepperte. Die kleinen Schellen über der Tür bimmelten aufgeregt. Mit ihrem schrillen Läuten zusammen wehten Shinobis hinein, die unter langen hellgrauen Ponchos steckten. Ihre Kapuzen hatten sie tief ins Gesicht gezogen. Man musste zugeben, dass es draußen vor der Tür wettertechnisch sehr ungemütlich war. Es mochte diesen stürmischen Auftritt entschuldigen. Sie waren zwei an der Zahl und wären es sicherlich nicht wert gewesen, sie länger zu betrachten, hätten sie nicht ein so auffälliges Benehmen. Einer der beiden saß wie schon erwähnt im Rollstuhl, und als er seine Kapuze herunterzog, erschrak ich schon ein wenig. Den Typen hatte ich doch schon mal im Hokageturm gesehen: Der grüne Clown mit der Pilzkopffrisur und der blendend weißen Kauleiste. Und als er mich dann auch noch erblickte und mit einem Strahlen wie tausend Sonnenblumen laut ausrief „Da ist sie!“, bekam ich es doch glatt mit der Angst zu tun. Der meinte doch wohl nicht wirklich mich? Nervös blickte ich mich um, hoffte, dass der Kelch an mir vorübergehen würde, und suchte den rettenden Ausweg aus diesem Cafè.

„Mann, du nervst! Aller Tarnung zum Trotz ...“ maulte es unter einer weiteren Kapuze, die sofort gelüftet wurde.

Genervter Gesichtsausdruck, schwarzer Pferdeschwanz. Ja, dem war ich auch schon begegnet, als er mich ins Büro zur Anhörung vorgeladen und dafür später eine Rüge von Kakashi erhalten hatte. Wie hießen die beiden doch gleich? Ich suchte das Bild in meinem Kopf, welches das Namensschild an der Bürotür gespeichert hatte: Maito Gai und Nara Shikamaru. Wer von den beiden welcher war, wollte ich schon gar nicht mehr wissen. Ich wollte bloß weg! Denn meine innere Stimme sagte mir, dass das hier für mich sehr brenzelig werden könnte. Mit einem Auge erspähte ich die nächste freie Bedienung zum Bezahlen meines Heißgetränks, mit dem anderen hatte ich schon den Winkel zur Tür abgemessen. Ha, ich könnte es schaffen, redete ich mir unentwegt ein, obwohl die Flucht als Zivilist mit zwei Ninjas als Verfolger schon von Vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Ich war schon auf dem Sprung, als ich plötzlich wie gelähmt war. Nichts zu machen! Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, Herr seiner Sinne, aber nicht Herr seines Körpers zu sein. Als wäre man in seinem eigenen Leibe gefangen wie in einem Gefängnis. Was zum Henker war das? Nur mit Mühe konnte ich die Augäpfel bewegen und sah zu meinen Füßen einen Schatten, den es so nicht geben dürfte, weil die Deckenlampe mich frontal anleuchtete. Demnach hätte es nur einen Schatten hinter mir, aber nicht in einer geschwungen Linie neben mir geben dürfen. Der Schatten führte direkt zu Shikamaru, der seine Hände zu einem Viereck geformt hatte. Wir waren über den Schatten miteinander verbunden, und durch sein Jutsu wurde ich von ihm ferngesteuert. Irre! Trotzdem war und blieb es ein beschissenes Gefühl. Ich war so abgelenkt durch Shikamaru, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie Gai herbeigerollert und sich unaufgefordert an meinen Tisch platziert hatte.

„Guten Tag, es freut mich sehr die Dame kennenzulernen, über die schon das halbe Dorf redet!“

Das halbe Dorf redete über mich?! Hätte ich mich bewegen können, ich hätte wohl verwunderte Augen so groß wie Kuchenteller gemacht. Gai strahlte nach wie vor, bestellte mit einer Handbewegung über die Köpfe aller Gäste hinweg etwas, was ich aus seiner Armfuchtelei nicht im mindestens deuten konnte und fuhr unbeirrt fort, noch ehe ich irgendwelche Einwände hegen konnte. Mir war immer noch unwohl. Immerhin hielt mich ein Schatten fest und ich wusste nicht, was die beiden von mir wollten. Mir schwante es ganz dunkel im Hinterstübchen, dass sie doch wohl nicht wegen Kakashi hier wären. Das fand ich dann doch zu weit hergeholt und absurd. Wie schnell man doch eines besseren belehrt werden konnte.

„Freut mich sehr, Ihr Bekanntschaft machen zu dürfen. Darf ich Sie duzen? Meine Name ist Gai!“, wurde mir eine Hand höflich, aber bestimmt entgegengestreckt.

Die Kauleiste blitzte so weiß, als hätte man sie frisch lackiert. Abgeschreckt, aber aus dieser Zwangslage entkommen wollend, hätte ich wohl seine Hand zum Grüße geschüttelt, doch der Schatten hielt mich nach wie vor in meiner Schockstarre. Doch von einer Sekunde auf die andere verschwand sie. Der Schatten hatte sich zurückgezogen. Shikamarus Hände steckten tief in seinen Hosentaschen. Nun konnte auch ich ihn näher mustern. Im Gegensatz zu einem vor Energie platzenden Gai hatte Shikamaru eine lässig Haltung angenommen und war peinlichst darin bemüht, sich im Hintergrund zu halten. Genervt rollte er mit den Augen, als Gai anfing, sich mir näher vorzustellen, um sein Anliegen im Anschluss zu erläutern. Ich hörte nur mit halben Ohre hin, wie Gai von einem ewigen Rivalen aus Kindheitstagen berichtet, und dass dieser derzeit sonderbare Anwandlungen hätte. Ich rallerte erst viele Sätze und Absätze später, dass der besagte Rivale aus dem Monolog Kakashi sein müsste.

„... wir kennen uns schon seit Ewigkeiten und liegen in einem stetigen Wettstreit.“, leierte Gai fröhlich wie eine Drehorgel seine Geschichte herunter. „Da fällt mir jede Veränderung an ihm auf.“

Ja, ja, sorry Gai, aber Kakashi hat mir den Laufpass gegeben. Oder so ähnlich. Ich war mir selbst gar nicht mal so sicher. Aber wenn du Probleme hast mit ihm, dann bin ich wohl der falsche Ansprechpartner. Aber wieso redet das halbe Dorf über mich? Und was willst du überhaupt von mir?

„Hör mal, Gai! Du hast sie gefunden, und ich hab noch zu tun. Wir sehen uns später?“, maulte Shikamaru entnervt in den Redefluss hinein.

Es war klar aus seinem Tonfall heraus zu hören, dass seine Frage an Gai rein rhetorisch war und er wohl Stoßgebete zum Himmel entsandte, dass er den grünen Clown heute nicht mehr ertragen müsste.

„Ha, erwischt! Du hast zu tun? Was denn? Kakashi nimmt uns ja jegliche Arbeit weg. Du willst nur bei unserem Plan nicht mitmachen!“, blaffte Gai in einer Lautstärke los, dass die Bedienung vor Schreck fast den Sake an unserem Tisch verschüttet hätte. Sake? Hatte Gai den bestellt? Um diese Uhrzeit? Es war gerade mal Mittag. Und wieso nahm Kakashi den beiden die Arbeit weg? Ich kapierte gar nichts mehr. Zu meinem Unwohlsein gesellte sich die pure Hilflosigkeit. Ich drehte meinen Kopf wieder von Shikamaru weg und zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen. Gai hatte sich vornüber gebeugt und starrte mich aus nächster Nähe direkt an. Argh, der ist nicht nur unheimlich, der ist auch irre!

„Du musst wissen...“, begann Gai analytisch, während ich mich nicht erinnern konnte, dass Duzen gestattet zu haben. „... Shikamaru ist der faulste Shinobi unter der Sonne Konohas. Darum sortiert der auch immer alles so fein säuberlich, damit der nie suchen muss. Der ist sogar zu faul zum Suchen!“

Echt? Shikamaru sortiert alles? Wenn ich an das Zimmer von Gai und Shikamaru zurückdenke, dann war Gais Schreibtisch tadellos aufgeräumt, während Shikamarus überquoll. Man könnte fast boshaft behaupten, Gais Schreibtisch hätte nie auch nur eine einzige Akte gesehen. Wie dem auch sei: Shikamaru kommentierte diesen Hieb auf sich mit einem abfälligen Pfiff durch die Zähne. Doch Gais Redeschwall versiegte es nicht.

„Kakashi ist so ähnlich. Der tut immer nur so überperfekt und fleißig. Dabei ist das reinstes Kaküle. Der hat nämlich auch keinen Bock. Der erledigt immer alles schon beim ersten Mal, damit der eine Aufgabe nie nachbessern muss.“

Über meinem Kopf musste ein Fragezeichen so glühen, dass es den Stromverbrauch Konohas für ein halbes Jahr bedient hätte. Gai, was willst du von mir?! Mittlerweile stellte ich fest, dass ein volles Schälchen Sake vor mir auf dem Tisch stand. Was soll das? Na egal! Wohl bekommt's!

„Aber ich habe ihn mit der Kraft der Jugend aus seiner Reserve gelockt und ihn zu einem Wettbewerb aufgefordert, wer seinen Schreibtisch besser in Schuss hat. Er hat da noch ein bisschen Aufholbedarf, aber er wird es schon noch schaffen!“

Gais Augen funkelten nicht. Nein, sie brannten voller Kampfgeist. Sollte mir das nun Angst machen oder sollte mich diese Komödie erheitern? Ich seufzte und verabschiedete mich von dem Gedanken, heil und pünktlich von Gai wegzukommen. Also goss ich mein Schälchen wieder mit Sake voll. Anders war das hier wohl nicht zu ertragen. Kanpei!

Überrascht war ich, als Shikamaru mir von der Seite trocken zuflüsterte:

„Gai merkt seit Jahren nicht, dass Kakashi ihn komplett verarscht und deshalb immer alle Akten auf seinen Tisch schmeißt, weil er weiß, dass Gai die sofort ins Archiv ordnet. So muss Kakashi das nicht selber machen, wenn Kotetsu oder Izumo unterwegs sind.“

Ich konnte nicht anders, als laut loszuprusten. Ohja, DAS konnte ich mir bei Kakashi sehr gut vorstellen. Ich lächelte. Und es lag nicht am Alkohol. Ich dachte an Kakashi und lächelte, wie ich es seit Tagen nicht mehr getan hatte. Es war ein schöner Gedanke, der mich voller Wärme erfüllt und mich für einige Augenblicke vor Gai und seinen Erzählungen in eine Parallelwelt rettete. Ob er auch mal ein kleines bisschen an mich dachte?

„Das hab ich gehört, Shikamaru!“, beschwerte sich Gai und holte mich mit seinem lauten Organ wieder in die Realität und das Cafè zurück.

Und als Shikamaru mit einem „Du nervst!“ auf dem Absatz kehrt machte und davonging, fühlte ich mich schon fast ein wenig schutzlos dem grünen Clown ausgeliefert. Lass mich nicht allein, Shikamaru! Meine Blicke flehten ihm hinterher. Leider nicht stark genug. Noch einmal seufzte ich und beschloss, in die Offensive zu wechseln.

„So, nun aber mal Kurzfassung. Warum redet das halbe Dorf über mich? Und was hab ich mit deinem Job zu tun?“ sprach ich frei heraus.

Das kam für Gai so überraschend, dass er tatsächlich aus dem Konzept kam und kurz nachdenken musste. Er kam dann tatsächlich sehr fix mit der Wahrheit zur Sprache.

„Ach, man munkelte von einer Frau mit einer Chakraspur. Und zwar von Kakashi. Da haben sich viele gleich die Hälse verrenkt, wer denn nun seine angebliche Freundin sein könnte. Kommt ja so gut wie nie vor. Aber dich gibt es ja anscheinend wirklich. Wobei die Spur so gut wie verblasst ist. Das hält ja nicht ewig.“

Da fiel mir doch ein Stein vom Herzen, hatte ich schon fast befürchtet, ich müsste bis zum Ende meines Lebens diese Chakraspur wie ein hässlich gestochenes Tattoo mit mir herumschleppen. Hm, und wenn das mit den Beziehungskisten bei Kakashi nicht so häufig vorkam, dann verwunderte es mich doch sehr, wie eine Tochter entstehen konnte. Da spann sich aus einem Märchenwollknäul sofort wieder ein aberwitziger Faden. Leider konnte ich ihn nicht zu ende spinnen, denn Gai setzte unbeirrt fort:

„Ich weiß ja nicht, wie ihr zueinander steht, aber seit Tagen benimmt er sich komisch. Naja, er benimmt sich wie immer, aber irgendwie anders. Also … Er schlurft mit den Händen in den Taschen todmüde im Büro rum, macht aber die komplette Arbeit selber und ist die letzten Male sogar im Büro eingeschlafen. Der ging gar nicht mehr nach Hause und lässt sich gehen. Dafür arbeitet der alles ab, was so reinkommt. Für uns gibt es gar nichts mehr zu tun! Was immer du gemacht hast mit ihm, bring das wieder in Ordnung!“

Der Schlusssatz kam so energisch, aber auch so flehend, dass ich in schallendes Gelächter ausbrach. Daher wehte der Wind! Kakashi verarbeitet seinen Frust mit mir, indem er sich mit seinem Job ablenkte. Da blieb für den Rest der Bande wohl nichts übrig außer Däumchen drehen. Die Ärmsten! Da konnte doch alles nur ein Luxusproblem sein. Der Sake half mir sehr dabei, dass mein Dauergrinsen nicht verschwinden wollte. Und er half mir dabei, mir einzugestehen, dass sich meine Gefühl für Kakashi überhaupt nicht geändert hatten. Kakashi hatte Liebeskummer... Er vermisst mich! Ich glühte vor Freude und vor Alkohol im Blute.

Ich sprang auf, als hätte Gais jugendliche Energie auf mich abgefärbt. Dabei nahm ich einen großen Schluck Sake aus der Flasche und beschloss, sie am Halse zu packen und einfach mitzunehmen. Oh Mann, dabei war nicht mal die Mittagspause durch und man war schon total besoffen. Ich hätte vielleicht doch lieber das Thunfilet mit Reis, als nur einen kleinen Salat essen sollen. Das konnte doch nur ein Schuss in den Ofen werden. Gai jedoch freute sich über meinen neuen Elan wie der junge Tau in der Morgensonne. Er setzte wohl alle Hoffnungen in mich, bald wieder Bürowettkämpfe mit seinem Lieblingsrivalen ausfechten zu können, wenn der endlich wieder im Normalmodus wäre. Für uns gab es jetzt nur noch eines zu tun.

Mit der Kraft der Jugend stürzten wir beide die Straßen entlang zum Hokageturm.

20 - Der Tag, an dem ich das Hokagebüro verwüstete

Die Mittagszeit neigte sich dem Ende entgegen. Die Menschen quollen aus den hochfrequentierten Fresstempeln hinaus, als hätte man bei einem Fluss die Staustufen entfernt. Es wurde voll und lärmend in den Straßen Konohas, aber nichts sollte uns ungleiches Duo stoppen können. Unaufhaltsam kamen wir unserem Ziel näher. Ich mit beschwingtem Fuß, Gai mit rollendem Rad.

Hitze brannte in mir. Ob es nun vom Sake oder von Gais Gequatschte über das Feuer der Jugend herrührte, vermochte ich nicht eindeutig zu definieren. Es war mir auch egal, denn ich fühlte mich super und war voll gutgelauntem Tatendrang, den ich mir für heute weder erträumt hatte, noch dessen Ursprung ich mir erklären konnte. So marschierte ich voran ohne auf meine Zwangsbegleitung zu achten, die trotz eines Rollstuhls Marke „Supersportlich“ fast schon nicht mehr folgen konnte. Im Gegensatz zu mir musste Gai Passanten umkurven, während ich mich einfach hindurch drängelte. Er war von meinem Elan mehr als begeistert und freute sich, dass die lodernde Flamme des Frühlings in mir noch nicht erloschen wäre. Ganz unterschiedlich zu seinem Rivalen, der seiner Meinung nur noch auf Sparflamme köcheln würde. Das wäre doch alles genau die richtige Einstellung, so wie ich die Dinge sehen und anpacken würde. Mit vollem Einsatz voran! Und so weiter und so fort. Gai konnte sogar noch unterwegs unglaublich viel Quatschen, dass einem die Ohren glühten.

Ich hörte gar nicht richtig hin, was er mir mitteilen wollte, denn ich kannte keinen der Ninjas, die er erwähnte oder die Zusammenhänge der Lebensgeschichten. Einzig und allein bekam ich nur für mich als wichtige Information mit, dass es Gai herrlichst egal wäre, was Kakashi in seiner freien Freizeit treiben würde, solange sie beide weiterhin ihre Rivalität austragen könnten. Und die lag nun Dank mir wohl anscheinend brach. Pfff Kakashi, dass du dich auf so einen Blödsinn überhaupt einlässt. Ich schüttelte innerlich belustigt den Kopf und war mir sicher, dass es garantiert niemals seine Idee gewesen sein konnte, sondern eine einseitige Erfindung Gais gewesen sein musste. Es passte einfach nicht zu Kakashi. Allerdings hatte ich aber auch schon die eine oder andere witzige Seite an ihm entdecken könne, wenn er es denn selber einmal zuließ. Das war selten und somit unendlich kostbar. Was auch immer ihn nach außen hin so unnahbar geformt hatte, wie er war: Im Herzen war er ein rechtes Kind geblieben. Voller blöder Ideen und Freude.

Erzählen würde Kakashi über sich selbst freiwillig niemals etwas, beklagte sich Gai weiter bei mir und holte mein Ohr so in seinen Monolog zurück. Damals zu seinen Anbu-Dienstzeiten hätte er sich sogar große Sorge um Kakashi gemacht, man würde ihn verlieren, weil er nur noch depressiv durch die Straßen trottete und Bücher über ehrenvollen Suizid im Dienst las. Diese Information schockierte mich schon etwas. So hätte ich Kakashi niemals eingeschätzt. Aber ich war dermaßen voller guter Rachelaune, dass ich über den tieferen Sinn dieser Worte nicht nachdenken wollte. Meine Begleitung in Grün fuhr unbeirrt fort: Nachdem das Gerücht unter den Ninjas umherging, dass es eine Frau mit Kakashis Chakarspur gab, ward Gais Neugier nämlich geweckt. Also wurde Tenzô, als dieser mal wieder im Dorfe herumgeisterte, auf die gleiche Art und Weise wie ich bearbeitet (nämlich mit Sake), um das Geheimnis zu lüften. Der erzählte zwar gewöhnlicher Weise noch weniger als Kakashi, aber ab der dritten Flasche Sake sprudelte es wohl nur so aus ihm heraus wie eine Ölquelle in der Wüste. Armer Tenzô! Mit solchen Freunden brauchte man wahrlich keine Feinde. Kein Wunder, dass der mir neulich im Supermarkt sofort ausgewichen war und dabei ein Gesicht machte, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Ich hatte noch nicht einmal „Hallo!“ grüßen könne, da war der schon ums nächste Regal herum verschwunden, um eine Begegnung mit mir zu unterbinden. Das pure, schlechte Gewissen. Nun war der Zusammenhang klar wie dicke Kloßbrühe. Ich hatte mir fest vorgenommen, wenn Tenzô mal zeitweilig nicht Orochimaru zu observieren hätte und sich sein Weg mit meinem kreuzen würde, dann würde ich ihm sagen, dass ich ihm nichts nachtrug.

Gai hatte ganze Arbeit geleistet, seinen Forscherdrang ausleben zu können und schließlich Shikamaru unaufhörlich bei jeder Gelegenheit genervt, ihm zu helfen, obwohl dieser von Beginn an keinen Bock gehabt hatte. Doch der grüne Clown war hartnäckig. Beim Akten sortieren, beim Briefe frankieren, in der Teeküche, in der Mittagspause, fast schon beim Nara daheim. Das grüne Monster war überall, wo Shikamaru es nicht sehen wollte. Ob Gai denn keine anderen Sorgen hätte, hatte er nur gefragt und war dann mit einer Mine von sieben Tagen Regenwetter Gai bis zum Café gefolgt, in welchem sie mich aufgespürt hatten. Unauffällig sollte die Suche nach mir ablaufen, weil der Nara nicht damit in Verbindung gebracht werden wollte. Es war dem nämlich mehr als peinlich, wie Gai in Kakashis Leben herumstocherte und er selbst jetzt plötzlich Teil der Suche geworden war. Und mit Gai konnte man eh nirgends ungesehen auftauchen. Spätestens mit Gais Eintritt in das Café hatten die Peinlichkeiten ihren Höhepunkt erreicht. Mich zu finden war dann doch einfacher gewesen, als gedacht, da ihnen mein Gesicht ja schon von dem Vorladungstermin bekannt gewesen war. Und Shikamaru hatte dann noch maulig ergänzt, dass er es hatte schon vorher erahnt, weil Kakashi sich so plötzlich in seine Arbeit eingemischt hatte. Das wäre ungewöhnlich gewesen, weil Hokage-sama sich zuvor eigentlich immer mehr und mehr aus der Arbeit herausgezogen und die Führungsarbeit Shikamaru überlassen hatte.

Schneller als gedacht gelangten wir an das Tor, welches zum Grundstück des Hokageturms führte. Mit dem grünen Clown im Schlepptau passierte ich die Wachposten ohne eine einzige Frage beantworten zu müssen. Bevor ich die Stufen des Treppenhauses erklomm, rief Gai noch einmal meinen Namen. Ich blickte über die Schulter zurück und sah auf einen Gai, der wie ein Brummkreisel grinste und mir beide Daumen nach oben zeigte. Oh Mann Gai, bewirb dich doch mal mit dem Pferdegebisslächeln bei einer Zahnpastafirma, wenn dir die Arbeit hier nicht ausreicht. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie in einem der offenstehenden Türen sich Shikamaru an den Türpfosten lehnte und Gai entnervt tadelte.

„Is' nicht dein Ernst, dass du sie mitgebracht hast... Wie nervig!“, begleiteten mich noch Wortfetzen des Naras Treppe nach oben.

Ich musste lachen, war mir immerhin klar, dass Shikamaru weniger meine Person an sich, sondern mehr die Gesamtsituation in Bezug auf Kakashi gemeint hatte. Erleichtert, den grünen Clown jetzt nicht mehr ertragen zu müssen, stürmte ich die Stufen hinauf und war weniger außer Atem als befürchtet. Dreimal, viermal tief durchatmen und weiter ging es.

Dritter Stock und dann durch die einzige Tür, die es entlang des oval verlaufenden Ganges gab, hatte Gai mir den Weg beschrieben. Ja, das war einfach zu merken. Schnell stand ich vor der schweren Holztür, die weder etwas hinein, noch etwas hinaus ließ. Ob er allein war? Oder hatte er eine Besprechung? Pah, jetzt gab es keine dienstlichen Besprechungen, sondern nun war Zeit für meine selbstgewählte Privataudienz! Hoppla, jetzt kam ich! Es wäre sicherlich extrem cool, wenn man wie in den einschlägigen Fernsehserien die Tür zu seinem Zimmer mit einem großen Radau öffnen würde. Mit dem Fuß das Holz aus den Angeln treten oder so was in der Art. Super Idee! Da war es doch schon wieder zu bedauern, dass ich kein Ninja war, dem es sicherlich ein Leichtes wäre, solch eine Tür in Trümmerteile zu verwandeln. Ich probierte es trotzdem. Ziemlich unelegant im Strudel des Alkohols hob ich das Bein, holte mit viel zu viel Schwung aus, dass es mich durch die Drehung beinah aus der Bahn geworfen hätte, und verstauchte mir ziemlich schmerzhaft den Knöcheln, als mein Fuß das Türblatt küsste. Wenn die Tür nun auch noch unbeeindruckt geschlossen geblieben wäre, dann wäre die Blamage perfekt geworden. Aber oh welch Wunder! Geplant war, mit einem fiesen Gesichtsausdruck meinerseits aufrecht im Türrahmen stehen zu bleiben. Doch ich war komplett verdattert darüber, dass die Tür tatsächlich aufsprang und die Sicht auf das Hokagebüro freigab. Man brauchte also gar keine kämpferische Technik zum Türen auftreten. Pure Energie und kompakte Gewichtsmasse genügten, um eine Zimmertüre in die Knie zu zwingen. Trotzdem war der Coolness-Effekt irgendwie darnieder, wie ich überraschte über mich selbst ins Innere lugte. Schnell fand ich wieder zu mir und blickte verwirrten Augenpaaren entgegen. Ok, ich war also doch mitten in eine Besprechung geplatzt. Um so besser. Ich wollte ja Kakashi eine herrlich-peinliche Szene bereiten. Höhö!

„Wir reden später weiter...“, schickte Hokage-sama mit einem großen Fragezeichen über dem Kopf seine Bande umgehend hinaus.

Dann lehnte er sich in seinen Bürostuhl zurück verschränkte die Arme und zog eine Augenbraue grübelnd in die Höhe. Dabei musterte er mit seiner stoischen Ruhe genaustens meinen Auftritt. Wieso regte der sich eigentlich über mich und meine Aktion nicht auf? Trat dem öfters mal jemand die Tür ein? Dann sollte er sich doch mal Gedanken über seinen Führungsstil machen. Hm, es lag wohl eher daran, dass ich mich eben total selber zum Gespött machte, es aber mit dem Sake in der Birne nicht für voll nahm. Die Shinobis trollten sich wortlos von dannen, doch ihre neugierigen Blicke auf meiner Person blieben haften. Mir war es völlig gleich, was sie von mir dachten. Wenigstens roch man den Sake nicht an mir. Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende. Entweder werde ich gleich in hohem Bogen rausgeschmissen und alles wäre vorbei. Oder es gab hier endlich mal klare Fronten. Dieses ganze Hin und Her war doch blanker Mist! Also machte ich mich auf den kurzen Weg direkt auf den Schreibtisch zu und versuchte dabei, nicht zu humpeln. Blöder Fuß! Bloß keine Schwäche zeigen! Dann knallte ich meine Sakeflasche auf die Tischplatte und war froh, dass man sich an deren Hals hervorragend festhalten konnte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Leicht vorgebeugt hing ich nun über dem Schreibtisch, nahm keine Rücksicht auf die herunterfallenden Akten und dergleichen und machte den Versuch eines eindringlichen Blickes. Garantiert hätte mein Blick töten können. Kakashi natürlich nicht. Der war davon total unbeeindruckt. Dass man mir bei meiner Haltung ziemlich tief in den Ausschnitt gucken konnte, fiel mir erst viel später auf. Hämisch wählte ich ein hochformelles Ansprachepartikel, das er definitiv hasste.

„Warst du das neulich abends in meiner Küche, Hokage-sama?“, schnarrte ich los.

„Nenn mich nicht -sama. Das mag ich nicht. Bist du besoffen?“

Es war schwer zu sagen, was er von der Situation hielt. Kakashi konnte dort in seinem Bürostuhl sitzen ohne auch nur eine einzige Regung zu zeigen, doch seine Stimme bauten eine gewisse Strenge auf. Ja, er hasste „-sama“. Und er hatte es in all den Jahren seiner Amtszeit seinem nähern Freundeskreis nicht abgewöhnen können. Dabei hatte vor seinem Amtsantritt jahrzehntelang alle „-san“ benutzt. Selbst Tenzôs „-senpai“ war ihm da echt zu viel. Was sollten die übertriebenen Förmlichkeiten? Daran konnte und wollte er sich nicht gewöhnen, zumal er sich selbst überhaupt nicht so hochangesehen eingruppierte. Warum eigentlich nicht? Diese Frage war er mir noch schuldig geblieben, aber deren Klärung passt irgendwie nicht hierher. Also verschob ich sie und folgte einem anderen Redeschwerpunkt.

„Wechsel nicht das Thema!“, wurde ich bockig.

Er hatte doch eindeutig auch diese heutige Frage nicht beantwortet. Frechheit!

„Was sollte das da neulich? Diese blöde Rumgezicke? Du hast dich nicht so benommen, wie ich dich kannte. Du warst so total fremd. Und dann noch dieser bescheuerte Spruch, du dachtest, ich wäre anders. Anders als wer? Anders als was? Und überhaupt: Natürlich bin ich anders. Bin ja bloß so eine dumme, hässliche Durchschnittszivilistin! Maaannn, ich hatte echt einen beschissenen Tag! Erst den Brief vom Hauptkontor und dann noch sowas.“, polterte ich extremst laut weiter und stellte leidlich fest, dass mir tatsächlich der Sake zu Kopf stieg. War wohl doch zu viel für die Mittagszeit gewesen.

Ich unterstrich meine Ansprache, indem ich die Flasche einige Male im Takt meiner Stimme auf der Tischplatte tanzen ließ. Das knallte herrlich. Noch ein paar Takte mehr und sie wäre garantiert in tausende von Scherben zersprungen. Der Restsake schwabbte im Hals gefährlich hoch und verspritzte einige unfeine Flecken auf den Unterlagen, die sich noch obig gehalten hatte. Alle anderen Zettel lagen ja schon wie ein Blätterwald auf dem Fußboden. Kakashi seufzte und schickte sich an, wenigstens die Papiere und Schriftrollen auf dem Schreibtisch alle zusammenzuschieben, um größeres Unheil abzuwenden. Er tat so, als würde ich gar nicht halb auf seinem Schreibtisch lümmeln, sondern irgendwo davor im Raum stehen. Boah, diese stumpfe Ignoranz brachte mein Blut in Wallungen. Mit schwoll wirklich der Kamm an. Und ich hatte noch die Flasche in der Hand...

Eine Sekunde später fiel sie zu Boden und zersplitterte, weil mich Kakashi blitzschnell am Handgelenk gepackt und sehr schmerzvoll zugedrückt hatte, als ich in meiner rasenden Wut ihm das Ding über den Schädel ziehen wollte. Aua! Das tat weh! Aber es kam von ihm nichts weiter. Kein Wort, dass ich mich gerade angeschickt hatte, eine riesengroße Dummheit zu begehen. Wir standen uns so nahe gegenüber. Nur noch der Schreibtisch bildete eine Barriere. Dann ließ er unerwartet wieder los und setzte sich wieder in seinen Stuhl. Ziemlich planlos. Der Graben hatte sich wieder aufgetan zwischen uns.

Seine deeskalierende Art, nicht auf meinen Blödsinn einzugehen, tat ihr Übriges. Meine Wut verflüchtigte sich wieder. Ruhig, fast schon ein wenig mitleidig, ruhten seine Blicke auf mir, als hätte ich vorhin artig angeklopft und Haltung vor ihm angenommen. Er überging meine Auftritt und nahm mir so den Wind aus den Segeln.

Es gefiel mir nicht, dass er so weit weg war. Also auf zu neuen Schandtaten. Planänderung! Ungelenk stützte ich meine beiden Hände auf den Tisch und zog im Zeitlupentempo erst das eine Knie und dann das andere nach, bis ich dort auf der Tischplatte aufhockte. Nein, nicht wie ein elegantes Raubtier, dass sich leise an seine Beute heranpirschte, sondern eher wie ein fetter Stubentiger, der das Klappern der Futterschüssel vernommen hatte. Dabei kippte der heiße Kaffee aus Kakashis Tasse, welche neben dem Laptop parkte. Er taufte die Tastatur mit schwarzer Brühe und verbrannte mir die Haut an meinem Unterschenkel. Aber nach einem verstauchten Fuß machte das nun auch nichts mehr. Mit fünfzig Prozent Verlust muss man im Kampfe halt immer rechnen.

Wenigstens hatte mein verhaltensgestörter Auftritt die exakt richtige Wirkung auf Kakashi. Damit hatte er nicht gerechnet und sich peinlich berührt weiter an seine Rückenlehne gepresst. Ha, ich habe genau gesehen, wohin du gerade geglotzt hast, Hatake! Nämlich unter meine Klamotten. Und als ich auch noch verlangend wie eine Krake meinen Arm ausstreckte und meine Finger in den Halsausschnitt seiner Weste verhakte, lief der knallrot an und war doch tatsächlich voller Überforderung ein paar Zentimeter in sich zusammengesackt. Er hatte den rettenden Moment verpasst, sich mit dem Fuß vom Boden abzudrücken und seinen rollenden Bürostuhl einen Meter nach hinten in Richtung Wand zu befördern. Während es ihm merklich abwechselnd heiß und kalt den Rücken runterlief, wuchs auf meinem Gesicht ein diabolisches Grinsen, welches keine Widerworte zulassen würde. Ich hauchte ihm einen langsamen Kuss auf den Stoff, der seine Wange bedeckte. Dabei konnte ich genau sehen, wie sich in weit aufgerissenen Augen große, dunkle Pupillen zur Seite schoben und meine Zärtlichkeit beobachteten. Total aufgeregt schlug ihm sein Herz bis zum Halse, denn ich musste ihn Lust benebelt angeschaut haben, als würde ich ihn auf der Stelle mit Haut und Haar verschlingen. Ja, mir fielen ganz viele Sachen ein, die ich jetzt sofort mit ihm gerne getrieben hätte. Dann hob ich eine Hand, krümmte die Finger zu einer Tatze mit ausgefahrenen Krallen und drohte dunkel:

„Wenn du jetzt nicht wieder artig und normal bist, dann kratz' ich dir die Augen aus und verpasse dir noch eine neue Narbe neben der alten!“

„Das glaub' ich dir sofort...“, war die verdatterte Antwort.

Ha, ich hatte ihn! Mit einer Freude von tausend Sonnen lehnte ich mich wieder etwas zurück.

Wie hatte ich eigentlich so sauer sein können? Zum gefühlten millionsten Male versank ich in seinen Augen und vergaß ganz eingelullt mal wieder alles, was vorher gewesen war. Ich liebe dich, du Idiot! Und ich kann gar nicht lange auf dich sauer sein. Ich hab dich so vermisst in den letzten Tagen, als es mir so dreckig ging in meiner Seele. Und nein, ich will nicht weg aus Konoha. Ich will bei dir bleiben! Von einer Sekunde auf die andere brach alles in mir zusammen. Da hockte ich wie ein begossener Pudel auf seinem Schreibtisch und kaute auf meiner Unterlippe, weil sich meine Augen mit Tränen füllten. Scheiße! Ich wollte doch gar nicht heulen, sondern selbstbewusst eine Szene machen, die Hütte verwüsten und dann wie eine Siegerin wieder das Feld räumen. Nach dem durchgeknallten Auftritt und der anschließenden Stimmungsschwankung musste der mich doch für total geisteskrank halten. So was kann man nun wirklich nicht lieb haben. Los sag, dass du mich lieb hast! Bitte, bitte, bitte! Ich kann mich doch noch nicht einmal erinnern, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Hatte ich denn etwas falsch gemacht? Du warst derjenige, der plötzlich so bescheuert war, und nicht ich.

Stattdessen kam ein langer, tiefer Seufzer. Dann sah er mich wieder direkt an, und ich fand das fröhliche Blitzen in seinen Augen wieder. Argh, meine ganze theatralische Inszenierung hatte nichts gebracht. Der war nun höchst amüsiert. Und edabei hatte es ihn doch eigentlich tief verletzten sollen.

„Machst du wieder Kulleraugen, Nina-chan?“

Ja, ganz große Augen. Nur für dich. Ich mache alles für dich. Naja, fast alles. Wenn es sein muss, lasse ich mich sogar herab, hocke den halben Tag ehrfürchtig unter deinem Schreibtisch und bin dein Standgebläse. Ich weiß, dass du das magst. Aber bitte, bitte hab mich wieder lieb.

„Untersteh' dich ...“, lachte er leise auf, als hätte er meine verworrenen Gedanken lesen können.

Dabei erhob er sich und schloss mich in seine Arme. Ich spürte sein Kinn in meinen Haaren, wie es sich an mich schmiegte. Die Feuchtigkeit in meinen Augen trockneten durch seine Weste, als ich mein Gesicht in ihr vergrub. Meine Arme umklammerten ihn wie den rettenden Baumstamm in einem reißenden Fluss. Ich lass dich nicht mehr los! Waren das eben seine Lippen, die meine Stirn berührten? Überrumpelt blickte ich zu ihm auf und wurde tatsächlich nochmal geküsst. Erst ganz vorsichtig fragend und dann richtig. Leider war der Kuss nur von kurzer Dauer. Viel zu kurz.

„Ist das in Ordnung, wenn ich später bei dir vorbeikomme und …?“, löste er sich wieder von mir.

„Wann ist später?“, fiel ich ihm ins Wort.

„Wenn ich deinen ganzen Flurschaden in meinem Büro beseitigt habe.“, war die lakonische Antwort.

Er schlang einen Arm um meine Taille und stellte mich wieder auf meine Füße und somit auf den Boden der Tatsachen. Ohje, hier sah es echt wüst aus. Blätter lagen überall verstreut. Der Kaffee hatten eine große Lagune gebildet und tropfte als Wasserfall von der Schreibtischkante. Beinah hätte ich ein schlechtes Gewissen bekommen. Aber ich hatte es ja so haben vollen. Trotzdem nuschelte ich heraus:

„Schlimm?“

„Ganz furchtbar schlimm, böses Mädchen!“, tadelte er gespielt und sah mich mit seinen blitzenden Augen fröhlich an.

21 - Der Tag, an dem ich einen Flaschengeist inne hatte

Ich kam tatsächlich wohlbehalten zuhause an. Zugegeben, als ich meine Rückreise aus Kakashis Büro antrat, hätte ich es selber gar nicht für möglich gehalten. Mein Fuß tat bei jedem Auftreten höllisch weh, mein Bein brannte pfeffrig vom verschütteten Kaffee, meine Hose sah demnach kein Stück besser aus und in meinem Kopf war eine große, dicke Sake-Wattewolke. Trotzdem hatte ich eine überdreht gute Laune, die eigentlich nur von stimmungsaufhellenden Pharmasubstanzen herrühren dürfte. Allerdings konsumierte ich so etwas aus Prinzip nicht und würde es auch nie tun. Allem in allem wurde ich das Gefühl nicht los, dass etwas mit mir nicht stimmte. Noch nie hatte ich solch Höhenflüge und Stimmungsschwankungen in dieser Heftigkeit verspürt. Insgesamt war ich im krassen Gegensatz zu meinem Hochgefühl optisch ein ziemlicher Trümmerhaufen. Dass ich mich so überhaupt auf die Straße wagen würde, grenzte schon an handfestem Realitätsverlust. Doch ich wollte es nicht anders. Überschwänglich verabschiedete ich mich bei Kakashi, indem ich ihn noch einmal so sehr knuddelte, dass es uns beide beinah aus den Schuhen gerissen hatte. Es war Kakashis Reaktionsvermögen zu verdanken, wie er meinen elanhaltigen Schwung abfing und wir nicht schmerzhaft Bodenkontakt erlitten. Anstelle einer vernünftigen Umarmung hing ich da so rund wie ein Flitzbogen an ausgestreckten Armen an seinen Schultern, sah ihn mit großen Augen an und konnte es einfach nicht lassen, ihn ständig irgendwie zu begrabbeln. Unter der Weste, an seiner Hose und überhaupt. Man gut, dass wir nicht umfielen. Wer weiß, was mir da sonst noch so eingefallen wäre.

„Soll ich dich nicht doch besser noch eben nach Hause bringen?“, wurde ich da zweifelnd angesehen und mitleidig gefragt.

„Bleibst du dann auch gleich bei mir?“, kicherte ich so was von dämlich albern, dass ich mich schon selbst nicht mehr für voll nahm.

Zu meiner Antwort muss ich weiter ausholen, dass bis dato unsere „schärfste“ Nummer die auf meinem Fußboden im Wohnzimmer gewesen war. Und das war nun auch schon wieder eine viel zu lange Weile her. Ja, wir hatten uns zwischendurch schon gelegentlich in den Armen gelegen. Unsere Zärtlichkeiten hatten sich aber nicht darüber hinaus entwickelt, als uns lediglich flüchtig zu küssen. Das lag definitiv nicht an mir. Und das war nach meinem Geschmack auch definitiv zu wenig. Kakashi bremste das Thema ganz schön aus, obgleich ich meine Hand dafür hätte ins Feuer legen können, es erginge ihm ähnlich wie mir.

Bei dem Gedanken mit meiner Sehnsucht nach Körperlichkeiten mal wieder im Walde stehen gelassen zu werden, schnaufte ich kurz seufzend auf, ließ von Kakashi ab, der komplett unbeeindruckt von meinen Annäherungsversuchen geblieben war, und winkte zum Abschied übertrieben hektisch mit einer bizarren Armbewegung. Meine Hand-Auge-Koordination lief vollends aus dem Ruder. Maaannn, was war denn nur mit mir los? Das kann doch nicht alles von einer einzigen, halben Pulle Sake kommen? Irgendwas war hier oberfaul. Und was noch viel schlimmer war: Ich konnte nichts dagegen tun. Ich benahm mich wie ferngesteuerter Roboter total daneben. Mit dieser bitteren Erkenntnis drehte ich mich mit einer Pirouette um und spürte eine große Traurigkeit in mir aufsteigen. Ein Anflug an Depressionen aus heiterem Himmel stürmte auf mich ein. Eben hatte ich doch noch gelacht? Aber da war ich schon zur Tür hinaus, war wie durch ein Wunder auf dem Weg aus dem Gebäude und über dem Hof niemanden begegnet und brach erst einige Meter weiter in Tausende von Tränen aus. Ganze Wasserfälle rannen aus meinen Augen. Der graue Wolkenhimmel vor meinen Augen färbte sich in meiner Seele schwarz, und die Erde tat sich unter mir auf. Ich rutschte an der Mauerwand herab, saß nun in der dreckigen Gosse und heulte wie ein Schlosshund. Kakashi, warum hab ich „Nein.“ gesagt, als du mich nach Hause bringen wolltest? Ich will nicht alleine sein. Ich will ankuscheln. Stattdessen kuschelte ich mit mir selbst und meinen angezogenen Knien.

Etwas tropfte auf meinen Kopf. Ein Vogelschiss? Nein! Es wurde noch ein Platscher und noch einer. Regentropfen. Na toll! Der Himmel öffnete alle Schleusen. Nicht mal eine Minute später stoben die Menschen vor dem Platzregen aus den Straßen davon und brachten sich in Geschäften, unter Hausvorsprüngen oder Bäumen notdürftig in Sicherheit. Emotionslos ließ ich mich vollregnen und beschäftigte mich emotionslos mit meiner akuten Einsamkeit. Kakashi, ich will jetzt festgehalten werden! Komm gefälligst JETZT her und rette mich. Und nicht irgendwann später … Nass bis auf die Knochen schlurfte ich nach Hause wie ein begossener Pudel. Es war nicht mal das Schlechteste, wuschen die dicken, eiskalten Tropfen meine Seele rein. Noch ein paar Grad kälter und die Tropfen wären vielleicht sogar als Schneeflocken zur Erde getanzt.

Die Depression war mittlerweile durch die Wetterdusche verflogen, aber der Regen hellte meine Stimmung nun nicht sonderlich auf. Mit meinen eigenen Hirngespinsten im Gange, merkte ich gar nicht, dass ich schon bald vor der Tür des Kontors stand. Viele Jahre war ich schon durch diese Tür geschritten. Voller Freude und Stolz. Nun hatte ich plötzlich Angst. Niemand würde mich dahinter erwarten. Alle Stoffe waren restlos ausverkauft, alle Mitarbeiter freigestellt bis Jahresende, und Yuuki kehrte erst nachmittags von der Schule zurück. Die große Standuhr in der Eingangshalle schlug einmal kräftig ihren warmen Bronzeton an. Halb drei. Da hätte ich noch Zeit für ein Mütze voll Schlaf bevor Yuuki hier die Stille im Haus vertreiben würde. Ich ging nicht die Treppe nach oben. Ich schleppte mich aufwärts und zog mich zusätzlich noch unterstützend am Geländer hoch. Dabei hing mir die Zunge kilometerlang aus dem Halse und die Lungenflügel flatterten wild. Mein Herz raste wie nach einem Marathon, wenn ich denn jemals einen bestritten hätte. Nach Rachegelüsten, Freude, Notgeilheit und Depression kam nun eine weitere unbekannte Phase der totalen Erschöpfung und Müdigkeit. In dem Zustand warf ich mich aufs Bett, wie ich war. Mit durchnässten Schuhen und Jacke. Ich vermochte mich nur noch daran zu erinnern, wie ich die Bettdecke über mich zog. Mein letztes Bild vor Augen war Kakashi, wie er mich ansah, als ich in seinen Armen hing. Dann war ich eingeschlafen.

Das Knallen der Korridortür weckte mich unliebsam, aber rettend. Ich hatte einen lebhaften Traum. Nein, nichts Versautes. Einfach nur unruhig und lebhaft. Voller bunter Traumbilder. Leider waren sie mir aus dem Gedächtnis entsprungen, nachdem ich mein Erwachen realisierte. Yuuki rief nach mir, er wäre wieder zuhause und fand mich in meinem Bett. Verwundert starrte er mich an, weil ich mit voller Bekleidung in den Federn lag, total am Ende von Allem. Ich muss so bleich wie mein Bettlaken ausgesehen haben und erzählte meinem Sohn eine glaubwürdige Geschichte von plötzlichen Schwindelanfällen und grippalem Infekt. Boah, was war ich eine Rabenmutter! Mittags gesoffen und dann als Schnapsleiche im Bett liegend. Ich fühlte mich so elendig und dreckig. Dennoch schälte ich mich aus der Bettdecke, wechselte die Kleidung und machte mich halbwegs ansehnlich zu recht. So bekam man den restliche Nachmittag und den nahenden Abend samt Abendessen herum. Was war ich froh, als ich dann wieder in meinem Bett lag. Mein ganzer Körper fühlte sich wie gerädert an. Hinzu kam, dass ich Wassereinschuss in den Beinen hatte, was damals nur während der Schwangerschaft aufgetreten war. Die Haut an den Schenkeln spannte überall und hatte sich an den dicksten Stellen schon rötlich gefärbt. Und ich war übersensibel empfindlich. Egal, wo ich mich an meinem Körper berührte, es war entweder extremst kitzelig, extremst schmerzempfindlich oder extremst lustvoll. Welch ein Albtraum! Kopf verwirrt, Körper außer Kontrolle. Jetzt nur noch schlafen, schlafen, schlafen …
 

Ein kalter Abendhauch wirbelte seicht durch mein Schlafzimmer und weckte mich. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass der Abend noch jung war, aber mir schon gute zwei Stunden Tiefschlaf eingebracht hatte. Orientierungslos richtete ich mich in meinem Bett auf. Das Zimmer um mein Bett herum fuhr Karussell. Erst als die rasante Fahrt endete, war ich wieder halbwegs bei mir und suchte nach der Ursache der Kälte. Kein Geräusch von Regenprasseln war zu hören. Demnach war die Wolkenfront wohl weitergezogen und würde den Sternenhimmel freigeben. Es musste eine mondhelle Nacht sein, denn mein Zimmer wurde recht gut ausgeleuchtet bis auf eine Stelle an der gegenüberliegenden Wandseite. Dort zeichnete sich ein Schatten ab. Der Grund des Schattens hockte in meinem geöffneten Fenster.

„Komm rein und mach das Fenster zu! Ich friere!“, polterte ich ungeniert los. „Wie lange hockst du da schon?“

Frieren war gar kein Ausdruck. Meine Gänsehaut hätte auch den passenden Namen „Hügelhaut“ verdient gehabt. Um zu unterstreichen, wie nahe ich dem Kältetod war, zog ich die warme Bettdecke bis an die Nasenspitze. Dabei merkte ich erst, wie ausgekühlt die obere Deckenseite schon war. Als wäre sie mit einer dünnen Schicht Eis überzogen. Mit einer frischen Brise Nachtluft kam Kakashi herein, machte aber keine Anstalten, das Fenster zu schließen. Die Vorhänge wogen sich leicht in dem Luftzug.

„Geht's wieder einigermaßen?“, fragte er leise.

„Keine Ahnung. Was ein Teufelszeug. So was ist mir ja noch nie von so ein bisschen Sake passiert,“ grummelte ich beschämt.

„Sake?“

Kakashi lehnte so wie damals an meiner Wand an, als er mir als ANBU einen Besuch abgestattet hatte. Mit dem Mondlicht im Rücken war von seinem Gesicht und seiner Minik nichts zu sehen. Mir reichte der Tonfall seiner Stimme um zu wissen, dass er sich eben wohl sehr wunderte und dabei garantiert auch noch für ihn typisch die Augenbrauen erstaunt anhob. Hm, war das etwa kein Sake? Es sah aus wie Sake und schmeckte wie Sake und …

„Hast du denn nicht mal auf das Etikett geschaut? Na, das erklärt ja so einiges.“, tadelte es zärtlich.

Kakashi lachte kurz auf. Also war das echt kein Sake? Und das mit dem Etikett war so eine Sache. Nach wie vor ist die Sprache des Feuer-Reiches nicht meine Muttersprache. In meinem Land benutzt man ein Alphabet mit ABC und so weiter. Hier aber musste ich eigenverantwortlich erst unzählige Zeichen lernen. Die Silbenzeichen waren da ja noch das kleinere Übel. Aber erst diese ganzen Kanji … Wer zum Teufel hatte sich so einen Müll ausgedacht? Und wer konnte sich das alles auch noch merken? Ich gestehe, ich hatte mittlerweile ein sehr gut Hör- und Sprechverstehen, aber das Lesen war echt holprig... Ok, es war katastrophal. Mal ganz abgesehen vom Schreiben. Mein schriftliches Vokabular beschränkte sich auf Alltagsfloskeln, Geschäftsbriefe und Verträge. Für alles weiter hatte ich genau aus diesem Grund Einheimische in meinem Kontor angestellt gehabt, die eben diese Schrift lesen, schreiben und auch noch verstehen mussten. Mit einem Male wurde es mir peinlich, dass ich fröhlich eine flüssige Substanz in mich hineingegossen hatte ohne zu wissen, um was es sich handelte. Zwar hatte ich den Getränkenamen lesen können, aber bei der Zutatenliste war ich hoffnungslos überfordert. Und meine Güte, wer las schon die Zutatenliste? Machte doch keiner. Ich kannte zumindest niemanden, der auf einer Alk-Pulle die Zutatenliste durchging. Meinen knallroten Tomatenkopf versteckte ich hinter der Bettdeckenkante. Nun lugten nur noch meine Augen und mein Schopf hinüber und beobachtete Kakashi, der nun doch das Fenster leise schloss und den Vorhang zuzog. Dann kratzte er sich verlegen am Kopf und meinte:

„Eigentlich wollte ich dich noch zu einem Ausflug mitnehmen, aber mir scheint, dass wird wohl heute nichts.“

Ausflug? Wohin denn? Mitten in der Nacht?

„Was'n für'n Ausflug?“, lallte ich, denn das Kopfkarussell startete zur nächsten Runde.

Argh, hörte des denn nie auf? Es war so ein ähnliches Gefühl, als wäre man besoffen. Aber im Gegensatz zum Besoffen sein, bekam ich alles glasklar mit. Nur der Körper machte, was er wollte. Mein Arm schnellte aus dem Bett, um mit der freien Hand unbeholfen meine Nachttischlampe anzuschalten.

„Geheimnis!“, beantwortete er nur ebenso geheimnisvoll meine Frage.

„Scheiß auf Geheimnis!“, meckerte ich angepieschert.

„Wirst du schon wieder frech?“, neckte er zurück.

Er schlüpfte aus seiner Weste, welche einen ordentlichen Platz neben seinen Schuhen auf dem Fußboden bekam. Dann schwang er ein Bein über mich, dass er über mir kniete, meine Hände in Gewahrsam nehmen konnte und meinem Gesicht sehr nahe war.

„Ich konnte übrigens alles wegschmeißen. Unterlagen in Kaffeebraun machen sich nicht gut.“, funkelte er mich belustigt an.

„Pfff, du wirst dich sehr überarbeitet haben, als du mit der Mouse den Drucken-Button geklickt hast.“, stieg ich in das Thema genauso funkelnd ein.

„Total, immerhin musste ich bei der Druckanzahl auch noch jedes Mal drei Exemplare einstellen und hinterher überall meinen Unterschriftenstempel draufdrücken.“

Seine Lippen suchten ihren Weg an meiner Halsseite entlang. Hatte ich nicht vorhin erwähnt, dass mich der Flascheninhalt total empfindlich gemacht hatte? Normalerweise genoss ich solche Küsse an meinem Hals, würde die Augen schließen und mich ganz entspannt dem Gefühl hingeben. Jetzt aber brach ein wahres Feuer aus. Hätte ich meine Hände freibekommen, ich hätte ihm wohl alle Klamotten vom Leibe gerissen und wäre über ihn hergefallen. Mein Herz schlug wild und drohte durch die Rippen zu sprengen. Obgleich ich nur ein paar Küsse empfing, begann ich schon schwer zu atmen.

Während er sich wieder zum Sitzen aufrichtete, gab er meine Hände frei. Seine Fingerspitzen strichen langsam an den Innenseiten meiner Arme entlang und entlockten ein nervöses Zucken meinerseits. Sie streiften meine Schultern und wanderten über meinen Busen, der mindestens so prall war wie das Euter einer Kuh kurz vor dem Melken. Ich spürte, wie sich mein Rückgrat anspannte und sich ihm entgegenstreckte. Ganz wie von allein. Ganz automatisch. Die Anspannung wurde auch nicht weniger, als seine Hände längst auf meinem Bauch ruhten. Besorgte Blicke musterten mich.

„Wie viel Flaschengeist hast du denn intus?“

„Flaschengeist?“

„Flaschengeist. Das Zeug, was du getrunken hast. Das ist Alraunenschnaps aus dem Wind-Reich. Ich dachte immer, es wäre ein Gerücht, dass es so aphrodisierend wirkt, aber wenn ich dich so betrachte ...“

Nachdenklich legte er den Kopf schief und musterte meine Verfassung. Er war sich wohl nicht ganz sicher, ob ich noch Herrin meiner Sinne wär. Ich hörte nur mit halben Ohre zu, was er mir sagte. Seine Worte verschwammen in meinem Kopf zu bunten Tönen. In mir rebellierte alles und ich glaubte, Abhilfe zu finden, wenn ich mein Verlangen nur deutlich genug ausdrücken würde. Längst waren meine Hände an seinen Oberschenkeln hinaufgewandert und verhedderten sich in seinem Shirtstoff, an dem ich grobmotorisch hin und herrupfte. So würde ich ihm wohl niemals von diesem Kleidungsstück entledigen. Eher würde es einreißen. Das gäbe sicherlich Ärger, nähme ich aber ihn Kauf.

„Du hast viel zu viel an...“, beschwerte ich mich nuschelnd und zog noch mehr.

Während er meinem Betteln statt gab, sein Shirt auszog und die Aussicht auf das frei gab, was ich zwar schon im Dunklen berührt und deshalb immer mal bei Licht sehen wollte, war ich bereits blind bei seinem Hosenbund angekommen, weil ich meine Augen immer wieder und wieder über seinen Oberkörper und sein Gesicht kreisen ließ. Bei Kakashi passte einfach alles zusammen. Ich war echt glücklich. Wobei, glücklich war gar kein Ausdruck. Ich drehte echt am Rad. Und Kakashi spannte mich auch noch ganz böse auf die Folter, indem der erst mal seelenruhig den Inhalt seiner Hosentaschen leerräumte. Ein Schlüsselbund flog zu seinem Klamottenhaufen, dicht gefolgt von einer Geldbörse. Und noch etwas, was ich dem Geräusch nach nicht sofort zuordnen konnte, landete auf meinem Nachttisch. Ich machte keine Anstalten, nach zusehen, glotze ich doch nach wie vor Kakashi an mit meinen glasigen, lustverhangenen Augen. Da meine Finger ihrem Ziel kein Stück näher kamen, ihn aus seiner Hose zu schälen, machten sie sich einfach wieder auf den Weg. Über seinen Oberkörper hinüber zu seinem Rücken, wo sie verführerisch auf und abfuhren, kneteten und massierten und ihn so Stück für Stück langsam zu mir herunter zogen. Mit jedem Millimeter, dem wir uns annäherten, bekamen meine Finger freie Bahn, weiter seinen Rücken hinaufzutrippeln. An seinem Nacken entlang, bis sie sich in den Haaren verfingen.

„Bist du dir sicher?“ wurde ich auf meinen Hyperrauschzustand angesprochen.

Oh ja, ich war mir so was von sicher. Jetzt oder nie! Wer weiß, welche Laune ich hätte, wenn mir der Flaschengeist wieder durch die Lappen gehen würde. Bestimmt hätte man dann eine ganz üble Laune und hätte auf so rein gar nichts mehr Lust für die nächsten Tagen, Wochen, … Los, spiel mit mir und mache alles, was dir einfällt!

Tat er dann auch. Ziemlich wild und ziemlich schnell mussten die Bettdecke und unsere restlichen Kleidungsstücke das Bett verlassen. Dann gab es Hände und Münder, die plötzlich überall waren. Ich liebte diese Art des Spielens und Kakashi ebenso. Ich explodierte schon, noch bevor wir uns richtig vereinigten. Und so gingen seine Bewegungen in meinem Delirium voller Emotionen unter. Noch während wir so eng ineinander waren, schlang ich meine Beine um seine Lende und meine Arme um seine Oberkörper. Ha, gefangen! Alles meins! Ich schmiegte mich an ihn. Selten war ich so glücklich wie in dieser Sekunde. Beinah hätte ich geweint.
 

Aber auch die glückseligste Nacht neigte sich irgendwann einmal ihrem Ende entgegen. Böser Wecker! Am liebsten hätte ich ihn genommen und mit voller Wucht an die Wand geschmissen. Ich selber hätte ja noch nicht einmal mehr zur Arbeit aufstehen müssen. Es gab ja keine mehr. Das Kontor war leer. In den nächsten Tagen würde eine Spedition die ersten Lagerregale abholen. Leider wohnte ich hier aber nicht alleine. Was heißt leider? Natürlich liebte ich mein Kind. Trotzdem hätte ich den Moment genossen, noch weiter neben meinem Freund im Bett verbringen zu dürfen. Aber Yuuki musste zur Schule. Da hieß es, das Kind zu wecken, Frühstück zu machen und schauen, was der Tag noch so bringen würde.

Ich wälzte mich aus Kakashis Umarmung und spürte den Verlust meines Flaschengeistes. Er hinterließ heftige Gliederschmerzen. Wenigstens war der Kopf total klar. Kakashi nahm murrend meine Bettflucht zur Kenntnis, vergrub dann aber wieder sein Gesicht im Kopfkissen und schlief weiter. Maulig suchte ich meinen Morgenmantel, trottete in die Küche und schmiss als erstes die Kaffeemaschine an. Die schwarze Brühe würde meine Lebensgeister hoffentlich ordnen. Dann kramte ich in den Schränken. Müslischüssel, Frühstücksteller, Becher, Besteck. Als nächstes folgte der Gang zum Wandschrank mit den Lebensmitteln und zum Kühlschrank. Ich hatte gar keinen Hunger. Im Radio lief der übliche Popsülzenmix. Ein viel zu aufgeweckter Moderator erzählte etwas von strahlend blauem Himmel in den kommenden Tagen. Ich gähnte herzhaft und schlenderte zum Bad. Dabei kam ich an der Schlafzimmertür vorbei und fand es passend, sie zu schließen. Wenn Yuuki hier gleich herumtigern würde, dann bräuchte er noch nicht darüber nachgrübeln, weshalb Kakashi in meinem Bett läge. Da müsste ich mir zuerst einmal selber einen Schlachtplan feilen, wie ich es meinem Sohn am einfachsten verkaufen könnte.

Wenn man vom Teufel sprach, dann kam er auch sofort um die Ecke. Just in der Sekunde, wo die Schlafzimmertür ins Schloss fiel, trabte Yuuki mit einem „Guten Morgen!“ an mir vorbei ins Badezimmer. Wenig später saßen wir zu zweit in der Küche und mampften unser Frühstück. Während ich gerade an meiner dritten Tasse Kaffee schlürfte und die Zeitung durchblätterte, klopfte es am Küchenfenster und wurde auch sogleich aufgeschoben. Tenzô schob seinen Kopf herein und hatte eine sorgenvolle Mine. Es musste wohl etwas wichtiges passiert sein, wenn man Hokage-sama schon ausgrechnet hier bei mir suchte und sprechen wollte. Niemals würde ich wohl das Geheimnis lüften, weshalb Ninjas keine Türen, sondern immer nur Fenster als Einstiegsmöglichkeit nutzten. Mein Verdacht war richtig, denn Tenzô fragte tatsächlich nach Kakashi. Für Yuuki war die Szene total surreal. Weshalb sollte Kakashi hier sein? Mir hingegen schauerte es heiß und kalt den Rücken runter. Was sollte ich bloß antworten? Ja, er ist hier? Dann müsste ich Yuuki wohl sofort reinen Wein einschenken. Oder lieber: Nein, keine Ahnung, Tenzô! Das wäre natürlich eine krasse Lüge, würde aber meinen Kopf aus der Schlinge ziehen.

Die Entscheidung wurde mir abgenommen, noch ehe ich das Für und Wider hatte abwiegen können. Kakashi stand plötzlich in der Küchentür, als hätte er es erahnt. Vollständig angezogen, aber auch vollständig übermüdet. Nur einen Augenblick später waren beide über die Dächer von Konoha hinweg verschwunden. Ich schaute perplex über diesen plötzlichen Abgang hinterdrein. Yuuki schaute perplex in die Runde, als hätte er einen Geist gesehen. Über seinem Kopf glühte förmlich ein Fragezeichen.

Ok, Byebye du schöner Schlachtplan. Boah, Tenzô und Kakashi – ich erschlage euch!

22 - Der Tag, an dem ich eine Wohnung fand

Meine Wut auf Kakashi und Tenzô hielt in ihrem ursprünglichen Maße nicht lange an, was nicht hieß, sie wäre verflogen. Ich würde es eher bezeichnen als eine Art von Aufgeschoben. Und übrigens: Gai müsste sich auch warm anziehen, sollte er mir demnächst über den Weg rollen. Das wollte ich definitiv noch ausdiskutieren, warum Sakeflasche auf unserem Tisch gelandet war und darüber hinaus gar keinen Sake inne hatte. Die beiden, aber auch der grüne Clown, würden schon noch ihr Fett wegkriegen, doch aktuell plagten mich andere Sorgen, denn ich hatte mich entschieden.

Eine extrem krasse Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Es war eine Bauchentscheidung und keine des Kopfes wegen. Ja, ich wollte hierbleiben! In der Heimat im Erd-Reich fühlte ich mich nach all den Jahren der Abwesenheit wie eine Fremde. Dort war ich intuitiv nicht länger zuhause. Yuuki war ein Kind Konohas und wollte hier sogar zur Shinobi-Akademie gehen. Da konnte man doch nicht Hals über Kopf wegziehen und alle Verbindungen kappen. Konoha war unser Zuhause, wo wir lebten, liebten und arbeiteten, und so sollte es auch bleiben.

Natürlich war Kakashi nun auch noch eine weitere Hierbleibe-Option geworden, aber mein Kopf samt seinem kühlen Geist mahnten mich, noch nicht allzu viel Gewicht in die Waagschale zu Kakashis Gunsten zu werfen. Unsere Beziehung war noch taufrisch. Niemand wüsste, wie es sich entwickeln würde. Es war klar, dass jede Beziehung unabhängig von Dauer und Intensität jederzeit brechen könnte, doch unsere war einfach noch viel zu neu. Wie auch immer es weitergehen würde, war mir stets die persönliche Freiheit sehr wichtig. Auf gar keinen Fall wollte ich bei irgendjemanden in der Schuld stehen oder gar abhängig sein müssen, weil ich noch einen Gefallen offen hätte oder einen Privatkredit abstottern müsste. Und schon gar nicht wollte ich bei Kakashi in der Kreide stehen. Es sollte bloß nicht der Eindruck erweckt werden, ich hätte mich ihm nur aufgrund seiner Position und seines Einflusses wegen an den Hals geschmissen, um mir selber Vorteile verschaffen zu können. Das mag alles sehr schizophren klingen, doch nüchtern betrachtet war es absolut vernünftig bedacht.

Da saß ich nun eines schönen Vormittags in meinem halb leeren Kontor an meinem Schreibtisch, filzte Zeitungen, rief bei Maklern und Vermietern an und grübelte über ein weiteres Problem nach: Ich bräuchte einen neuen Job. Meine Kündigung ans Kontor hatte ich gestern in den Briefkasten geworfen. Da war nun Bewerbungen schreiben angesagt. Ich hatte noch nie eine Bewerbung schreiben oder mich vorteilhaft in einem Konkurrenzkampf um freie Stellen verkaufen müssen, weil ich zeit meines Lebens im Kontor arbeitete. Das Bewerbungsthema bereitete mir Bauchschmerzen. Mich kannten sehr viele Kaufleute und ich sie. Sicherlich könnte ich diesen Vorteil sogar nutzen, um irgendwo unterzukommen. Doch garantiert gab es auf diesem Gebiet auch eine Menge Nachteile. Vielleicht würde man mich auch gar nicht gerne in einem Betrieb sehen wollen, WEIL sie mich und meinen Arbeitsstil kannten. Ich war als launisch und knallhart verschrien. Ein hitzköpfiger Charakter, der sich nicht bezwingen ließe. Das war kein sonderlich guter Ruf, wenn man sich in einem Betrieb eingliedern wollte. Eine alteingesessenen Belegschaft bräuchte niemanden, der alles besser wusste und die alten Strukturen auf den Kopf stellte. Wie würde es sich nun für mich anfühlen, müsste ich mich in ein bestehendes Firmensystem ein- und einem Chef unterordnen? So was kannte ich gar nicht. Natürlich hatte auch ich meine Vorgesetzten, aber die hockten weit weg im Erd-Reich und waren mir nie in die Quere gekommen, da ich immer eine gute Bilanz abgeliefert hatte. Seufzend schob ich das Thema wieder zurück in ein winziges Hinterstübchen meines Gehirns und überflog nur mit einem halben Auge die Stellenanzeigen. Die Wohnungsinserate waren erst mal wichtiger.

Mittlerweile hatte ich eine recht genaue Rechnung aufgestellt, was mich ein Umzug kosten würde und wie lange wir von unserem Ersparten überleben könnten. Heute war es eine wirklich gute Ausbeute an offenen Wohnungsbesichtigungen gewesen, die ich allesamt abklappern wollte. Gleich vier Stück könnte ich heute in Augenschein nehmen. Sie lagen in den unterschiedlichsten Wohngegenden und hatten auch sehr verschiedene Qualitätskategorien. Doch das kümmerte mich zu Beginn wenig, denn ich wollte erst einmal alles mögliche an Wohnungen ansehen, um überhaupt ein Gefühl dafür zu bekommen, was man für mein angezieltes Mietbudget überhaupt erwarten und bekommen konnte. Daher war ich auch ziemlich sicher, dass ich heute wohl auch keinen Mietvertrag unterschreiben würde. Auch wenn ich es eilig hatte und ich schon in guten vier Wochen das Kontor-Feld geräumt haben müsste, so wollte ich nicht gleich die erstbeste Absteige mir andrehen lassen. Dennoch: Der Countdown lief.

So verging eine ganze Woche, in der ich mir unzählige Wohnungen ansah. Einige Offerten verdienten diesen Namen. Ihnen würde die Bezeichnung „Behausung“ oder „Wohnloch“ wesentlich besser zu Gesichte stehen. Und ich wurde sehr schnell desillusioniert. Wohnungen innerhalb meines Budgets waren Hundehütten gleich. Sie waren klein, verdreckt, schäbig, im Sanierungsstau, hatten dubiose Nachbarn… Ich weiß nicht, was noch alles übel war. Natürlich war Yuuki neugierig und fragte immer, wenn er aus der Schule heimkam, ob ich schon etwas passendes gefunden hätte. Ich hatte ihm versprochen, sobald ich zwei oder drei Wohnungen in der engere Auswahl hätte, dass ich sie mit ihm zusammen anschauen und dann eine Entscheidung treffen würde. Leider musste ich ihn jeden Nachmittag enttäuschen. So schnell ging das nun alles nicht. Yuuki hatte hingegen die optimale Lösung: Wir könnten doch einfach bei Kakashi einziehen, wenn er doch nun sowieso mein Freund wäre.

„Na, der wird sich aber bedanken!“, winkte ich sofort verlegen ab.

Dazu müsste man ihn erst einmal um seine Meinung fragen. Außerdem wäre seine Wohnung gar nicht so groß, dass wir da alle Platz darin fänden. Hätte ich man bloß nichts zu Kakashis Wohnung gesagt. Nun bohrte mein aufmerksames Kind natürlich gleich neugierig nach, wo Kakashi denn wohnen würde und wie es dort aussähe.Wir einigten uns darauf, ihn zu fragen, ob wir ihn vielleicht einmal besuchen zuhause könnten.

Ich schluckte, als ich an Kakashi dachte. Bis jetzt hatte ich offiziell mit ihm noch gar nicht über unseren Umzug besprochen. Natürlich war der nicht blöde: Die Lagerbestände des Kontors standen auf Null, das Gebäude leerte sich zusehends, und obendrein hatte er in der Nacht unserer Mini-Auseinandersetzung das Kontorschreiben gelesen, welches offen auf dem Küchentisch lag. Der brauchte nur Eins und Eins zusammenzuzählen um zu wissen, was los war. Ich Feigling traute mich aber nicht, ihm gegenüber auch nur ein einziges Wort zu verlieren, weil ich seine Reaktion nicht abschätzen konnte. Denn so etwas wie in der einen Nacht in meiner Küche wollte ich nicht nochmal erleben. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich mich immer noch keinen Reim darauf machen können, was ihn so hatte erbost.

Aber ich hatte mir immerhin geschworen, ihm bei der nächsten passenden Gelegenheit die Sachlage zu schildern. Und jedes Mal schob ich die passende Gelegenheit beiseite. Ich traute mich schon gar nicht mehr, ans Handy zu gehen oder etwas in den Messenger zu tippen. Neulich hatte ich schon versucht, ihm auszuweichen, als er mir auf offener Straße entgegen kam. Das war logischerweise ein dämliches Unterfang, denn wenn er wollte, könnte ich ihm nicht entkommen. Knallrot stand ich ihm gegenüber, als wir uns grüßten. Unruhig rührte ich mit der Fußspitze Kreise auf den Gehweg. Sobald er mich ansah, blickte ich weg, bevorzugt auf den Fußboden, wie man es so tat, wenn das schlechte Gewissen nagte. Nur die vielen Menschen um uns herum schützten mich vor einem Smalltalk, der hätte in die Tiefe gehen können. Verwundert über meinen Nervosität bohrte er nach:

„Was ist los?“

Öhm, was sollte den los sein?

„Nüschts, nüschts!“

Mensch, hast du nichts zu tun? Schriftrollen rollen oder so einen Blödsinn? Geh weg! Nervöses Kauen auf der Unterlippe. Blick gen Fußspitze.

„Was heißt hier „nüschts“? Du benimmst dich seltsam.“

Er seufzte, dachte kurz nach und lud mich auf einen Kaffee ein, um das Geheimnis um mein merkwürdiges Verhalten doch noch lüften zu können. Und ich dusselige Kuh schlug die Einladung aus. Termindruck, Termindruck schob ich als Begründung voran, verabschiedete mich viel zu überformell von Hokage-sama, als hätten wir uns zum allerersten Mal in unserem Leben getroffen, und stürmte davon. Seine nachschauenden Blicke spürte ich noch meilenweit in meinem Rücken. Ich hatte ihn verletzt. Sicher hatte ich das. Schon beim ersten Schritt war ich so sauer auf mich selbst und meine Feigheit. Noch Tage darauf nervte er mich per Handy, doch ich kämpfte hart mit mir selbst, dass ich mir verbat den Anruf anzunehmen. Stattdessen drückte ich seine Anrufe weg oder ließ im Messenger ewig auf Antwort warten. Was mochte er von mir denken? Ohje, wenn ich ihn weiter so ignorierte, dann gab das bestimmt bald einen großen Knall.

Dann kam das Wochenende und es wurde stiller zwischen ihm und mir. Als dann gar nichts mehr kam, fürchtete ich schon, er hätte entnervt kapituliert und mir einen Korb gegeben. Und das nur, weil mich meine Kodderschnauze total im Stich ließ. Vor was hatte ich eigentlich Angst? Missmutig blickte ich von dem Wochenendblatt der ortsansässigen Zeitung auf, welches diesmal nur so überquoll vor Wohnungsinseraten, und starrte die nackte Wand an. Dort hing einst mal ein Bild. Deutlich sah man die Ränder von Staub und Dreck auf der Tapete, die noch stumme Zeugen waren vom ehemaligen Bildplatz an der Wand. Ein hübsches Aquarell von einem ruhenden See in der Morgendämmerung. Nun stand es irgendwo oben zwischen den Umzugskartons. Ich mochte die verlaufenen Farben und die Farbwahl an sich. Also wollte ich es nicht der Entrümpelungsfirma überlassen. Lauthals entfuhr mir ein tiefes Gähnen, was ich beinahe verschluckt hätte, weil ich diesmal in dem Kleingedruckten der Wohnungsannouncen etwas gelesen hatte, was mich nahezu ansprang. Zweieinhalb Zimmer, Parknähe, Alt-Konoha. Der Mietpreis klang verdächtig niedrig, aber den Haken könnte man vor Ort abklären. Ich rief sofort an, machte einen Termin noch für denselben Tag aus und trommelte Yuuki heran.

Wir machten uns bei milden Temperaturen und Sonnenschein auf den Weg, aßen unterwegs einige Onigiri im Park am See, weil wir gut in der Zeit lagen, und nahmen die Blockkarte des Wohnviertels in Augenschein. Ansonsten wäre man nämlich hilflos verloren. Man musste zu den Adressen in Konoha wissen: Im Feuer-Reich gab es keinen Straßennamen oder gar Hausnummern. Die Anschrift setzte sich immer aus dem Ort, Ortsteilen und unzähligen Nummern zusammen. Man schrieb beispielsweise bei einem Brief zuerst eine Postleitzahl, dann den Ort. Darunter folgte der Ortsteil gefolgt von Blocknummern und Hausnummerierung. Manchmal gab es auch Hausnamen. Weder die Block-, noch die Hausnummerierung besaß ein mathematisches System, welches man als Außenstehender irgendwie kapieren konnte. Aus diesem Grund war der Stadtplan von Konoha in Stadtteile und Blöcke unterteilt. Und an den Straßenkreuzungen waren häufig Blockpläne, auf welchen jedes einzelne Haus mit Nummerierung verzeichnet war. Wenn man nun glaubte, dass Haus Nr. 1 direkt neben der Nr. 2 lag, der irrte gewaltig. Die Häuser hatten ihre Nummerierung nach Baujahr erhalten. Also das älteste Haus war die Nummer 1, dann kam das zweitälteste Haus mit der Nummer 2, was ganz woanders im Block stehen könnte, bloß nicht nebenan, und so weiter. In machen Blöcken hatten die Häuser gar keine Nummern, sondern besaßen den Namen der Familie, die das Haus erbaut hatte. Und dieser Name blieb, bis das Haus irgendwann mal einstürzte oder abgerissen wurde. Mit anderen Worten, in Tanakas Haus könnte schon längst Familie Kato wohnen, aber es war trotzdem noch Tanakas Haus. Alles klar? Nicht? Ihr habt mein Mitgefühl. Falls Kakashi jemals bei seinem Feudalherrn einen Einfluss auf Adresssysteme hätte, würde ich gerne einmal über ihn mitteilen, dass das Adresssystem im Feuer-Reich bescheuert wäre und eine gründliche Reform bräuchte.

Obgleich Konoha sich nun mittlerweile nicht nur innerhalb, sondern seit einigen Jahren auch außerhalb der Stadtmauern breitmachte und jeden Millimeter Boden zupflasterte, gab es immer noch hier und da Ecken, die einen ganz eigenen Charme hatten, weil sie in sich ein geschlossenes Viertel bildeten. Es war herrlich angenehm, wie viele Parkanlagen und Flussläufe sich durch das Stadtbild zogen und sich nicht hatten von Beton und Asphalt zerfressen lassen. Das Viertel, in welchem unser Zielobjekt lag, war in westlicher Richtung gelegen. Man musste den großen Stadtwald durchqueren und eine Weile am Fluss hinunter gehen. Ich kannte diese Stelle schon flüchtig. Kakashi hatte mich hier des nächtens von einem der großen Steine am Fluss eingesammelt, als ich dort frierend lag und die Sterne am Nachthimmel zählte. Der Block hatte noch sehr viele der Holzhäuser, welche gleich nach der Zerstörung errichtet worden waren. Sie waren allesamt nicht höher als drei oder vier Stockwerke, drängten sich eng aneinander und hatten die typische Rundform. Es schien wenig belebt in dieser Ecke der Stadt zuzugehen. Es war schon Nachmittag, doch es waren kaum Menschen anzutreffen. Hier und da gab es einen kleinen Laden. Der Ersteindruck war gut.

Wir schlenderten weiter durch die Straßen, fanden es gar nicht so schlecht hier und bogen um eine letzte Straßenecke. Dort traf uns dann der Schlag. Neben den vielen hübschen Häusern, die zueinander passten, gab es hier auch ein ziemlich hässliches Haus. Über eine breite Steinbrücke konnte man über den Fluss gelangen und es erreichen. Es war im Gegensatz zu den Holzhäusern in einem völlig anderen Baustil erreichtet worden, nämlich aus Backstein. Und es war sehr groß. Sehr, sehr groß. Und breit. Und lang. Und hoch. Teilweise waren die Fenster vergittert. Moment Mal! Ist die Adresse falsch, und dieses hier ist der örtliche Knast? Selbst die schöne Lage am Flussufer konnte das Haus nicht aufhübschen, obwohl die Aussicht aus den Fenster sicherlich fantastisch sein müsste, war sie wenigstens nicht verbaubar. Glücklicherweise strahlte die Sonne. Andernfalls hätte mir das Gebäude mit einem Wolkenhintergund wohl Angst eingejagt. Wie ein Geisterhaus. Ich schluckte. Ohje, war das der Grund für den billigen Mietpreis? Auch Yuuki blickte skeptisch, fast ängstlich, doch ich sicherte ihm zu, dass wir uns das Objekt ja nur ansehen und nicht gleich mieten wollten.

Wir kamen näher, und ich registrierte spielende Kinder vor dem Haus und am Flussufer. Na, wenigstens war wohl etwas Leben in der Bude. Vor der großen Haustür erwartete uns schon ein junger Mann. Großgewachsen, sportlich und von seinem hausverwalterischen Können mehr als siegessicher überzeugt. Ok, geschäftliches Auftreten konnte ich auch, wollte ich aber nicht gleich im ersten Satz auspacken. Erstmal ging es ums kleine Brötchen backen. Wenigstens erklärte der Typ etwas über das Haus. Zwar dick aufgetragen, aber punktgenau. Es wäre einst mal ein Bürokomplex gewesen. Aber schon nach einem Jahr habe die Firma Konkurs angemeldet. Stattdessen hatte man zusätzlich Wände eingezogen, um Wohnungen zu schaffen. Aha. Ich musterte akribisch Wände und Decken. Man sah schon in allen Winkeln, dass hier nachträglich Wohnraum geschaffen worden war. Zwecksmäßig, nicht liebevoll. Anscheinend auch mit vielen Baumängeln. Wir erklommen durch ein überdimensionales, steinernes Treppenhaus den vierten Stock von insgesamt neun Stockwerken. Der Fahrstuhl wäre wohl außer Betrieb. Na toll! Ab und zu kam uns ein Hausbewohner entgegen und grüßte höflich. Anschließend wandelten wir einen ebenso großzügigen Gang entlang. Ziemlich finster und zugig. Aber unglaublich ruhig. Die Wände und Türen schluckten makellos den Schall. Die Korridortüren sahen alle gleich aus, waren durchnummeriert und wohl die einstigen Türen zu den Großraumbüros. Am Ende des Ganges vor der letzten Tür stoppte unsere Führung. Alle Wohnungen hätten denselben Schnitt, meinte der Typ und grinste mich an, als würde es verkaufsfördernde Absichten bei mir entfachen. Nein, bei mir zog das Ding nicht. Den Trick wandte ich oft selbst an. Aber ich grinste nie so breit wie er, sondern lächelte mit verführerischen Kulleraugen. Endlich gab das sperrige Schloss dem energischen Schlüssel nach. Müsste wohl mal Öl dran, sagte der Typ leicht nervös über diesen Patzer und bat uns dann herein.

Wie sehr der erste Eindruck vom Haus wohl täuschen konnte. Denn von draußen schien es so mächtig und düster. Die Wohnung war zwar wirklich winzig, aber sonnendurchflutet. Da war ich wirklich baff. Beim Eintreten stand sofort im Mittelpunkt der Wohnung: Ein breiter Korridor erstreckte sich von der Eingangstür bis zu einem gegenüberliegenden Fenster, welches doch glatt die gesamte Außenwand einnahm. In der unteren Hälfte war Milchglas eingesetzt worden. Ein streifiger Gitterschatten auf dem Glas verriet, dass von Außen ein Fenstergitter in gleicher Höhe angebracht worden war. Man konnte das Fenster im oberen Teil wie eine Doppelflügeltür öffnen. Dann hätte es bestimmt Balkonfeeling, denn es bot sich an, hier eine Sitzgruppe aufzustellen. Ich trat näher heran und blickte hinaus. Man schaute über den Flusslauf auf die Abendsonne und die weiter Landschaft außerhalb Konohas.

Ich kehrte zur Eingangstür zurück und prüfte genau die Küchenzeile, welche sich linker Hand in die Ecke quetschte. Die Küche war zwar nicht mehr die neuste, aber gut gepflegt. Wasser floss tadellos aus dem Hahn. Die Herdplatte wurde heiß, als ich sie andrehte und einen Moment abwartete. Sicherlich war das hier früher einmal die Teeküche für die Büroangestellten gewesen. Glücklicherweise war diese Wohnung an zwei Außenwänden gelegen, so dass das Bad ein kleines Fenster zum Lüften hatte. Naja, Bad war ein sehr nobler Begriff für das, was sich auf vier Quadratmetern bot. Ein Waschbecken, ein Klo und eine Dusche. Ich nannte die Kombination schlichtweg: Klusche.

Ansonsten gab es noch zwei Schlafzimmer. Eines rechts des Korridors, eines links des Korridors. Auch hier war des Fenster genauso ein großzügies Highlight wie bereits im Korridor. Ja, es machte unerwarteter Weise einen wohnlichen Eindruck. Ich strich mir über die Oberarme, denn ich fröstelte. Lief die Heizung nicht richtig? Och doch, der Heizkörper glühte wie ein Ofenbrikett, als ich ihn berührte und mir fast die Hand verbrannt. Hm, die Zimmer hatten überall hohe Decken, und die großen Fenster waren schön für den Lichteinfall, aber zugleich mit der Deckenhöhe auch das dicke Minus der Wohnung. Im Winter wurde es nicht richtig warm, weil die Heizwärme zur Decke hochzog und die Fenster wohl hier und da nicht dicht waren. Im Sommer würde man sich hier wie im Backofen totschwitzen. Vielleicht könnte man mit Schweren Vorhängen vor den Fenstern etwas Abhilfe bekommen.

Trotzdem bewegte sich etwas in meinem Innersten, was mich dazu drängte, mir den Mietvertrag zur Durchsicht auszuhändigen zu lassen. Höflich dankte ich bei der Verabschiedung für die nette Besichtigung und bat um einige Tage Bedenkzeit. Gerne ich hätte ich noch die eine oder andere Frage gestellt, doch mir fielen nicht alle Vokabeln ein, obwohl ich mir doch extra welche aus dem digitalen Wörterbuch herausgesucht und notiert hatte. Seufzend rollte ich den Vertrag zusammen und schlenderte mit Yuuki am Ufer entlang, bis wir auf einer Parkbank Rast machten.

„Tut mir Leid, mein Großer. Aber mehr Wohnung kriegen wir für unseren Geldbeutel nicht.“; seufzte ich entschuldigend. „Alle anderen Wohnungen waren die ähnliche Kategorie.“

„Und welche fandest du bis jetzt am besten?“

Ich dachte kurz nach.

„ Diese hier. Die Wohngegend macht einen netten Eindruck. Es ist nicht weit bis zur Innenstadt und zur Schule. Und die Räume waren soweit in Ordnung. Da hatte ich die letzten Tage schon Schlimmeres erlebt.“, erklärte ich und ergänzte. „Und wenn ich wieder Arbeit habe, dann können wir uns vielleicht auch mal wieder etwas besseres leisten.“

Yuuki baumelte mit den Beinen, ergriff einen Kieselstein vom Boden und ließ ihn mit etwas Chakra so geschickt über die Wasseroberfläche ditschen, dass er mühelos das andere Ufer erreichte. Wow!

Mein Kind hatte gefallen an dem Spielchen gefunden und ditsche noch einen weiteren Stein und noch einen. Währenddessen schaute ich flüchtig in den Mietvertrag und verzweifelte. So viele unbekannte Schriftzeichen... Stundenlang müsste ich meinen Onlineübersetzer bemühen. Ich atmete einmal tief durch. Mir fiel nur eine Option ein. Der Biss in den sauren Apfel, weil ich um eine Begegnung nicht herumkommen würde.

Ich brauchte einen Dolmetscher.

23 - Der Tag, an dem ich Baden ging

Wenn man vom Teufel sprach, so suchte er einen sofort heim. In meinem Falle bemerkte ich ihn schon, als ich die Haustür aufschloss und es so herrlich duftend nach Essen roch. Das irritierte mich erst, konnte aber wiederum nur auf eine Person schließen lassen, die den Herd in meiner Küche anschmiss, weil eben jene den lieben langen Tag im Büro noch nicht viel zwischen die Zähne bekommen hatte und anstelle daheim lieber hier mit uns zusammen aß. Nachdem ich ihm in den letzten Tagen stets ausgewichen war, so war das nun ein äußerst cleverer Zug von ihm. Irgendwann musste ich ja mal nach Hause kommen. Unausweichlich. Man wurde rücksichtslos in den eigenen vier Wänden abgefangen und zur Strecke gebracht.

Yuuki und ich waren nachmittags von dem besichtigten Wohnklotz aus noch durch die Stadt geschlendert. Kinder wuchsen bekanntlich wie Hefekuchen. Also erstanden wir nach unzähligen Anproben und Geschmacksdiskussionen für meinen Herrn Sohn neue Turnschuhe für den Sportunterricht und einen Anorak für das kommende Frühjahr. Als wir uns dann auf den Heimweg machten, war es schon früher Abend und die Mägen hingen uns nach dem bescheidenen Mittagsmahl doch ziemlich durch. Daher hatte ich Yuuki extra versprochen, eine schnelle Mahlzeit zum Abendessen zuzubereiten, aber das hatte sich nun wohl zu unseren Gunsten erledigt.

Kakashi saß in seiner üblichen Relax-Lesehaltung mit lang ausgestreckten Beinen am Küchentisch, las auf dem Tablet seinen Lieblingsschund und beobachtete mit halbem Auge und Ohr das, was auch immer da im großen Topf auf dem Herd blubberte. Die benutzen Küchenutensilien wie Messer und Schneidebrett waren bereits auf der Spülablage gestapelt. Das war eine Eigenschaft von Kakashi, die ich sehr schätzte: Er war ordentlich. In meiner vorherigen Beziehung gab es immer den Streitpunkt, dass alles überall herumflog, bloß nicht den Weg zu seinem angestammten Platz fand. Da stand benutztes Geschirr vergessen im Wohnzimmer, dreckige Wäsche lag neben dem Wäschekorb, Apfelschalen vergammelten auf dem Küchentisch und so weiter und so fort.

Wenn ich Kakashi beim Lesen überraschte, gab ich häufig meine bissigen Kurzkommentare zum Bestehen, weil ich es mochte, wie er dann peinlich berührt krebsrot anlief. Jetzt aber fand ich es unangebracht, ihn zu ärgern, weshalb ich nur zum Türpfosten schlich. Als ich verlegen durch die Küchentür trat, wandelte sich sein übermüdeter Gesichtsausdruck zu einem vorwurfsvollen, welcher mir stumm gebot, mich ohne Widerworte ebenfalls an den Küchentisch zu setzen. Irre, wie viel Ausdruck man nur allein mit Körperhaltung darbieten und darüber hinaus Einfluss bei seinem Gegenüber erzielen konnte. Ich wünschte, ich könnte das auch. Kurze Pause zwischen uns. Ich schwieg allerdings nur kurz, um nach den richtigen Worten zu suchen.

„Ja, du hast recht. Ich hätte gleich zu Beginn etwas sagen sollen. Ich bin aber so was von überfordert mit allem. Ich wusste nicht wie. Und ich hatte Angst, du wärst vielleicht sauer.“, stammelte ich mir eine Entschuldigung zurecht.

Bei ihm bewirkte das keine große Reaktion. Das war pure Absicht. Immer noch guckte er mich wortlos an, als würde er noch auf den Rest meiner Minimalrede warten. Vermutlich eine Antwort auf „Warum?“ oder „Wieso?“ oder „Was läuft hier eigentlich?“. Bei mir löste diese Art der Verhörmethode Aggressionen aus. Das wusste er ganz genau. Und genau darum tat er es. An dieser persönlichen Art der Rache hatte er sichtlich Spaß.

„Es tut mir leid!“, blaffte ich nun.

Immer noch nichts. Außer, dass er nun wenigstens das Tablet auf den Tisch legte und provozierend die Hände in den Hosentaschen vergrub.

„Boah, ich habe gerade gesagt, dass du recht hast. Maaaann, was soll ich denn noch machen?“, verfiel ich schon fast ins Brüllen.

„Du kannst dich mal umdrehen und mit dem Kochlöffel den Eintopf umrühren, damit er nicht anbrennt.“, sagte er ruhig, hatte aber wieder dieses Grinsen auf den Lippen, dass ich ihm am liebsten sofort eine geklatscht hätte.

Es war pure Absicht, dass er das Thema nicht weiter vertiefte oder gar auf meine Entschuldigung einging. Er strafte mich mit Missachtung und Respektlosigkeit. Mit einer Energie wie Rumpelstilzchen und einem feuerroten Kopf der blinden Wut sprang ich auf, schluckte sämtliche Schimpftiraden und Hassbeleidigungen hinunter, die mir eingefallen waren, weil sie bei ihm sowieso abperlen würden wie Wasser auf Butter, und grabbelte nach dem Kochlöffel. Wieso hatte ich mir von den Hunderten von Shinobis, die hier im Dorf verweilten, eigentlich das arroganteste Arschloch von allen ausgesucht? Was hatte ich eigentlich irgendwann mal in meinem Leben verbrochen, dass mir ausgerechnet so einer zugeteilt worden war? Unaufmerksam verbrannte ich mich an dem heißen Topfdeckel, bekam dann auch noch den ebenso heißen Wasserdampf ins Gesicht und kämpfte gegen Tränen an, als ich den Topfinhalt begutachtete: Nikujaga. Das gab es im Erd-Reich auch. Ich liebte es.

Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals runter, während ich Kartoffeln, Rindfleisch und Karotten in der Brühe unterhob. Das langsame Umrühren wirkte irgendwie beruhigend und vertrieb die Wut. Der dicke Kloß blieb. Und er wurde sogar noch größer, wie ich Kakashis Hand plötzlich auf meinem Rücken spürte und sie auf und nieder strich. Damit hatten wir uns wieder vertragen.

„Warum hast du immer noch so ein großes Misstrauen?“, fragte er ruhig.

„Ich weiß nicht...“, schüttelte ich den Kopf.

Misstrauen war vielleicht auch gar nicht der richtige Ausdruck. Ich war es gewohnt, alles selber zu regeln, auf eigenen Beinen zu stehen. Alles, was ich an Problemen zu stemmen hatte, stemmte ich schon immer allein und fand es befremdlich, wenn ich jemanden um Hilfe bitten musste. Daher kam ich auch nie auf die Idee, andere Menschen mit meinen Problemen zu belästigen. Immerhin hatte jeder schon seine eigenen Probleme zu meistern. Da brauchte man doch nun wirklich keine fremden Probleme noch zusätzlich oben drauf.

Ganz automatisch fiel mein Kopf zur Seite und wurde von Kakashis Schulter aufgefangen. Seine Hand hatte mittlerweile ihren Weg von meinem Rücken an meine Taille gefunden, wo sich mich hielt und mich an ihn zog. Er hatte recht. Ich sollte zukünftig meine Gedanken mehr teilen. Und als ich gerade in Begriff war, diesen Schritt zu gehen, platzte Yuuki durch die Tür und quengelte ungeduldig um Essen. Jenen hatte ich nämlich mit den Einkäufen in sein Zimmer geschickt, auf dass er die Etiketten entfernte und die Sachen in den Schrank unterbrächte.

Kakashi löste sich langsam von mir, kramte im Oberschrank nach den Suppenschüsseln und platzierte sie samt Gläsern und Essstäbchen auf dem Tisch. Das Essen verlief recht schweigend. Ein wenig Smalltalk. Mehr nicht. Und es war superlecker. Yuuki schlang gleich zwei Portionen runter, als hätte er noch nie in seinem Leben etwas zu essen bekommen. Er hatte es heute besonders eilig.

„Mama, darf ich noch Fernsehen gucken?“ bettelte er.

„Öhm, … ja, aber nicht so lange.“, gab ich als undefinierte Zeitrichtlinie an.

„Yuuki? Deine Mutter und ich sind noch mal kurz unterwegs. Ist das OK, wenn Pakkun bei dir bleibt?“, fragte Kakashi.

Hm? Was ging denn hier über meinen Kopf hinweg gerade ab? Wir wären nochmal weg? Mein Kind stand kurz wie angewurzelt in der Tür, sagte dann aber überschwänglich fröhlich zu. Vermutlich ging er davon aus, dass er mit Pakkun zusammen garantiert sehr lange Fernsehen gucken dürfte. Na, da kannte er Pakkuns Beharrlichkeit und Kieferknochen aber schlecht. Für einen kurzen Moment musste ich lächeln, dann räumte ich das Geschirr weg und sah Kakashi erwartungsvoll an. Der aber gab mir nur knapp und lächelnd zu verstehen, dass wir einen Ausflug machen würden. Das hätte er doch neulich schon vorgehabt. Erst jetzt fiel mir auf, dass er einen halbgefüllten Rucksack dabei hatte. Und schon waren wir unterwegs.

Es war dunkel in den Straßen Konohas, obwohl es noch nicht spät war. Der Himmel war bedeckt und stahl dem Mond seine Sicht auf die sich zur Ruhe setzende Stadt. Die milden Temperaturen wichen den kühlen der Nacht. Sie pendelten sich um den Gefrierpunkt ein. Immerhin hatten wir Dezember. Es war nicht zu vergleichen mit dem Klima des Erd-Reiches, wo schon seit gut sechs Wochen meine Heimatstadt unter einer Schneedecke versunken war. Meine Mutter hatten mir Fotos gemailt, wie Vater das Haus von den meterhohen Schneemassen befreite.

Dieses Mal ging es nicht fix im Ninja-Eiltempo über die Dächer, sondern gemäßigt nebeneinander her. Ich kannte unser Ziel noch immer nicht, doch diese Langsamkeit gefiel mir sehr. Es war nervenberuhigend. So locker wir schlenderten, so locker wurde auch meine Zunge.

„Dass das Kontor zumacht, weißt du ja. Und meine Firmenleitung hatte mir einen hohen Posten in der Hauptzentrale im Erd-Reich angeboten.“

Aus den Augenwinkeln schielte ich zu ihm herüber. Doch er sah nur gedankenverloren gerade aus. Alles nur Tarnung. Tatsächlich hörte aufmerksam zu und scannte jeden Millimeter von mir.

„Ich habe mich entschieden. Wir bleiben hier. Gestern habe ich meine Kündigung abgeschickt.“

Ja, nun war es heraus. Überrascht drehte er seinen Kopf zu mir, und ich blickte in weit aufgerissenen und erstaunte Augen.

„Yuuki gehört halt hierher. Und als wir vor ein paar Wochen im Erd-Reich waren, kam ich mir total fremd vor. Da ist nichts mehr so wie früher.“, erklärte ich mir mehr selbst als ihm. „Außerdem hab ich dich ja jetzt auch noch...“

Aus den weit aufgerissenen Augen wurden strahlende.

„Wie geht's nun weiter? Hast du dir schon was überlegt.“, bohrte er nun vorsichtig nach.

Dabei konnte ich ihm ansehen, dass er platzte vor Neugier. Also erzählte ich ihm von der verzweifelten Wohnungssuche, dass bei meinen Ersparnissen nur Wohnlöcher in Frage kämen und ich eventuell doch etwas gefunden hätte.

„Kannst du mir beim Mietvertrag helfen? Ich kapier die ganzen Kanji nicht.“, gab ich kleinlaut zu. „Und Bewerbungen muss ich auch schreiben...“

„Klar!“, stimmte er sofort zu, und mir fiel ein Stein vom Herzen, obwohl ich mir gar nicht hätte vorstellen können, er hätte mir die Bitte ausgeschlagen.

Er hakte nach, wo denn das Wohnobjekt der Begierde überhaupt läge. Ich konnte es ihm nur grob erklären, doch er kannte das Haus sofort. So einigten wir uns darauf, auf dem Rückweg noch einen Abstecher daran vorbei zu machen.

Apropos Rückweg: Wohin führte überhaupt unser Hinweg? Gedankenverloren hatte ich der Umgebung keines Blickes gewürdigt. Längst waren wir die Serpentinenstraße in den alten Ortskern hinab spaziert und hatten uns auf unscheinbaren Nebenwegen der landschaftsdominierenden Felsenwand mit den Hokage-Büsten genähert, die Konoha von Norden her schützte und die Altstadt vom Hochplateau trennte. Trotzdem begegneten wir auf diesen Schleichwegen Passanten, die Hokage-sama höflichst grüßten und dabei so taten, als würden sie mich an seiner Seite nicht sehen. Ihr Augen verrieten sehr wohl, wie neugierig sie mich doch alle von oben bis unten mit ihren Blicken abtasteten. Es war einfach unmöglich, mit Kakashi zusammen durchs Dorf zu gehen, ohne gegrüßt oder gar angesprochen zu werden. Privatsphäre gab es irgendwie nicht, und Kakashi füllte durch seinen Job die Rolle des bunten Hundes unausweichlich aus.

Es ging noch einige Meter weiter, bis ein hoher Bretterzaun den Weg versperrte. Er schottete einen kleinen Teil der Bergwand ab. Dahinter reckten sich einige Äste zum Himmel. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was uns in den dunklen Abendstunden ausgerechnet hierher verschlagen hatte. Mein fragendes Gesicht sprach Bände wie ein offenes Buch.

„Sag mal, warst du hier schon mal in den heißen Quellen baden?“, fragte er mich.

Trotz der schwachen Straßenbeleuchtung war sah ich ihm an, wie ihm der Schalk im Nacken saß. Was auch immer in seinem Hirn gerade abging, es musste zu seiner Fünf-Minuten-Phase gehören, wo er nur Blödsinn im Kopf hatte. Natürlich hatte ich hier schon einige Male die heißen Quellen im Ort besucht, doch ich kam mit den hier hiesigen Baderitualen nicht zurecht. Zu Beginn hatte ich mir sehr viele Fauxpas geleistet, obwohl ich doch so bemüht bei den Onsenangestellten nachgefragt hatte. Es begann schon damit, dass man nicht im Stehen duschen durfte, sondern immer auf dem Hocker zu sitzen hatte. Dann reinigte man sich übermäßig gründlich mit Seife, ließ aber die Haare noch trocken. Mit einem Mini-Handtuch, welches ich daheim höchstens als Staubtuch interpretiert hätte, bedeckte man die Scham, bis man im viel zu heißen Wasser saß. In der Zwischenzeit parkte man das Tuch auf dem Kopf. Hinterher duschte man noch einmal kurz, weil man nun endlich die Haare waschen durfte. So sehr diese Art des Badens das Entspannen fördern sollte, so zog ich mein heimisches Schaumbad vor. Da gab es nicht so viele Regeln. Mit Schaudern erinnerte ich mich noch daran, wie ich zum ersten Mal meine Yukata anzog und natürlich sofort die Stoffbahnen falsch herum übereinander legte. Wenn man die Yukata vorne schloss, so kam von sich aus die rechte Stoffseite immer unter die linke Stoffseite. Andersherum macht man es nur bei Leichen. Ohje, was hatte ich mich da unmöglich gemacht.

„Hast du schon mal überlegt, woher das Wasser kommt?“, hörte ich ihn noch sagen und schon war er mit einem athletischen Sprung über den hohen Holzzaun hinweg verschwunden.

Ich stand da ziemlich bedröppelt nun allein auf dem Fußweg. Mitten im Dunkeln.

„Na los, komm mit!“

Komm mit? Boah Hatake, du wusstest genau, dass ich Sofakartoffel niemals über solch einen Zaun geklettert käme. Ich war ja sogar zu doof, einen Baum zu erklimmen, selbst wenn zwei Mann mir eine Räuberleiter anböten. Was wurde das hier überhaupt? Mein Gesicht verfinsterte sich wie ein Sommerhimmel, an dem ein heftiges Gewitter aufzog. Sekunden später klickte es einige Meter weiter und ein paar Latten des Zaunes verschwanden nach hinten. Eine dunkle Öffnung klaffte wie ein Wolfsmaul auf, aus welcher Kakashi plötzlich auftauchte. Der Zaun hatte eine Tür, die man auf den ersten Blick nicht wahrnahm, hatte sie doch zur Straßenseite hin keine Türklinke. Etwas grummelig beantwortete ich sein Grinsen und folgte ihm. Wir schlängelten uns einige Meter zwischen Bretterzaun und Felsenwand entlang. Verwildertes Buschwerk schlug mir unliebsam seine Äste ins Gesicht, als ich von Kakashi um einen Busch herumgezogen wurde und plötzlich in einem Höhleneingang stand. Höhle war wohl etwas übertrieben. Fleißige Handwerkerhände hatten hier einst einen Stollen in den Berg getrieben. Gerade mal etwas höher, als wir selber groß waren, und so schmal, dass man nicht zu zweit nebeneinander, sondern lediglich hintereinander gehen konnte. Als ich da im Eingang stand, die Kälte aus dem Berg auf meiner Haut spürte und in das schwarze Tunnelmaul sah, bekam ich Herzrasen und Schweißausbrüche. Ich habe keine Angst vor Dunkelheit, wohl aber vor Platzmangel. Allein schon der Gedanke, dass ich nun durch diesen Tunnel zu gehen hätte, versetzte mich in Panik. Reflexartig krallte ich mich in Kakashis Oberarm fest, dass meine Fingernägel sicherlich ohne Probleme seinen Knochen ertastet hätten.

„Hast du Platzangst?“

Ich nickte angsterfüllt und fühlte, wie die ersten Tränen meine Wangen hinabliefen.

„Das sind nicht mehr als zwanzig Schritte. Du schaffst das. Komm, wir zählen die Schritte zusammen.“

Er küsste meinen Tränen mit dem Stoff seiner Maske weg, nahm mich bei der Hand und schliff mich langsam, aber energisch hinterher. Jeden einzelnen Schritt zählten wir laut. Obwohl es nur zwanzig Zahlen waren, kamen mir in diesem Moment zwanzig Zahlen vor, als hätten wir bis zu einer Million hinauf gezählt. Es war nicht nur die Dunkelheit und die Enge, die ich fürchtete. In den Tiefen des Berges dröhnte es, und ich konnte mir die Ursache des Dröhnens nicht erklären. Mit jedem Meter, den wir immer weiter und weiter vordrangen, wurde es zu einem lauten Rauschen. Dann stoppte unser Gang. Kakashi musste eine weitere Tür geöffnet haben, die ich in der Finsternis nicht sah, doch mit einem Mal war das Rauschen ohrenbetäubend. Und stickig heiße Luft zog nun an uns vorbei und jagte nach außen.

Es schepperte metallisch. Dann entfachte sich eine Ölflamme in einer Sturmlaterne. Und was sie mit ihrem Licht erreichte, war echt beeindrucken. Es war eine unterirdische Höhle. Von einer etwas höheren Ebene, die in der Schwärze verschwand, stürzte ein kleiner Wasserfall herab in ein Wasserbassin. Von da zapften einige Wasserrohre unterschiedlichen Durchmessers das dampfend heiße Nass ab. Und dort, wo das Wasser über den Beckenrand überlief, sammelte es sich unterhalb in einer breiten Rinne, welche wohl aus dem Berg hinausführte.

Reden war absolut zwecklos bei diesem Krach. Es gab auch nichts zu reden. Wir entledigten uns unserer Kleidung, legten sie neben der Sturmlaterne und dem Rucksack auf einer klapprigen Holzbank ab und versanken in dem unruhigen Wasser. Es war wahnsinnig heiß. Ein Kribbeln von Tausend Nadeln auf der Haut. Und hätte mich Kakashi nicht im Arm gehalten, ich wäre sofort schreiend wieder herausgesprungen. Ein Hummer im siedenden Kopftopf müsste wohl ein ähnliches Gefühl haben, bevor er der Welt für immer Lebewohl sagte. So aber tauchten wir zwei kurz bis zum Hals unter. Es war unbeschreiblich. Die Hitze. Das Wasser. Die Dunkelheit. Unsere Körper nahe beieinander. Die Zeit stand still. Absolute Ruhe und Geborgenheit. Am liebsten wäre ich hier so ewig bei ihm geblieben.

Aber man schaffte es nicht, länger als eine großzügige Viertelstunde in dem heißen Wasser zu verweilen. Dann drängte einen der tiefenentspannte Kreislauf hinaus. Mir fielen fast die Augen zu vor Müdigkeit. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Nun bekam ich auch den Rucksackinhalt mit. Ein großes Handtuch rubbelte mir erst die nassen Haare trocken und umhüllte mich dann wie eine Toga. Jetzt erst merkte ich, wie der Stress von mir abfiel, den ich in den letzten Wochen hatte. Er hatte mich geschlaucht, gebeutelt und völlig ausgelaugt. Mein Kopf hing schon wieder an Kakashis Schulter. Mit meinen Fingern malten ich die dunkelroten Linien seines Tattoo nach. Es war gar nicht mehr gestochen scharf, sondern lief an den Rändern schon leicht aus. Auch das Dunkelrot und die schwarze, feine Umrandung verblasste. Stumm rollte mir eine Träne der Erschöpfung über die Wange. Die nächste perlte schon aus dem Augenwinkel. Warum kamen in solch herrlichen Momenten immer diese depressiven Selbstzweifel? Dass ich mit meiner Sprunghaftigkeit und Zickereien viel zu schlecht wäre für Kakashi. Kakashi, der jeden Wutausbruch von mir wegsteckte, als wäre da nichts gewesen. Der nie nachtragend war und über fast alles hinwegsah. Und erst diese Speckrollen um die Hüften, die strohige Lockenmähne und mein großrahmiges Erscheinungsbild. Ich mochte mich selber nicht im Spiegel anschauen. Was begehrte Kakashi eigentlich an so einer wie mir? Zwei Hände fassten meine Wangen und zogen mich zu einem Kuss heran. Lang und innig. Kakashi konnte gut küssen, und ich gab mich dem willenlos hin. Auch, als seine Küsse gieriger wurden und seine Hände plötzlich überall und nirgends waren. Sie strichen über meine Hand, als würden sie alle Selbstzweifel wegwischen.

Nein, ich wollte jetzt nicht nach Hause. Ich wollte hier an diesem geheimen Ort bleiben. Hier bei der Wärme und Geborgenheit. Hier, wo wir sein konnten, wie wir wollten. Hier bei Kakashi.

24 – Der Tag, an dem mein Hausstand umzog

Wir hatten nach unserem gemeinsamen Bade in dem unterirdischen Tunnelsystem nicht mehr den Weg an der Wohnung vorbei gefunden, sondern Kakashi hatte mich halb schlafend Huckepack wieder daheim abgeliefert. Erst wollte ich protestieren, doch es schien im nichts auszumachen, mich wieder einmal mehr nach Hause zu bringen, und mir selber fielen schon nach dem ersten Hüpfer querfeldein über die Zäune und Dächer die Augen zu. Wohlbehalten wurde ich auf meiner Matratze abgesetzt. Womit hatte ich eigentlich soviel Aufmerksamkeit, Zuneigung und Liebe verdient? Ich war doch nur klein und unbedeutend. Ich ließ mich plump nach hinten fallen und zog mir dabei die Bettdecke über den Kopf. Klamotten ausziehen könnte ich auch später noch.

„Musst du wirklich los?“, machte ich meinem Unmut Luft.

„Ja, leider..“, gab er mir zu verstehen.

Man sah ihm an, dass es ihm selber schwerfiel, gehen zu müssen Dass er in einer Zwickmühle saß, über die er aber nicht reden wollte. Da war ich ganz egozentrisch gepolt, wenn ich von mir selber sagte, seine regelmäßigen, tagelangen Abwesenheiten würde mich ziemlich nerven. Und irgendwie war ich mir auch sicher, dass es wenig mit seinem Beruf zu tun hatte. Ich mag jetzt nicht falsch verstanden werden, denn ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er mich betrügen würde. Obgleich er gezwungener Maßen häufig im Mittelpunkt stehen musste, wahrte er doch stets eine große Distanz zu seinen Mitmenschen. Selbst zu Personen, die ihm näher standen, hielt er ein Art von Schutzabstand. Erstaunlich, dass ich seine Nähe mit ihm teilen durfte. Einige Puzzelteile in meine Kopf aber wollten sich dennoch nicht zu einer Einheit zusammensetzen lassen, um mir ein vollständiges Bild zu offenbaren. Eingeschnappt hatte ich mich diesem Umstand zu fügen, obwohl es mir gar nicht passte. Wobei ich mir einen Gedankengang später schwor, dem Ganzen auf den Grund zu gehen, sobald mein eigenes Leben wieder in ruhigeren Fahrwassern schiffen würde.

Ein kurzer Abschied und das Versprechen, mir den Mietvertrag rechtzeitig in verständliche Sprache zu übersetzen, verschwand er nebst Vertrag in die dunkle Nacht hinein. Schnell und lautlos. Ich war zu müde, um mich über meine frische Einsamkeit aufzuregen. Also tauschte ich meine Kleidung gegen mein Nachthemd und lauschte ich in die schlafende Wohnung hinein. Absolute Stille! Erstaunlicher Weise hatte es der kleine Mops zu Wege gebracht, Yuuki von der Flimmerkiste weg und dann ins Bett zu bringen. Pakkun sollte öfters zum Hütehund umsatteln. Mit diesen letzten Gedanken endete mein Tag.
 

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, das Leben von Yuuki und meines in Kisten und Kartons zu verpacken. Und jedes Mal, wenn wieder ein Karton voll war mit Dingen, die man nicht tagtäglich brauchte, schleppte ich einen hinunter ins Erdgeschoss. Regale schraubte ich schon einmal umzugstauglich auseinander und sortierte Schrauben und Bolzen in beschriftete Plastiktüten, auf dass ich alle Möbeleinzelteile je wieder zusammengesetzt bekommen würde. Als gute Idee empfand ich, einige verzwickte Möbelkonstruktionen zu fotografieren, damit ich später auf den Bildern nachschauen könnte, wenn ich am Verzweifeln wäre. Ich hasste umziehen. Obwohl man alles aus der alten Wohnung herausschleppte, kam nie alles in der Neuen an. Man könnte auch sagen: Einmal umziehen war genauso, wie einmal abgebrannt. Wir hatten wirklich nicht viel angesammelt in den letzten Jahren, doch es war mehr, als ich erahnt hätte. Bei dem einen oder anderen Gegenstand überlegte ich mehrmals, ob man ihn in Zukunft noch brauchen würde. Vieles fand dann nicht seinen Weg in eine Umzugskiste, sondern in die Abfalltonne. Nach einer Sichtung meiner alten Wohnung versprach das Umzugsunternehmen, welches ich wegen seines guten Preises auserkoren hatte, man würde all den Hausrat schon mit der ersten Tour abtransportieren können. Das klang nach einer schnellen Aktion. Trotzdem stresste es mich.

Die Wohnung wurde immer ungemütlicher. Yuuki nervte, weil er ständig wieder verpackte Kartons aufriss und irgendetwas suchte: Spielzeug, Baseball-Handschuhe, Schulbücher und weiß der Kuckuck, was nicht noch alles. Mein Nervenkostüm wurde immer dünner und flatterte wie eine Fahne im Wind. Ich schaute schon gar nicht mehr auf den Kalender. Die Tatsache, dass es bis zum Jahresende nur noch gute vier Tage waren, bereitete mir Schnappatmungen, Herzrasen und Bluthochdruck. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, wie das alles zu schaffen wäre. Es lief doch grundsätzlich nie etwas glatt. Vier Tage. Dann musste ich hier die Bude besenrein übergeben haben. Dazu käme extra eine Bevollmächtigter aus dem Erd-Reich, der die Übergabe prüfte. Angeblich war das Haus schon verkauft worden. Der neue Besitzer scharrte bereits mit den Hufen, weil er große Umbaumaßnahmen durchführen und ein neues Geschäft eröffnen wollte.

Vier Tage und ich hatte nicht mal einen neuen Mietvertrag unterschrieben. Der Hausverwalter strapazierte mich und mein Nervenkostüm auf dem Anrufbeantworter über: Ich sollte mich in zwei Tagen entschieden haben, sonst wäre die Wohnung weg. Angeblich gäbe es genügend Interessenten. Also bestellte ich ihn vor Ort in die neue Wohnung, um den Vertrag unter Dach und Fach zu bringen, und schickte Kakashi eine explosive Nachricht mit Zeter und Mordio, dass er gefälligst sein Versprechen einhalten sollte. Die Krönung bildete jedoch noch am selben Tage ein Anruf meiner Umzugsspedition. Aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen sagten sie den Auftrag ab.

Es war zum Heulen. Es wäre die falsche Wortwahl gewesen, wenn ich behauptet hätte, ich wäre aufgekratzt gewesen. Nein, ich rastete innerlich total aus und lief Amok. Aber bevor ich wahllos Menschen auf offener Straße abschlachtete, besann ich mich eines Besseren und schleppte lieber weiter einen Karton nach dem anderen hinunter ins Erdgeschoss. Mit meiner Sportlichkeit eines Mehlsackes gleich war meine auf Wut basierende Energie schon beim gefühlten zehnten Karton verraucht. Und so saß ich auf der untersten Treppenstufe, besah meinen winzigen Kartonhaufen in der ansonsten völlig leeren Empfangshalle und wollte gar nicht daran denken, was alle noch hinunter getragen werden müsste. Es war zum Verzweifeln. Und Kakashi? Der hatte sich noch nicht gemeldet. Noch nicht einmal meine Nachricht hatte er gelesen. Pff, Blödmann! Traurig schlang ich meine Arme um die angezogenen Knie, legte den Kopf darauf und tröstete mich selber. So in Gedanken versunken verpasste ich, dass das Handy piepte.
 

Übermorgen kam schneller als gewollt. Die Wohnung wurde gar nicht leerer, obwohl mein Sohn und ich schon so einiges aus der Wohnung nach unten befördert hatten. Entnervt gab ich auf. Wenigstens hatte ich einen handfesten Grund für die Unterbrechung meiner Aufräumaktion: Ich musste pünktlich in der neuen Wohnung sein, um mich mit dem Hausverwalter zu treffen. Ich machte mir nicht die Mühe, unter die Dusche zu springen, sondern trabte so los, wie ich war. Verschwitzt, übermüdet, zerzaust und ungepflegt. Ich musste einen sehr wilden Eindruck hinterlassen haben, als ich endlich dem Verwalter gegenüber stand. Er blickte zweimal zu mir, als hätte er mich gar nicht wiedererkannt, rümpfte dann unauffällig die Nase über meinen Auftritt und versteckte seine Meinung über mich aber hinter einem künstlichen Lächeln voller schleimender Höflichkeit.

„Ich sehe, Sie haben sich entschieden. Haben Sie noch Fragen?“ tropfte es da imaginär einschleimend aus den Mundwinkeln.

Öhm, ja. Einige Fragen. Viele Fragen. Immerhin hatte ich den Vertrag nur halb gelesen und ein Viertel davon verstanden. Doch wer machte sich schon komplett zum Clown und bat den Verhandlungspartner, ob er den Text für solch Kanji-Analphabeten wie mich einmal vorlesen könnte? Natürlich tat man das nicht. Also nahm ich Haltung an, lächelte eben so gespielt höflich zurück und hoffte, die Erde würde sich auftun und den Ekelbolzen auf der Stelle verschlucken. Natürlich erst, wenn ich die Wohnungsschlüssel in der Hand hielt. Tat sie aber leider nicht. Stattdessen begann der Typ nun auch noch mit dem Quatschen von Nonsenssätzen, die ich gar nicht hören wollte. Welch gute Wahl ich getroffen hätte, wie schön das Wohnviertel und wie sicher die Wohnung an sich wäre. Na, der hielt mich wohl für komplett blöde. Eine sichere Wohnung im einem Dorf voller Ninjas? Hm, wohl eher ein Käfig voller Narren. Nein, der hielt mich nicht für blöde, schoss es mir durch den Kopf. Der dachte, ich käme von weit her und wäre ganz neu in Konoha. Eine Ausländerin, die noch nie mit Shinobis etwas zu tun gehabt hätte. Ich war in seinen Augen wohl unerfahren und fremd. Da mochte man solche Geschichten noch auftischen können. Dass Lügen kurze Beine hatten, musste der Verwalter dann doch auf dem schnellsten Wege lernen:

„ … nun, ich denke, hier können Sie in der Nähe der herrlichen Parks ganz ruhige, ungestörte Nachtruhen erleben. Hier verirren sich nur selten Einbrecher her und steigen durch die Fenster. Und schon gar nicht in dieser hohen Etage...“

„Jo!“, hörte ich da nur vom Fenster her sagen.

Wie vom Blitz getroffen schnellten wir herum. Noch nie hatte ich gesehen, wie jemand von einer Sekunde auf die nächste seine Gesichtsfarbe verändert. Es wechselte von einem wütenden Knallrot zu einem erschrockenen Blassweiß. Dem Verwalter hatte es doch satt die Sprache verschlagen, dass ich schallend laut loslachen musste. Das war zwar in dem Moment total unpassend, aber es war einfach zu komisch, wie er Kakashi anstarrte, der wie von Geisterhand das Fenster geöffnet hatte und auf dem Gitter hockte. Die eine Hand zu einem kurzem Gruße erhoben, hielt er in der anderen den gerollten Vertrag. Dabei strahlte er mich so fröhlich an, als wollte er einen aufsteigenden Wutausbruch meinerseits schon im Vorfelde abblocken und sagen: „Guck', ich bin ganz pünktlich!“ Doch stattdessen schwang er sich an meine Seite, steckte die Hände samt Vertrag in die Hosentaschen und meinte nach einer kurzen Musterung der vier Wände:

„Hierher soll es dich verschlagen? Warum hast du diese Wohnung gewählt?“

In seiner Stimme schwang der Ton des Erstaunens mit.

„Naja, du weißt doch, das Budget....“ , winkte ich nervös ab. „Und mir gefällt die Gegend. Und die Zimmeraufteilung ist doch für mich und Yuuki auch ausreichend. Ist etwas nicht in Ordnung?“

Noch immer glotzte der Verwalter Kakashi an, als hätte er einen Geist gesehen. Er sah ihm auch noch lange hinterher, als dieser mit einem kurzen Blick durch die übrigen Zimmer wandelte. Die Tatsache, dass sein Stadtoberhaupt mich so familiär duzte und ich ihn ebenso, hatte ihn auf eine lauernde Habachtstellung positioniert. Kakashi wiederum tat so, als würde er gar keine Notiz von der dritten Person in der Wohnung nehmen. Also sprach er auch frei heraus.

„Nö, alles ok. Man sagt nur über dieses Wohnhaus, dass es im Sommer sehr stickig und heiß und dafür im Winter häufig sehr kalt wird. Und man hätte immer eine relative hohe Luftfeuchtigkeit in den Räumen. Ein Teamkollege hatte hier mal gewohnt und sich immer mal wieder ausgelassen, die Wäsche würde deshalb ewig und drei Tage lang trocknen. Zu dem Vertrag: Diese fünf Passagen hier...“, dabei rollte er den nun recht geknüddelten Vertrag vor meiner Nase auseinander. „... würde ich so nicht akzeptieren.“

Ich tat, als wäre ich ein Ass im Kanji-Lesen, nickte meinem Freund bejahend zu, verstand aber nur Bahnhof. Er verstand meinen Wink mit dem Zaunpfahl und wandte sich dann rednerisch so geschickt an den Vermieter, dass auch ich mitbekam, was Kakashi in dem Vertrag bemängelte. Da ging es irgendwie um zu lange Kündigungsfristen, viel zu hohe Kautionsraten und noch so Dinge, die ich auch mit Hilfe eines Wörterbuches niemals erlesen hätte. Danke, Kakashi! Ob die Vertragsänderungen nun gemacht wurden, weil Kakashi sich viel besser mit den örtlichen Gepflogenheiten auskannte, er einfach nur gut verhandeln konnte, oder ob er den Hokage-Bonus hatte, vermochte man nicht abzuschätzen. Jedenfalls zog der Verwalter zähneknirschend nach einer guten halben Stunde wieder ab, nachdem ich unterschrieben und er mir die Wohnungsschlüssel überreicht hatte. Zwar dankte er höflichst für das abgeschlossenen Geschäft, doch unter seiner Haut kochte es. Die Luft flimmerte förmlich. Kaum war er weg, sackte ich von meiner aufrechten Haltung in mich zusammen und stand dort nur noch wie ein Häufchen Elend.

„Wann wolltest du deine Sachen rüberholen? Oder stimmt mal wieder was nicht“

Ohje, ganz böses Thema. Zu meiner laxen Haltung kam nun auch noch ein hängender Kopf dazu.

„Nö, nö, alles gut...“, log ich so schlecht wie noch nie.

Eindringliche Blicke von ihm, die mich forsch durchbohrten.

„Du stehst da wie ein Schluck Wasser in der Kurve, liest seit zwei Tagen meine Nachrichten nicht und bist zickig. Also stimmt etwas nicht.“, fasste er seufzend zusammen.

Bedröppelt gab ich zu, dass die Möbelpacker nicht zum bestellten Termin auftauchen würden. Und übermorgen müsste alles erledigt sein. Und schon waren wir wieder beim alten Thema. Ich versuchte wieder alles alleine zu regeln ohne Hilfe anzunehmen. Ich war einfach nicht teamfähig.

Kakashis notorische Seelenruhe war beeindruckend. Da würde sich schon morgen eine Lösung finden, meinte er. Seine Worte in Gottes Ohr. Gemeinsam verließen wir die Wohnung, zogen aus einem nahen Automaten zwei Dosen Schwarztee und setzten uns an die Uferböschung des Flusses. Obgleich es kühl war, fror ich nicht, sondern sah auf die fließende Wasseroberfläche und verlor mich dann in der Umgebung. Es war schön hier. Der breite, ruhige Fluss. Die rote Holzbrücke mit den zwei Brückenbögen. Weiter hinten der Hokagefelsen und die Lichter der Altstadt. Hinter uns schon die schützende Stadtmauer und dazwischen viel Feld, Wiese und Wald. Kaum waren die Dosen geleerte, verabschiedeten wir uns. Kakashi meinte noch, es wäre wohl eine Ironie des Schicksals, dass es mich ausgerechnet hierher verschlagen hätte. Er wäre öfters hier, wenn er einmal seinen Kopf frei bekommen müsste. Dann säße er genauso wie wir beide hier an der Böschung und würde in die Wolken starren. Dann ging jeder seiner Wege. Der Tag senkte sich bereits dem Ende entgegen. Und endlich kam ich auch dazu, auf mein Handy zu schauen. Ich hatte es in den letzten zwei Tagen bewusste abgeschaltet, war ich doch am Boden zerstört gewesen und hatte keinen Nerv für weiter Tiefschläge. Es war nur eine Rückantwort von Kakashi vor zwei Tagen eingegangen:

„Alles wird gut! :-)“
 

Der nächsten Morgen startete schon weit vor dem Aufstehen, als es quengelig an die Tür klopfte. Verschlafen quälte ich mich aus dem Bett und schlürfte im Morgenmantel zur Tür. Anstelle eines „Guten Morgen!“ oder „Was machst du denn hier?“, brachte ich nur heraus:

„Wieso kommst du durch die Tür?“

Wenigstens sah Kakashi genauso müde aus wie ich. Wir hätten unser gegenseitiges Spiegelbild sein können: verschlafene Augen und Haarsträhnen in alle Richtungen. Erst jetzt sah ich, dass er mit Begleitung hier war. Im Gegensatz zu uns beiden machte Tenzô hingegen einen wacheren Eindruck.

„Siehst du, nun kannst du mal was Nützliches mit dem Holzjutsu anfangen.“, sprach Kakashi über die Schulter hinweg zu Tenzô.

„Was Nützliches anfangen...“, äffte er beleidigt nach. „Ich mache grundsätzlich nur nützliche Dinge, Sempai. Aber wenn du das nicht so siehst, kann ja zukünftig jemand Anderes meine Dauermission vor Orochimarus Behausung im Wald übernehmen. Oder die Einteilung der Anbus. Oder ...“

„Nein, nein, du machst das ganz großartig. Total super! Unersetzlich!“, fiel ihm Kakashi ins Wort und winkte das aufziehende Gemütsgwitter ab. „Lass das „Sempai“ weg!“

„Jawohl, Sempai!“, schossen Giftpfeile zurück.

Wow, Bombenstimmung! Was war denn bei den beiden kaputt? Da wollte ich mich lieber nicht einmischen. Also schmiss ich Yuuki aus dem Bett, dem die Ankunft der Gäste nicht entgangen war. In der Zwischenzeit überlegte ich, was mich nun wohl erwarten würde. Hätte ich mir sparen können. Kennt ihr das Märchen von der Zauberbohne, die austreibt und bis in den Himmel wächst? Leute, so was habt ihr noch nie gesehen.

„Alles?“, sicherte sich Tenzô noch einmal ab.

„Alles!“, wies Kakashi an.

Schnelle Fingerzeichen formten sich und ein Pflänzlein wuchs. Es wucherte mit rasender Geschwindigkeit, rankte lange Äste wie gierige Finger und entfaltete Zweige, die sich um alles krallten, was nicht niet- und nagelfest war. So schlängelte sich eine komplette Wohnungseinrichtung an mir vorbei durch die Räume, zur Tür hinaus und dann durchs Treppenhaus hinab in die Eingangshalle. Mit meinem Hausrat im festen Pflanzengriff kam alles sicher unten auf dem Fußboden an und stapelte sich vorbildlich. Yuuki und ich staunten stumm. Schon nach wenigen Minuten war der ganze Zauber komplett wieder vorbei.

„Der Rest wird nachher erledigt.“

Kakashi drückte mir ein Schriftrolle in die Hand. Ein Missionsauftrag? Ich hatte doch gar keine Mission beauftragt? Man kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Verdattert blickte ich hinterdrein, wie mir ein flüchtiger Abschiedskuss auf die Stirn gedrückt wurde und die beiden Gäste wieder verschwunden waren. Es ging so flink, dass ich Tenzô nicht einmal meinen Dank ausdrücken konnte. In Kombination mit meiner aufgesparten Rache an ihm, waren wir nun wohl quitt. Nun standen nur noch mein Kind und ich hier oben in einer völlig kahlen Wohnung. Wortlos, schwer beeindruckt und perplex. Mein Magen knurrte. Es hallte in dem leeren Flur lauter als sonst.

„Lass uns irgendwo etwas frühstücken gehen!“, schlug ich Yuuki vor.

Wir stiegen gemeinsam die Treppen hinab, suchten Waschzeug und machten uns ansehnlich zurecht, dass man draußen auf der Straße herumlaufen konnte. Mit warmen Jacken und Geldbörse bewaffnet zogen wir einige Minuten später los. Bei einem kräftigenden Mahl in einem Imbiss gute fünf Minuten Fußweg vom Kontor entfernt nahm ich mir endlich die Zeit und rollte die Schriftrolle auseinander. Es war die Auftragsbestätigung über eine D-Mission und beinhaltete, meine Hausrat von A nach B zu transportieren. Natürlich ohne Schaden und komplett heimlich und ungesehen. Mit Zeitlimit. Ich musste Augen so groß wie Kuchenteller haben, weil mir nicht klar war, dass Möbelpackerdienste ein Missionsziel sein konnten. Dann fiel mir ein, dass die Schüler der Akademie öfters mit irgendwelchen einfachen Missionen als Trainingseinheit durchs Dorf gejagt wurden. Bevor sie in einer richtigen Mission ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen sollten, ließ man sie zum Üben auf die heimische Bevölkerung los. Dazu gehörten solch Aufgaben wie Haustiere einfangen, Kleinkinder bewachen oder Nachrichten überbringen. Ich kicherte, denn die Idee, meinen Umzug auf diese Weise über die Bühne zu bringen, war clever. Andererseits grenzte das schon fast an Amtsmissbrauch, denn die Mission hatte schon einen „bezahlt“- Stempel in der oberen Ecke prangen und war auch ansonsten eine ziemliche Privatangelegenheit. Ein PostIt-Zettel bat mich, als Auftraggeberin die Mission noch zu unterschreiben. So, so. Ich freute mich wie Bolle, stellte dann aber erschrocken fest, dass laut Zeitangabe im Auftrag die Mission schon seit einer guten Viertelstunde gestartet wäre. Ich trieb Yuuki zur Eile an, er solle sein Essen mit höherem Tempo in den Magen befördern, dann rannten wir los zum Kontorhaus.

In meinem ganzen Leben war ich noch nie so schnell gerannt. Schon auf halbem Wege ging mir die Puste aus. Neidvoll starrte ich Yuuki hinterdrein, der voraussprintete und mir nur noch eine Staubwolke hinterließ. Gai wäre über diese Kraft der Jugend sicherlich begeistert. Für mich hätte er garantiert nur eine Dose voll Mitleid und eine Ansammlung blöder Lebensratschläge übrig. Mit hängender Zunge kam auch ich endlich am Kontor an und sah, dass ich nichts sah: Die Eingangshalle war wie ausgeraubt leergeplündert. Keine Einbruchspuren. Kein Hinweis auf ungeahnte Gäste. Und das in der kurzen Zeit. Später hörte ich, die Kinder hätten einen Wettstreit daraus gemacht, wer am Schnellsten am Ziel ankäme. Eine ganze Schulklasse war hier am Werk gewesen. Wie die Heinzelmännchen. Wahnsinn! Ungläubig stand ich wie angewurzelt in der Haustür und musste meine Gedanken sortieren. Mein Gehirn war mit so vielen mystischen Aktionen an einem Tag völlig überfordert. So fix, wie hier alles von statten ging, kam ich nicht hinterher. Ob schon alles drüben in der anderen Wohnung angekommen war? Bei dem Tempo bestand darin kein Zweifel. Ich beschloss, den Standort zu wechseln. Wenn wirklich schon alles drüben wäre, dann müsste man wenigstens schon einmal in unserem neuen Heim den Kühlschrank befüllen und die Betten aufbauen. Alles andere könnte man nach und nach einordnen und zurechtrücken.

Als ich die Kontortür abschloss überkam mich ein mulmiges Gefühl. Vermutlich würde ich diese Tür heute zum allerletzten Male abschließen. Eine Ära endete. Nach wie vor war das Kontorhaus ein prächtiges Gebäude, an welchem die Architektur des Erd-Reiches in all seinen Facetten abzulesen war. Es hatte mir fast ein ganzes Jahrzehnt Arbeit, Schutz und Sicherheit geboten. Im Vergleich zu vielen durchschnittlichen Wohnungen in Konoha konnte man die Dachterrassenwohnung schon als gehoben, fast luxuriös bezeichnen. Unser Status, anders zu sein, hatte uns den Platz auf dem Elfenbeinturm beschert. Niemals hätte ich geahnt, dass eines Tages hätte Schluss sein können. Ich hatte immer gedachte, es würde ewig so weitergehen.

Und nun zogen wir in ein Wohnloch. Zum zweiten Mal in meinem Leben fing ich bei Null an. Diesmal aber ohne Arbeit. Ohne Sicherheit. Mit ungewisser Zukunft. Wäre ich nicht so gespannt wie ein Flitzebogen gewesen, ob unser Hausrat tatsächlich komplett und wohlbehalten bei der neuen Adresse gelandet wäre, ich hätte vielleicht das große Heulen bekommen. Doch so war ich abgelenkt genug, den Abschiedsschmerz zu verdrängen und über eine weitere Weiche des Lebens einen neuen Weg einzuschlagen. Morgen würde ich mich nach der Übergabe von den Nachbarn verabschieden. Das hatte ich mir fest vorgenommen.
 

Mit zittrigen Finger drehte ich den Schlüssel zu unserem neuen Zuhause im Schloss herum. Es war alles da. Feinst säuberlich gestapelt strahlten mich unsere Umzugskartons und Möbeleinzelteile an und warteten nur darauf, aufgebaut und ausgeräumt zu werden. Ein neues Heim wollte gestaltet und eingerichtet werden. Es gab viel zu tun!

25 – Der Tag, an dem ich durch den Schnee wandelte

Noch schlimmer als ein normaler Umzug war ein Umzug, auf den man sich nicht richtig vorbereitet hatte. Zwar war alles ordentlich bei mir angekommen, doch natürlich hatte ich zuvor wenig Zeit gehabt, die Wohnung oder meine Möbel auszumessen. Das musste nun nachträglich erfolgen. Vom Malern oder Teppich auslegen wollen wir gar nicht erst reden. Es lagen in jedem Zimmer Holzdielen, die noch recht ordentlich aussahen. Das musste reichen. Und die Wände schmückten sich in einem halbwegs frischen Weiß. Wie hätte es auch anders sein sollen, war diese Wohnung nicht nur sehr viel kleiner als die alte, sondern sie hatte dementsprechend sehr viel weniger Wandmeter an Stellfläche zu bieten. Und so wollte nichts so passen, wie ich es gerne hätte. Da war erst mal mein Schlafzimmer: Das Bett ragte an die linken Wand geschoben zu weit in den Raum, dass die Tür nicht mehr richtig aufging. Wenn ich es aber nach rechts schob, dann lief man direkt dagegen und fiel alle naselang drüber. Auch mein Kleiderschrank wollte weder in die eine, noch in der andere Nische passen. So entschied ich mich als einzig annehmbare Lösung, das Bett komplett vor das Fenster zu schieben. Auf diese Art passte der Kleiderschrank und ein Regal direkt zwischen Bett und Tür. Sah zwar auch irgendwie blöde aus, ging aber aktuell nicht besser. Dann kramte ich aus dem säuberlich aufgebauten Turm aus Umzugskartons das Bild aus meinem Büro hervor, dass ich schon immer so sehr mochte, weil man seine Gedanken in dem Motiv baumeln lassen konnte. Ich hängte es genau an die gegenüberliegende Seite meines Bettes. Man blickte nun direkt vom Bett aus darauf, und das Sonnenlicht machte es noch schöner. Ja, das gefiel mir.

Bei Yuuki im Zimmer sah es viel schlimmer aus. Zwar standen dort die Möbel schon an der richtigen Stelle, doch wie Kinder nun mal so sind, waren die Kartons nicht ausgeräumt, sondern der Inhalt war wahllos heraus gekramt und dann sinnlos auf dem Boden verstreut worden. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Seufzend nahm ich diesen Zustand zur Kenntnis. Zu Beginn hatte ich noch geschimpft, aber nach ein paar Tagen gab ich es auf, denn mein Meckern, Betteln und Bitten verhalten überall, nur nicht im Gehörgang meines Sohnes. Kinder waren ätzend.

Wenigstens wurde der Rest der Bude allmählich wohnlich, obwohl es immer noch etwas zu kramen und umzuräumen gab. So vergingen die nächsten Tage schneller als gedacht. Man war die lieben, langen Tage beschäftigt, Kartons zu leeren, unzufrieden zu sein und wieder alles umzuwerfen, was man eben noch frisch geplant im Kopfe hatte. Die verstrichenen Stunden eines Tages bemerkte ich immer erst, wenn Yuuki aus der Schule zurückkam oder ich zum Abend hin das Zimmerlicht einschalten musste. Dann hatte ich das Gefühl, den ganzen Tag über nichts geschafft zu haben.

Und ich begann, meinen Alltag ganz anders zu erleben. Ohne Arbeitsplatz hatte man plötzlich viel mehr Zeit, sich um alles andere zu kümmern, was man zuvor nie geschafft hatte. Das fing schon beim Frühstück an, wo ich nun viel ruhiger an die Sache ging, mein Kind ohne Stress und Gebrüll wecken konnte und ihn dann zum Schulweg verabschiedete. Dann las ich viele Stellenanzeigen, schlenderte durchs Dorf, entdeckte auch mal unbekannte Seiten Konohas und ließ mich dann aber doch schneller als gedacht gehen. Ich verfiel in einen lahmen Alltagstrott, den ich gar nicht gewohnt war und hatte zeitweise Probleme, mich zu motivieren.

Interessant war hingegen das Getümmel am Fluss. Nie hätte ich gedacht, wie stark frequentiert unser Abschnitt des Flusses war. Frühmorgens noch vor Sonnenaufgang joggten schon die ersten Frühaufsteher am Ufer entlang oder betrieben Gymnastik- oder Entspannungsübungen, bis sie dann allesamt zur Arbeit marschierten. Zum Vormittag hin wurde es ruhiger. Schulklassen oder Mütter mit ihren kleinen Kindern waren zu beobachten. Gegen Mittag wurde es aber richtig voll, weil viele in ihrer Mittagspause hier picknickten und einen Mittagsschlaf hielten. Dann wurde es wieder ruhiger, und spielende Kinder und ältere Menschen buhlten um die wenigen Sitzbänke. Zum Abend aber fühlte es sich dann wieder. Man ließ den Arbeitstag hier auspendeln. Oder Jugendliche trafen sich, leerten die eine oder andere Flasche Alkohol, obwohl sie das noch nicht durften, und fühlten sich total cool. Ich stellte mir vor, dass es besonders im Sommer an langen, hellen Abenden sehr schön sein musste, hier zu verweilen. Obgleich hier viele Leute waren, verliefen sich ihre Ansammlungen doch gut am Flussufer entlang. Und es war ruhig und friedlich.

Jetzt aber fielen gerade die ersten Schneeflocken vom Himmel und es wurde stiller und beschaulicher. Die Kältefront brach diese Jahr früher über uns herein. Und nun merkte ich in der Wohnung auch das Problem, welches Kakashi mir erzählt hatte: Die Wohnung wurde nicht richtig warm, sondern war irgendwie kühl und klamm. Das war so ein Moment, an dem ich an meinem Küchentisch saß, in die Ferne in den Schneeflockentanz blickte und stumm weinte. Die Dunkelheit, die Kälte und die Gesamtsituation machten mich traurig. Ich vermisste mein Kontor. Leider verhalfen mir die Tränen nicht zu einem neuen Stellenangebot. Mit dem Handrücken wischte ich sie weg und kritzelte weiter meinen Lebenslauf zusammen. Da waren viele Fragezeichen am Rande. Bei einigen Wörtern wusste ich nicht, wie man sie richtig übersetzte und an anderen Stellen wusste ich nicht, wie ich Lücken füllen sollte. Das müsste man geschickt umschreiben könne, doch da fehlten mir die wortgewandten Kniffe eines Muttersprachlers. Kakashi hatte mir versprochen, beim Schreiben zu helfen. Allerdings hatte ich den nun schon seit gut einer Woche auch nicht mehr gesehen. Aber er hatte fest zugesagt, dass er übermorgen wieder mal aufkreuzen würde. Das nervte mich auch, dass wir uns so unregelmäßig sahen. Wenigstens waren diesmal die Tage wie im Flug vergangen, weil ich mit den Überresten des Umzugs noch sehr beschäftigt gewesen war.

Noch immer fielen die Flocken wie große Daunen vom Himmel. Sie legten sich wie kleine Federn auf die Erde und bildeten schon bald eine schützende weiße Decke über den Boden. Ich seufzte. Gerne wäre ich bei meiner heißen Tasse Kaffee hier am Tisch geblieben, aber ich musste los. Raus in die Kälte. Raus in das Schneetreiben. Es war Vormittag, und Yuuki war günstiger Weise dort, wo er hingehörte: in der Schule. Also wollte ich die Gunst der Stunde nutzen und ein paar Geschenke besorgen. Bald war Yuukis neunter Geburtstag. An Kindern erst merkte man, dass man selber immer älter wurde. Mann, was raste die Zeit. Neulich war er doch noch so klein gewesen und schlief friedlich in meinem Arm. Und nun? Nun wurde er neun Jahre alt, würde bald die Aufnahmeprüfungen für die Akademie absolvieren und wurde zusehends selbstständiger.

In einen dicken Mantel gehüllt stapfte ich los. Schnell hatte sich eine Schneehaube auf meiner Mütze gebildet. Als ich den kurzen Weg in die Innenstadt hinter mich gebracht hatte, war ich durchgefroren, weshalb ich mich nach einer heißen Mahlzeit umsah. Leider hatten die meisten Garküchen noch geschlossen. Es war einfach noch zu früh am Tage. Ich steuerte einen Teeladen an, von welchem ich wusste, dass man dort auch eine Tasse Tee zu trinken bekam und nicht nur losen Tee in Papiertüten verpackt. Dann ging es weiter. Yuukis Wünsche waren schnell besorgt. Mit den Tüten in der Hand trieb es mich aber noch nicht nach Hause. Ziellos streifte ich noch etwas durch die Straßen und Gassen, schaute durch die Schaufenster und bemitleidete mich selber, dass ich mir davon nichts mehr leisten konnte. Frustrierend.

Plötzlich stach mir ein Schild ins Auge. Eine Garküche suchte eine Aushilfe. Zwar nur stundenweise, aber wenigstens ohne Ansprüche an den Mitarbeiter. Es war ein glücklicher Zufall, dass just in diesem Moment die Ladeninhaberin die Rollläden aufschob. Ja, sie suchte jemanden, der täglich für zwei Stunden Zutaten vorbereiten würde. Obgleich die Bezahlung dementsprechend mau war, so sagte ich zu, schon am nächsten Tag zu einem Probetermin vorbei zu kommen. Die Arbeitszeit ließ sich gut mit Yuukis Schulzeiten vereinbaren, ich kam unter Leute und es besserte so oder so die Haushaltskasse auf. Es war definitiv nicht mein Traumjob, doch als Übergangslösung sicherlich geeignet.

Zufrieden stapfte ich weiter durch den Schnee. Längst waren meine Schuhe nass durchweicht und die eingefrorenen Füße nicht mehr zu spüren. Allmählich wurden auch die Fingerspitzen taub. Ich hatte meine Handschuhe in irgendeinem Geschäft unterwegs vergessen.

Die Straße endete an einem Platz, den ich nur allzu gut kannte. Der Wind wehte die Schneeflocken gegen die kalten Hauswände und blieb in feinen Streifen an den ortstypischen Wandrundungen hängen. Auch die rote Farbe des Hokagebüros versteckte sich darunter. Zögernd blieb ich stehen. Ja, ich vermisste Kakashi, aber einfach so ins Büro latschen, war keine gute Idee. Das war schon beim letzten Mal gründlich in die Hose gegangen. Und sicherlich hatte er ganz andere Dinge zu tun, als mir Gesellschaft zu leisten und mich zu bespaßen. Trotzdem stand ich dort wie festgewachsen und war unwillig zu gehen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, sprach mich ein Shinobi an, der gerade mit zwei weiteren aus dem Vorhof heraus trat.

Na, an. Sah ich so orientierungslos aus? Wohl eher kaum, denn der Shinobi unbekannten Namens grinste mich an, als wären wir uns schon einmal begegnet. Ohje, der war doch wohl bei meinem letzten Auftritt hier an Ort und Stelle nicht zugegen? Peinlich, peinlich! Ich lief knallrot an, verbarg meine Gesicht hinter meinem Schal, wie Kakashi es dauerhaft mit seiner Halbmaske tat, und merkte, wie praktisch das doch war, sich so zu verstecken. Dann kam mir einen Blitzidee. Immerhin hatte ich doch noch eine Rechnung offen.

„Öhm, ja...“, tat ich ganz unschuldig. „Ich soll etwas bei Maito Gai abgeben. Bin ich hier richtig?“

Überraschtes Nicken beantwortet meine Frage. Eine kurze Wegbeschreibung durchs Haus folgte. Den kannte ich zwar schon, aber das brauchte ja keiner wissen. Wie dem auch sei, es stand mir Tor und Tür offen. Ich schlenderte los und erreichte problemlos die offene Tür von dem Doppelbüro von Gai und Shikamaru. Zu meinem Erstaunen stand Shikamarus Schreibtisch aber nicht mehr dort, sondern Gai hatte den ganzen Raum für sich. Noch ehe Gai auch nur einen Pieps von sich geben konnte, polterte ich schon los:

„Was sollte das mit dem finsteren Gebräu?“

„Finsteres Gebräu?“, fragte der nur entgeistert und starrte mich an wie ein Gespenst.

Hm, der grüne Clown wusste nicht worum es ging? Dem würde ich gedanklich auf die Sprünge helfen.

„Die Flasche, die ich von dir zu trinken bekam. Die hat mich in ziemliche Schwierigkeiten gebracht!“, polterte ich im selben Tonfall aufgebracht weiter.

Die Gemüter beruhigten sich wieder halbwegs, als im Laufe des Streits Gai glaubhaft versicherte, er hätte mit der Flaschenbestellung nichts zu tun gehabt. Er wäre davon ausgegangen, ich hätte die schon im Vorfelde geordert und beschwor sogar, dass er die Flasche nicht bestellt hätte. Keiner von uns beiden konnte sich einen Reim darauf machen. Als Entschuldigung wurde mir ein Mittagessen angeboten. Ich seufzte und verdrehte innerlich die Augen. Mit Gai in den Straßen gesehen werden, war so etwas ähnliches wie Fremdschämen pur. Aber ich hatte keine passende Ausrede parat, ihm dieses Angebot abzuschlagen, zumal wir beide dann wieder quitt wären. Mein Magen knurrte und redete mir zu, dass ich mich richtig entschieden hätte. Nervös kaute ich auf der Unterlippe. Mir brannte eine Frage auf der Zunge, doch mir fehlte eine passende Überleitung.

„Warum sitzt du hier allein? Letztes Mal war doch Shikamaru noch hier...“, startete ich unsicher.

„Der saß nur hier, weil in seinem Raum ein Wasserschaden war. Defekte Dachrinne.“

„Du sag mal... Is' Kakashi da?“

„Klar, der hockt im Büromief oben. Ich finde der bräuchte auch mal wieder frische Luft. Die letzten Mittagspausen habe ich den gar nicht mehr gesehen. Wir sollten ihn mitnehmen!“

Gai war von seinem Vorschlag mächtig überzeugt. In meinen Augen war es selbsterklärend, dass sich Kakashi und er nicht über den Weg gelaufen waren. Auch wenn es zwischen ihm und Kakashi ein besonderes Verhältnis untereinander gab, so hätte ich an seiner Stelle zeitweise auch einen Bogen um ihn gemacht. Und ganz so blöde war die Idee zu einem Dinner for three an sich auch nicht: Mit Kakashi anbei wäre Mr. Sporty-Green vielleicht besser zu ertragen. Ich versprach, ihm Bescheid zu geben und hatte endlich einen Grund, mich wieder aus Gais Büro zu verziehen. So viele positive Schwingungen waren selbst mir zu viel. Außerdem behagte mir die schneeweiße Zahnputzkauleiste, die Pilzkopffrisur und die die Augenbrauen so dick wie ein Fuchsschwanz überhaupt nicht. Selten war ich Menschen mit solch einem äußeren Erscheinungsbild begegnet.

Fix war ich ein Stockwerk höher gelaufen. Diesmal war ich höflich, trat nicht mit dem Fuße die Türe ein, sondern klopfte an. Auch in mir klopfte es. Und zwar total heftig, dass ich meinte, mein Herz würde gleich vor Aufregung zerspringen. Warum war ich denn so durcheinander? Ich besuchte doch bloß meinen Freund. Eine Antwort von Innen hatte ich gar nicht abgewartet. Zitternd drückte ich die Klinke herunter und schob ängstlich meinen Kopf durch die Tür. Mensch Nina, es ist bloß Kakashi!

Es mochte an der Umgebung liegen, die mich so kirre machte. Ich kannte nun schon einige Facetten meines Freundes, wenn auch nur oberflächlich. Neulich bei einem Bummel durch die Straßen blieb mein Blick an einer großen Anzeigentafel kleben, auf welcher der örtliche TV-Sender seine Nachrichten öffentlich übertrug. Eine Reporterin interviewte Kakashi zwei oder drei Fragen lang. Das Thema hatte ich gar nicht mitbekommen. Es war mir eh egal. Ich starrte nur auf die Leinwand und wunderte mich über mich selbst, wie fremd mir mein Freund vorkam. Mit seinem weißen Mantel und dem roten Hut. Er wirkte so distanziert und unnahbar. Fern von meiner Welt. Und dass er die Fragen so höflichst und unpersönlich beantwortet, verstärkte diese Beobachtung noch etwas mehr. Obwohl es doch ein und derselbe Mann war, so war ich eindeutig in den Kerl verschossen, der bei mir zuhause unmaskiert am Küchentisch einen Pott Kaffee trank und nicht in denjenigen, der hier im Dorfe den Oberchef für die Ninja-Bande spielen musste. Noch immer haderte ich mit seiner Position und diesen zwei Leben, die er führte. Aber war Doppelleben nicht doch etwas zu weit hergeholt?

„Was ist?“, kam es müde vom anderen Ende des Raumes.

Kakashi hatte gar nicht aufgesehen, als er nur die Tür leise knarren hörte. Im Gegensatz zu meinem letzten Besuch hatte sich nun deutlich mehr Papierkram im Zimmer gestapelt, mit welchem sich Hokage-sama aber aktuell wenig beschäftigte. Seine Nase steckte in ganz anderem Papierkram. Ein Wunder, dass nach der ständigen Dauerdurchblätterung das Flirtparadies noch nicht zur losen Blattsammlung auseinandergefallen war. Da müsste doch über die Jahre schon so viel UV-Licht auf die Seiten eingestrahlt sein, dass die Druckerschwärze bereits ausgeblichen wäre. Man gut, dass es dieses kostbare Kulturgut auch im ePaper-Format gab. Ich musste grinsen und kämpfte hart mit mir, nicht laut loszulachen. Das hier war eine so was von ernste Angelegenheit.

„Sammelst du Anregungen, wenn du mich wieder besuchen kommst?“ fragte ich und konnte nur schwer ein Prusten unterdrücken.

Kakashi, der gar nicht mit meiner Stimme und schon gar nicht mit meiner Person gerechnet hatte, zuckte zusammen wie ein Kind, dass man auf frischer Tat beim Äpfel stehlen erwischt hätte. Dabei fiel ihm seine heißgeliebte Lektüre aus der Hand. Entgeistert blickte er auf und brachte dann geistesgegenwärtig in einem Affenzahn seinen Schreibtisch in Ordnung, dass die Tischplatte komplett leer war. Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl sofort.

„Keine Sorge, ich hab nichts getrunken...“, beschwichtigte ich.

„Das hatte ich gehofft.“

„... und ich krabbele heute auch nicht über Schreibtische.“, ergänzte ich noch.

„Das hatte ich auch gehofft.“

Erleichtert stellte er Kaffeetasse und Kanne wieder auf der Tischplatte ab. Dann strahlte er mich an, als wäre ich die aufgehende Sonne und erkundigte sich bei mir, ob etwas passiert wäre, weil ich hier so plötzlich aufgekreuzt wäre. Ich verneinte und erzählte kurz meine Geschichte mit Gai.

„... wollte er sich unbedingt mit einem Mittagessen bei mir entschuldigen und meinte, du solltest auch mit.“, beendete ich seufzend meinen kurzen Bericht.

Nur ein paar Minuten später zogen wir zu dritt durch die mittäglichen Straßen. Der Schneefall hatte sogar zugenommen. Es schneite so sehr, dass man nicht einmal mehr die nächsten zwanzig Schritte weit sehen konnte. Menschen wimmelten wie Ameisen mit Besen und Schneeschippen umher, schaufelten emsig die Wege frei und häuften große, weiße Berge auf. Das war auch gut so, denn Gai hatte sichtlich Mühe, mit seinem Rollstuhl voranzukommen. Das würde er zwar niemals zugeben, sondern überspielte das Problem mit sportlicher Akrobatik, als er auf Händen davon balancierte. Doch seine blau anlaufenden Hände im Schnee sprachen eine ganz andere Sprache. Kakashi kommentierte die Szene mit einem Seufzen der absoluten Hoffnungslosigkeit. Gai wäre nun mal beratungsresistent. Man müsste das so ertragen, wurde ich aufgeklärt. Stumm schob er den leeren Rollstuhl vor sich her, während ich einen Funken an Bewunderung für diesen grenzenlosen Optimismus hegte. Aber der beste Optimismus kam nicht gegen physikalische Gesetzmäßigkeiten an, wenn man sie zu spät durchschaute. Schon in der nächsten Schneewehe sackte der grüne Clown so ungünstig ein, dass er beinahe kopfüber darin steckengeblieben wäre, hätte Kakashi dem Rollstuhl nicht einen beschleunigenden Tritt verpasst. So rollerte der Stuhl gegen Gais Magenkuhle, traf diesen empfindlich und sammelte ihn in verrenkter Haltung wieder ein. Jeder andere hätte wohl über diese schmerzende Prozedur geschimpft, nicht aber Gai:

„Ha, mein Rivale hat nach all der Büroarbeit noch hervorragende Reflexe. Wie wär's noch mit einem kleinen Wettkampf zwischendurch?“

Wettkampf zwischendurch? Ich war sprachlos. Wie konnte man eine nur so sehr verschobene Wahrnehmung seiner Umwelt haben? Kakashi winkte dankend ab und erinnerte an das versprochene Essen. Ihm war nicht entgangen, dass ich wie ein Schneiderlein fror. Die eine Hand hatte ich in der wärmenden Manteltasche verstaut, doch die andere, welche die Einkaufstüten hielt, lief schon vor Kälte genauso blau an wie die von Gai. Wenigstens hatten sich die beiden Herren schnell auf ein Restaurant geeinigt, das wir schon in wenigen Gehminuten erreichen müssten. Das Essen war köstlich und Gai trotz seines permanent redenden Mundwerkes erträglich. Es mochte wohl daran liegen, dass Kakashi wie eine Pufferzone zwischen ihm und mir saß. Wie hatte Kakashi den grünen Clown eigentlich alle die Jahrzehnte überlebt? Irgendwann würde ich ihn bei passender Gelegenheit danach fragen.
 

Kakashi konnte seinen Rivalen relativ schnell überzeugen, dass er mich bei diesem Schneetreiben noch sicher nach Hause geleiten müsste. Wir verabschiedeten ihn an seiner Haustür und schlugen den Weg ein, der in die grobe Richtung zu meinem Wohnklotz führte.

„Hier, nimm! Und keine Widerworte!“

Er hielt mir seine Handschuhe entgegen und fingerte geschickt die Einkaufstüten aus meiner zu Eis erstarrten Hand. Die angewärmte Stoff war eine Wohltat.

„Danke!“, bibberte ich leise.

Schweigend ließen wir die Innenstadt hinter uns. Es ging nun quer durch den Stadtpark. Es schien, als hätte der Schneefall ein wenig nachgelassen. Oder es lag an den Bäumen, deren laubfreie Kronen nun wie schwarze Zeigefinger sich gen Himmel bohrten. Es war fast unheimlich mit den dicken, grauen Wolken, den kahlen Ästen und der Stille. Nur die Schneedecke knirschte unter unseren Schuhen. Doch bei Kakashi fühlte ich mich sicher. Ich musste dennoch mal eine Lanze für Konoha brechen: Kriminalität war hier ein Fremdwort. Als der Parkweg am Fluss sich gabelte, bog Kakashi in die entgegengesetzte Richtung ein. Ich war von Beginn an verwundert, dass er mich nicht untergehakt hatte und wir von Baum zu Baum gehüpft waren. Das wäre besonders bei diesen frostigen Temperaturen eine reisefreundliche Alternative zum Gehen gewesen. Stattdessen hatte er aber stumm mit mir zusammen die Kälte ertragen und war durch das kalte Weiß gestapft. Jetzt aber an der Weggabelung setzte mein logisches Denken aus.

„Es ist nur ein ganz kurzer Umweg. Danach beeilen wir uns. Versprochen!“

„Hm...“, war meine ausdrucksarme Antwort.

Natürlich war ich voller Neugier, wohin der Umweg führte, doch vor dem Ziele würde ich sicherlich erfroren sein. Der Wald lichtete sich schon nach wenigen Metern. Der Schnee hatte tatsächlich nachgelassen. In der Ferne erkannte ich sogar meinen Wohnklotz. Wir waren in der Tat nicht so weit ab vom Schuss, wie ich befürchtet hatte. Allerdings glühte nun über meinem Kopf ein großes Fragezeichen. Kakashi hatte angehalten und wir standen in weiter Flur im Nirgendwo. Hier war nichts. Nur ein paar Reisfelder. Weit weg lag die Innenstadt. Den Hokagefelsen konnte man gerade noch so hinter den Häusern erahnen. Dafür aber war der Schutzwall, der Konaha wie einen Ring umgab, zum Greifen nahe. Was zum Teufel wollten wir hier?

Stille, absolute Stille. Einzelne Schneeflocken waren die einzige Bewegung an diesem Ort. Gedankenverloren starrte mein Freund über die Felder, die unter einer weißen Decke im Winterschlaf lagen. Die Fröhlichkeit von vorhin war aus seinen Augen verschwunden. Er sah so traurig und müde aus, doch ich getraute mich nicht, ihn anzusprechen. Ich hatte das Gefühl, dass es vollkommen falsch wäre, ihn nun in seinen Gedanken zu stören. Er begann von ganz allein, mich an seiner Traurigkeit teilhaben zu lassen. Dabei wandte er keine Sekunde die Augen von dem Flecken Erde vor ihm ab.

„Wir werden uns gleich bei dir zuhause an deine Bewerbungsunterlagen setzen. Das hatten wir ja so besprochen. Da werde ich ganz viel über dich lesen. Ist das Ok für dich?“

„Ja, klar. Sonst hätte ich dich nicht gefragt. Und weißt du nicht so wie so schon ganz viel über mich?“

Seine Frage hatte mich überrascht und ich fand es nett, dass er das ansprach. Es dämmerte mir aber auch, dass ich über ihn so rein gar nichts wusste.

„Jeder Lebenslauf fängt irgendwo an. Meiner genau hier.“

Hier? Aber hier ist doch überhaupt gar nichts? Ich erinnerte mich, dass Konoha ja vor ein paar Jahren zerstört worden war. Standen hier mal Häuser? Und als hätte Kakashi meine Gedanken lesen können, ergänzte er:

„Seit ich lebe, ist Konoha dreimal zerstört worden. Genau hier stand einmal früher mein Elternhaus.“

„Erzählst du mir auch deinen Lebenslauf?“, bat ich leise.

„Willst du das wirklich? Ich bin mir nicht sicher, ob du das alles so genau wissen willst.“

Der Zweifel in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Ja, gerne!“, bat ich noch einmal.

„Na schön, aber nicht hier und jetzt. Sonst schleppe ich gleich einen Eiszapfen mit mir herum.“

Er sah erleichtert aus. Warum auch immer. Und ich war gespannt auf eine sehr, sehr lange Geschichte.

26 – Der Tag, an dem ich eifersüchtig wurde

Mensch, was war das heute früh für eine helle Aufregung gewesen. Es war Ende Januar, der Schnee lag wie eine dicke Daunendecke über ganz Konoha, und wir froren uns in unserer Wohnung halb den Allerwertesten ab. Für Yuuki waren das aber alles keine Gründe, ruhig zu blieben oder gar Trübsal zu blasen, weil wir morgens immer die Eisblumen von den Fensterscheiben kratzen mussten. Die Fensterrahmen waren derart vereist, dass es selbst Kakashi zu lästig war, seine übliche Abkürzung durch das Fenster zunehmen, sondern stattdessen ausnahmsweise das Treppenhaus benutzte. Was hatte ich da baff geschaut, als es an die Tür geklopft hatte und er lässig an dem Türpfoten lehnte.

An diesem Tage war nun alles anders. Yuuki war schon lange vor mir aufgewacht und hüpfte wie ein Flummiball durch die Wohnung. Am Frühstückstisch rutschte er aufgeregt auf der Bank hin und her. Dabei kippt seine Tasse um, ergoss sich über meine frisch aus dem Briefkasten geholte Tageszeitung, schwappte sogar noch bis über den Tisch hinüber und tropfte bis auf Kakashis Platz. Ein Glück, dass der sich gerade erst aus dem Bett quälte und den heißen Tee nicht auf den Oberschenkeln übergebraten bekam. Ich weiß ehrlich gesagt nicht so genau, was mit dem eigentlich los war. Wenn er mal hier war, dann sah der aus wie gerädert und schlief schon im Gehen ein. Kopfschüttelnd nahm ich mit einem Anflug von Besorgnis seinen akuten Schlafmangel wahr.

Wortlos holte ich einen Wischlappen. Das Ermahnen hatte ich aufgeben. Es war nun einmal ein ganz besonderer Tag. Nicht nur Yuukis neunter Geburtstag sollte heute gefeiert werden, sondern es würde die Stunde der Wahrheit schlagen. Nachdem sich mein Sohn dazumal so tapfer in der Wettkampfarena bewiesen und er sich für den wichtigen Akademieaufnahmetest qualifiziert hatte, sollte nun eben dieser Prüfungstag genau mit seinem Geburtstag auf ein und dasselbe Datum fallen. Mit schuldhaften Blick angelte Yuukis Hand nun wiederholt zur Milch und goss einen viel zu großen Schwall davon über das Müsli. Es kleckerte weiße Tropfen. Ohne Worte. Kaum war das Müsli halbwegs schadlos im Kinde verschwunden, so starrte es auf den Sekundenzeiger der Küchenuhr und konnte es gar nicht aushalten.

„Na Großer, alles startklar?“, holte ihn Kakashi aus seinen Gedanken, der sich gerade völlig übermüdet zu uns gesellt.

Nur mit Mühe konnte ein herzhaftes Gähnen unterdrückt werden. Wie von der Tarantel gestochen sprang Yuuki auf und stand da wie Rakete zum Start.

„Ohje...“, meinte Kakashi grinsend zu mir gewandt, als ich den Lappen über der Spüle auswrang. „Dein Sohn fällt schon bei der offiziellen Begrüßungsansprache durch, weil er keine Nerven mehr hat.“

Kakashi meinte das als Witz, aber Yuuki bekam das komplett in den falschen Hals und hatte schon Panik in den Augen. Ich tadelte meinen Freund, denn Yuuki war kurz vor dem Nervenzusammenbruch.

„Na, flitz' los! Du schaffst das!“, versuchte er meinen Sohn aufzumuntern.

Es brauchte keine Sekunde, da hatte Yuuki schon all seine sieben Sachen gepackt und war in einer Staubwolke verschwunden. Wow, die weite Strecke in der kurzen Zeit … Nie hätte ich gedacht, dass es in dem Kinderkopf so aufgeregt war, dass er nicht einmal auch nur ein einziges Geburtstagsgeschenk ausgepackt hatte. Rumms, hörte man noch unten die Haustür ins Schloss fallen. Und dabei wohnten wir fast ganz oben.

Die Ruhe war wieder eingekehrt in meine vier Wände. Wir saßen uns an dem kleinen Tisch in der Nische gegenüber, tranken schweigend unseren Kaffee und löffelten unsere Reisschüssel mit gequirltem Ei und Sojasoße aus. Dann widmete ich mich wieder den Schlagzeilen der Zeitung, während Kakashi etwas gedankenverloren den Dampfschwaden seines Kaffees nachblickte.

„Hey, in zehn Tagen soll ein Wetterumschwung kommen. Es soll milder werden. Hoffentlich wird dann der Schnee weniger!“, platze ich in die Stille hinein.

„Ich dachte, dir ist Schnee und die Kälte nicht fremd?“

„Sind sie auch nicht. Im Erd-Reich gibt es tonnenweise, meterhoch und monatelang das weiße Zeug. Trotzdem mag ich es nicht sonderlich. Und hier ist es echt frisch. Trockene Kälte ist ja noch erträglich, aber dass es hier so feucht in der Wohnung ist, geht echt auf die Atemwege und die Knochen.“

Voller Hoffnung, das milde Wetter würde das Raumklima zum Positiven verändern, faltete ich die Zeitung zusammen und schaute noch etwas den Schneeflocken zu. Konnte das nicht mal aufhören mit diesem blöde Geschneie?

„Wieso hast du ihn so früh losgeschickt? Nun wird er da vor dem Klassenzimmer auf und abtigern wie ein Raubtier, das seit Wochen nichts mehr im Magen hatte.“

„Solange muss er gar nicht mehr warten. Und wenn er unterwegs ist, ist er in Bewegung und etwas abgelenkt.“, zuckte er nur mit den Schulter. „Ich muss auch langsam los. Soll ich dich begleiten?“

Ich nickte. Zusammen räumten wir den Tisch hab und stapelten alles in der Spüle. Später würden noch eine Handvoll Freunde von Yuuki aufschlagen. Es würde sein Lieblingsessen und einen großen Kuchen geben. Danach würden sie sich wohl in Yuukis Zimmer verziehen und daddeln. Na, wenn es sie glücklich machte … Für Topfschlagen waren sie nun mal allesamt definitiv zu alt, obgleich sie immer noch gerne jede alte Konservendose auf der Straße zum Kicken nutzen. Allerdings hatte man bei diesen Schneewehen dazu kaum eine Chance. Es war halt blöde, dass Yuuki Ende Januar Geburtstag hatte. Da hatten wir als Eltern gar nicht so drüber nachgedacht, dass im Frühling gezeugte Kinder dann im Winter zur Welt kämen, sondern waren einfach nur perplex gewesen, wie schnell das mit der Schwangerschaft überhaupt geklappt hatte.

Als wir beide losgingen, hatte es aufgehört zu schneien. Der Himmel riss sogar kurz auf. Ich hatte ganz vergessen, wie warm die Strahlen der Sonne sein konnten und das der Himmel blau war. Fast hatte ich gemeint, einen Hauch Frühlingsluft riechen zu können. Aber das war sicherlich nur eine dumme Einbildung. Trotzdem klammerte ich mich daran fest und genoss den Spaziergang am Fluss und durch den Park entlang bis wir die Innenstadt erreichten. Sehnsüchtig streckte ich mein Gesicht der Sonne entgegen und schloss genießerisch die Augen. Noch drei Straßen weiter und wir würden vor dem Delikatessenladen und meiner Arbeitsstelle stehen.

„Und hast du dich schon eingewöhnt?“

„Naja, den Umständen entsprechend.“, gab ich zu, konnte ich mir doch tausend bessere Jobs vorstellen.

Die Zutaten, die ich im Akkord schnippelte, wurden zu herrlich leckeren Beilagen verarbeitet. Viele Hausfrauen, die nebenbei noch einer Beschäftigung nachgingen, fehlte zum Abend die Zeit, ihren ausgehungerten Familien nach einem langen Schul- und Arbeitstag noch ein üppiges Mal aufzutischen. Also kochten sie nur Reis und Fisch oder Fleisch, holten aber sämtliche Beilagen aus einem Beilagenfeinkostgeschäft. Zu meinem Erstaunen war das gar nicht mal so teuer, wie ich es vermutet hätte. Doch die Masse machte wohl den Kohl fett: Im Schnitt kaufte eine Familie bis zu zehn verschiedenen Beilagen und Leckereien. Die Berge an Obst und Gemüse, die ich vormittags zerschnitten in riesige Behälter sortierte, waren bis zum Nachmittag vollständig aufgebraucht und abverkauft. Und es war wirklich sehr lecker. Ich hatte mir nach getaner Arbeit selbst einige Probierportionen mitgenommen. Die erste Woche hatte ich schon meine Schwierigkeiten, das Pensum zu schaffen. Ich war echt am Verzweifeln, klebte mir unzählige Pflaster auf Finger mit Schnittwunden, bekam aber viel gutes Zureden von der Chefin, die sehr geduldig war. Nun machte ich meinen Job schon gut einen Monat und es war kein Problem mehr, alles zur rechten Zeit zu absolvieren. Zugegeben, ich hatte gut beobachtet, wann welche Zutaten in der Küche verwendet wurden. Also hatte ich begonnen zu optimieren. Nämlich zuerst das Gemüse oder Obst zu schneiden, was auch zuerst gebraucht wurde. Das brachte mir einen kleinen Zeitvorsprung und weniger Stress. Allerdings war ich froh, dass ich damit nur gute zwei bis drei Stunden am Tag verbracht. Sonst würde ich wohl an Langeweile eingehen. Eine Küchenfee würde ich niemals werden, auch wenn mein Essen daheim zu verdauen war und von Mitessern sogar als schmackhaft bezeichnet wurde.

„Was ist mit dir? Musst du nicht ins Büro?“

„Später erst. Ich muss erst bei Asa vorbei. Die hatte ja vorgestern bei mir übernachtet und wieder die Hälfte von ihren Sachen vergessen.“

Asa? Who the fuck is Asa?, knallte es in meinem Kopf los. Ich musste einen Blick drauf gehabt haben, der hätte umbringen können, weil mich Kakashi erst so irritiert ansah. Und anstelle einer Erklärung setzte er noch freudestrahlend obendrauf:

„Du solltest sie heute Nachmittag kennenlernen. Ich versteht euch sicherlich gut.“

Gut verstehen? Ich kochte vor Eifersucht und Wut und malte mir üble Dinge in meinem Hirn auf. Ich verbarg meinen Tobsuchtanfall hinter einem gespielten Lächeln und verschwand ohne große Abschiedsworte fix im Laden.

Asa, Asa … Was war das für eine Schlampe, die da bei meinem Freund pennte? Wieso sagte der das überhaupt zu mir, als wäre es das Selbstverständlichste, eine Zweitfrau zu haben? Oder war ich sogar bloß die Zweitfrau? Wie viele andere gab es noch? Hatte der gar keinen Anstand, so eine billige Nutte bei sich zu beherbergen? Das war mein Platz! Und wie sah die aus? Bestimmt durchtrainiert und wunderschön und blutjung und erfolgreich. Wie lange lief das schon? Und warum? Fragen über Fragen.

Mein Gesicht musste knallrot sein. Tränen verschleierten mir die Sicht. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen und verarscht. Und obgleich ich mittlerweile nicht mehr das Gemüse schnitt, sondern mit dem Messer wie mit einer Axt auf die Lebensmittel eindrosch, dass es auf dem Schneidebrettchen nur so schepperte und klapperte, traf ich nicht ein einziges Mal meine Finger. Ich glaubte, jede Person, die mich in diesem Zustand angesprochen hätte, wäre von einem Brüllorkan meinerseits weggeweht und in der Luft zerrissen worden.

Und während ich so weiter voller Hasstiraden auf einen Weißkohl einprügelte als wäre es Kakashi selbst, merkte ich gar nicht, dass sich eine weitere anwesende Küchenhilfe längst angefüllt mit Panik aus der Küche verzogen hatte. Zusammen mit der Köchin und meiner Chefin standen sie zu dritt hinter dem Vorratsregal und beäugten mich angstvoll, wie ich schon nach gut einer Stunde alles an Lebensmittel zu Kleinholz verarbeitet hatte, was es nur so in meiner greifbaren Nähe gab. Und als ich mich dann nach der letzten Mohrrübe auch noch mit beiden Händen auf der Tischplatte abstützte, dabei ein Hackebeil in der einen Faust hielt und mit blutunterlaufenen Augen die Küche nach weiteren Obstopfern absuchten, rannten sie schreiend davon. Vermutlich dachten sie, als nächstes bräuchte ich rohes Fleisch und splitternde Knochen zum Abreagieren. Ich musste wirklich zum Fürchten ausgesehen haben, denn Rote Beete musste heute auch gewürfelt werden. Durch den Saft war meine Schürze blutrot getränkt. Wie ein Schlachter im Schlachthaus.

Die drei Damen wussten sich wohl nicht zu helfen, was sie mit so einer liebeskranken Irren mit zerrissenem Herzen wie mir machen sollten. Es dauerte keine Sekunde, da stürmten zwei ANBUs die Küche, welche wohl eher zufällig die Straße patrouilliert hatten und nun um Hilfe gebeten worden waren. Aber Wut und Trauer setzen bekanntlich übernatürliche Kräfte frei. Es sollte letztendlich vier ANBUs von Nöten sein, eine wild gewordene Sherenina Jibek an Händen und Füßen zu packen, zu fesseln und zu knebeln. Vier Mann, vier Ecken. Trotzdem strampelte ich immer noch, obwohl das dünne Nylonseil gar keinen Spielraum mehr zuließ. Ich gab auf gar keinen Fall kampflos auf.

So bekam ich gar nicht mit, wohin die Reise ging. Sie war nur von kurzer Dauer und endete an einem dunklen Ort. Dort wurde ich mit Gewalt auf den Boden gedrückt, dass ich äußerst unbequem auf meinen eigenen Fersen saß. Das kannten meine Knie gar nicht, weshalb sie schon nach ein paar Minuten schmerzvoll um körperliche Gewichtsentlastung schrien. Das ging dann wieder nur, indem ich meinen Oberkörper weit nach vorne beugte und den Po leicht anhob. Da aber meine Arme hinten auf dem Rücken zusammengebunden waren, zerrte das nun wiederum an den Schultern. Metallisch knirschend wurde eine Gittertür zugeschoben. Ich war eingesperrt. In einer Zelle irgendwo in Konoha. Nur eine Fackel auf dem Gang beleuchtete mein neues Zuhause. Ein ANBU stand draußen vor meinem Gefängnis als Wachposten. Durch meine gezwungene Sitzhaltung konnte man mir tief in den Ausschnitt schauen, und auch wenn mein Aufpasser da draußen hinter seiner Holzmaske so tat, er würde nur ab und zu einen Blick zu mir werfen, um meine Verfassung zu prüfen, so spürte ich doch genau, wie er sich an meinem Busen ergötzte. Selbst die Schlitzlöcher und die diffuse Beleuchtung konnten die Augenbewegungen nicht vertuschen. Schwein!

„Guck' nich' so, du Sau!“, brüllte ich ihn an, dass es im Gang widerhallt wie tausend Donnerschläge.

Ich hatte in meiner misslichen Lage sämtlichen Anstand verloren. Der ANBU, schuldig oder nicht schuldig, war von der Lautstärke meiner keifenden Stimme und dem schrillen Echo dermaßen überrascht, dass er zitternd seine Maske zurechtrücken musste. Danach starrte er lieber Löcher in die Luft, anstelle in meinen Ausschnitt.

Dann wurde es leise. Irgendwo tropfte Wasser herab. Beständig und hell im Ton. Erst jetzt wich meine Wut und die pure Verzweiflung machte sich in mir breit. Stumm heulte ich. Heiße Tränen zogen salzige Spuren auf meinen Wangen und endeten irgendwo im Dreck der Zelle. Ich saß im Knast. Dabei war ich doch bloß wütend gewesen und hatte gar nichts gemacht außer Gemüse schnippeln. Ich war doch das Opfer. Und nicht die dusseligen ANBUs, die mich wegzerren wollten. Selber Schuld, wenn ich sie getroffen hatte. Ich hatte sie nicht in meine Küche eingeladen.

Erst jetzt in der Ruhe bemerkte ich, dass das Seilende von meinen Händen hinauf einmal wie eine Schlinge um meinen Hals führte und dann an einem Ring in der Wand verknotet war. Ich hätte nicht einmal aufstehen können, um meine Knochen zu schonen. Ob man hier mal aufs Klo durfte? Gab es das hier überhaupt? Ich glaubte nicht. Ninjas waren böse und grausam. Und ihre Verliese noch böser und grausamer. Da kam wieder der alte Ninja-Banden-Hass hoch. Hier konnte man von der Außenwelt vergessen werden und langsam verrotten, ohne auch nur ein Lebenszeichen von sich gegeben zu haben. Und dann wurde man garantiert im staubigen Sande außerhalb der Dorfmauern entsorgt. Es gab hier unten kein Tageslicht. Wie spät mochte es sein? Wie lange war ich schon hier eingesperrt. Was passierte nun mit mir? Da mir das Zeitgefühl abhanden kam, dauerte eine verstrichene Sekunde eine gefühlte Minute. Es kam mir alles so ewig lang vor. So trostlos und hoffnungslos. Yuuki würde sich bestimmt die Augen aus dem Kopf ausheulen, weil seine Mama plötzlich wie vom Erdboden verschluckt schien. Und das an seinem wichtigsten Tag im Leben. Ich würde noch nicht einmal mitbekommen, ob er seine Prüfung bestanden hätte.

Weit am Ende des Ganges hörte ich eine Metalltür knarren. Schritte kamen zielstrebig hierher. Der ANBU vor meiner Gittertür hingegen verzog sich. Nun gab es sicherlich richtig Ärger. Das war bestimmt das Exekutionskommando. Mindestens! Ich drückte meine Augenlider fest zusammen und wartete mit gesenktem Kopfe auf das, was da auch immer kommen würde. Es kam viel schlimmer!

„Drei gebrochene Rippen, eine verstauchte Hand und ein geprellter Unterkiefer! Nicht schlecht! Verschweigst du mir ein heimliches Taijutsu-Training?“

Wer den Schaden hatte, der brauchte für den Spott wahrlich nicht zu sorgen. Und Kakashi hatte jede Menge Spott und Schadenfreude für mich übrig, wie er da lässig vor meiner Zelle stand, auf einem Klemmbrett ein Formular überflog und mich dann überlegen ansah. Ja, spotte bloß über mich, du Arschloch. Du hast mir mein Herz 'rausgerissen und übelst darauf herumgetrampelt. Ich blickte so böse durch meine schwedischen Gardinen zu ihm hinauf, als könnte ich eine von diesen berühmten Augentechniken aktivieren, die ihn auf der Stelle töten würde. Aber so einen Blick kannte Kakashi wohl schon zur Genüge, denn er blieb völlig unberührt. Ganz im Gegenteil:

„Dass du unzufrieden mit deiner Wohnung bist, kann ich ja verstehen. Aber dass du gleich hier einziehst?“

Ich strafte ihn mit Schweigen. Mit so einem wollte ich nicht reden.

„Na schön. Wenn du nicht reden magst, dann kannst du ja hier noch ein bisschen warten. So, wie du da angebunden bist, gefällst du mir ganz gut. Dann machst du wenigstens keinen Blödsinn...“, sagte er mir als Abschiedsgruß und deutete eine Drehung zur Ausgangstür an.

Auch wenn die Fackel nur schwach loderte, so konnte ich doch deutlich das fröhliche Blitzen in seinen Augen sehen.

WAS?!?! Ich soll hier bleiben? Ich will nicht hierbleiben! Ich hab hier Angst! Der verarscht mich doch! Ganz von allein kam schnelle Bewegung in meinen Körper.

„Nimm mich mit!“, flehte ich, wollte hektisch aufstehen und vergaß dabei den Strick um meinen Hals.

Voller Dummheit strangulierte ich mich selbst, brachte nur ein Röcheln hervor und kippte um. Natürlich nahm mir der Strick das Übel, und ich verhedderte mich immer mehr, wodurch auch die Schlinge sich noch kleiner zog, als sie eh schon war. Bestimmt würde gleich mein Genick knacken oder mir die Atemluft ausbleiben. Elendiges Ersticken in einer dunklen Zelle. Meine Ohren nahmen eine rasches Aufschieben der Zellentür wahr. Nur aus den Augenwinkeln konnte ich einen blitzschnellen Schatten ausmachen, der sofort bei mir war und festhielt. Ein Kunai zertrennte in der nächsten Sekunde das todbringende Seil. Ich war frei! Heftig rang ich nach Atem und würgte. Mir wurde schwindelig, und ich fiel vorn über in Kakashis Arm, der meinen kleinen Sturz bremste.

„Das mit dem Blödsinn nehm' ich zurück. Kann ich dich denn keine Sekunde allein lassen?“

Doch kannst du. Ich kam die ganzen Jahrzehnte davor in meinem Leben auch prima ohne dich zurecht. Vielleicht sogar noch viel besser als jetzt. Ohne dich wäre ich nie so sauer geworden und im Knast gelandet. Ich maulte weiter vor mich her. Viel zu viel Unruhe und wirre Gedanken tobten durch meinen Kopf, dass ich gar nichts sagen oder auch nur ein einziges Gefühl dieser Situation beimessen konnte. Ich war fix und fertig.

Er zog mich auf meine wackeligen Füße hoch. Dann folgte ich willenlos und verstummt auf einem dunklen Weg in die Freiheit. Wir marschierten durch ziemlich viele unterirdische Gänge, wobei ich mir absolut sicher war, dass ich auf diesem Weg nicht hier herein gelangt waren. Unterwegs erklärte mir Kakashi, dass der halbe Hokagefelsen wie ein Käse durchlöchert wäre, und dass er zu den ganz wenigen letzten Überlebenden gehören würde, der wohl eine vollständige Katasterkarte aller Gänge im Kopfe hätte. Die Verhörräume wären in diesem Berge, ebenso die Unterkünfte der ANBU-Einheit, die Einzelhaftzellen und noch ganz viele andere Räume, Gänge und Schutzbunker. Wir aber erreichten irgendwann einen Ausgang, der in einer schmalen Häusernische wieder an die Oberwelt führte. Als wir aus der Nische heraustraten, wusste ich wieder, wo ich war. Es war der Platz nahe des Hokagebüros, wo Yuuki einst das Haus zerlegt hatte. Nur eine Querstraße weiter lag Kakashis Wohnung. Aber das konnte ich damals noch nicht wissen. Die Marktuhr gongte zur vollen Stunde. Zwölf Uhr. Hatte ich wirklich nur eine gute halbe Stunde in der Zelle verbracht? Mir war es vorgekommen wie ein halbes Leben. Ich bekam eine leise Ahnung davon, wie es wohl wäre, müsste man ein paar Jahre oder gar für immer dort sein Leben fristen. Es schauderte mich. Wortlos blickte ich den fallenden Schneeflocken nach.

„Meinen Job bin ich wohl los...“, grübelte ich laut vor mir her.

„Wohl wahr...“, meinte Kakashi und drehte sich dann in Richtung des Hauses, dass mir für immer in Erinnerung bleiben würde.

„Vor genau sieben Monaten und vier Tagen ist das Haus eingestürzt...“, sprach er leise.

Hellhörig lauschte ich auf.

… und darüber bin ich unendlich froh. Ich liebe dich.“

Ich war platt. Das hatte er noch nie zu mir gesagt. Weder so direkt, noch durch die Blume. Ich vergaß die Welt um mich herum. Sie rückte plötzlich aus meinem Bewusstsein. Selbst die Kälte und die Schneeflocken existierten nicht mehr. Da gab es nur noch mich und Kakashi, den ich sprachlos von der Seite anstarrte wie das achte Weltwunder. Und der? Der benahm sich wie immer. Hände in den Hosentaschen. Gedankenverlorener, müder Blick noch immer auf das Haus gerichtet. Als hätte er nur für sich allein nachgedacht und nicht gemerkt, dass er laut ausgesprochen hatte. Und als er auf einmal über seine Schulter zu mir herüberblickte, strahlte er wie ein Honigkuchenpferd.

Völlig unerwartet setzte er sich in Bewegung und ging an mir vorbei. Dabei hatte ich nicht mal irgendetwas antworten oder überhaupt auf diese Liebesgeständnis reagieren können. Vielleicht hatte er in diesem Moment noch nicht mal mit so etwas gerechnet.

„Na los, wir gehen uns aufwärmen. Sonst erfrierst du mir noch!“, forderte er mich auf, als wären davor keine anderen Sätze ausgesprochen worden.

Ich lief einige Schritte hinter ihm her, um ihn einzuholen.
 

Es war tatsächlich nicht weit bis zu seiner Wohnung. Dort gab es eine heiße, reinigende Dusche und einen Lebensgeister weckenden Pott Kaffee. Und dort stand auch ein kleiner gepackter Rucksack in lila Farbtönen im Eingangsbereich. Einen Kuscheltier guckte oben raus.

Auf dem Namensschild stand in krakeliger Kinderschrift: Asa.

27 – Der Tag, an dem die Masken tanzten

Der Januar hatte meinem Privatleben einen absolut desaströsen Monatsabschluss beschert, so dass ich mit den Auswirkungen noch den lieben langen Februar beschäftigt war.

Natürlich war ich erwartungsgemäß meinen Küchenjob losgeworden. Es war nicht so, dass mich meine Chefin nicht mochte oder gar behaupten würde, ich hätte schlechte Arbeit abgeliefert. Ganz im Gegenteil: Sie war sehr zufrieden gewesen. Doch sie war dem Aberglaube stark verbunden und fest davon überzeugt, den übelsten Dämon in mir gesehen zu haben. Und einen Oni wollte man nicht im Hause haben, sondern vertrieb ihn mit geworfenen Bohnen. Ein Schalk, wer Böses dabei dachte, da am 3. Februar passend dazu das Bohnenfest im gesamten Feuerreich abgehalten wurde. Glück im Unglück, dass ich mir an jenem Tage eine dicke Erkältung eingefangen und beschlossen hatte, das Bett nicht zu verlassen. So ersparte ich mir, zur Zielscheibe von Bohnenmunition zu werden.

Viel schlimmer aber war, dass es mindestens immer eine Person gab, die zur falschen Zeit am falschen Ort war. So lief just zu dem Augenblick eine ehemalige Mitarbeiterin aus meinem Kontor durch die Straßen, als ich von den ANBU ins Gefängnis abgeführt wurde. Und ausgerechnet dieses Weib war eine Klatschpresse vor dem Herrn. Da sie alles live mit angesehen hatte, machte meine Inhaftierung schnell bei allen die Runde, die mich kannten. Es ging sogar soweit, dass ich aus meiner Heimat angerufen wurde, ob das Gerücht denn wahr wäre. Es war eine harte und langwierige Arbeit, die ganze Geschichte richtig darzustellen. Und ich lernte, dass ein Gerücht längere Beine hatte und viel spannender war, als hingegen die Wahrheit, die ach so langweilig und uninteressant war. Von wegen: Lügen haben kurze Beine. Pfff... Das hatte ich nun am eigenen Leibe begriffen.

Sicherlich hätten mich diese beiden herben Rückschläge sehr aus der Bahn geworfen, denn die kalte Wohnung und das graue Wetter taten obendrein ihr Übriges, alles negativ zu sehen. Doch Kakashis Worte hatten mich beflügelt. Ich strahlte heller als die Sonne und schwebte gefühlt einen guten Meter über dem Boden. So leicht und unbeschwert fühlte ich mich. Es war wie ein zweiter Liebesschub, der mich durchfahren hatte. Da vergaß ich doch glatt alles um mich herum, hatte nur noch hormongesteuerte Gefühlsduseleien und versaute Begierden im Kopf und dachte nicht an Morgen. Man gut, dass ich derzeit kaum soziale Kontakte in meiner näheren Umwelt hegte. Bestimmt wäre ich allen nur auf die Nerven gegangen. Und bestimmt hätte ich mich überall verplaudert.

Ebenso wie der Januar endete, ging es munter im Februar weiter. Das Wetter bescherte uns nur einen kurzen Aufwind an milden Temperaturen. Der Schnee taute einige Tage lang ab, nur um in der Monatsmitte bei der nächsten Kaltfront zu dicken Eisschichten zu gefrieren. Da passte es doch wie die Faust aufs Auge, dass Yuuki sich auf dem Wege zur Schule den Knöchel brach. Chakrakontrolle wollte nun einmal gelernt sein. Und so sauste er von einem vereisten Dach hinab in die Tiefe. Kinder hörten einfach nicht auf Verbote von Erwachsenen, wenn man ihnen sagte, es wäre besser, bei solch einem Wetter nicht über die Dächer zu springen. Warum machte man ihnen eigentlich überhaupt Verbote? Glücklicherweise bremste ihn ein Balkon und verhinderte das Allerschlimmste. Man gut, dass ich nicht Augenzeuge dieses Unfalls gewesen war. Ich wäre wohl tausend Tode gestorben. So erhielt ich nur einen sachlichen Anruf des Krankenhauses mit der nüchternen Aussage, mein Sohn würde gerade mit einem komplizierten Knochenbruch behandelt werden. Ich sollte doch bitte einmal vorbeikommen und noch ganz nebenbei einen Haufen Formulare ausfüllen. Und ein bisschen Geld für die Arztrechnung wäre auch nicht schlecht, wenn ich das anbei hätte. Ohje, das hätte ein heftiges Loch in die Haushaltskasse gerissen. Aber alles Jammern vor Ort half bekanntlich nichts. Das Kind musste ja versorgt und gesund werden. Doch ein paar Tage später erhielt ich eine Gutschrift vom Krankenhaus: Einheimische hätten Anspruch auf kostenlose Versorgung. Nur alle Auswärtigen hätten zu zahlen. Das wusste ich bis dato gar nicht. Aber da lobte ich mir wieder die richtige Entscheidung, Yuuki hier in Konoha eingetragen zu haben und nicht irgendwo im Erdreich. Wie dem auch sei: Ich war noch nie so schnell über Eisflächen geschlittert, wie an dem besagten Morgen, der so grau und nasskalt war. Er passte einfach auf unser familäres Formtief wie die Milch in den Kaffee. Yuuki blieb einige Tage stationär zur Beobachtung, denn Dank Chakraheilung, war der Bruch schon nach wenigen Stunden abgeheilt, aber noch nicht stabil. Ich wünschte, ich hätte auch so ein Chakra im Körper.

Nun stand ich da also mit meiner überschäumenden Energie und einer sturmfreien Bude. Nicht nur das: Ich war sogar Strohwitwe, wenn ich mich überhaupt so nennen durfte, denn ich war zwar nicht verheiratet, aber total allein. Kakashi war weit, weit weg. Auf irgend so einer Sitzung in „Dingenskirchens-du-weißt-schon“. Ich hatte mir den Namen nicht merken können, doch auf der Landkarte lag das am Arsch der Welt, und bis Hokage-sama hier jemals wieder aufkreuzen würde, wären mindestens eine ganze Woche gelaufen. Voller Tatendrang aber ohne Plan schlenderte ich durch das vereiste Konoha und suchte nach Beschäftigung. Zum Glück war der Februar ein kurzer Monat, auch wenn sich selbst schlanke 28 Tage finanziell gesehen wie Kaugummi ziehen konnten. Meine Hand spielte in meiner Jackentasche mit der Geldbörse und klimperten mit dem bisschen Inhalt herum. Nur noch wenige, kleine Geldscheine und Münzen steckten in meinem Portmonee. Das musste noch bis zum Monatsende reichen, und das waren noch gut acht Tage und Nächte. Im Kopfe überschlug ich, was ich noch an Lebensmittel für die letzten Tage benötigen würde und stellte ernüchtert fest, dass ich mir von dem Restgeld nur einen klitzekleinen Sprung leisten konnte. Argh, das war hart. Ich trauerte den Tagen nach, wo ich ohne Sorgen nach Herzenlust shoppen gehen konnte ohne den Taler zweimal umdrehen zu müssen. Wenigstens änderte sich das Wetter mal in die Richtung, wie es für den Februar im Erdreich angemessen war: Der Himmel riss auf. Die Sonne erwärmte die Luft auf milde 15° Celsius und taute den Boden auf. Herrlich. Es roch schon nach Frühling, obgleich die Kirschbäume bis zu ihrer Blüte bestimmt noch gute zwei, wenn nicht sogar drei Wochen bräuchten.

Im Eingangsbereich der Touristeninformation wanderten meine Augen über das Veranstaltungsbrett und blieben an einem Flyer hängen. Ein Matsuri in Otafuku! Genau heute. Das klang doch mal nach Abwechselung. Man muss dabei erwähnen, dass in Otafuku immer irgendwie „Party“ war. Viele Touristen kamen in den nicht weit von Konoha entfernten Ort, um zu feiern, sich die vielen Verkaufsstände anzusehen oder einfach nur viel Geld beim Glücksspiel zu lassen. Aber bei dem Matsuri war es etwas anders. Da wurde nach dem, was ich so gehört hatte, eine feierliche Prozedur im und am Schrein abgehalten. Ich hatte so etwas noch nie gesehen oder dem gar beigewohnt. Also war ich gespannt wie ein Flitzebogen. Meine kurzzeitig geknickte Stimmung nach dem Kassensturz hellte sich sofort wieder auf. Ich beschloss in einer Kurzschlusshandlung all mein letztes Geld zusammenzukratzen und einen Bahnfahrkarte zu kaufen. Also ging es schnurstracks nach Hause, um in einer großen Tasche etwas Verpflegung und Krimskrams einzupacken. Keine halbe Stunde später hatte ich am Ticketschalter eine Fahrkarte erstanden und saß zu meinem Leid im total überfüllten Zug. Obwohl ich mich wie eine Ölsardine in der Fischbüchse auf meinem Platz quetschte, blieb ich guter Dinge und zückte mein Handy.

„Ich fahre jetzt nach Otafuku! :-) Und was treibst du so?“

„Was willst'n da? o_O“, kam es prompt zurück, doch die Antwort blieb ich Kakashi schuldig, denn der Zug erreichte keine fünf Minuten später den Zielort.

Und es war voll. Selbst den kleinen Bahnsteig hätte man wegen Überfüllung schließen können. So viele Menschen hatte ich selten an einem Ort erlebt. Es war ein Drücken und Schieben von Menschenleibern und ein gegenseitiges auf die Füße treten. Nun wusste ich auch, warum man trotz der frischen Temperaturen Yukata tragen konnte. Frieren war bei dieser aufgezwungenen, körperlichen Nähe unmöglich. Die Straßen waren festlich mit bunten Fähnchen-Girlanden geschmückt. Überall standen Verkaufsbuden herum und boten Fingerfood, Trödel und Glücksspiel an. Das war an sich nicht ungewöhnlich, doch heute gab es eine Besonderheit. Ich ließ mich vom Strom der Menschen treiben und schnappte in dem Stimmengewirr alle notwendigen Einzelheiten zu diesem Matsuri auf. In dem Schrein inmitten des Ortes wurde die Göttin der glücksbringenden Zahlen verehrt. Eine Zahlen-Göttin. Was es nicht alles gab. Ich staunte. Am letzten Wintervollmond wurde ihr zu Ehren ein feuchtfröhliches Fest veranstaltet. Es begann mit einem lautstarken und trinkfestem Umzug durch die Straßen und endete dann im Schrein, wo ein ganzer Tag und eine ganze Nacht lang am Stück getanzt wurde. Und zum Abschluss wurde aus der Lotterie eine sechsstellige Zahl gezogen, die dem Gewinner einen großen Jackpot bescheren würde. Aha, alles klar. Kein Wunder, dass hier der Bär los war. Ein Geldsegen war immer brauchbar.

Und dann ging es auch schon los. Unzählige Männer traten aus dem Schrein heraus und schleppten auf ihren Schultern eine schwere Bahre aus Holz mit sich herum, welche über und über mit bunten Spruchbändern und Ema-Tafeln behängt war. Wer Ema-Tafeln nicht kannte: Es waren Holzplättchen, auf denen man Wünsche schrieb und hoffte, dass sie in Erfüllung gingen. In diesem Falle standen nur sechsstellige Nummern auf den Schildern. Die Schreiber erhofften sich wohl, dass es die Glücksnummer zum Jackpot wäre. Trommeln schlugen einen wilden treibenden Rhythmus, der durch Mark und Bein ging. Lautstarker monotoner Gesang dröhnte aus den Kehlen der Feiernden und wurde von kräftigem Applaus begleitet. Der Geruch von Shôchû benebelte die Sinne, obwohl man noch gar keinen Tropfen dieses stark alkoholhaltigen Getränkes konsumiert hatte. Ich schloss mich der Lebensfreude an, die hier bedingungslos herrschte, und vergaß alles, was mich traurig machte und stresste. Ich vergaß für den Moment Yuukis Knöchel, meine Arbeitslosigkeit, die leere Haushaltskasse und wie oft mich Kakashi kommentarlos und unzähligen Rätseln allein ließ. Längst hatte ich mir auch eine Flasche Shôchû organisiert und kippte sie völlig unkontrolliert in mich hinein. Das war eine fatale Sache. Immerhin wohnten gute 45% diesem Branntwein inne. Nebenbei kaute ich an einigen würzigen Grillspießen, die so feurig waren, dass man gezwungen war, große Mengen an Shôchû zu trinken. Aber es war so verdammt lecker. Mein Zeitgefühl war verloren. Es war wohl noch nicht einmal eine gute Stunde vergangen, da war ich schon voll wie zwanzig Haubitzen und fühlte mich selig. Das Vibrieren und Klingeln meines Handys in der Jackentasche bemerkte ich nicht mehr.

Der Menschenstrom kam nun samt heiliger Bahre am Schrein wieder an und wanderte schnurstracks hinein. Dort wurde sie in einer großen Gebetshalle aufgestellt. Alle drängten hinein, und als ich mich auch endlich durch das Eingangstor gequetscht hatte, sah ich, dass dort am anderen Ende der Halle eine kleine Bühne aufgebaut worden war. Daneben war hinter einem Vorhang eine provisorische Garderobe untergebracht. Ich suchte mir eine Nische und beobachtete stumm die ganze Zeremonie. Man zelebrierte hier ohne Pause Tänze, die immer einer bestimmten heiligen Ziffer gewidmet waren. Das sollte Glück bringen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese Ziffern auch morgen tatsächlich gezogen wurden. Dazu trugen die Tänzer eine weiße Yukata aus schwerem Stoff und kunstvoll geschnitzte Holzmasken in Weiß, Schwarz und Rot. Sie zeigten die unterschiedlichsten Gefühlswelten von Männern und Frauen. Da war Traurigkeit und Fröhlichkeit, Wut und Frieden, Hass und Liebe zu finden, und noch so viele mehr. Jeder könnte mittanzen, wenn man denn wollte. Tanzschritte gab es nicht. „Express yourself“ war die Devise. Den Takt gaben die Sanduhrtrommeln vor. Die Melodie quietschte aus Drachenflöten und Hichiriki-Blasinstrumenten. Ein Rausch an Farben und Tönen. Eine totale Reizüberflutung der Sinne. Irgendwer packte mich sanft an den Händen, zog mich mit sich. Plötzlich hatte auch ich eine weiße Yukata am Leibe und eine Holzmaske im Gesicht. Ich war fast blind durch die Maske und bewunderte in der Sekunde Kakashi und Tenzô, wie die beiden mit solch ähnlichen Masken, wie es sie bei der ANBU gab, überhaupt etwas von ihrer Umwelt erkannten. Der Gedanke war schon wieder verpufft, als ich ins Rampenlicht trat. Zu welcher Ziffer ich auf der Bühne zwischen anderen Leuten ungelenk hampelte, war mir schleierhaft, aber es war ein riesiger Spaß und zugleich doch sehr schweißtreibend. Also war ich froh, als ich wieder in einer Wandnische erschöpft auf dem Boden kauerte. Wie durch eine Nebelwand starrte ich in das tanzende Gewusel. Meine Ohren waren von den schrägen Tönen der Musik längst taub.

Plötzlich stupste mich etwas in die Seite, doch ich reagierte zuerst gar nicht, da man zwischen den vielen Feiernden immer irgendeinen Ellenbogen zwischen die Rippen bekam oder ein fremder Fuß auf die eigenen Zehen trat. Doch das Stupsen hörte nicht auf und verstärkte sich sogar. Durch den Alkohol motorisch eingeschränkt drehte ich mich aus meiner Sitzposition mit zu viel Schwung herum und landete auf allen Vieren wie ein Hund. Und genauso so einem Geschöpf blickte ich nun direkt in die Augen. Ein Hund. Ein Rotbrauner. Mit langer weißer Schnauze und einem Verband um Kopf und Brustkorb. Als Halsband trug er ein Konoha-Stirnband. Sein Rücken wurde von einer blauen Weste mit Henohenomoheji-Abzeichen verhüllt.

„Ûhei!“, brüllte ich voller Freude heraus und gegen den Krach an.

Dabei schlang ich für Ûhei so überraschend meine Arme um ihn, dass er kaum noch Luft bekam. Seine Zunge hing ihm aus dem Hals, die Lefzen schlackerten. Ich knuddelte ihn zur Begrüßung wie einen Teddybären. Als dann mein Kuschelopfer wieder Herr seiner Sinne war, bekam ich zu hören:

„Du bist nicht ans Telefon gegangen. Da sollte ich mal nach dir schauen, meinte Kakashi. Du ziehst wohl das Pech an, wie ein Magnet...“

„Wie bitte?!?“, fiel ich ihm lallend ins Wort, denn ich fühlte mich super und konnte garantiert gut auf mich selber aufpassen.

Aber war doch niedlich, dass er sich Sorgen machte. Dann kramte ich nach dem Handy in der Tasche. Hui, 19 ungelesene Nachrichten und 11 Anrufe in Abwesenheit. Pff, man könnte glatt den Eindruck bekommen, um mich wurde sich nicht gesorgt, sondern ich wurde kontrolliert, weil weit weg in der Ferne jemand tierische Eifersuchtswellen schob. Aber auch das fand ich in meiner Besoffenheit irgendwie total niedlich. So viele Nachrichten und Anrufe … Da hatte ich ja etwas verpasst in der kurzen Zeit. Moment mal! Kurze Zeit? Ungläubig starrte ich auf die Uhranzeige. Es war bereits mitten in der Nacht, und ich war doch gegen Mittag hier angekommen. Da war doch glatt der halbe Tag an mir vorübergezogen und ich hatte es gar nicht gemerkt. Hier in der Halle war noch dieselbe Stimmung wie zu Beginn. Mühelos und ungezwungen tanzte man hier weiter vor sich her, als wäre man noch taufrisch. Ûhei zerrte mit der Schnauze an meinem Ärmel und kläffte dann:

„Lass uns mal rausgehen!“

Ich torkelte ihm hinterher, erreichte die Eingangstür und wurde von der kühlen Nachtluft getroffen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Der Effekt war derselbe. Mein Mageninhalt machte eine Kehrtwende und suchte seinen Weg obig wieder hinaus und verschönerte nun das Hofpflaster mit einem stinkenden Fleck. Boah, war mir schlecht. Feiern und saufen hatte ich seit Jahren nicht mehr gemacht. Die Auswirkungen spürte ich nun am eigenen Leibe.

„Du solltest nach Hause fahren und die ausruhen...“, schlug meine tierische Begleitung vor.

Ich schüttelte den Kopf. Der letzte Zug nach Konoha war sicherlich schon längst abgefahren. Außerdem wollte ich die Ziehung der Lotterie nicht verpassen. Gegen Ûheis Willen schlürfte ich über den Schreinvorhof durch das Torî und dann in Richtung Ortskern. Mich selbst tröstend stellte ich fest, dass ich wohl nicht die einzige Schnapsleiche war. Auf dem Platz hatten sich so einige angesammelt, die besoffen waren und auf dem viel zu kalten Boden ihren Rausch ausschliefen. Ich fand in einem spartanisch eingerichteten Imbiss noch einen freien Platz, setzte mich und legte dann den Kopf auf die Tischplatte. Müde starrte ich mit leerem Blick umher. Ich wollte mich nicht mehr bewegen. Wenigstens gab es Spannendes zu beobachten. Gegenüber auf der anderen Straßenseite hatten sich am Eingang einer dunklen, schmalen Hinterhofgasse zwei Liebende gefunden. Und das nicht zu knapp. Wild küssten sie sich. Man sah nicht nur ihre nackten Schultern, sondern auch ihre wohlgeformte, schmale Oberweite, wo sie gierig massiert wurde. Als ihr Mund in die Tiefe fuhr und er voller Erregung die Augen schloss, so war es doch mehr als eindeutig. Spätestens als er sie dann schnell und heftig von hinten nahm und vereinzeltes Stöhnen über die Straße herüberwehte, war es nicht mehr zu verbergen, womit man sich dort drüben auf der anderen Straßenseite beschäftigte. Und es schien die beiden auch nicht zu stören, dass sich ein kleines Publikum gefunden hatte, dass aus allen Ecken und Winkeln verschämt hinüber blinzelte und und mit hochroten Köpfen zusah. Es war keineswegs billiges Gerammel, sondern hatte eine gewisse Erotik und Leidenschaft inne, wie sie es dort drüben trieben. Da hatten zwei wirklich Spaß. Ich konnte meinen Blick vor Antriebslosigkeit und Neugier zugleich gar nicht abwenden, kaute auf meiner Unterlippe und kämpfte gegen das verlangende Brennen meines Unterleibes an. So was wollte ich auch! Jetzt sofort! Mein Körper gehorchte mir gar nicht mehr. Mit glasigen Augen lag ich auf der harten Holztischplatte und hing versauten Gedanken nach. Spürte die strähnigen Haare in meinem Gesicht. Spürte, wie mir Sabber aus dem Mund lief, weil ich vor Müdigkeit und Schwindel kaum noch den Unterkiefer bewegen konnte. Spürte, wie die Feuchtigkeit meinen Slip durchnässte. Ich musste aussehen wie eine billige Straßennutte. Oder wie es Ûhei passend kommentierte:

„Wie eine läufige Hündin. Ich dachte immer, der Gipfel der Perversion wäre es, wenn man mit dem Flirtparadies öffentlich rumläuft. Aber du schlägst echt alles, Sherenina!“, wurde ich von einem Hund getadelt, der sich gerade im Fremdschämen übte und sich unter den Tisch verzogen hatte, damit ihn niemand sah und einen Zusammenhang zwischen mir und ihm herstellte.

Von da unten ergänzte er noch:

„Jetzt weiß ich aber, was euch beide verbindet!“

„Mir doch egal!“, blaffte ich zurück unter den Tisch und verlor mich in meinen Wünschen.

„Warum ist er nicht da?“, plärrte ich dann laut los.

Nach der Trunkenheit kam die Depression. Ûhei legte nur nachdenklich den Kopf schief. Ein Fragezeichen glühte über seinem Kopf auf. Mit den Abgründen der menschlichen Seele konnte ein Hund ebenso wenig anfangen wie mit der speziell weiblichen Sprunghaftigkeit.

Da hing ich einer Erinnerung nach, als ich eines nachts in meinem Bett erwachte. Ich wusste gar nicht mehr so genau, was mich geweckt hatte. Mein Blick blieb an Kakashi hängen, der neben mir bäuchlings lag und schlief. Sein Gesicht halb im Kissen versenkt. Sich selbst irgendwie in der Bettdecke verheddert. Haare, die wie üblich in alle Richtungen standen und seinem Namen alle Ehre machten. Daran schloss sich sein langer Rücken an, der bis auf wenige kleine Narben so gut wie makellos und durchtrainiert war. Und das ganze endete bei seinem Knackarsch. Was war eigentlich passiert, dass sich ausgerechnet so ein Topmodel in mein Bett verirrt hatte? Zu mir, der Sofakartoffel namens Serenina. So was hatte ich nie und nimmer verdient. Ich fühlte mich so schlecht neben ihm. Total grundlos. Aber es trieb mir trotzdem eine Träne in die Augen. In meinem Wachtraum küsste ich seine Haut. Angefangen beim Nacken und … PLOPP! Meine Traumblase war geplatzt. Gerade in dem Augenblick, als ich blöd von der Seite angequatscht wurde.

„Kann ich der holden Schönheit etwas Trost spenden?“

Holde Schönheit? Der meint doch garantiert nicht mich. Was für eine niveaulose Anmache! Verpiss' dich bloß, Idiot! Nein, der sah nicht schlecht aus, aber nicht so lecker wie mein Topmodel und überhaupt. Nichts konnte Kakashi ersetzten! Nichts und niemand! Ich versuchte, mit stumpfer Ignoranz das Problem zu lösen, doch der notgeile Typ ließ sich nicht abwimmeln. Ganz im Gegenteil. Da wurde doch glatt mein Handgelenk gepackt.

„Alter, zieh Leine! Mein Freund ist Shinobi. Der kloppt dir das Hirn aus dem Schädel! Der kann das ohne mit der Wimper zu zucken!“, keifte ich in meiner üblichen Manier los, dass sich blitzartig alles in dem Imbiss zu uns umdrehte, was anwesend war.

Hätte ich damals gewusst, welch Wahrheit in meinem letzten, unbedachten Satz lag, der traurige Inhalt hätte mich wohl schockiert. Aber zudem Zeitpunkt war ich noch unwissend. Und sowieso betrunken und neben der Spur stehend.

Plötzlich jaulte der Unbekannte auf. Sämtliche Zähne, die Ûhei in seinem Maul zu bieten hatte, bohrten sich in das Handgelenk des Mannes. Nie hätte ich gedacht, dass ein Hund so viele Zähne in der Schnauze aufzuwarten hatte. Der Kerl suchte sofort das Weite, sobald Ûhei sein Maul wieder öffnete. Meine gute Stimmung war nun vernichtet. Und ich war wieder hellwach. Etwas in meinem Innersten trieb mich nun, endlich mal meine ganzen Nachrichten abzuarbeiten. Zwischen den Zeilen war wirklich herauszulesen, wie eifersüchtig und angepisst der war. Aber das würde er niemals zugeben. Niemals. Ich wollte Kakashi eine Nachricht tippen. Doch meine Finger trafen nicht die Buchstaben, sie ich gerne gehabt hätte. Die Worterkennung produzierte nur Müll. Entnervt gab ich auf.

Ein Blick auf die Uhr plante meinen Tagesablauf neu. Viertel nach Vier in der Frühe. In einer Viertelstunde konnte man im Schrein seine Glücksnummer abgeben und hoffen, dass sie gezogen wurde. Angesäuert, von so einer Dumpfbacke belästigt und um einen schönen Traum gebracht worden zu sein, zog ich am Halsband Ûhei hinter mir her zurück zum Schrein. Dort angekommen nahm ich einen der blanko Losezettel, notierte so gut wie es eben ging Name und Adresse und grübelte über die sechsstellig Ziffer nach. Ich nippte an einer neuen Shôchû-Flasche und hoffte um Flaschengeisterleuchtung. Sollte ich ein Geburtsdatum nehmen? Hm, das würden sicherlich viele machen. Nein, das war blöde. Ich grübelte weiter. Dann kam es mir wie ein Blitzeinschlag.

„Ûhei, hilf' mir doch mal auf die Sprünge!“, bat ich den Hund.

Dann kritzelte ich die angepeilte Zahl auf den Zettel und gab ihn ab. Zuvor schlabberte ich noch einen großen Knutscher auf das Los, dass es das Schreinmädchen gar nicht annehmen wollte, weil sie sich ekelte. Große Chancen rechnete ich mir nicht aus, denn es kam dreimal dieselbe Ziffer in meiner Glückszahl vor. Trotzdem setzte ich mein komplettes Geld als Einsatz. Bescheuert, oder? Zum Glück hatte ich schon ein Rückfahrticket für den Zug im Voraus gekauft. So käme ich wenigstens nach Hause und müsste die zwölf Kilometer bis Konoha nicht zu Fuß laufen, wenn ich nachher mein ganzes Geld im Spiel verlieren würde.

Übermüdet ließ ich mich auf der umlaufenden Veranda des Schreins nieder und schlief ein. Im Saal war es mittlerweile zu heiß und zu stickig. Die Luft dort stand förmlich und hätte scheibchenweise mit einem Spaten abgestochen werden können. Mein Körper brauchte Schlaf, und der wurde nun eingefordert. Gegen Mittag weckte mich meine Hundebegleitung. Ich sollte dringend in die große Halle gehen und die Lotterieziehung verfolgen. Das müsste ich gesehen haben. Halbwegs wieder fit trabte ich dem flinken Tier hinterher. Ja, das musste man wirklich gesehen haben. Damit meinte ich nicht die Ziehung an sich, obgleich die spektakulär war. Eine Frau hatte sich als Göttin verkleidet und tanzte graziös zu einer eindringlichen Melodie. Vier junge Mädchen saßen um die tanzende Göttin und spielten auf traditionellen Instrumenten. Immer, wenn das Lied stoppte, zog die Göttin aus einer großen Glasurne mit verbundenen Augen eine Kugel. Es waren bereits schon drei Kugeln gezogen worden und mir stockte der Atem. Das war doch der Beginn meiner Glücksnummer! Ich konnte es nicht fassen und staunte Bauklötze. Kein Zweifel. Die drei Kugel, die dort schon präsentiert wurden, stimmten überein mit dem, was ich auf mein Los eingetragen hatte.

Das Lied verstummt. Die nächste Kugel wurde gezogen. Schon wieder! Nun gab es für mich kein Halten mehr. Ich stürmte rücksichtslos durch die Menschen, dass Ûhei Mühe hatte, mich in der Masse nicht zu verlieren. Die Göttin tanzte und tanzte. Meine Güte, hört denn dieses Lied niemals auf? Die Spannung war unerträglich, meine Nerven lagen komplett blank. Man sagte ja „Glück im Spiel, Pech in der Liebe“. Musste ich mir etwa bei dieser einmaligen Glückssträhne Gedanken machen? Wie in Zeitlupe glitt die Hand der Göttin in die Urne, wühlte zwischen den Kugeln und hielt die fünfte Ziffer in die Höhe. Ein Raunen ging durchs Publikum. Einige verließen enttäuscht den Saal, waren es doch nicht ihre Treffer gewesen. Ich hingegen war schockiert. Ein Treffer! Das war zu schön um wahr zu sein.

Der letzte Tanz kam mir wie eine Ewigkeit vor. Sie tanzte und tanzte. Die Mädchen musizierten und musizierte, als hätten sie eine Nonstop-Schleife eingebaut. Ich schrie die Anspannung hinaus. Ich brüllte die Hand der Göttin an, als würde sie sich durch meine Schallwellen zu der Kugel in der Urne bewegen, die jetzt noch gebraucht würde. Das war OK, denn alle hier waren allmählich närrisch geworden. Es gab wohl ein paar Kandidaten, die eine ähnliche Nummer wie die meine notiert hatten, aber sich wohl an der letzten Ziffer unterschieden. Sieg und Niederlage hingen nun von der allerletzten Kugel ab.

Der letzte Ton verklang. Es wurde mucksmäuschenstill in der Halle. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Niemand wagte auch nur einen Laut von sich zu geben. Gebannt glotzen alle auf die zarte Hand, die gleich in Form einer Kugel das Schicksal in eben jener hielt. Langsam streckte sich die Hand der Göttin in die Höhe und präsentierte das Ende der Ziehung. Wieder zog sich ein Raunen durch die Masse. Doch es gab nur eine einzige Person, die freudig aufkreischte und dann heulend zu Boden ging. Schluchzend hielt ich Ûhei in den Armen, der die Welt nicht mehr verstand. Die Menschen und ihre Gefühle waren für ihn einfach unergründlich. Und solche Gefühlsausbrüche hatte er bei seinem Herrchen noch nie erleben dürfen und müssen. Ich war fix und fertig und konnte es einfach nicht fassen. Das war meine Zahl! Alle sechs Ziffern stimmten überein!

„009720!“, wurde noch einmal laut hörbar die endgültige Siegesnummer verkündet.

Kakashis Registernummer hatte mir Glück gebracht. Einen Scheiß auf „Glück im Spiel, Pech in der Liebe“!

28 – Der Tag, an dem die Kirschbäume blühten

Nach dem ewigen Ausnüchtern kam die kopfschmerzende Nüchternheit, gefolgt von der bitter schmeckenden Ernüchterung. Ich wusste gar nicht mehr so genau, wie ich überhaupt wieder nach Haus gekommen war. Keineswegs hatte ich einen Filmriss. So sehr betrunken war ich nun auch nicht, aber halt einfach nur grenzenlos übermüdet. Nachdem ich meinen Sack voller Geld geschultert und zusammen mit Ûhei zum Bahnhof geschwankt war, hatte ich keinen Sitzplatz im völlig überfüllten Großraumabteil ergattern können. Also hatte ich mich mit meinem Geldsack auf den Fußboden gekauert und war eingeschlafen. Nur ein beherzter Hundebiss in meine Wade weckte mich rechtzeitig zum Ausstieg. Ansonsten wäre ich in Konoha durchgerauscht und wohl erst am Ende des Wind-Reiches wieder aufgewacht. Ein heftiger Bluterguss und ein Zahnabdruck an meinem Bein sollten mich noch sehr lange an meine Rückreise erinnern. Ich war niemals sauer auf Ûhei gewesen. Das bin ich auch heute nicht. Von all den acht Hunden, die Kakashi an seine Seite beschwören konnte, waren alle im Charakter so unterschiedlich, dass es keinen Vergleich untereinander gab, doch Ûhei blieb mir stets der Liebste. Das mochte wohl auch der Grund gewesen sein, dass er seitdem immer an meiner Seite war, wenn ich ihn brauchte, obgleich ich mich mangels Chakra nie in irgendeine Schriftrolle hätte eintragen oder gar einen vertrauten Geist hätte beschwören können. Wir verstanden uns einfach auf Anhieb gut.

Als der Kopfschmerz verflogen und die Lebensgeister wieder in meinen Körper zurückgekehrt waren, verriet mir ein Blick unter der Bettdecke hervor durch mein Zimmer hinweg, dass mein Ausflug kein bunter, wilder Traum, sondern Realität gewesen war. Denn zwischen meiner auf den Boden geschmissenen Kleidung lag mein Jackpot. Ganz ehrlich, ich hatte keine Ahnung, wie viel Geld da überhaupt drin war. Also kochte ich Kaffee und zählte den Inhalt. Es war sehr viel Kleingeld darunter, da man ja alle Einsätze der Mitspieler erhielt. Darüber hinaus hatte ich mich in meinem Suff getäuscht: Es gab doch noch zwei weiter Glückspilz, die auch „meine“ Nummer auserkoren hatten. Also ging die Summe schon einmal durch Drei. Dann wurde sie auch noch vor Ort sofort für den Feudalherren großzügig versteuert und es blieb ein magerer Rest, der zum Sterben zu viel, aber zum glückseligen Leben zu wenig wäre. Kurzum: Ich hatte einen mittleren, fünfstelligen Betrag in meinem Geldsack. In meinem Heimatdorf, könnte man davon einen kleinen Sprung beschicken. Wenn man dagegen die Lebenserhaltungskosten und die Immobilienpreise in Konoha ansah, so reichte das hier bei einer Eigentumswohnung gerade mal für die Haustür. Zu wahr um schön zu sein. Ich war planlos, was ich mit dem kleinen Geldsegen nun veranstalten könnte. Also verstecke ich Sack und Pack erst mal im Kleiderschrank und trabte dann mit einem Kopf voller Sorgen und Gedanken zum Krankenhaus. Mir war gar nicht wohl, dass ein Sack Geld in meinem Kleiderschrank stand. Ich sollte ihn noch einige Mal hervorkramen, nach neuen Verstecken suchen und ihn dann wieder zurück in den Kleiderschrank stellen, weil mir kein gutes Versteck einfiel.

Noch grausamer war aber die Regenbogenpresse, welche ich im Wartesaal des Krankenhauses durchblätterte, während ich auf Yuukis Entlassungspapiere wartete. Ohne jemals auch nur ein einziges Mal vom Inhalt Notiz genommen zu haben, flogen meine Augen über die vielen bunten Bilder. Aber an einem blieb ich diesmal sofort hängen. Es schockte mich in dem Moment so sehr, dass ich beinahe die Zeitschrift zerrissen hätte, dann sah ich unauffällig nach rechts und links, ob mich jemand beobachten würde, und knüllte das Käseblatt in meine Handtasche. DAS musste ich doch glatt mal in Ruhe betrachten. Ich hatte es mit meinem Sohnemann im Schlepptau plötzlich sehr eilig, wieder nach Hause zu kommen. Da strich ich am Küchentisch die Seiten mit der Hand glatt und starrte mich selber an. Ich, wie ich dort auf einem kleinen, unscheinbaren Bild Ûhei umarmte und mich über meine Glückszahl freute. Maaannn wie hatte ich nur so doof sein können zu glauben, es gäbe über die jährliche Jackpotziehung in Otafuku keinen Presseartikel? Ich war ohne mein Wissen fotografiert worden. Und da die beiden anderen Gewinner auch nicht direkt in die Kamera sahen, war es denen wohl genauso ergangen, wie mir. Eigentlich alles ganz harmlos, aber wer Insider war und kombinieren konnte, der zog sofort seine Schlüsse zwischen der Gewinnerzahl, Kakashis Hund und meiner Person. Sogar ein Blinder wurde sehend und sah eine tiefere Verbindung. Und genau das war eine Sache, die Kakashi und ich nicht an die große Glocke hatten hängen wollen. Und nun wusste es wohl die halbe Ninja-Welt. Ich war mir über die Tragweite meines Ausfluges nicht bewusst gewesen. Hoffentlich warf meine Sauf- und Spieltour kein negatives Licht auf Kakashis Job. Das wäre echt fatal und wäre niemals auch nur im Geringsten meine Absicht gewesen.

Ich hätte schon eher etwas merken müssen, dass mein „Auftritt“ Kreise zog, als mich eine blassblonde Frau mit zwei Zöpfen auf dem Bahnsteig in Konoha ansprach. Dort hatte ich verweilen müssen, weil die Müdigkeit meinen Körper nur hatte bis zur nächsten Bank getragen. Die Dame hatte große rehbraune Augen, mindestens so viel Oberweite und auch mindestens so viel Alkohol wie ich im Blute. Allerdings hatte sie, im Gegensatz zu mir, unglaublich viel Geld verloren. Dafür war ihr Mundwerk ebenso wie meines und ihr Temperament wohl ebenso. Sie war mir sofort sympathisch, obwohl ich die ganze Zeit hatte grübeln müssen, was wohl an ihrer Optik nicht stimmte. Ûhei klärte mich flüsternd auf, dass es ein Verjüngungsjutsu wäre, denn die Dame wäre schon fast siebzig Jahre alt. Wow! Wie dem auch sei, sie gratulierte mir zu meiner sehr „interessanten Gewinnnummer“, grinste schelmisch und leerte mit mir zusammen meine vierte und somit letzte Flasche des Ausflugs. Bäh, schon wieder saufen! Nicht Herrin meiner Sinne plapperte ich darauf los, wie mir der Mund gewachsen war und merkte schon wieder nicht, wie Ûhei immer kleiner und unauffälliger wurde und zum Schluss sich hinter meinen Beinen unter der Sitzbank versteckte. Bei der Verabschiedung grüßte sie Ûhei, woher auch immer sie ihn kannte, und setzte einen großen, roten Hut auf. Der hatte schon eine Ähnlichkeit mit dem Hokagehut, nur das weiße Feld mit dem Feuer-Kanji fehlte vorn. Da musste ich einfach loskichern und dumm herausplatzen:

„Mein Freund hat auch so einen, aber den setzt er nicht so gerne auf.“

„Das glaube ich Ihnen sofort, Jibek-san,“ lachte sie fröhlich auf. „Grüßen Sie ihn doch bitte von mir. Es freut mich sehr, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.“

Dann zog sie von dannen. Ûhei kam auch wieder unter der Bank hervor. Ob ich denn nicht gewusste hätte, wer die Frau gewesen wäre? Da ich aus dem Tal der Ahnungslosen stammte, schüttelte ich nur den Kopf und ließ mich belehren, dass mit der Fünften Hokage gerade einen Umtrunk gehalten hatte. Wie bitte? DAS war Tsunade? Die hatte ich mir total anders vorgestellt. Ich sah ihr noch nach, doch die Menschenmassen am Bahnhof verschluckten schnell ihre Gestalt.
 

So endete dann der Februar und ging wettertechnisch nahtlos in den März über. Es wurde milder, aber noch nicht so mild, dass es die Eisflächen gänzlich auftaute. Dafür war es nun morgens und abends merklich heller. Einige Tage später sollte dann aber wirklich der heißersehnte Frühling über unser Dorf hereinbrechen und die letzten Winterreste vertreiben. Die frische Brise trieb nicht nur die neuen Jahreszeit durch die Straßen, sondern wehte auch Kakashi wieder nach Hause. Und zwar ziemlich stürmisch. Erst zwei Tage später mit ihm rechnend, klopfte es in aller Frühe an meine Haustür. Schlaftrunken warf ich mir eine Yukata über und öffnete. Total unerwartet schoss etwas Rot-Weißes herein und umarmte mich als wäre ich die einzige Rettungsboje im ganzen Ozean. Mit soviel Aktionismus in den Morgenstunden konnte ich nichts anfangen und schon gar nicht, dass Kakashi zur Abwechselung mal durch die Tür kam. Also stolperte ich völlig verdattert mit ihm einige Schritte zurück, bis ich überhaupt verstand, was los war. Kurz darauf saßen er am Küchentisch, während ich den Kaffee aufsetzte.

„Musst du nicht zuerst ins Büro?“, versuchte dem Thema mit meinem Jackpot auszuweichen.

Aber das war eh unmöglich. Kakashi war nun mal neugierig. Der sah alles, wusste alles und konnte alles.

„Eigentlich schon...“; begann er während der seinen Mantel sorgfältig zusammenlegte und den Hut oben auf den Stapel ablegte. „Aber mein ehemaliger Schüler brennt schon von Kindesbeinen darauf, Hokage zu werden. Den arbeite ich schon eine Weile ein. Da kann der den Papierkram machen.

Und du? Du hast dir wohl auch gut die Zeit vertrieben, wie ich mitbekommen habe.“

Argh! Sah alles, wusste alles, konnte alles! Da waren wir beim Thema. Etwas überfallen sackte ich in mich zusammen, wie ich ihm da so gegenüber saß und auf unsere beide Tassen mit frisch gebrühtem Kaffee starrte.

„Bist du sauer?“, fragte ich verlegen.

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, ich war im ersten Moment nur total verwundert. Ich bekomme vermutlich sowieso den Titel „Schlechtester Hokage aller Zeiten“. Da machen solche Storys auch nichts mehr.“

Schlechtester Hokage aller Zeiten? Hatte ich mich verhört? Nein, das war gerade von ihm genau so gesagt worden. Ich hatte keine Ahnung, wie seine Vorgänger ihre Ämter ausgeführt hatten und konnte es somit auch gar nicht vergleichen. Aber ich hatte stets gedacht, ich wäre die Person mit den ständigen Selbstzweifeln. Dass Kakashi diese anscheinend auch hegte, überraschte mich sehr. So hätte ich ihn gar nicht eingeschätzt. Ihn, der immer so perfekt und diszipliniert schien. Doch dann erinnerte ich mich an unsere Unterhaltung, als wir zwischen den verschneiten Reisfeldern standen, wo einst sein Elternhaus gestanden haben sollte. Da waren mir zum ersten Mal seine Selbstzweifel aufgefallen. Wir sprachen über unsere Lebensläufe. Seitdem brannte ich darauf, etwas mehr über ihn zu erfahren.

Wir konnten das Gespräch nicht vertiefen. Yuuki humpelte hervor, rieb sich dabei den Schlaf aus den Augen und freute sich über unseren Besuch. Gemeinsam frühstückten wir und verabschiedeten anschließend Yuuki, der zur Schule musste. Diesmal auf dem Fußweg und nicht über die Dächer. Maulig humpelte er los.

„Aber wenn der Fuß wieder OK ist, nehm' ich wieder die Abkürzung!“, hörten wir ihn noch ihm Treppenhaus.

Da wollte ich gerade schon noch eine Standpauke über akute Beratungsresistenz halten, als mir Kakashi zuvor kam und ihm hinterher rief: „Bestimmt, Yuuki!“

„Lass ihn! Er macht es doch eh sofort, wenn du nicht dabei bist. Das muss er selber lernen, wie er es am besten hinbekommt. Ich kann Asa auch nicht davon abbringen, immer alles in Schutt und Asche zu legen. Es macht halt viel Spaß“, wandte er sich dann mir zu.

Natürlich hatte er recht, gefallen tat es mir trotzdem nicht. Ich räumte den Frühstückstisch ab, schlüpfte endlich mal in Kleidung und machte mich soweit zurecht, dass man in der Öffentlichkeit herumlaufen konnte. Geduldig wartete Kakashi, bis ich alles beisammen hatte. Er hätte seine morgendliche Runde noch nicht gedreht und ich sollte ihn begleiten. Das klang interessant. Und so zogen wir los.

Es ging zunächst am Flussufer entlang Richtung Norden. Das Gesicht des Ufers veränderte sich. Alleereihen von Bäumen erstreckten sich auf beiden Seiten. Trauerkirschen, um genau zu sein. Ihr Knospen waren schon kurz vor dem Aufbrechen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Uferböschung im Blütenmeer versinken würde. Aber noch konnte man unter den Bäumen sitzen und durch ihre großen Kronen hindurch in den azurblauen Himmel sehen. Irgendwo zwischen den dunklen Stämmen taten wir dieses dann auch. Kakashi konnte das besonders gut. Einfach alle Viere von sich strecken und Wolken beobachten. Vereinzelte Schäfchenwolken trieben sachte am Himmelszelt vorüber. Was er wohl darin sah? Oder nahm er sie gar nicht wahr? Auf jeden Fall war er weit weg von unserer Welt und grübelte.

„Die Wolke da oben sieht aus Buru!“, deutete ich auf einen weißen Wattebatzen.

„Welche?“

Er den Kopf in die Richtung, zu der ich meinen Arm ausstreckte. Der Wind verformte den Batzen und schob ihn weiter fort.

„Die da!“, fand ich dennoch.

„Ach, so bullig ist er nun auch wieder nicht ...“, lachte er kurz auf.

„Siehst du auch Dinge in den Wolken?“

„Manchmal, aber so kreativ bin ich nicht, dass ich da etwas sehe. Die Wolken trösten mich, wenn ich nicht weiter weiß. Oder wenn ich mich mal wieder total hilflos und allein fühle. Egal, wo ich unterwegs war, der Himmel ist immer derselbe. Oft hab ich gehofft, ich könnte mit den Wolken mitziehen. Einfach so auf und davon.“

Wir schwiegen, sahen den ziehenden Wolken nach und lauschten dem leisen Wellenschlagen des Wassers an die Uferböschung. Die ersten Vögel zwitscherten ihre Frühlingslieder. Ich dachte nach, wie oft er doch verloren in die Wolken guckte und das machte mich sehr, sehr traurig. Auch das, was er gerade gesagt hatte, war voller Schmerz. Ich fröstelte. Innerlich, wie äußerlich. Der grasbedeckte Boden war von der Frühlingssonne noch nicht genügend aufgeheizt worden, dass man hätte lange auf ihm verweilen könnte.

„Du hast recht. Der Himmel ist immer gleich. Er verbindet uns, obwohl wir aus total verschiedenen Welten kommen“, philosophierte ich laienhaft. „Guck mal, da oben gehen schon die ersten Blüten auf!“

Tatsächlich wandte weit oben in den Zweigen vereinzelte Knopsen sich der Sonne zu und hatten sich bereits geöffnet.

Konaha sah wirklich wunderbar aus, wenn die rosa-weiße Blütenpracht sich entfaltete. Früher hatte ich mich stets gefragt, was an solch blühenden Obstbäumen so besonders wäre. Immerhin gab es das im Erd-Reich auch, aber so etwas wie dieses Schauspiel hier, musste man mit eigenen Augen gesehen haben. Es war mit nichts auf der Welt zu vergleichen.

„Komm mal her!“

Ein ausgestreckter Arm lud mich ein. Fingerspitzen suchten nach meiner Hand. Ich rollte mich hinüber in seine Umarmung, vergrub mein Gesicht in seiner grauen Weste. Es war das allererste Mal, dass wir in der Öffentlichkeit unsere Distanz überwanden und uns zuwandten. So eng waren wir uns noch nie außerhalb der vier Wände gekommen. Außer vielleicht, als er mich damals an den Händen über den Fluss hinüber geführt hatte. Aber das war eine komplett andere Situation.

„Ich schulde dir noch einen Lebenslauf. Wo soll ich anfangen?“, flüsterte er in meine Haar hinein, durch die seine Finger strichen.

Also fing man doch am einfachsten ganz vorne an. Dass es daheim sicherlich eine perfekte und glückliche Familie gewesen wäre, wenn seine Mutter ihn nicht bereits im Wochenbett verlassen hätte, und so sollte er das einzige Kind der Familie bleiben. Doch seinen Namen hatte er von ihr bekommen, weil er schon als Baby mit ziemlich vielen Haaren auf die Welt kam, die in alle Richtungen stünden. Sie hätte sich sehr gefreut und gesagt, so ein Junge könnte nur „Kakashi“ heißen. Alles andere ginge gar nicht. Überhaupt sei sie eine immer gutgelaunte Frau gewesen. Das wüsste er aber nur von seinem Vater, der immer streng, aber auch genauso fürsorglich gewesen wäre. Sein Vater war ein erfolgreicher und pflichtbewusster Jonin, den er immer als Vorbild gesehen und heißgeliebt hatte. Aber im Schatten von solch einem Vater zu stehen, hatte auch Nachteile. Kakashi erzählte, er selbst gehörte schon immer zu der Sorte: Übertalentiert, aber faul. Und weil alle im Dorf Shinobi wurden, wurde er auch Shinobi. Da gab es praktisch gar keine Alternativen. Eine logische Berufswahl aus Tradition heraus. Er brauchte nie viel trainieren, da ihm das Talent schon in die Wiege gelegt worden war. So war er den anderen Kindern immer einen Schritt voraus. Es war schwer, mit diesem Hintergrund Anschluss bei Gleichaltrigen zu finden. Sie sahen zu ihm auf, weil er Sakumos Sohn war und tolle Fähigkeiten hatte, aber als eigenständige Persönlichkeit sah man ihn nicht. Das wäre aber auch so eine Feuer-Reich-Tradition: Es zählte immer die Gruppe und das Wohl aller an sich, nicht die Probleme des Einzelnen. Kurzum, er legte sich unbewusst eine gewisse Arroganz zu, weil man grundsätzlich immer an der Spitze der Ergebnisliste stand. So stieg man auch schnell und mühelos der Shinobi-Karriereleiter nach oben auf. Ein beispielloser Weg, den kaum ein jemand anderes vollbracht hätte.

Schlagartig veränderte sich dann alles, als sein Vater seine Pflicht verletzte und lieber eine Mission in den Sand setzte, als seine Teamkameraden zu verlieren. Im ganzen Dorfe kippte die Stimmung. Selbst engste Vertraute zeigten mit dem Finger auf ihn, bis er eines nachts seinem Leben ein Ende setzte.

„Das Bild vergesse ich niemals. Das ganze Wohnzimmer war voller Blut. Eine riesige Blutlache. Und es war eine Gewitter draußen. Immer wieder zuckten die Blitze am Nachthimmel, dass das Licht so unheimlich flackerte. Und mein Vater lag in der Mitte zusammengekrümmt. Dabei sah er so friedlich aus. Kurz darauf wurde er abgeholt. Ich hatte noch mitbekommen, wie sie diskutierten, ob er nun einen Grabstein bekommt oder nicht. Makaber, oder? Die Bude durfte ICH natürlich putzen. Allein. Da war ich gerade mal acht Jahre alt. Danach bin ich irgendwie total abgedreht.“

Die Geschichte war so traurig und dürfte für ein Menschenleben genügen, doch wenn ich dachte, das wäre schon alles, so hatte ich mich getäuscht. Das war erst das Vorwort. Schwarz ist gar keine Farbe, sondern ein lichtleerer Raum. Doch wäre Schwarz eine Farbe, so hätte Kakashis Schwarzton noch unzählige Farbnuancen dunkler inne. Schwärzer als Schwarz. Ich bin nicht nur ein sprunghafter, flippiger Mensch, sondern auch nahe am Wasser gebaut, wenn ich traurige Dinge hörte oder sah. Aber Kakashi störte sich nicht daran, als ich stumm seine Weste vollheulte und ihn total nass machte. Und so erfuhr ich noch ganz viel. Ich lernte Minato, Obito und Rin kennen und was ein Sharingan ist und was man damit macht.

„Ich wollte nicht so sein wie mein Vater, und hab alle nur genervt mit meinem Pflichtbewusstsein. Ich hab nie gemerkt, wie Minato sich meinetwegen Sorgen gemacht hatte. Oder das Obito mir immer seine Sichtweise der Dinge klarmachen wollte. Oder Rin immer stets bemüht war, dass Obito und ich gut auskamen. Es hatte mich noch nicht einmal interessiert, als sie sagte, wie sehr sie mich liebte. Mal ehrlich, was sollte sie mit mir anfangen? Mit mir, der immer nur Fehlentscheidungen traf, nie die Verantwortung übernahm und keine Antennen für menschliche Gefühle hatte. Bei allem, was ich angefangen hatte, habe ich zum Schluss versagt. Obito wurde unter dem Stein begraben, weil ich zu starrsinnig auf das Missionsziel gepocht hatte und mich dafür lieber mit ihm stritt. Rin ist gestorben, weil ich trotz meiner Perfektion sie nicht beschützen konnte. Sie ist mir einfach ins Chidori reingesprungen... Einfach so, um das Dorf zu schützen. Obito hatte es gesehen, aber das wusste ich damals gar nicht. Ich hatte viele Jahre geglaubt, er wäre tot. Wir alle hatten das geglaubt. Stattdessen taucht er einfach als Verbündeter von Madara auf und lässt den Kyuubi auf Konoha frei. Aus Liebeskummer und Frust auf mich. Das ist allein meine Schuld. Meine Unfähigkeit und Arroganz hat Konoha zerstört. Nach Rins Tod bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Minato nahm mich bei den ANBU auf, weil er dachte, es würde mir helfen, wenn ich näher an seiner Seite wäre. Aber das hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Zum Schluss war ich wohl der meist gehasste Mensch im ganzen Dorf. Ich sprach mit niemanden mehr, tötete auf den Missionen alles grundlos, was mir in den Weg kam, und überlegte, ob ich nicht meinen Freunden folgen sollte. Als Minato und Kushina bei dem Angriff ums Leben kamen, hatte ich tatsächlich überlegt, mich der ANBU-Ne anzuschließen. Das Sterben geht da viel schneller.“

Aber nach rund zehn Jahren kam alles anders. Der Dritte Hokage entließ ihn aus der ANBU und drückte ihm den Ausbilderposten aufs Auge. Das war so ziemlich das Letzte, was er sich hatte vorstellen können, den Babysitter für eine Handvoll Bälger zu spielen. Erst die dritte Teamkonstellation sollte ein Umdenken bringen.

Was sollte man dazu noch sagen? Da konnte man nichts mehr zu sagen. So etwas hatte ich nicht erwartet. Ich war einfach nur schockiert. Was machte man mit so einem depressivem Trümmerhaufen neben einem? War das derselbe Kakashi in der Geschichte, der mich hier eben schützend im Arm hielt und mir zärtlich mit seinen Fingerspitzen den Rücken kraulte? Ich konnte es beim besten Willen nicht glauben. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Alles kreiste wild vor sich her, wie auf einer Achterbahn. Aber allmählich kapierte ich, was er mir damals mitteilen wollte, als er meinte, er wäre nicht beziehungsfähig.

„Tut mir leid, Nina-chan. Aber genau das, was du an unserer Berufsgilde so hasst, verkörpere ich par excellence mit Auszeichung.“

Ich wollte so viele Fragen fragen, stellte aber keine einzige. Shinobis sind bezahlte Auftragskiller. Das war mir schon immer bewusst. Doch mein Fang war ein eiskalter Massenmörder mit einer hohen pro Kopf Stückzahl. Das war krass.

„Wenn du jetzt gehst, verstehe ich das sogar und ...“

Da wurde ich sauer. Ich wurde so wütend, dass ich ihn einfach ins Wort fiel, hochschnellte und mit den Fäusten auf ihn eintrommelte. Tränen standen mir in den Augen.

„Hör auf damit! So bist du überhaupt nicht. So einen Kakashi voller Selbstzweifel kenne ich gar nicht. Und so einen will ich auch gar nicht kennen. Ich will den haben, der sich einfach so kackfrech in meiner Wohnung einnistet, mein billiges Leben auf den Kopf stellt und den ich in mein Herz gelassen habe. Und da bleibst du auch. Kapiert?!“

Die letzten Worte hatte ich richtig gebrüllt. Aus vollem Hals. In der Sekunde wurde mir erst so richtig klar, was ich da gerade ausgesprochen hatte und was ich überhaupt für ihn fühlte. Hatte ich zuvor meine Zweifel gehabt, so war ich mir nun sicher. Kakashi hatte meine trommelnden Fäuste behutsam aufgefangen, sich ebenfalls aufgerappelt und sah mich doch mit einer gewissen Fassungslosigkeit an. So eine Antwort hatte er wohl nicht erwartet. Gesten bringen mehr als zehntausend Worte. Ich wollte ihn einfach nur noch festhalten. Also tat ich es, vergrub mein Gesicht in seiner Kleidung und lauschte seinem Herzschlag. Schnell und aufgeregt. Ich spürte seine Arme, die sich langsam und unsicher um mich legten. Eine halbe Ewigkeit blieben wir wohl so.

Wir sind eins.

29 – Der Tag, an dem Hanami war

Nachdem ich an Kakashis Geschichte in Auszügen teilgehabt haben durfte, hatten wir trotz der gekippten Stimmung unseren Spaziergang fortgesetzt. Es war ein idyllischer Weg durch naturbelassene Winkel Konohas, die ich wohl selbst niemals allein entdeckt hätte. Es ging durch malerische Wiesen und Felder und über kleine Waldpfade an Bächen entlang bis ich wieder aus der Ferne den Backsteinwohnklotz sehen konnte, der meinen Hausrat und mein Leben beherbergt. Viel hatten wir unterwegs nicht geredet, denn mein Kopf sprudelte über vor lauter Informationen. Ja, ich würde sogar von mir selber behaupten, dass ich total verstört war und nur kreisende Gedanken hatte, die mich immer mehr aus der Bahn brachten. Da war mir der Smalltalk ganz recht. Er lenkte mich etwas ab und brachte unserer Miteinander wieder ins Gleichgewicht. Als wir über einen schmalen Holzsteg gingen, schaute ich auf den klaren Rinnsal unter mir. Winzige Fischlein versuchten sich zwischen den Steinen gegen die Wasserströmung zu behaupten.

„Bist du viel 'rum gekommen auf deinen Missionen?“

„Überall und nirgends. Ich glaube, es gibt kaum eine Gegend, die ich noch nicht durchquert habe.“

„Wenn du mit den Wolken mitfliegen könntest, wohin würden sie dich auf der Welt tragen?“

„Das ist eine gute Frage“, antwortete Kakashi und überlegte kurz. „Es gibt wirklich schöne Ecken auf der Welt, aber letztendlich war ich immer wieder froh, wenn ich zuhause war. Und kaum war ich zuhause, war ich am liebsten schon wieder unterwegs. Schräg, oder?“

„Ein ruheloser Geist“, schlussfolgerte ich. „Kann man sich immer gar nicht so recht vorstellen, wenn man dich immer so durch die Gegend schleichen sieht.“

„Sieht das echt so schlimm aus?“

Wir beide lachten kurz auf über unsere hobbypsychologischen Erkenntnisse und setzen unseren Gang langsam fort. Nur noch ein paar Meter am Fluss entlang. Vorbei an ein paar alten knorrigen Trauerweiden, deren Äste wie grüne Wollfäden im Wasser angelten und eine grünes Kuppeldach über uns aufspannten. Wie ein großes Zelt. Dort blieb er plötzlich stehen und sah mich prüfend an, als würde er den Versuch unternehmen, meine Gedanken zu lesen. Auch wenn er so gefasst und ruhig wirkte, kannte ich ihn doch nun schon gut genug um zu wissen, dass ihm etwas wichtiges auf der Zunge lag. Das spuckte er dann auch schneller aus als erwartet.

„Warst du hier schon mal auf dem Hanami unterwegs?“

„Naja, ich habe mal mit Yuuki eine Runde durch die Parks gedreht, aber in diese ganzen geschlossenen Gesellschaften kommt man ja nicht so richtig rein.“

Oben Rosa, unten Blau. So muss man sich Hanami vorstellen. Salopp übersetzte ich es für die Heimat immer mit „Blumen begaffen“. Oben, da waren die rosa Blüten der Kirschbäume, die wie dicke Wattewolken über den Köpfen ein luftiges Gewölbe bildeten. Dazwischen säumten unzählige Lampions die Hauptwege. Unter den Bäumen saß man auf blauen Plastikplanen oder seltener auf bunten Decken. Die Schuhe wurden aber natürlich höflichst vor der Plane ausgezogen und standen ordentlich aufgereiht davor. Dann hockte man da mit Familie und Freundeskreis, picknickte einen Haufen Fingerfood und konservierte sich selbst mit reichlich Alkohol, bis man ebenso blau wie die Plastikplane war. Hinterher war man so dicht, dass man sich unter den Bäumen in seine Plastikplane einrollte und seinen Rausch ausschlief. Das Spektakel konnte sich über zwei oder gar drei Tage hinziehen. Das war die Zeit, in der in Konoha nichts lief. Fast alle Geschäfte und Betriebe hatten geschlossen. Jeder, der es möglich machen konnte, hatte Urlaub. Es war ein ganz besonderes Fest, denn es kündigte den Frühling an, aber einsam als Single mit Kind war es doch recht langweilig. Man stand dort wie bestellt und nicht abgeholt. Es machte sicherlich nur in einer größeren Gruppe in guter Gesellschaft so richtig Spaß. Allerdings war es fast unmöglich, als Außenstehender in solch einer Gruppe Anschluss zu fanden.

„Magst du dann vielleicht mir ein wenig Gesellschaft leisten?“

Wer? Was? Ich? Verdattert schaute ich ihn an. War das eben eine richtig echte Einladung zu einer Verabredung in aller Öffentlichkeit? Mit solch einem Kurswechsel hatte ich nicht gerechnet. Und schon gar nicht nach den Dingen, die gerade noch vor nicht einmal einer knappen Stunde geschehen waren. Ich konnte nur stumm nickten und mich voller Überrumpelung zuerst gar nicht richtig freuen, weil mein Gehirn die tiefere Ebene hinter diesem Satz noch nicht begriffen hatte. Trotzdem musste ich nach außen hin gestrahlt haben wie eine Leuchtrakete, denn Kakashi strahlte nun ebenso zurück. Voller Erleichterung, nach der erzählten Lebensgeschichte und meiner nicht kompatiblen inneren Einstellung gegenüber Ninjas keinen Korb bekommen zu haben. Ich mochte seine Augen, wenn sie so fröhlich leuchteten. Es war, als könnte einem in dem Moment nichts passieren und alles wäre unverrückbar in Ordnung. Nein, ich konnte es mir nicht im mindesten vorstellen, das diese Augen mal tot und kalt geschaut haben könnten. Die Situation damals in der Küche verdrängte ich einfach in den hintersten Hirnwinkel. Zufrieden nahmen wir unsere Spaziergang wieder auf. Kurze darauf trennten sich unsere Wege, nachdem ich vor meiner Haustür verabschiedet worden war. So wie immer, wenn wir auf offener Straße standen. Ein respektvoller Abstand zwischen uns und nur kurz eine Hand zum Abschied erhoben. Eher angedeutet, als ernsthaft gegrüßt. Aber das Strahlen in den Augen verriet alles. Hatte ich schon mal erwähnt, wie sehr ich diese dunklen, blitzenden Augen liebte?
 

Nach der Freude über die Einladung kam der Stress. Es gab kein festes Datum für Hanami, sondern fachkundige Botaniker und Wetterexperten beobachteten tagtäglich die Knospen und gaben Prognosen ab, wann sie sich wohl zu ihrer vollen Pracht entfalten würden. Alles in allem könnte man schon in zwei Wochen mit dem rosa Blütentraum rechnen. Zwei Wochen und die große Frage: Was zum Teufel ziehe ich an? Klar hatte ich die obligatorische Yukata dafür im Schrank hängen, aber ich hatte mich nie damit auseinandergesetzt, wie man sie wirklich standesgemäß trug, wie man Stoffmuster auswählte und sie mit dem Obi kombinierte. Blankes Entsetzen machte sich in mir breit. Hallo? Ich ging doch nicht wie eine Touristin zum Fest und stolperte in jegliche Fettnäpfchen, sondern ich stand da neben Hokage-sama. Nach meinem Ausflug nach Otafuku wollte ich ihm nicht schon wieder indirekt Ärger bereiten, nur weil ich herumrannte wie eine Mischung aus Lumpensammler und Silvesterrakete und dabei ein Benehmen an den Tag legte, wie frisch aus der Anstalt entkommen. Nein, diesmal wollte ich einen besseren Eindruck hinterlassen. Zumindest hatte ich ernste Absichten, das einzuhalten.

Ich blickte verzweifelt in den Spiegel. Mein Spiegelbild blickte müde zurück. Dunkle, lockige Haare standen mir wie so üblich in alle Richtungen ab. Maaannn, diese Haare trieben einen doch echt in den Wahnsinn. Die mussten an Hanami irgendwie zu bändigen sein. Eigentlich müsste ich Kakashis Vornamen tragen, denn ich bildete mir ein, wie eine Vogelscheuche auszusehen. Plötzlich fühlte ich mich wieder elendig. Ich sah aus wie ein zerrupfter Spatz. Mit so einem Spatz hatte man höchstens Mitleid, aber so einen hatten man nicht unbedingt lieb oder nahm in auf irgendwelche Feste mit. Wie so üblich kaute ich auf meiner Unterlippe, hing Selbstzweifeln nach und nahm mir fest vor, Kakashi zu fragen, wieso seine Wahl ausgerechnet auf mich gefallen war und nicht auf eine von tausend anderen Frauen. An der Optik konnte es auf jeden Fall nicht liegen. Und so sprunghaft und kodderschnäuzig wie ich war, gab es da im Grunde auch nicht viel, was man ertragen konnte.

Zwei Kaffeetassen später hatte ich mich dann doch aufgerafft, meinen Trübsal ad acta zu legen und in der Stadt zu bummeln. Ich klapperte die Kaufhäuser auf und schaute mir das aktuelle Angebot an Yukatas an. Man merkte tatsächlich, dass man dieses Gewand zu einem Feste wie Hanami trug, denn die Auswahl in den einschlägigen Geschäften war überwältigend. Größer als sonst. Erstaunt war ich von den vielen Farbmustern. Ein Gewand bunter als das andere. Zumindest für die Damen. Bei den Herren gab es sehr gedeckte Musterungen und Farbgestaltungen. Zufrieden stellte ich fest, dass man auch für wenig Geld einen qualitativ guten Baumwollstoff mit hübschen Mustern erwerben konnte. Schlagartig bekam ich wieder gute Laune. Ich umgab mich mit unzähligen Stoffen, die ich voller Freude prüfte, und besah mir die vielen schönen Motive. Da gab es nicht nur großrahmige Blumenabbildungen, sondern auch viele trickreiche Grafiken, die erst aus der Nähe ihre kleinen Details preisgaben. Da schwammen Kois, verwoben sich Wellen oder schlugen Fächer auf. Ich vergaß die Zeit. So sehr war ich beschäftigt. Eine Handvoll Yukata gefiel mir sofort, und ich suchte Obi nach meinem Geschmack dazu aus. Dann beschloss ich, mich recht dumm zustellen und eine Verkäuferin nach fachmännischem Rat auszuquetschen. Zum Schluss hatte ich alles beisammen, was ich brauchte. Von der Yukata über die passende Yukata-Unterwäsche bis hin zu Schuhen. Mal ehrlich, ich wusste bis dato gar nicht, dass es sogar Unterwäsche für Yutakas gab. Die sah aus wie die Yukata selber, aber in sehr hellen Uni-Farben. Nervös betrachtete ich mich in der Umkleidekabine im Spiegel. Die Verkäuferin hatte sich nach allen Kräften bemüht. Ich sah wirklich hübsch aus. Selbst meine übergewichtigen Kilos versteckten sich perfekt. Aber diese Haare … Wie ein Afro. Ein dunkelhaariger Clown in einem Blumenumhang. Ich würde dringend einen Frisör konsultieren müssen. Von mir aus sollte er ruhig tonnenweise Haarspray verwenden. Hauptsache, er machte aus diesen Haaren so etwas wie ein ansehnliche Frisur.

Mit Sack und Pack stand ich dann auf der Straße und setzte meine Gedankengänge fort. Hmmm, war es nicht üblich, dass man beim Fest picknickte? Ein Bento wäre doch gar nicht mal so verkehrt. Ich zückte mein Handy und fragte nach, wie es um die Verköstigung bestellt wäre und bekam als Antwort, dass in der kleine Runde, jeder etwas mitbringen würde. Und ich solle mir auf gar keine Fall solch einen Stress machen. Ha, keinen Stress machen. Ich war schon mittendrin! Also kaufte ich schon mal ein paar Lebensmittel ein, die ich nicht bei uns im Viertel bekommen würde, und machte mich wie ein Packesel auf den Weg nach Hause. Dort wurde ich von einem missmutigen Kind empfangen. Wo ich denn solange gewesen wäre, wurde ich gefragt. Oh Schande! Ich hatte total die Zeit verschwitzt und hatte Yuuki hier schon gute zwei Stunden warten lassen. Man gut, dass man sich auf ihn verlassen konnte und er für sein Alter schon sehr vernünftig war. Artig hatte er daheim auf mich gewartet, sich viele Sorgen gemacht und sich dann total ausgehungert über den Kühlschrank hergemacht. Die Krümmelspuren und das dreckige Geschirr waren stumme Zeugen. Ich seufzte, schallte mich selbst und lud in zur Entschädigung zum Fastfood-Abendessen ein. Das war gar nicht so mein Ding, aber das von Yuuki. Und somit waren wir wieder versöhnt.
 

Der Frühling brach wie ein Paukenschlag über uns herein. Nur eine gute Woche später kam über Nacht der langersehnte Temperaturwechsel zu uns. Wohlige Wärme strömte am frühen Morgen durch die geöffneten Fenster, als ich nach dem Aufstehen einmal kräftig die Wohnung durchlüftete. Meine Lungenflügel saugten die frische Luft wie ein Schwamm auf. Minutenlang stand ich im offenen Fenster, genoss mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut und spürte eine angenehme Brise in den Haarsträhnen. Der Himmel war Azurblau. Die Knospen an den Bäumen waren schlagartig explodiert. Ganz Konoha versank im zarten Rosa. Es war zum Heulen schön.

Ich hätte in der Vergangenheit dem Feste mehr Aufmerksamkeit schenken sollen: Wir hatten uns erst zum Mittag verabredet, doch als ich noch einige Zutaten einkaufen und dann weiter zum Frisör ging, waren die besten Plätze in den Parks wohl schon belegt. Jeder freie Platz unter den Kirschbäumen war bereits mit blauer Plane zugepflastert. Unzählige Menschen bevölkerten schon ihre Lager, aßen fröhlich beisammen und kippten um einiges mehr an Sake hinunter. Die Stadt war ein quirliger Ameisenhaufen. Es mbrachte jetzt schon gute Laune, obgleich ich ein unglaubliches Kribbeln im Bauch hatte, als hätte ich tonnenweise Brausepulver verschlungen. Ich machte mir viel zu viele Gedanken. Ob mein Essen schmecken würde, denn ich hatte mir gedacht, mal etwas aus meiner Heimat zuzubreiten. Ob meine Kleidung nicht etwas zu übertrieben war. Ob Kakashi mich so mögen würden. Und so ließ sich die Sorgenliste unendlich fortsetzen. Wie ein Fuchs auf Tollwut tigerte ich in meiner Wohnung herum, weil die Stunden bis zu unserem Treffen einfach nicht verstreichen wollten. Doch dann war es irgendwann soweit. Ich schlüpfte in meine Kleidung und warf nochmal einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ein ungewohntes Ich blickte zurück. Der Frisör hatte ganze Arbeit geleistet, indem er mir mit wenigen geschickten Handgriffen einen Zopf geflochten und das Ende hochgesteckt hatte. Nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, solche Zottelsträhnen in solch eine Form bringen zu können. Es sollte nun nicht heißen, ich wäre zu Geschäftsterminen wie ein Waldschrat aufgeschlagen. Aber ich hatte mich immer mit einem offenen Zopf zufrieden gegeben, weil ich für alle anderen Frisurkniffe kein Händchen hatte. Ein wenig dezente Kosmetik gab meinem Gesicht eine frische Farbe. Von Tuschkastenfarben um die Augen herum war ich noch nie ein großer Fan. Darum ließ ich es einfach weg. Immerhin wollte ich nicht wie verkleidet aussehen. Im Grunde sah ich aus wie immer, doch die Hochsteckfrisur machte einen komplett neuen Look, an den sogar ich mich selbst gewöhnen musste. Meine Yukata hatte einen Untergrund aus schwarzen und weißen Blättern. Trotz des Kontrast sehr unauffällig. Darauf hoben sich auffällige rote Kamelien ab. Dazu trug ich einen roten Obi. Das mag zwar sehr kitschig klingen, sah aber ganz und gar nicht so aus, sondern sehr harmonisch und ausgewogen. Insgesamt konnte man äußerst zufrieden sein, doch ich wurde trotzdem unsicher. Als ich aus meinem Schlafzimmer trat, um mir Bento und Kind zu schnappen, wurde ich erstaunt beäugt.

„Sieht schön aus, Mama!“, meinte Yuuki mampfend, weil er sich noch heimlich etwas aus der Bentobox gekrallt hatte.

Puh, danke! Das war doch schon mal ein guter Anfang.

Wir gingen los. Immer am Flussufer entlang. Der Platz wäre ganz einfach zu finden, hatte Kakashi gemeint. Immer am Flussufer entlang, wo wir vor einigen Tagen schon gemeinsam Spazieren waren. Die Anzahl an Menschen hatte sich nochmal gesteigert. Selbst der Weg zwischen Bäumen war bis an dessen Seitenränder in Beschlag genommen worden. Es war faszinierend, dass so viele Menschen nur so wenig Geräusche machten. Die Stimmung war ausgelassen, aber Geschrei oder Gepöbel war zu dieser Tageszeit noch nicht zu vernehmen. Eher genoss man den freien Tag und ließ die Seele baumeln. Der Geruch von Essen und Alkohol lag in der Luft. Erleichtert stellte ich fest, dass ich mit der Kleiderwahl genau richtig lag und mich die Verkäuferin perfekt beraten hatte. Meine Selbstsicherheit kehrte zurück.

Yuuki hatte sich zwischendurch einfach abgeseilt. In unserem Viertel wohnten viele Kinder. Und von Zweien hatte er sogar erfahren, dass sie ab April mit ihm in derselben Akademieklasse sein würden. Seitdem war er mit den beiden anderen Jungs stets unterwegs und kehrten erst am Abend zum Essen heim. Ich war froh, dass er Freunde gefunden hatte, denn im Kontorviertel war er doch immer etwas isoliert und seine dortigen Freunde wohnten in ganz anderen Ecken von Konoha. Andererseits bereitete es mir Bauchschmerzen, dass ich nicht wusste, wo sich mein Sohn aufhielt. In Konoha war es Usus, dass die Kinder den ganzen Tag allein durch die Stadt tobten. In meiner Heimat war es das nicht. Mir fehlte da nach wie vor das Vertrauen, meinem Kind so viel Freiheit zu geben. Wenn er in wenigen Tagen zur Akademie wechseln würde, würde er sogar manchmal tagelang in irgendwelchen Trainingscamps hocken und nicht nach Hause kommen. Das brachte mir selber wieder mehr Zeit für mich ein, doch solange war ich von Yuuki noch nie getrennt gewesen. Ich würde daran zu knabbern haben.
 

Die üblichen Verdächtigen fand ich dann tatsächlich weiter den Flusslauf hinauf. Das allseits bekannte Trio hatten sich einen Platz abseits der Massen und am Rande der Kirschbaumhaine gesucht. Gai saß neben seinem Rollstuhl und kramte in einem kleinen Pappkarton. Tenzô plünderte eine mickrige Bentobox. Ich war so froh, ihn nach so langer Zeit einmal wieder zusehen. Tenzô war meist außerhalb Konohas auf Mission, weil er einen Dauerauftrag zu erfüllen hatte. Er müsste irgendjemanden permanent observieren. Am besten auf Schritt und Tritt. Wenn er denn mal wieder im Dorfe war, dann delegierte er die ANBU-Einheit. Also noch so ein Arbeitsfeld, dass ihn gänzlich vereinnahmte und man ihn nie zu Gesicht bekam. Ihn selbst schien das aber nichts auszumachen, sein Leben pflichtbewusst dem Dorf zu opfern. Kakashi komplementierte das Dreieck, indem er dazwischen saß und gegenüber Gai so tat, als würde er zuhören, was er aber garantiert nicht so tat, wie Gai es sich wünschen würde. Ich musste grinsen, wie ich den gelangweilten Haufen dort sitzen sah. Irgendwie ein bisschen fehl platziert, weil sie dort so alleine und beinahe schon isoliert saßen. Es war ganz ungewohnt, sie nicht in der üblichen Shinobi-Uniform, sondern in Yukata zusehen. Besonders Tenzô wirkte ganz anders, weil man ohne sein Stirnband mit dem Wangenschutz mal viel mehr von seinem Gesicht sah als sonst. Da war ich doch mit meinem Erscheinen urplötzlich eine spannende Abwechselung zu der verschlafenen Sitzblockade. Wie auch immer, drehten sie sich alle Drei wie auf Kommando gleichzeitig zu mir um, als ich mich schlendernd näherte. Die Reaktionen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Gai rief fröhlich in seiner üblichen Art:

„Sei gegrüßt! Ich wusste gar nicht, dass wir eine Prinzessin eingeladen hatten!“

Ohje, hatte ich doch mit meinem Look übers Ziel hinausgeschossen? Tenzô grüßte ebenfalls, hatte aber nur Augen für das Bento in meinen Händen. Der musste wohl wieder irgendwo tagelang im Wald gehaust haben und war dementsprechend ausgehungert. Armer Kerl! Hoffentlich würde er vom kulinarischen Inhalt nicht enttäuscht werden, weil die Geschmacksspektren im Erd-Reich ganz anders verteilt waren als im Feuer-Reich. Aber da Kakashi bisher immer alles anstandslos aufgegessen hatte, was ich ihm vorgesetzt hatte, war ich guter Dinge, dass es den beiden anderen auch schmecken würde. Und Kakashi? Der starrte mich mit einem Rotschimmer an wie das achte Weltwunder. Das hätte der wohl auch noch länger bis in alle Ewigkeit getan, wenn Gai ihm nicht so überschwänglich in die Seite geboxt hätte. Es hätte nicht viel gefehlt und Kakashi hätte sich lang auf die Nase gelegt.

Ich setzte mich dazu und breitete meine Leckereien aus. Schon nach der ersten Runde war in meinem Becher schon kein Wasser mehr, sondern Sake und war doch recht erstaunt, wie viel davon mein Freund so wegtrinken konnte. Den traf man sehr selten mit Alkohol an und dann auch höchstens nur ein Glas lang. Es wurde eine sehr lustige Runde, denn Gais Pappkarton entpuppte sich als Fotobox, in der sich die letzten Erinnerungen befanden, die bei der Dorfzerstörung nicht vernichtet wurden. Allerdings waren sich die drei Herren nicht so recht einig, wann die Bilder geschossen worden waren. Und so diskutieren sie munter, teilweise auch genervt. Ich fand es total spannend, Kindheitsbilder von Kakashi zu sehen. Der stach auf den Klassenfotos sofort ins Auge. Egal, wo man den platziert hatte. Da Tenzô irgendwie nirgends auftauchte, erfuhr ich am Rande, dass man über dessen Herkunft leider gar nichts wüsste, da er einst als Säugling entführt wurde. Daher hatte er noch nicht einmal einen richtigen Namen. Nun leuchtete es mir ein, warum alle von Yamato sprachen, Kakashi ihn aber immer nur mit Tenzô ansprach. Kennengelernt hatten sich die beiden aber, da hieß Tenzô noch Kinoe. Tenzô bekam also seine Namen immer nach Lebensabschnitten geordnet. Aber „Yamato“ würde er am Besten finden, damit man keinen Brücken zu seinen ANBU-Missionen schlagen konnte. Verwirrend, aber mich wunderte bei dem Ninja-Volk eh nichts mehr.

Der Nachmittag ging vorbei, die Bentobox wurde leerer und die Erinnerungen und ihre Geschichten immer länger, wobei man ergänzen musste, dass hauptsächlich Gai erzählte. Voller Elan, Inbrunst und Ausschmückung. Zwischendurch tauchte auch mal Yuuki auf, gaben beiläufig an, wo er sich mit wem die Zeit vertrieb und war dann auch schon wieder im Getümmel verschwunden. Wenigstens hatte ich ihm noch eine Uhrzeit mit auf den Weg geben können, wann er hätte zuhause zu sein. Gai und Tenzô waren sich definitiv einig, falls ich Kakashi doch mal in den Wind schießen sollte, dass ich niemals den Kontakt zu ihnen abbrechen dürfte. Dann bekämen sie immer etwas Gutes in den Magen. Dafür bekamen die beiden solch eiskalte, todbringende Blicke von Kakashi, dass die beiden sofort verstummten und ein ganze anderes Thema anschlugen. Ich konnte Kakashis Reaktionen nachvollziehen, auch wenn sie krass ausfiel. Alle Menschen, die er je gemocht oder geliebt hatte, waren tot. Die, die er beschützen wollte, hatte er vor seinen Augen verloren. Und es bereitete ihm anscheinend immense Schwierigkeiten, damit umzugehen. Damals, wie heute.

Es dämmerte schon und die Lampions entzündeten sich. Es sah atemberaubend schön aus, wie der Laternenschein die Blütenzweige zart beschien. Doch es nutzte nichts. Für unsere Picknickparty wurde es Zeit, sie zu beenden. Tenzô musste sich wieder auf den Weg zu seiner Dauermission machen. Zumindest war er selbst davon absolut überzeugt und auch nicht davon abzubringen, obgleich Kakashi meinte, es täte wirklich nicht Not und er sollte lieber nach Hause ins Bett gehen. Auch ich hatte so meine unausgesprochenen Zweifel. Mit dem Alkoholpegel im Blut auf Mission? Viel Erfolg, Tenzô! Verwundert sah ich ihm nach. Gai wollte unbedingt allein nach Hause. Er tat wie der blühende Frühling, doch man sah ihm an der Nasenspitze an, dass durch das lange Sitzen sein Knie höllisch schmerzen musste. Außerdem blieb er schon beim Anrollen mit seinem Rollstuhl an der ersten Baumwurzel auf dem Weg hoffnungslos hängen. Kakashi seufzt und flüsterte mir zu, dass er seinem Kumpanen wohl nur mit einer Liste indirekte Hilfe anbieten könnte.

„Ich begleite Sherenina heim und komme nochmal bei dir vorbei, ok?“

„Wer zuerst bei mir ist? Das ist doch mal ein Wettkampf. Ich nehme die Herausforderung an, Rivale!“

Mr Sporty-Greens Zahnpastastrahlen blendete heller als jeder Kometenschweif. Man Gai, hast du soviel gesoffen, dass du Kakashis Finte nicht durchschaust. Und schon kämpfte er sich mit seinem Rollstuhl über den ungepflasterten Weg. Nun waren nur noch Kakashi und ich an unserem Platz, den wir schnell geräumt hatten. Etwas Wind kam auf. Die Lampions schaukelten sachte. Die Zweige der Bäume wogen sich. Einzelne Blütenblätter schneiten wie Schneeflocken hernieder. Man konnte ihren Weg bis zur Erde herab mit den Augen verfolgen und träumen. Kakashi zupfte mir eine Blatt aus den Haaren.

„Du hast da auch zwei ...“, meinte ich und befreite sie ebenfalls aus den grauen, fast schon weißen Strähnen. „Das war eine schöne Idee. Es war ein wunderschöner Tag.“

Ja, das war es wirklich. Ich war rund um zufrieden. Zwar würde ich stets sagen können, ich wäre in Konoha heimisch, doch so richtig dazugehörig fühlte ich mich zuvor nie. Ab heute hatte sich dieses Gefühl gewandelt.

„Ein wunderschöner Tag mit einer wunderschönen Begleitung“, wurde ich lächelnd ergänzt.

„Findest du?“

Verlegen strich ich mir den Stoff der Yukata glatt und wurde rot. Es gab so gut wie nie Komplimente, weil es nicht seine Art war. Doch wenn es eines gab, dann war es echt und von ganzem Herzen.

„Ja, finde ich.“

30 – Der Tag, an dem ich einen Baum bestieg

Anfang April tobte ein Wirbelwind durch mein Leben und blies zukünftig auf lange Zeit viele Dinge durcheinander. Zuerst trat der kleine Sturm am Einschulungstag auf der Akademie auf, und ich war neugierig wie ein ganzer Kindergarten, diesen Sturm endlich näher kennenlernen zu dürfen.

Die Einschulung an sich war mehr als unspektakulär. Grundsätzlich ging es so vonstatten, dass die Neuankömmlinge sich pünktlich um acht Uhr in der Früh draußen auf dem Schulhof zu versammeln hätten. Die Wetterlage wurde bei diesem Antrittstermin außer Acht gelassen. Wer ein ordentlicher Shinobi werden wollte, der könnte schon mal üben, auch im strömenden Regen und Windstärke 10 Haltung zu bewahren. Doch meist hatte der Wettergott ein Einsehen und es war trocken und mild. Wenn dort alle mehr oder minder in Reih' und Glied aufgestellt waren, sprach Hokage-sama ein paar Worte an die Bande und verlas dann die Klassenlisten. Anwesend waren auch Iruka-Sensei in seiner Funktion als Schulleiter und die beiden zukünftigen Klassenlehrer. Eltern waren gewöhnlich nicht zugegen. Es war bei Konohas Elternschaft Gang und Gäbe, Kind und Kegel zur üblichen Weckzeit aus dem Haus zu jagen und sich dann selbst auf zur Arbeitsstelle zu machen. Waren die Kinder schon größer, dann hatten sie sich selbst um das Aufstehen zu kümmern. Ein Großteil der Eltern war, wie hätte es auch anders sein können, Shinobis und daher häufiger mal auf Achse. Somit war es hier im Dorfe völlig normal, sein Kind nicht zu Terminen begleiten und es darüber hinaus länger allein zu lassen. Und die daran gewöhnten Kinder empfanden es teilweise eh als recht peinlich, wenn Eltern mit anwesend waren. Man wäre doch schon ach so erwachsen und bräuchte keine Begleitung. Bei mir erzeugte das Ganze nur ein Kopfschütteln. Anderes Land, andere Sitten.

An jenem Morgen jedenfalls grellte die Sonne wie ein Atompilz vom Himmel, dass man fürchten müsste, sich bereits am späten Vormittag schon gänzlich einen Sonnenstich einzufangen. Selbst Kakashi, der sonst so tat als würde ihm Wind und Wetter keineswegs tangieren, hatte seinen roten Hut aufgrund der Hitze nicht auf dem Haupte ruhen, sondern ihn nach hinten geschoben, so dass er zwischen den Schulterblättern baumelte. Andernfalls wäre er wohl unter dem Hut vor Hitze zerlaufen. Den Mantel hatte er gar nicht erst mitgenommen. Es hätte formell auch gereicht, er wäre nur in seiner üblichen Dienstkleidung ohne Hut aufgekreuzt, doch zu so einem besonderen Tag, denn das war es für die Kinder, musste man schon ein wenig Etikette zeigen. Der Hut war halt einfach cool. Zumindest behauptete das Yuuki. Und Yuuki zuliebe wurde der Hut dann mitgenommen.

Da ich nun leider immer noch nicht zu jenen Eltern gehörte, die in Lohn und Brot standen, hatte ich es mir nicht nehmen lassen, mich an einen Teestand abseits des Schulgeländes zu tummeln und dem Ganzen aus der Ferne beizuwohnen. So fiel ich als Schaulustige gar nicht auf und wäre eher zufällig vorbeigekommen. Schlussendlich waren rund fünfzig Kinder siegreich aus den Qualifikationen hervorgegangen. Sie konnten nicht unterschiedlicher sein, als die Truppe, die dort erwartungsvoll auf dem Schulhof stand. Die einen hüpften hibbelige von einem Bein auf das andere. Andere waren wiederum total gelassen und hätten im Stehen einschlafen können. Ein Handvoll jener machte einen extrem übermotivierten, aber angespannten Eindruck. Und dann gab es noch so einen Anteil derer, die irgendwie mitmachen wollten, aber nicht so recht bei der Sache schienen. Kakashi hatte erwähnt, dass die Altersspanne bei der Quereinsteigerklasse diesmal größer wäre als sonst. Ganze fünf Jahre lagen zwischen dem jüngsten Kind und dem ältesten. Das würde eine schwierige Aufgabe für die Lehrer werden, da auch die Entwicklungsspannen wie Täler auseinander klafften und es auf den ersten Blick gar keine Verbindungsbrücken zwischen den einzelnen Schülerinnen und Schülern gäbe. Es war mir schleierhaft, warum er ausgerechnet diese Kinder erwählt hatte, wenn es doch so kompliziert wäre. Denn bestanden hatten noch gute drei Dutzend mehr, welche vielleicht handzahmer gewesen wären, doch leider nur die Absage aus dem Briefkasten fischen mussten.

„Betriebsgeheimnis!“, hatte ich da nur augenzwinkernd zu hören bekommen.

Auch war ich verwundert, weshalb Asa nicht wie ein gewöhnliches Kind auf der Akademie eingeschult worden war, sondern diesen umständlichen Einstieg bewerkstelligen musste. Das kam mir bei einem Zögling von Ninja-Eltern doch recht merkwürdig vor. Aber sicherlich gäbe es dafür einen ganz bestimmten Grund, und ich war neugierig genug, dass ich das noch herausfinden würde.

Ich wandte mich wieder dem Treiben auf dem Schulhof zu, obgleich meine volle Aufmerksamkeit doch stark abgelenkt wurde, denn ich ertappte mich selbst dabei, wie ich meist nur meinen Freund anstarrte, als wäre er eine unerreichbare Insel und ich wäre das Treibgut auf dem Meer, welches von der Strömung immer wieder abgetrieben wurde. In meinem Kopf ging es drunter und drüber. So was blödsinniges! Ich würde Kakashi doch schon in ein paar Stunden wiedersehen. Dass ich beruflich nichts zu tun und auch sonst keine ehrenvolle Aufgabe hatte, die meinen Tagesablauf ausfüllen würde, schlug mir sehr auf Stimmung. Nach dem Jobverlust redete mir die Langeweile ein, ich würde nun bald auch noch meine Familie verlieren, wenn sich nicht schleunigst etwas ändern würde. Verlustängste machten sich breit. Alle hätten nämlich etwas zu tun, nur ich nicht. Niemand bräuchten einen Herumsitzer und Langeweiler wie mich. Argh, die Langeweile nervte mich tierisch und setzte mir Dummheiten in den Gehörgang!

Zeit für einen Themenwechsel: Man konnte zwar wegen der Entfernung nicht verstehen, was dort auf dem Schulhof gesagt wurde, doch Yuuki strahlte wie Bolle, als wohl seine Name aufgerufen und er seiner Klasse zugeteilt wurde. Doch der Hauptgrund für meinen Beobachtungsposten am Teehaus war nicht Yuuki, obwohl er natürlich extrem wichtig war, sondern der besagte kleine Wirbelwind namens Asa.

Nach wie vor war das Thema „Asa“ total kompliziert. Am Besten sprach man das Thema überhaupt gar nicht in der Gegenwart meines Freundes an. Gesehen hatte ich Asa bisher nur für die wenigen Sekunden in der Wettkampfarena und auf Kakashis Arm. Aus meinem Freund war da nichts herauszuquetschen außer solch Kommentare wie „Die richtige Tochter von der falschen Frau.“ Und am liebsten würde er das Thema wohl komplett aus seinem Lebenslauf streichen, doch wenn Asas Name fiel, so leuchteten trotz alledem seine Augen. Wortlos voller Stolz. Zumindest wusste ich schon soviel, dass Asa zwei Jahre jünger als Yuuki war und ihre Mutter aus einem angrenzenden Nachbarland stammte. Diese hatte anscheinend nichts besseres zu tun, als die Tochter selten, dafür aber überaus spontan beim Vater abzuliefern, wenn es ihr danach beliebte, und häufig „nette“ Liebesbriefe in Bezug auf Unterhaltszahlungen zu schreiben. Es wären wohl auch so ziemlich die einzigen Textsammlungen von der Dame überhaupt, welche Kakashi erreichen würde. Wenn ihr Charakter wirklich so wäre wie beschrieben, dann war es mir total schleierhaft, wie sich Kakashis und ihr Weg sich jemals gekreuzt haben konnten. Da passte doch gar nichts zusammen, zumal ich nicht geschätzt hätte, dass Kakashi auf so eine dusselige Kuh jemals hereinfallen würde. In solch modernen Zeiten, in denen wir lebten, hatte ich sowieso gedacht, solche Schlammschlachten auf tiefstem Niveau um Kinder, Alimente und Sorgerecht gäbe es nur noch in billigen Fernsehseifenopern. Da hatte ich mich wohl stark getäuscht.

„Der allererste Hokage mit Krabbeldecke im Büro!“, hatte Gai nach der gefühlten dritten Flasche Sake intus an Hanami zum Besten gegeben und dabei einen knappen, aber derben Rüffel von Kakashi bekommen, das man zusammenzucken konnte. Zumindest zogen Tenzô und ich schnell im Geiste den Kopf ein. Bei Gai hingegen kam die Message nicht so recht an, sodass er volle Breitseite sein Fett wegbekam. Aber das war nichts ungewöhnliches, sondern total normal.

Nun aber sollten sich die Umstände komplett wenden, denn Asa ging ab heute mit Yuuki in ein und dieselbe Klasse. Und damit der tagtägliche Schulbesuch reibungslos abliefe, würde seine Tochter nun wohl dauerhaft in Konoha wohnen müssen. Es lief darauf hinaus, dass der Daueraufenthalt sich auf Kakashis Wohnung beziehen würde und nicht aufs Internat. Allerdings hegte da Kakashi schon so seine Zweifel, denn zum einen war er wenig daheim und zum anderen war seine Wohnung zu klein, um eine zweiköpfige Familie permanent zu beherbergen. Dunkel erinnerte ich mich an eine Zimmertür neben dem Bad, hinter welcher wohl Asas Reich läge. Aber es wäre so winzig, dass es keine Lösung auf Dauer wäre. Später hatte ich den Raum auch tatsächlich mal zu Gesicht bekommen, als die Tür einen Spalt offen stand. Das Zimmer war wirklich sehr klein. Das schmale Fenster war sehr weit oben und ließ nur wenig Licht hinein. Man war auf elektrisches Licht angewiesen, wenn man nicht im Halbdunkeln hocken wollte. Es passte gerade mal ein Bett und ein Regal hinein. Ursprünglich war diese Kammer auch als Abstellraum vorgesehen und niemals als Kinderzimmer. Aber es war über und über mit Asas Kinderzeichnungen und Bilder zugepflastert und machten es so irgendwie bunt und fröhlich.

Ich hatte keinen Plan, was Kakashi und Hikki da in ihrem üblichen Streitgespräch voller Frost um über Asa ausgezankt hatten. Man müsste als stummer Außenstehender abwarten und beobachten. Hikki. Wenigstens hatte ich durch Beharrlichkeit mal mitbekommen, dass Asas Mutter diesen Namen trug. Noch so eine Info, die ich meinem Freund lange aus der Nase ziehen musste.

Heute aber richtete zwischendurch immer mal wieder ich alle Augen auf Asa, weil Yuuki und ich sie nun näher kennen lernen würden und sie im Gegenzug uns. Sie fiel schon auf dem Schulhof durch ihre positive Ausstrahlung auf. Ein Kind munter wie ein Flummiball, das wohl nichts anderes als lachen konnte. Sie war passend für ihr Alter geschätzte 1,30m groß, hatte zwei lange geflochtene Rattenschwänze in Sturmgrau, die ihr bis zum Po reichten, und sah ihrem Vater unglaublich ähnlich. Ein Vergleich, den wohl nur sehr wenige vollziehen könnten. Zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehörte es den Erzählungen nach, dass sie etwas erschuf, um es mit großer Freude wieder einzureißen. Es begann bereits im frühen Alter mit Bauklotztürmen, die mit der flachen Hand zum Einsturz gebracht wurden und endete heute meist bei Erdhügeln, die sie mit einem Tornado zerfetzte. Das machte einen herrlichen Radau, setzte spannende Naturgewalten frei mit unbekannten Ausgängen und veränderte die Landschaft. Dabei verfolgte sie niemals böse Absichten, obgleich der angerichtete Schaden immens sein konnte. Es machte ihr einfach nur eine Menge Spaß. „Abreißen“ nannte sie dieses Spiel und könnte wohl stundenlang voller Begeisterung darüber berichten. Ein kleiner Wirbelwind mit viel Wind-Jutsu. Na, da hatte man wahrlich etwas zu tun, wenn man dieses Kind unter Kontrolle halten wollte. Ich schmunzelte, wie ich mir das alles ins Gedächtnis zurückrief und dabei das Mädchen beobachtet. Ja, ich freute mich auf das Ende des ersten Schultages und somit auf den heutigen Nachmittag.

Doch bis zum Nachmittag war noch etwas Zeit. Also unternahm ich einen langen Spaziergang, um mich von meiner Langeweile abzulenken. In letzter Zeit ging ich oft die Wege ab, die ich zusammen mit Kakashi gegangen war. Auch wenn es nur eine dumme Einbildung war, so hatte ich stets das Gefühl, wenigstens nicht allein zu sein, obwohl ich genau wusste, dass er im Büro saß oder irgendeinen Dienstgang unternahm. Das Gesicht der Natur hatte sich stark verändert. Die Bäume standen längst im satten Grün. Hier und da waren Bauern auf den Feldern und steckten die Reisschösslinge in die gefluteten Felder. Erste Wildblumen blühten am Wegesrand. Ich pflückte einen großen Strauß und nahm ihn mit. Daheim würde er sich auf dem Küchentisch als bunter Blickfang doch recht gut machen und bestimmt einen herrlichen Duft ausstrahlen. Unten am Fluss verfingen sich meine Augen in den frisch ausgetriebenen Weidenbäumen, wie sich ihre Äste in einer leichten Brise mitziehen ließen und beruhigend rauschten. Eigentlich ein herrlicher Tag voller Farben und Fröhlichkeit, doch in meinem Innersten machte sich ein Anflug von Trübsal breit, den ich mir nicht erklären konnte. Ich verbummelte die Zeit, aß die Reste vom Vortage aus meinem Kühlschrank auf und machte mich dann auf zum vereinbarten Treffpunkt: Den Trainingsplatz, den ich bereits von Yuukis damaligem Training her kannte.
 

Der erste Eindruck vom Trainingsgelände war trügerisch. Vögel zwitscherten im Geäst hoch oben über meinem Kopf. Die Bäume waren hier riesig. Man musste den Kopf weit in den Nacken legen, um die Baumkrone gänzlich zu sehen. Der Wind bewegte die Grashalme zu grünen Wellenmustern wie ein großes Meer. Der Fluss strömte langsam und gleichmäßig vorbei. Er war so klar, dass man Fische darin beobachten konnte. Insgesamt eine idyllische Harmonie.

Ich hegte schon den Verdacht, entweder viel zu früh oder gar auf dem falschen Platz zu stehen, weil es so still und einsam war. Doch dann erschütterte plötzlich ein Erdbeben den Untergrund. Erdspalten rissen zu meinen Füßen auf und drohten, mich zu verschlingen. Erschrocken rannte ich kopflos auf den Waldrand zu, weil mir mein Hirn suggerierte, dass der Fluss vor mir für mich nur eine Sackgasse werden würde. Wieder bebte der Boden. Dann brach ein Sturm los. Ein Tornado fraß sich durch den Wald und hinterließ im wahrsten Sinne des Wortes eine Schneise der Verwüstung. Ängstlich kauerte ich unter einem Baum, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und hoffte, Schutz gefunden zu haben. So müsste es sein, wenn der Himmel einem auf den Kopf fiele. Doch ich hatte mich in Bezug auf die Marschroute des Tornados wohl getäuscht, denn der kehrte um und kam zurück. Nur zwei Baumreihen hinter mir krachte es arg im Gehölz. Mir schwante, was hier gerade geschah und welchen Kindes Werke hier tobte. Wohin sollte ich nun fliehen?

„Komm mit!“, wurde mir die Entscheidung abgenommen.

Erschrocken riss ich den Kopf nach oben und sah genau ins Kakashis Gesicht. Wo zum Teufel kam der denn nun schon wieder her? Ninjas tauchten einfach so aus heiterem Himmel auf. Oder stand der da schon länger? Boah, wie mich das nervte! Egal! Er reichte mir seine Hand, um mir aufzuhelfen, dann schlang er einen Arm um meinen Taille und nahm mich mit wenigen Schritten ein paar Stockwerke mit nach oben. Auf einem dicken Ast in einer großen Baumkrone machten wir Halt. So hoch stand ich noch nie auf einem Ast und hatte auch kein Chakra in den Füßen, was mich an der Baumrinde wie Kleister festkleben würde. Der Erdboden lag sicherlich geschätzte zehn Meter unter mir. Ohne Netz und doppelten Boden. Das war verdammt hoch. Viel zu hoch! Hilfe! Und als dann Kakashi auch noch seinen Arm um mich lösen wollte, wurde ich fast panisch.

„Hast du Höhenangst?“, fragte er etwas erstaunt.

„Welcher NORMALE Mensch hat das nicht?“, keifte ich zurück, weil mir seine Lässigkeit in fast zehn Meter Höhe auf den Keks ging.

Der stand da wie fest getackert. Ich würde bei der geringsten falschen Bewegung in den Tod stürzen.

„Na, schön...“, ignorierte er meine Übellaunigkeit und drücke mich sanft zum Sitzen. „Etwas höher sieht man eigentlich besser, weil man über das Blätterdach schaut.“

Noch höher? Spinnt der? Das hier reichte für den Anfang total. Nun saß ich zwischen dem Baumstamm und ihm relativ sicher, ohne einen Absturz fürchten zu müssen. So richtig wohl war mich dennoch nicht. Mein Nervenkostüm beruhigte sich langsam auf ein erträgliches Maß, so dass ich endlich mal die Aussicht genießen konnte. Zwar war sie durch den Blätterwald stark eingeschränkt, aber es genügte, um der Ursache der Zerstörungen auf den Grund zu gehen. Nicht weit von uns lag eine Wiese direkt am Flussufer. Nein, das war gelogen: Eine Wiese war es wohl vor einigen Stunden noch. Jetzt ähnelte sie einer überschwemmten Mondlandschaft. Ich stutzte. Hatte ich dort nur Asa vermutet, so stand Yuuki direkt neben ihr. Natürlich war er hier ebenfalls nach der Schule aufgekreuzt, hatten wir Vier uns ja hier alle verabredet, doch er schien mächtig beschäftigt zu sein. Gemeinsam mit Asa hatten er Gefallen daran gefunden, das Erdreich nicht allein mit Hilfe von Wind zu verformen und zu bewegen, sondern Dank Yuukis Wasseraffinität die Krater und Gräben auch noch mit Wasser zu füllen. Da machte das Zerstören nun doppelt soviel Spaß. Wenn ein Laserblitz einschlug oder der Tornado Wellenberge auftürmte, so platschte und gurgelte das. Schlammklumpen flogen meterhoch und dekorierten wie fliegende Kuhfladen die Umgebung. Nacheinander konnten Kakashi und ich von hier oben beobachten, wie erst ein Kraterstausee, eine Matschburg und zum Abschluss ein Deich abgerissen wurden und alles überschwemmten. Kurz darauf lagen zwei Kinder erschöpft, aber glücklich am Boden, kugelten sich lachend im Dreck und freute sich wie die Schneekönige über das angerichtete Chaos. Man konnte sagen, was man wollte. Es waren immernoch die einfachsten Spiele, die Kinder glücklich machten.

„Vielleicht sollten wir die beiden, so wie sie sind, in den Fluss tauchen, um zu sehen, wer von beiden wer ist. Sonst nimmt nachher jeder das falsche Kind mit nach Hause“, kommentierte Kakashi unseren Nachwuchs trocken.

In der Tat waren die Kinder bis auf die Körpergröße nicht mehr zu unterscheiden. Sie waren von einer grau-braunen Erdteigmasse überzogen, wo nur noch die Augen herausguckten. Ja, man konnte sie in der Tat nur noch an der Körpergröße und der Stimme unterscheiden. Garantiert würden sie auf der Straße mit jedem Schritt einen matschigen Fußabdruck hinterlassen. Da war Kakashis Vorschlag über eine gründliche Vorwäsche im Fluss sicherlich nicht das Verkehrteste. Doch zwischen dem geplanten Waschgang und mir lag noch ein unüberwindbares Hindernis: Wenn man einen Baum hinaufgeklettert war, so musste man auch wieder hinunter.

Aus den Augenwinkeln warf ich einen Blick in die Tiefe und sofort drehte sich wieder alles vor meinen Augen. Schlimmer wurde es zudem noch, als ich zu meinem Unglück auch noch den Verlust des Erdbodens verschmerzen musste. Unser beiden Bälger hatten doch tatsächlich den Trainingsplatz um ein paar geflutete Kanäle bereichert. Der Baum, auf dem wir hockten, stand mit seinem Wurzelwerk nur noch auf einer kleinen Insel mitten im Wasser.

„Auf geht’s!“, meinte Kakashi völlig emotionslos.

Pah, der war es gewohnt, durch Bäume zu hüpfen. Ja, als Kind war ich auch auf Bäumen herumgetollt, aber niemals, wirklich niemals, so hoch! Höchstens fünfzig Zentimeter über dem Boden. Ok, erwischt! Es waren keine Bäume, sondern Büsche. Was anderes wuchs in meinem Heimatort wegen der Höhenlage in den Bergen eh nicht. Sofort schnellte mein Puls wieder in ungeahnte Höhen. Mein Kopf wurde purpurrot. Die Augen tränten panisch, und Hitzeschauer jagten mir über den Rücken. Ich stank sicherlich wie ein halber Paviankäfig, weil sich vor lauter Panik meine komplette Kleidung mit Angstschweiß vollsog.

„Wenn du weiter so wackelst, verliert der Baum noch sein Laub“, wurde ich aufgezogen.

Pff, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Und was meinte er mit wackeln? Ich saß doch hier noch immer auf meinem Ast? Erst jetzt spürte ich, wie sehr ich zitterte. Das Zittern übertrug sich sogar auf den Baum, und Kakashis Sinne waren sensibel genug, dass er diese hauchdünne Erschütterung spüren konnte. Wenn man dachte, dass es von einer verzwickten Situation keine Steigerung mehr geben könnte, so wurde man umgehend eines Besseren belehrt. Kakashi stand nämlich einfach auf. Meine Augen wurden groß wie Kuchenteller. Der lässt mich doch jetzt hier nicht allein zurück, wo es doch allein seine Schuld war, dass ich hier oben überhaupt her geraten war? Panisch, dass er mich hier dreist aussetzen würde, schlang ich reflexartig meine beiden Arme um seinen Oberschenkel und klammerte wie ein Äffchen, was das Zeug hielt.

„Was wird DAS denn?“, fragte er erstaunt.

War das eine rhetorische Frage? Nach was sieht es denn aus? Ich habe Angst und du wirst das jetzt hier mit mir zusammen ausbaden. Maaannn, ich war aber auch eine Memme. Erst die Platzangst in der Höhle und nun auch noch das. Diese Höhe war mir eindeutig viel zu hoch.

„Lass los!“, redete er leise auf mich ein und erntete ein energisches Kopfschütteln. „Du lässt jetzt los!“

Wieder schaffte ich nur ein Kopfschütteln und vergrub mein Gesicht in seinem Hosenbein. Es dauerte eine ganze Weile, und es war letztendlich nur seiner Geduld und seiner Beharrlichkeit zu verdanken, dass ich das Klammern tatsächlich wieder aufgab. Ich japste und keuchte.

„Ganz ruhig Atmen,“ sagte er. „Und nun gibst du mir deine Hände ...“

Ich kapierte sofort: Hinstellen? Soll das ein Witz sein? Doch ich hatte keine Kraft mehr, mich zur Wehr zu setzen. Mein Körper war vor Angst wie gelähmt und gehorchte mir nicht mehr. Selbst Proteste kamen mir nicht mehr über die Lippen. Sanft wurde ich auf die Beine gestellt, die wie ein Schlossgespenst schlotterten und den ganzen Ast vibrieren ließen. Es war mir nicht möglich, die Knie durchzudrücken, um vernünftig gerade zu stehen. Kakashi ignorierte stumpf die Anzeichen meines bevorstehenden Herzkaspers und begann, einen Schritt nach hinten zu gehen, wodurch ich gnadenlos mitgezogen wurde.

„Ich kann das nicht ...“, versuchte ich kurz vor einem Heulkrampf Mitleid zu bekommen, den es aber nicht gab.

„Klar kannst du das. Oder willst du hier oben übernachten?“

Tränen standen mir in den Augen. Wie auf einem Schwebebalken marschierten wir an den Händen über den Ast. Kakashi im Rückwärtsgang und ich vorwärts. Der Unterschied zwischen Ast und Schwebebalken war leider nur, dass der Ast zum Ende immer dünner wurde und sich langsam nach unten bog. Hilfe, wir würden alle sterben! Entweder rutschten wir gleich ab oder der Ast würde unter unserem Gewicht einfach abbrechen. Nein, nein,nein! Beide Vorstellungen brachten mir sofort den nächsten Angstschauer ein.

Doch es kam ein wenig anders. Der Ast bog sich zwar, lehnte dann aber dadurch auf dem Ast des Nachbarbaumes. Nur ein kleiner Schritt trennte mich, um von einem Baum auf den anderen zu wechseln, doch für mein durchdrehendes Hirn war es ein unüberwindbarer Schritt. Trotzdem meisterte ich ihn, obwohl ich mich nur in Zeitlupe bewegte. So hatten wir uns durch den Baumwechsel tatsächlich um gute zwei Meter dem Erdboden genähert und hatten geschätzt vielleicht nur noch rund acht Meter zwischen Ast und Erde zu überwinden. Zumindest war da sogar Erdboden unter uns und kein künstlich angelegter Kanal wie bei dem Baum, auf welchem wir zuerst gesessen hatten.

Plötzlich nahm er mich fest in den Arm und fragte:

„Vertraust du mir?“

Und dann sprang er ohne meine Antwort abzuwarten, völlig überrumpelnd, mit mir zusammen in die Tiefe. Ein atemberaubendes Kribbeln machten sich in meiner Magengrube breit, als wir für die Sekunde im freien Fall waren. Was hätte ich da auch antworten sollen? Natürlich vertraute ich ihm, doch mein Hirn hätte vermutlich einen Sprung sofort abgelehnt, wenn es Kakashis Vorhaben nur schnell genug durchschaut hätte. Das wäre ganz natürlich gewesen, weil jedes Wesen, was an seinem Leben hing, so einen Sprung niemals gewagt hätte. Zumindest wenn es kein Chakra und kein Sicherungsseil hatte. Kakashis Chakra jedenfalls ließ einen Zwischensprung am Baumstamm zu und uns unten mit den Füßen den Boden berühren, als wären wir leicht wie eine Feder.

Erst blieb ich in der Umarmung und kauerte mit meinem Kopf an seiner Schulter, konnte ich doch gar nicht glauben, welch Mutprobe ich absolviert hatte. Doch dann sah ich direkt nach oben und Stolz machte sich in mir breit. War das wirklich ich gewesen? Ich hatte es wirklich geschafft. Ich hatte dort oben auf einem Ast gesessen und war dann auch noch balanciert. Und dann war ich da auch noch heruntergesprungen worden ohne vor Angst zu sterben. Ja, ich hatte es tatsächlich geschafft. So etwas hätte ich niemals von mir selbst gedacht. Ein Lächeln erweckte meine angstverzerrte Mine wieder zum Leben und trocknete meine Tränen. Schließlich kehrte auch meine Sprache wieder zu mir zurück.

„Ich muss durch dich ganz schön was ertragen“, stellte ich tadelnd fest.

„Mag sein. Aber bis jetzt schlägst du dich doch wacker“, kam es postwendend zurück.

Stoff schmiegte sich tröstend an meine Wange.
 

Jäh wurde unsere Zweisamkeit unterbrochen, als eine sehr junge Kinderstimme losquackte.

„Ey, hier seid ihr! Wir warten schon die ganze Zeit auf euch! Ich hab total Hunger“, beschwerte sich da ein kleines Matschmonster.

Und das große Matschmonster ergänzte:

„Komm Asa! Die haben mit sich selbst zu tun und haben uns total vergessen. Wollen wir noch eine Burg abreißen?“

„Au ja! Aber eine ganz Große!“

Asa fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum und deutete eine wirklich große Sache an. Und schon waren die beiden wieder verschwunden und ließen uns komplett verdutzt hinterherschauen. Kakashi zuckte nur mit den Schultern, als er sich von mir aus der Umarmung löste. Glücklicherweise schienen sich unsere Kinder zu verstehen. Es wäre ein schlechter Start, wären sich die beiden spinnefeind gesonnen.

Wir stapften durch den Morast hinter unserem Nachwuchs hinterher. Kakashi wandelte mit Leichtigkeit und Händen in den Taschen über das Gelände. Ich schlitterte von einer Pfütze in die nächste, kam aber trotzdem gut voran und hielt mit ihm Schritt. Bald hatte ich Ähnlichkeit mit Asas und Yuukis Äußerem. Wenn wir später zum Abendessen noch etwas in den Magen bekommen wollten, so bräuchten wir wohl allesamt eine gründliche Dusche. Drei Matschmonster würden wahrlich nirgends einen Platz zum Essen bekommen.

31 - Der Tag, an dem ich eine Mission erhielt

Der April zog vorbei, ebenso der Mai und auch der halbe Juni. Einfach so. Unaufhaltsam und nicht daran interessiert, ob es jemand bemerken oder gar traurig machen würde oder nicht. Es war wohl einer der schönsten Frühlinge, die ich in Konoha je erleben durfte, seit ich hier wohnte. Viele sonnige Tage, ab und an ein kräftiger Landregen und eine Natur, die sich über und über mit Blumen und Blüten totblühte als gäbe es kein Morgen mehr. Es hätte ein Frühling für alle Sinne werden könne, hätte man sich darauf eingelassen. Man hätte Kraft tanken und neue Inspirationen explodieren lassen können, während man die Seele baumeln ließe. Man hätte sich daran laben und erquicken können. Hätte, hätte, hätte, … Aber es kam alles anders. So verrückt es klingen mochte: Ich registrierte von dem Frühlingserwachen so gut wie gar nichts. Es war der triste Alltag und die Langeweile, die mich bedrückte und allmählich in eine angehauchte Depression drängte. Oder sollte man eher sagen: seichte Lethargie? Was auch immer mein Gemüt herunterzog, es brachte mich in eine miserable, seelische Verfassung, wie auch immer man es zu nennen pflegte. Nichts lief, wie es sollte. Man konnte mir beim seelischen Verfall zusehen.

Ein knappes halbes Jahr war nun seit dem Umzug in den Wohnklotz hinüber vergangen und somit auch mein halbes Erspartes aufgebraucht. Aber nicht nur das Geld schwand, sondern auch mein Mut und die Ideen zur Zukunftsgestaltung. Träume, die ich mal hegte, schob ich als unerfüllbar zur Seite und wollte sie gar nicht mehr kennen. Alles, was mir in den Sinn kam, stufte ich als hoffnungslos ein. Ich war in ein Loch gefallen, wo ich nicht herauskam. Ich wollte da auch gar nicht raus. Es war ganz nett dort unten, wo man nachts Heulkrämpfe bekommen durfte und tagsüber seiner Langsamkeit nachhing. Man igelte sich dort ein und vergaß die Welt außerhalb des Loches.

Ja, da war doch noch mein kleiner, unangetasteter Glücksspielgewinn. Damit hätte man wohl etwas anstellen können, was einen hätte zu neuen Taten beflügeln können. Aber diese kleine Geldreserve wollte ich nur in Notsituationen anbrechen. Oder für die zündende Geschäftsidee, die ich einfach nicht hatte. Wer weiß, was noch auf mich zurollen würde. Da war so ein Notgroschen sicherlich nicht das Schlechteste.

Ich hatte es aufgegeben, nach einer Arbeitsstelle zu suchen. Auch wenn Konoha mittlerweile zu einer Großstadt mutiert war, so blieben die alten Dorfstrukturen doch erhalten. Und so hatte der Klatsch in den Gassen schnell die Runde gemacht, wie ich von den ANBU festgenommen und dann ins Gefängnis gesteckt worden war. Zwar kannte man nicht meine Person direkt, wohl aber meine kurzweilige Knastgeschichte. Das war eine ganz ungünstige Ausgangsbasis bei Vorstellungsgesprächen, diese auf wenige Stunden begrenzte Einbuchtung diskutieren zu müssen. Man nahm nun mal keine Häftlinge in die Dienste auf, obwohl das in meinem Falle wohl totaler Blödsinn war. Dennoch haftete nun dieses Manko an mir.

So führte es dazu, dass ich jeden Tag so ziemlich gleich vertrödelte. Aufstehen, Frühstück machen, Wohnung grob aufräumen und Haushalt schmeißen, Spazieren gehen, Fernsehen gucken, Abendbrot zubereiten. Weil der Zeitdruck fehlte, stets irgendwo pünktlich auftauchen zu müssen, ließ ich mich gehen und wurde langsamer und träger und trauriger. Es war eine schleichende Sache. So dehnte ich die mir selbst auferlegten, zeitlichen Intervalle des Putzens der eigenen vier Wände immer weiter aus. Was man heute nicht tat, könnte man morgen oder übermorgen immer noch tun. Die für mich stattdessen logische Ersatzhandlung war nun, dass ich immer mehr auf dem Sofa vor dem Fernseher lümmelte. Erst schaute man in der Glotze nur das, was einen interessierte. Später hängte man noch aus akuter Antriebslosigkeit heraus eine zweite oder dritte Sendung hinten an, die man aber gar nicht mehr geistig wahrnahm, weil man zwischendurch schon eingeschlafen war. Irgendwann ertappte ich mich dabei, wie ich dem Staub beim Niederrieseln auf meine Möbel zusah. Kurzum: Mir ging es beschissen.

Ähnlich war es mit dem Schwimmen abgelaufen. Ich hatte mir vorgenommen, bei dem schönen Wetter zum Schwimmen zu gehen, da es die einzige Sportart war, die ich irgendwie akzeptieren konnte. Obgleich es schon sehr heiß war, hatte die Kraft der Sonne die Seen in und um Konoha herum noch nicht auf eine angenehme Badetemperatur erwärmen können. Demnach wurden meine Bahnen, die ich da in Brust- und Rückenlage absolvierte, der Anzahl nach immer weniger. Stets kam ich wie Espenlaub klappern und halb blau gefroren aus den Fluten. Aber noch schlimmer war es, erst einmal ins Wasser hineinzukommen. Mir fror schon der Zeh ab, wenn ich nur einen Fuß hineinhielt. Bald schon überwog die Zeit, die ich lieber lesend unter einem Baum im Schatten verbrachte als im kalten Nass. Wenigstens hatte Konoha eine äußerst gut sortierte Bibliothek mit hervorragender Literatur. Ein kleiner Schritt gegen die geistige Verblödung.

Der Versuch, aus meinem Loch herauszukommen, war über die Sportschiene definitiv gescheitert. Sport war sowieso noch nie meins gewesen. Ich brauchte etwas anderes, was mich wieder auf Trab bringen würde. Es war ein furchtbarer Gemütszustand. Doch mir fehlte der Anschub, den inneren Schweinehund zu besiegen und mich aufzuraffen. Ich war einfach viel zu viel allein und hatte auch sonst kaum soziale Kontakte. So konnte ich mich noch nicht einmal mit irgendjemanden über mein Problem austauschen, wann es mir danach beliebte. Die Kinder hockten den ganzen Tag in der Schule und Kakashi im Büro.

Während die Kinder generell keine Ansprechpartner für meine Probleme waren, hätte mein Freund vielleicht einer werden können. Aber ich hielt mich zurück, spürte ich doch, wie sehr ihn zurzeit die Arbeit schlauchte. Und es schien auch nur wenig möglich, einen Teil dieser Arbeit auf einen seiner Helfer abzuwälzen. Es gab Stoßzeiten im Büro, da mussten wohlüberlegte Entscheidungen getroffen werden. Meist ging es dann um die dorfeigene Kriegskasse und wer sich daraus in welcher Höhe bedienen durfte. Ein heikles Kapitel, denn um die Fülle der Kriegskasse bestand es in Friedenszeiten schlecht bestellt. Dem Daimyô war seine hochbezahlte Ninja-Bande mittlerweile zu teuer und verlangte knallharte Kürzungen. Kakashi aber konnte sich von keinem seiner Leute trennen. Alleine schon, weil er seiner Truppe nicht nur tief verbunden war, sondern auch von jedem einzelnen die Schicksale hinter der Person kannte. Auf gar keinen Fall sollte die Akademie darunter leiden, was dazu führte, weshalb er über jeden neuen Schüler einen zehnseitige Begründungsbericht tippte, warum genau dieses Kind auserwählt worden war, und warum es auch unbedingt zwei Klassen voller Kinder sein mussten und nicht nur eine einzige Klasse. Viel, viel Arbeit. Und so diskutierte mein Freund in di8esen Monaten tagelang mit dem Oberhaupt des Feuer-Reiches und dem Ältestenrat über das liebe Geld und wie viel stehendes Heer eine Nation ertragen könnte ohne Konkurs anmelden zu müssen. Manchmal war er dann einige Tage unterwegs, weil er beim Feudalherren persönlich vorstellig werden musste. An anderen Tagen war der Daimyo hier in Konoha zugegen und versetzte den ganzen Ort in eine unruhige Stimmung, weil man nicht so recht wusste, wie er sich entscheiden würde. Und man spürte, wie sehr die Dorfgemeinschaft ihrem Hokage vertraute, dass er das richtige Verhandlungsgeschick an den Tag legen würde. Mochte Kakashi noch so sehr das Gegenteil behaupten und ständig an seinen Geschicken zweifeln, sein Truppe sah das völlig anders und vertraute ihm blind.

Was das Dorf nicht wissen konnte, war die Tatsache, dass Kakashi beim Daimyô, was Finanzen betraf, eh in Ungnade gefallen war. Es hatte nämlich einen Grund, warum der Hatake-Clan „Hatake“ hieß und nicht anders. Der Clan besaß einst unglaublich viel Brachland. Das wiederum konnte Kakashi als Kind jedoch nicht wissen, weshalb man ihn kurzum nach dem Selbstmord seines Vaters zu Gunsten des Feudalherrn enteignete und Grund und Boden jenem zuschlug. Allerdings nahm man es da mit den Unterlagen und Besitzurkunden nicht ganz so genau, was zu vielen Ungereimtheiten führte, die Kakashi erst auffielen, als das Hochplateau über den Hokageköpfen Bauland werden und er als Hokage seinen Stempel zur Baufreigabe geben sollte. Und Kakashis Neugier offenbarte schnell, wem denn da nun der Acker im Eigentlichen gehörte und wem nicht. Zwar gab Kakashi das Bauland frei, was sollte er auch damit, aber der Damyô stand nun bei ihm ziemlich in der Kreide. Eine Summe X plus Lehenspacht, Zinseszins und Wertsteigerung. Und die monatlichen Kage-Gehaltszahlungen obendrauf machten das Verhältnis zwischen den beiden nicht besser.

„Mir ging es nicht ums Geld, sondern ums Prinzip“, erklärte Kakashi mal nebenbei und konnte gar nicht so genau sagen, wie groß denn die Gesamtsumme überhaupt wäre. „Außerdem ist unsere Herr Fürst nicht der Hellste. Der rallert eh nicht viel und wechselt seine Meinung wie Unterwäsche ...“

Das mit dem Geld glaubte ich ihm sofort, denn bei ihm in der Wohnung gab es eine mittelgroße Kiste, die angefüllt war mit uralten Auszahlungsscheinen. Nach jeder Mission holten sich die Shinobis damals noch ihren Lohn per Schein ab. Den mussten sie dann gegen Bargeld einlösen. Heutzutage lief das per Überweisung. In Kakashis Kiste mussten weit über tausend solcher Scheine liegen. Er hatte sie nie eingelöst. Immer nur den Obersten, wenn mal wieder die Geldbörse leer war.

„Verfallen die nicht mal irgendwann?“, hatte ich angesichts der Masse mit großen Augen gefragt und wollte mir gar nicht vorstellen, wie viel Blut und Mord daran klebte.

„Nö, eigentlich nicht“, meinte Kakashi. „Und jetzt könnte ich sie mir ja eh selber verlängern, wenn es ein Verfallsdatum gäbe.“

Das stimmt wohl. Da mussten wir beide kurz drüber lachen. Nein, das Materielle juckte ihn wahrlich nicht die Bohne. Wozu auch? Es bezahlte ihm den vollen Kühlschrank und das Dach über dem Kopf, aber es brachte ihm nie und nimmer seine engsten Freunde wieder, die allesamt schon unter der Erde lagen. Und Glück und Freude brachte Geld schon gar nicht.

Allem in allem war Kakashi akut mit seiner Arbeit beschäftigt. Da brachte ich es einfach nicht übers Herz, ihn mit meinen Luxusproblemen über eintönige Tagesabläufe auch noch zu nerven.

„Eben ist leider wirklich viel zu tun...“, versuchte er mich immer wieder zu trösten, wenn er spät nachts bei mir die Runde in der Wohnung machte, denn ihm war mein Zustand nicht entgangen.

Und dann war er meist so müde und abgekämpft, dass er zu nichts mehr Lust hatte außer Schlafen. Selbst Essen fiel aus. Ich konnte ihn verstehen, denn auch ich hatte damals meine kleine Belegschaft ja immer pünktlich zum Monatsende entlohnen müssen. Allerdings hatte ich in meinem Betrieb solch extremen Bedingungen nie gehabt oder mich gar rechtfertigen müssen.

Für unsere Kinder begannen in der Schule nun die spannenden Themen. Dazu gehörte ihr erstes Training in freier Wildbahn. Dort absolvierten sie unterschiedliche Kampftechniken. Es gehörte auch die Orientierung im Gelände und das Campen im Wald einschließlich der Nahrungsmittelbeschaffung dazu. Das war für Yuuki und Asa eine unbeschreiblich große Aufregung. Schon Tage vor dem großen Projekt redeten sie beide von nichts anderem mehr. Für mich bedeutete das im Umkehrschluss, dass gar keiner mehr nach Hause kam und ich mich immer mehr zurückzog. Die Stille in den eigenen vier Wänden war teilweise unerträglich, weshalb die Flimmerkiste oder das Radio nun im Dauerbetrieb liefen, damit sie mir etwas zu erzählen hätten. Ich war allein. Verlassen von meinen Lieben und ausgeschlossen von der Ninja-Welt, die wieder einmal mehr ihre Tore vor mir verschloss.
 

Es war einer dieser Tage, der so ablief wie jeder Tag, als Kakashi mich in der Mittagszeit unter meinem Lieblingsbaum am See aufsuchte. Ich sah ihm schon von Weitem an, dass ihn etwas gedanklich sehr beschäftigte. Ich blickte leer vor sich her, hatte die Hände in den Hosentaschen und den Kopf leicht gesenkt.

„Ist etwas passiert?“, bohrte ich vorsichtig nach.

„Wie man's nimmt“, gab er an und blickte dabei nachdenklich über die Wasseroberfläche. „Mir ist da ein Gerücht zu Ohren gekommen.“

„Und das beschäftigt dich?“, bohrte ich tiefer.

Natürlich tat es das. Kakashi war nach wie vor superneugierig, auch wenn er seine Neugier hinter verschlafenen Augen versteckte und so tat, als ginge ihn die halbe Welt nichts an.

„Ich weiß nicht so recht, wie ich damit umgehen soll“, war die schwammige Antwort.

„Aber du würdest trotzdem zu gerne wissen, ob es wahr ist. Stimmt's?“, kombinierte ich grinsend.

„Ganz genau“, grinste es ebenso zurück. „Der Plan dazu ist in meinem Kopf aber noch nicht fertig.“

Und damit war zu diesem Thema fürs Erste wieder Funkstille, denn Pläne gab es bei ihm erst für andere Ohren, wenn sie komplett fertig waren.

Zwei Tage später war der Plan dann tatsächlich fertig, denn mir wurde am selben Ort zur selben Zeit eine Schriftrolle in die Hand gedrückt. Mit einem brennenden Fragezeichen über dem Kopf drehte ich sie in den Fingern hin und her.

„Explodiert das, wenn man es aufmacht?“, argwöhnte ich.

Von meinem damaligen Freund hatte ich schon so die tollkühnsten Sachen über Schriftrollen gehört. Explodierend, verflucht, leer, unleserlich … Also immer Obacht, wenn einem so etwas in die Finger gerät.

„Quatsch. Die hab ich heute morgen geschrieben“, lachte Kakashi kurz auf.

„Das heißt nicht, dass es nicht explodiert!“

Mitdenken war eine Eigenschaft, die Kakashi sehr bei seinen Mitmenschen schätzte. Darum war man immer gut beraten, dieses auch zu tun, wenn man sich kein genervtes Augenrollen von ihm aufgrund akuter Begriffsstutzigkeit einhandeln wollte. Interessiert öffnete ich das Siegel und zog an dem Papierende, auf dass sich mir der Rolleninhalt offenbarte. Ich stutzte. Nicht wegen dem Inhalt. Den hatte ich noch gar nicht gedanklich erfasst. Ich stutze wegen der Schriftsprache. Buchstaben. Ein echtes Alphabet … und es war auch noch in meiner Landessprache. Ich schluckte. Sollte ich da nun gerührt sein, weil es in meiner Sprache geschrieben war oder sauer, weil er mir das seit einem Jahr verschwiegen hatte? Sieht alles, weiß alles, kann alles. Gibt es eigentlich irgendetwas, was der Kerl nicht kann? Nervös kaute ich wieder einmal auf meiner Unterlippe herum und konzentrierte mich auf den Inhalt. Hmmmm, das war ein Missionsauftrag.

„D-Mission...“

Eine D-Mission. Was auch immer eine D-Mission ist... Würde ich wohl eh sofort erfahren.

„Operationsgebiet: Tanigakure“

Tanigakure. Wo lag das nochmal? Im Fluss-Reich? Meine geografischen Kenntnisse waren auch schon mal besser gewesen.

„Aufgabe: Erreiche Tanigakure in drei Tagen und warte dort auf eine weitere Aufgabe.“

Was sollte das denn werden? Schnitzeljagd für Arme? Mein Gesicht muss Bände gesprochen haben. Dass es sich hier nur um einen Jokus handeln konnte, war von vornherein klar. Missionen wurden schon lange nicht mehr per Schriftrolle an Ninjas übergeben. Das hatte ich mir nämlich mal flüchtig zeigen und erklären lassen, wie über ein einfaches Drag'n'Drop-Menü Missionen geplant und Teams zusammengestellt wurden. Kakashi konnte so genau sehen, wer wo gerade unterwegs war, und weil der Bericht vom Teamleiter ebenfalls dort eingestellt werden musste, war der auch schon sofort parat und musste nicht mehr handschriftlich erfasst werden. Das ersparte eine Menge Antrittsbesuch vor und nach der Mission im Hokagebüro. Die jeweiligen Shinobis hingegen sahen in dem Programm logischerweise nur ihre eigenen Missionen samt Zielauftrag, Bezahlung und bereits abgeleisteter Aufträge. Ein durchaus überschaubares und transparentes System. So musste man auch nicht mehr einen bestimmten Shinobi heran zitieren. Man tippte seinen Namen an und der wusste sofort, dass er anzutreten hatte. Egal, wo der sich gerade auf dem Planeten befand.

Trotzdem war mir selbst überhaupt nicht klar, was es mit dieser Spaß-Schriftrolle auf sich hatte.

„Ich verstehe nicht so ganz ...“, überlegte ich laut.

„Du hängst den ganzen Tag nur 'rum und lässt dich gehen. Es geht dir total schlecht dabei. Ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Also dachte ich, ich gebe dir etwas zu tun“, wurde ich erleuchtet. „Außerdem hast du dich neulich erst lauthals beschwert, dass du immer so ausgegrenzt von uns wärst, wenn die Kinder von der Schule erzählen. Also bitte, hier hast du jetzt auch eine Mission.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Er machte sich Sorgen und wollte mir unbedingt helfen. Das war doch ziemlich niedlich von ihm. Und plötzlich begann ich mich auch etwas zu freuen. Ich war noch nie im Fluss-Reich, obgleich es ans Feuer-Reich grenzte. Yuuki und Asa würden bald an ihrem heißersehnten Trainingscamp teilnehmen, welches über zwei Wochen lief. Da konnte mir so ein kleiner Urlaub gegen den grauen Alltag sicherlich nicht schaden. Ich würde einmal etwas Neues erleben und sehen. Da war Kakashis Idee gar nicht mal so dumm. Und die Neugier ward geweckt, denn es sollte ja am Zielort eine weitere Aufgabe geben. Spannend! Ich willigte lachend ein, obgleich es mir sofort im Hinterkopf herumgeisterte, dass an der Aktion ein Haken war. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass es etwas mit der neuen Aufgabe in Tanigakure zu tun hatte. Kakashi hatte immer weitverzweigte Pläne in seinem Kopf, wo jeder Beteiligte stets nur einen kleinen Ausschnitt von wusste. Erst zusammengefügt machten die ganzen Einzelaktionen ein großes Ganzes mit Sinn. Das war nun also noch spannender. Ich war ein winziges Rädchen in einer riesigen Planmaschine.
 

Meine Just-for-Fun-Mission sollte schon in gut einer Woche starten und obgleich es ja eigentlich nur einem Kurztrip glich, so musste ich mich tatsächlich darauf vorbereiten, denn den Ort innerhalb von drei Tagen zu erreichen, gestaltete sich schwieriger, als gedacht.

Erst einmal begann es mit dem Kartenlesen, was ich so überhaupt gar nicht konnte. Die ganzen braunen und grünen Felder erschlossen sich mir ebenso wenig wie die weißen, schwarzen, roten und blauen Linien und Flecke. Also nahm ich die Karte und ging mit ihr durch Gebiete in der Nähe von Konoha, die ich kannte und verglich die Örtlichkeit mit dem Kartenbild. So langsam kamen die Erleuchtungen. Trotzdem kapierte ich Kartenlesen nur in Ansätzen. Na, das könnte ja in unbekannten Territorien eine muntere Sache werden. Garantiert würde ich mich schon an der ersten Weggabelung verirren, weil ich falsch abgebogen war.

Nach eingehender Beschäftigung mit der Karte und einem Maßstab jedoch bekam ich heraus, dass mein Reiseziel zwar nicht unerreichbar weit von Konoha entfernt läge und aber nicht an das Bahnnetz angeschlossen war. Das war für eine Sofakartoffel wie mich ziemlich krass. Ich konnte es drehen oder wenden, wie ich wollte: Ich würde nur einen Teil mit dem Zug fahren können und müsste den Rest zu Fuß laufen. Hm, welches wäre wohl die beste Route? Das Gelände kannte ich überhaupt nicht und vertraute darauf, die Höhenlinien in der Karte richtig zu lesen. Da gab es schon einen recht kurzen Weg so ziemlich querfeldein über die Bergpässe hinweg. Er mochte geschätzt nur gute vierzig Kilometer betragen, aber die zu überwindenden Höhenunterschiede waren beachtlich und für einen Menschen mit einem Trainingspensum von Null kaum zu meistern war. Also kam ich schnell zu dem Schluss, dass die kürzeste Route nicht unbedingt auch die Geeignetste wäre. Ich entschied mich für eine Strecke, die wohl mit gute fünfzehn Kilometer mehr aufwarten würde, doch dafür verlief sie relativ eben. Ich stöhnte, als mir gewahr wurde, dass ich tagtäglich zwanzig Kilometer zu laufen hätte. Puh, da bräuchte ich ein bequemes und robustes Schuhwerk, das keine Schweißfüße nach sich zog. Und damit war man schon beim nächsten Punkt. Was packt man alles für die Reise ein? Jedes Teil, was im Rucksack landen würde, müsste auch geschleppt werden. Mit Schaudern dachte ich da an vergangene Wanderausflüge mit meiner damaligen Schulklasse. Schon nach den ersten Metern schnitten die Tragegurte der Rucksäcke in die Haut. Einige Kilometer später schmerzten dann die Schlüsselbeine und Wirbel. Nein, das hielt ich nur einen halben Tag aus. Und nicht länger. Also war somit der Einsatz eines Rucksacks schon mal gestrichen. Da kamen nur noch die Gürteltaschen in Frage, welche die Ninja-Bande immer hinten am Gesäß trug. Tjoa, die wussten schon, warum so eine Tasche einem Rucksack vorzuziehen wäre. Hm, passte denn da überhaupt alles rein? Kakashi hatte mal behauptet, es würde ein halber Hausstand in solch eine Tasche passen... Kakashi und ich mussten wohl völlig unterschiedliche Meinungen haben, wie man einen Hausstand definiert. Ich würde ihn dennoch bitten, mir solch eine Tasche mal zu leihen. Und ich würde ihn fragen, wie man möglichst lastfrei einen Schlafsack transportierte.

Nach einigen Tagen hatte ich alles beisammen, von dem ich dachte, ich bräuchte es für eine Wanderung. Sicherlich würde sich davon unterwegs die Hälfte als unbrauchbar entpuppen. Dafür würde ich andere Sachen total vermissen, die daheim geblieben wären. Ich hatte beschlossen, nur die Klamotten mitzunehmen, die ich am Leibe trug und ein paar Wechselsachen. Getragene Kleidung würde ich unterwegs einmal auswaschen. Bei den angesagten Temperaturen würden sie bestimmt schnell über einen Ast gehängt trocknen. Also durfte ein Stück Kernseife nicht fehlen. Der Gestank war mir egal. Ich wäre ja eh allein unterwegs und wenn ich ankäme, sähe ich eh aus wie ein Vagabund. Dann fand man in meinem Gepäck noch Notfall-Kit, ein extra scharfes Kunai und eine Plastikflasche. Letztere wog nichts, wenn sie leer war. Auffüllen könnte man sie unterwegs an Quellen. Ich müsste Kakashi nochmal fragen, ob man jede Quelle anzapfen könnte oder ob es welche gäbe, an denen man sich Durchfall holte. Man, ich hatte so gar keine Ahnung. Drei Tage durch die Pampa mit ungewissem Ausgang, ob ich meine Tagesetappen bis zur nächsten Unterkunft überhaupt schaffen würde. Ungläubig überlegte ich, wie der kleine Berg an Kram auf meinem Küchentisch in die Gürteltasche passen sollte. Und noch ungläubiger starrte ich, wie die Tasche ihr großes Maul öffnete und alles verschlang. Da war ja echt noch Platz drin!

Nur noch eine Woche! Die Reise konnte beginnen!

32 - Der Tag, an dem ich auf Reisen ging

Ich hatte ganz klar geschummelt. Ganz dreist ohne Ansage war ich abgehauen. Anstelle früh morgens zum eigentlichen Missionsstart mit dem ersten Zug gen Feuer-Reich-Grenze zu fahren, hatte ich bereits den allerletzten Nachtzug davor genommen und stand nun mutterseelenallein auf dem Bahnsteig eines winzigen Grenzbahnhofs zwischen Feuer-Reich und Fluss-Reich. Und in dem Moment, wo ich die bereits warme Nachtluft einatmete, wusste ich, wie goldrichtig dieser kleine Betrug war. Ich hatte nicht nur einen halben Tag an Zeitvorsprung gewonnen, sondern würde noch eine halbwegs erträglich Temperatur für meinen Marsch haben. Schon jetzt schmeckte man die Feuchtigkeit beim Atmen am Gaumen. Sobald die Sonne aufsteigen würde, könnte man mit dicker, stickiger Luft rechnen. Jetzt aber kam man hoffentlich noch gut voran.

Es war Neumond und das Licht des sternenklaren Himmel reichte nicht durch das Laub der Bäume bis hinunter auf den Waldweg, um etwas Licht zu spenden. Dieser war wenigstens gut befestigt, so dass ich bald die Taschenlampe löschte und halbblind voranstolperte. Der schwankende Lichtkegel auf dem Weg hatte mich nämlich so sehr irritiert, dass es mir schummerig vor den Augen wurde. Doch ohne Lampenschein gewöhnten sich die Augen schneller als gedacht an die düsteren Umstände. Erst fürchtete ich mich in der Dunkelheit. Es knackte und knarrte im Gehölz. Hier schrie ein Käuzchen, dort piepte eine Maus. Mir war das alles fremd und unheimlich. Hinter jedem Geräusch vermutete ich Tagediebe und Wegelagerer, die sich hinter den Baumstämmen versteckten. Von den stetigen Geräuschen erschreckt, zuckte ich noch lange zusammen. Hoffentlich geriet ich nicht Räubern in die Fänge. Andererseits könnte man auch genauso gut am Tage überfallen werden. Und hätte mich mein Freund wirklich allein auf den Weg geschickt, wenn es für mich gefährlich wäre? Wohl kaum, konnte ich da nur hoffen. Also redete ich mir Mut zu, ließ fern ab der Dunkelheit meine Gedanken sich helle Geschichten ausmalen und lief eisern meine auserwählte Strecke ab. Das ging besser als erwartet.

Zumindest glaubte ich das, weil ich in der Nacht noch weniger Orientierung hatte als am Tage. Der Wald sah überall gleich aus. Besonders in Schwarz gekleidet. Ein Baum nach dem anderen zog an mir vorbei. Doch da kam nichts, was man auf der Landkarte einem geographischem Punkt zuordnen konnte. Kein Fluss, kein Berg, keine Höhle. Noch nicht einmal ein Gehöft. Lediglich, dass ich öfters mal leicht bergab gehen musste, verwirrte mich, denn ich hatte eigentlich einen Weg auf der Hochebene ausgewählt. Das Fluss-Reich hatte neben vielen Schluchten mit Flüssen und kleinen, aber sehr schroff empor stehenden Bergen viele bewaldete Hügel und weite Hochebenen mit Felderwirtschaft. Erst zum Wind-Reich würde das Land trockener und felsiger werden. Doch so weit würde mein Weg mich nicht führen. Tanigakure lag nördlich der Bahnstrecke, wo der Boden noch ertragreich war. Ich konnte nur hoffen, nicht im Kreis zu laufen. Das wäre nicht nur verschwendete Energie, einen Weg mehrmals laufen zu müssen, sondern obendrein auch ziemlich peinlich, schon auf den ersten Metern die Richtung zu verlieren.

Langsam wurde es dämmerig. Die Sonne stieg empor. Erst jetzt gönnte ich mir eine kleine Verschnaufpause und sah auf mein Handy. Sonnenaufgang. 4:13 Uhr. Huch, ich war schon gute zwei Stunden unterwegs? Das hatte ich gar nicht wahrgenommen. Aber ich nahm hingegen sofort wahr, dass ich definitiv in der allertiefsten Wildnis war: kein Netz. Sowas war man ja gar nicht mehr gewohnt. Unbehagen machte sich breit. Nun konnte ich nicht einmal auf dem Handy nachschauen, wo ich mich auf diesem Planeten befand. Wie war man früher eigentlich ohne dieses Wunder der Funktechnik ausgekommen?

Maulig zog ich weiter, denn mein Wettergespür hatte mich nicht getäuscht. Es wurde sehr schnell sehr tropisch heiß. Schon bald war meine Kleidung verschwitzt und klebte wie eine zweite Haut am Körper. Dabei trug ich bloß ein ärmelloses Shirt und eine kurze, weite Hose. Gekrönt wurde das Ganze von der ersten Blase am Hacken und der ersten Scheuerstelle auf der Haut an der Innenseite der Oberschenkel durch den klebrig nassen Hosenstoff. Meine Stimmung sank auf den Nullpunkt. Jeder Schritt schmerzte höllisch. Das Atmen war durch die hohe Luftfeuchtigkeit eine Tortur. Wie spät auch immer es sein mochte, es war mir mittlerweile völlig egal. Die Sonne war recht schnell aufgestiegen, hatte aber nach meiner Schätzung den Höchststand noch nicht erreicht. Ich gab auf. Ich war müde, hungrig und ausgetrocknet. Alles tat weh. So ließ ich mich an einem klaren Bächlein nieder, trank ausgiebig, kühlte die dick geschwollenen Füße und schlief an einem Baumstamm ein. Was sollte man bei der Hitze auch sonst schon bewerkstelligen?

Als ich wieder erwachte, hatte die Sonne ihren Weg schon weit fortgesetzt, und mein Handy bestätigte mir eine Nachmittagszeit. Mein Mittagsschlaf war demnach sehr umfangreich ausgefallen. Es war noch immer unbeschreiblich schwül. Der Weg war an seinen Rändern mit feinstem Gras bewachsen. Barfuß, um die schmerzende Blase nicht länger ertragen zu müssen, schlenderte ich lustlos weiter. So ein bescheuerter Ausflug! Wo war ich überhaupt? Wie weit mochte ich gekommen sein? Und noch viel wichtiger: Wie groß war der Abstand zum angestrebten Nachtlager?

Wie ich schon alles hinschmeißen und kampflos aufgeben wollte, entdeckte ich hinter einer Weggabelung ein naturbelassenes Tôri und dahinter eine von Steinlaternen flankierten Treppe. Ein Schrein! Ob ich dort nun jemanden antreffen würde oder nicht: Hier konnte ich wenigstens eine Rast machen und die Karte studieren. Ich war mittlerweile so erschöpft, dass mich innere kriminelle Energien antrieben, vor Hunger die Opfergaben des Schreins aufzufuttern und die Gebetshalle als Schlafstätte zu missbrauchen. Im heiligen Brunnen könnte man sich garantiert auch gut den Schweiß abwaschen. Leider zerplatze mein Traum wie eine Seifenblase, als ein junger Bengel hinter einer Gebäudeecke auftauchte. Er bemerkte mich erst gar nicht, da er emsig den Hof fegte.

Naja, vielleicht ist er ja ganz hilfreich, dachte ich mir voller stiller Hoffnung, und das war er dann zu meinem Glück auch.

Überschwänglich wurde ich als vermeintliche Pilgerreisende empfangen und mir zur Begrüßung eine Schüssel mit dampfendem Reis in die Hand gedrückt. Kurz darauf rekapitulierten wir zu zweit meine Wanderroute vom Bahnhof bis zum Schrein. Tatsächlich hatte ich in der Nacht wohl einen Abzweig übersehen und war parallel zu meinem Planweg immer leicht abschüssig gelaufen, anstelle auf der Hochebene zu bleiben. Daher war ich auch nicht an den markanten Punkten vorbeigekommen, die ich mir als Orientierungshilfe ausgeguckt hatte. Aber es würde auf der Karte schlimmer aussehen, als es wirklich wäre, beruhigte mich der freundliche, junge Herr. Ich wäre gar nicht mehr so weit entfernt von dem Ort entfernt, an dem ich nächtigen wollte. Es gäbe einen Trampelpfad, der mich wieder in die richtige Richtung bringen würde. Allerdings hätte es der Pfad in sich, denn er wäre sehr zugewuchert und stellenweise extrem steil. Dafür aber relativ kurz. Er schätze die Strecke auf gute vier oder fünf Kilometer ein. Ich könnte es bis zum Anbruch der Nacht schaffen.

Puh, doch noch so weit … Da atmete ich einmal kräftig durch, dankte für Speis' und Trank und kaufte noch ein Ema-Täfelchen. Die pilgernden Leute schrieben ihre Wünsche darauf und erhofften sich davon Glück, Gesundheit und Wohlstand. An so etwas glaubte ich zwar nicht, was es aber als Ritual ganz reizend. Ich skizzierte mit einfachen Strichen ein vierblättriges Kleeblatt und schrieb auf die einzelnen Blätter Yuuki, Asa, Kakashi und Sherenina. Sollten die Vorbeiziehenden, die die Namen vielleicht eher zufällig lesen würden, doch denken, was sie wollten. Ein Kleeblatt war nur zusammen komplett und brachte Glück. Ich hoffte, es würde bei uns Vieren auch so gut zusammenwachsen und halten. Ich vermisste die Drei sehr und überlegte, wie es eben wohl den Kindern da draußen in der Wildnis ergehen würde. Sicherlich besser, denn immerhin waren sie nicht allein. Ob Kakashi noch im Büro hocken würde? Was hatte der geplant, wenn ich am Zielort eintreffen würde? Da hatte der sich nicht in die Karten schauen lassen. Alles, was ich wissen müsste, gäbe es bei der Ankunft vor Ort zu erfahren. Ich strich nochmal über die einzelnen Blätter des Kleeblattes. Wie eine kleine Patchwork-Familie. Ich freute mich. Dann war es Zeit für den stillen Abschied.

Barfuß stiefelte ich weiter. Der schmale Trampelpfad wurde alsbald sehr steinig, weshalb ich meine Schuhe wieder anziehen und den wunden Blasenschmerz ertragen musste. Kurzum: Ich erreichte nach ungezählten Zwischenpausen das kleine Dorf mit geplantem Nachtlager, als die Sonne gerade untergegangen war. Freundlich im Ryokan empfangen, bezog ich mein kleines Zimmer. Die folgenden Schritte kann ich kaum noch aus dem Gedächtnis abrufen. Als ich ein heißes Bad zur Entspannung nahm, war ich beinahe in dem Becken vor Müdigkeit ertrunken. Das leckere Abendessen schaufelte ich nur noch mechanisch mit Streichhölzern in den Augen in mich hinein. Und dann musste ich auch schon sofort eingeschlafen sein. Noch nie war ich so froh, mich in eine weiche Decke kuscheln und meinen erschöpften Körper zur Ruhe betten zu können. Und hätte ich nicht auf der Stelle in den tiefen Schlaf gefunden, ich hätte wohl noch jeden Muskel und jeden Knochen gespürt.
 

Der zweite Tag meiner Reise sollte ein absoluter Reinfall in Bezug auf das Wetter werden. So richtig zum Abgewöhnen. Es begann schon mehr als ungünstig, dass ich komplett verschlief. Der kräftige Landregen hatte so gleichmäßig auf das Hausdach getrommelt, dass er mich weiter und weiter im Schlaf wog. Bis zur Mittagszeit hinweg. Hastig und angesäuert war ich dann aufgesprungen, hatte gefrühstückt und mit einem Blick auf die fast pechschwarze Wolkendecke erkennen müssen, dass es wohl heute mit dem Sonnenschein nicht allzu weit her wäre. Eine ganze Etappe durch den Regen. Na toll!

Wenigstens gut gestärkt von einem mehr als ausreichenden Frühstück trabte ich vom Hof. Dabei hatte ich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und meine Nase hinter dem Kragen versteckt. Erstaunlicher Weise hatte sich mein Körper während des Schlafes sehr gut erholt. Kein Muskelkater, keine schmerzenden Gelenke. Lediglich chronische Unlust wegen des Dauerregens musste ich selbst ertragen.

Das Antlitz der Landschaft hatte sich gewandelt. Der Weg führte aus dem Wald, dessen Blätterdach den Regen noch halbwegs abgefangen hatten, heraus und schlängelte sich nun um Gemüsefelder herum. Und genau das machte meine Wanderung noch unerträglicher. Durch die vielen Zickzack-Kurven um die Anbauflächen zog sich die Strecke ins Unermessliche. Man sah schon am Horizont das Ziel und lief immer wieder mit dem nächsten Bogen davon weg oder drum herum. Bei Sonnenschein wäre es sicherlich ein herrlicher Ausblick gewesen. Nun aber klatschten mir die großen, kalten Tropfen von allen Seiten entgegen. Der Weg verwandelte sich in eine schlammige Rutschbahn. Bei jedem Schritt gluckste und gurgelte es unter den Schuhen. Irgendwann machte es in meinem Hirn „klick“ und mein Körper reagierte nur noch mechanisch. Stur setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich dachte nicht mehr nach und ging und ging und ging. Immer mit gesenktem Kopf, um das Nass von oben auf meinen Wangen nicht so ertragen zu müssen. Vielleicht hatte ich sogar ein bisschen geheult, aber der Regen verwischte alle Tränen. Einmal machte ich doch eine kurze Rast, weil ich mal musste. Dabei entdeckte ich ein Erdbeerfeld. Erdbeeren bis an den Horizont. Und alle knallrot. Ich klaute ungeniert mehrere Hände voll von den Früchten und steckte sie mir sofort in den Mund. Zuckersüß und lecker! Wenigstens ein kleiner tröstender Farbtupfer an einem grauen Tag.

In meinem Frust hatte ich die Strecke erstaunlich schnell gemeistert und wäre wohl auch recht früh angekommen, hätte mich ein breiter Fluss nicht von dem Dorf getrennt, welches ich als zweites Etappenziel auserkoren hatte. Es hätte eine Brücke geben müssen … hätte … Ein mickriges Schild kommentierte die Brückenüberreste. Ein Hochwasser vor wenigen Tagen hatte den Rest mitgenommen. Maannnn, das darf doch alles nicht wahr sein! Es war nun richtig zum Heulen. Also nochmal eine gute dreiviertel Stunde flussaufwärts zur nächsten Brücke. Und dann alles wieder auf der anderen Flussseite zurück. Der Tag war wirklich zum Abschminken.

Wenigstens war die Unterkunft zwar sehr rustikal-spartanisch, aber ebenso gemütlich wie die der letzten Nacht. Und man bot mir sogar an, meine Kleidung zu waschen und die Schuhe zu reinigen. Na, das war doch mal ein Service! Dennoch lag ich auf meinem Futon noch länger wach, als ich wollte, weil der Frust so an mir nagte. Morgen. Da könnte ich meinen Weg endlich geschafft haben. Wenn ich aber die Sache weiterdachte, dass ich auch alles wieder zurücklaufen müsste, wurde mir echt schlecht. Hoffentlich würde morgen mal das Wetter ein bisschen netter zu mir sein. Am Liebsten hätte ich Kakashi mal übers Telefon mitgeteilt, was ich mittlerweile von der ganzen Spaßmission hielt, doch ich hatte nach wie vor keinen Empfang. Haha, das hatte der doch garantiert eingeplant, weil er sich meine Motzerei nicht antun wollte. Aber davon mal ab, hätte mich auch interessiert, wie es Yuuki und Asa auf deren Trainingsmission gehen würde. Alle Drei fehlten mir.
 

Am nächsten Morgen kitzelte mich zu einer viel zu frühen Uhrzeit ein Sonnenstrahl an der Nase. Meine Gebete an den Wettergott, die ich gar nicht gesprochen hatte, waren trotzdem erhört worden. Die Sonne strahlte von einem einzigartigem, blauen Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen. Schnell schwang ich mich aus meinem Nachtlager und musste mich erst mal kräftig strecken. Obwohl ich sehr gut geschlafen hatte, spürte ich nun die Anstrengungen der letzten zwei Tage. Meine Unsportlichkeit rächte sich nun. Überall zwickte und zwackte es. Aber heute, heute würde ich ankommen. Und wehe, es hätte sich nicht gelohnt! Für solch eine Plackerei müsste meiner Ansicht nach auch wirklich etwas herausspringen.

Der Wettergott meinte es tatsächlich gut mit mir. Zur Mittagszeit sogar viel zu gut. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel, jedoch war es nicht so schwül wie vor zwei Tagen. Dafür hatte ich mir fix einen kräftigen Sonnenbrand eingefangen. Meine Reise führte mich nun durch Wiesen und an Waldrändern entlang. Rechts und links wuchsen die Berge immer höher in den Himmel. Der Fluss zwischen jenen schwoll immer weiter an und wurde zu einem breiten Strom. Und irgendwo flussabwärts musste dann Tanigakure liegen.Da ich immer weiter in dieses Tal hinabstieg, hatte ich aus der Höhe am Horizont das Dorf schon einmal kurz erspähen können. Das motivierte mich ungemein. Meine Schritte wurden flinker. Nur noch durch ein Waldstück hindurch und ich hätte es wohl in gut einer Stunde geschafft.

Und ab da geschah etwas, was ich mir in dem Moment, als es passierte, nicht erklären konnte. Es war so bizarr und zugleich so unheimlich, dass es mir noch lange im Hirn eingebrannt war. Gerade wollte ich den Wald passieren, als mich das einholte, was ich auf gar keinen Fall erleben wollte: Räuber! Vier an der Zahl traten aus dem Buschwerk heraus, bauten sich vor mir auf und blickten sehr abfällig auf mich. Das Quartett hätte unterschiedlicher nicht sein können. Sie trugen alle dieselben Ponchos und Gesichtsmasken, dass man nicht sehen konnte, mit wem man es zu tun hatte. Noch nicht einmal, ob es nun Männlein oder Weiblein wären. Nur ihre Größen in die Länge und in die Breite waren nicht miteinander kompatibel. Allerdings spielte es nun auch keine Rolle mehr, woher sie kamen und wer sie waren. Schon in wenigen Minuten würde ich dieses Wissen nicht mehr brauchen, weil ich hier mit aufgeschlitzter Kehle im Straßengraben läge. Vermutlich auch noch ausgeraubt und missbraucht. Wem da nicht sofort die Düse ginge, der hinge wohl nicht an seinem Leben. Zu den Schweißperlen durch die Hitze kamen nun die Angstperlen dazu.

„Taschenkontrolle!“, trällerte der Größte von ihnen los und empfand wohl seine Form des Überfalls als extrem komisch.

Zwei von ihnen zogen Messer. Der Vierte hockte sich hin und formte ein Fingerzeichen. Nicht lustig!

Nein, nein! Ich wollte nicht! Bloß weg! In meinem Kopf schaltete sich sämtliche Logik aus. Auf dem Absatz kehrtmachend rannte ich quer von ihnen weg ins Dickicht. Dabei dachte ich weder darüber nach, ob mir die diebischen Vier wohl sportlich überlegen sein könnten, noch wie sehr ich vom Weg abkam. Meine Beine verfingen sich in Kletterpflanzen, Äste schlugen mir ins Gesicht. Plötzlich raunte es in mein Ohr:

„Hab' dich!“

Boah, wo kam der denn plötzlich her? Es war einer der beiden Mittelgroßen. Er wollte mich packen, doch ich schlug einen Haken wie ein Feldhase und spürte nur noch, wie Fingerkuppen an meinem Unterarm vorbeistriffen. Puh, das war knapp! Wohin nur? Wohin? Umsehen war völlig unmöglich. Die Bande war definitiv schneller als ich.

Und nun geschah das Unheimliche. Nebel! Dicker, fetter Nebel, dass man noch nicht einmal seine Hand vor Augen sehen konnte. Wie konnte es bei dieser Wetterlage aus heiterem Himmel so nebelig sein? Ein Jutsu? Gab es ein Nebel-Jutsu? Bestimmt! Ich erinnerte mich, dass Kakashi von Shinobis erzählt hatte, die aufgrund der schlechten Auftragslage in Friedenszeiten ihrem Dorfe den Rücken gekehrt hatten und sich nun durch Wegelagerei oder Zirkustricks über Wasser hielten. Das wurmte ihn sehr, denn immerhin trieb da nun teuer ausgebildetes und hochqualifiziertes Personal sein Unwesen in der Weltgeschichte und versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Die Abtrünnigen zu fassen, war schier unmöglich. Man kannte alle Shinobitricks untereinander. Kakashi sah in den Dorfverrätern schon eine gewisse Landplage, die es zu kontrollieren und beseitigen galt. Eine Handvoll Teams hatte daher nichts anderes zu tun, als in den Wäldern des Feuer-Reiches zu patrouillieren und am Besten die Gesuchten sofort zu eliminieren. In dem Punkt war Hokage-sama schier gnadenlos. Ich möchte schon fast sagen, ein wenig verbohrt.

Doch all das Hintergrundwissen nutze mir wenig, denn Kakashi war weit, weit weg zuhause und ich rannte hier gerade um mein Leben. Der künstliche Nebel tat wohl das, was er sollte. Ich sah nichts mehr. Aber anscheinend die Angreifer auch nicht. Das machte mich stutzig. Was sollte denn ein Nebel bewirken, der einem selber als Täter nur Nachteile brachte? Da stand ich nun mitten im Nebel und bewegte mich keinen Millimeter. Ich lauschte in die weiße Wand hinein, doch sie schluckte alle Geräusche. Meine größte Sorge war, dass ich entweder zufällig einem Verfolger in die Arme stolperte oder umgekehrt. Beides wäre wohl mein Ende. Von einer Sekunde auf die andere teilte sich vor meinen Füßen die Nebelbank in zwei Hälften. Ging es da aus der Not heraus oder in eine Falle hinein? Ich hatte Angst und wollte nur noch weg. Also nahm ich beide Beine in die Hand und rannte den frisch entstandenen Korridor entlang, der sich hinter mir sofort wieder schloss. So schnell war ich wohl in meinem Leben nicht gerannt. Meine Lungen pfiffen auf dem letzten Loch. Da wurde es schon heller am Ende des Nebeltunnels. Das Ende des Nebels. Das Ende des Waldes.

Ich kam dort bei dem Weg heraus, wo ich noch gerade eben auf die Räuber getroffen war. Ich hielt nicht an, hing mir die Panik im Nacken, man würde mich auch außerhalb des Waldes verfolgen, weil ich ein lästiger Zeuge wäre. Doch als ich den Wald hinter mir gelassen hatte, versagten meine Beine und der Kreislauf. Am Feldrand brach ich zusammen, rollte mich auf den Rücken und schnaufte wie eine Lokomotive. Ich drehte den Kopf zum Wald, konnte aber keinen Verfolger ausmachen. Hatten sie wohl doch von mir abgelassen?

Mit geschlossenen Augen holte ich tief Luft. Das war echt gruselig. Ein Zittern erfasste meinen gesamten Körper. Das war doch eben alles nur ein ganz böser Albtraum. Und jetzt war wieder alles so, wie es vorher war. Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein, singende Vögel und ein laues Lüftchen. Der Spuk war vorbei. Ich konnte es kaum glauben.

Erst als ich mich beruhigt hatte, setzte ich meinen Marsch fort. Tanigakure lag zum Greifen nahe und sah wirklich sehr beeindruckend aus. Das Dorf wurde von drei Seiten mit einer hohen Stadtmauer geschützt. Die vierte Seite wurde durch den Abgrund einer gewaltigen Schlucht begrenzt. Der Fluss, der mich am heutigen Tage begleitet hatte, stürzte als übermächtiger Wasserfall tosend in die Tiefe hinab, nur um sich dort unten mit dem Wasser von anderen Flüssen und Bächen zu vereinen, welche an vielen Stellen ebenfalls über die Kante flossen. Ich hielt inne und beobachtete in dem Naturschauspiel einen wunderschönen Regenbogen. Die hohe Stadtmauer gab nicht viel von den Stadtgebäuden preis, wohl aber von einer kleinen, aber nicht weniger majestätischen Burg. Hier musste wohl ein Daimyo das Sagen haben. Auf alle Fälle machte der Ort Lust auf mehr.

Planlos ging ich durch die Straßen und sah mich um. Schön war es hier. Schlichte Häuser, saubere Straßen, kleine Läden, wenig Bevölkerung. Ein wenig Dornröschenschlaf hielt das Dorf in seinem Bann. Mein Ziel war es gewesen, hier anzukommen. Das hatte ich nun geschafft. Doch wie sollte es nun weitergehen? Hm, eine Unterkunft wäre so oder so sinnvoll. Ich fragte mich durch nach einer preiswerten, aber guten Schlafstätte und wurde von den netten Einwohnern zu eben jener gelotst. Dumm nur, dass das Gasthaus gerade geschlossen hatte. Ich würde mich also in dem übersichtlichen Ort weiter umsehen müssen. Etwas mürrisch schlürfte ich die Straße hinunter und machte an einem Teeladen halt. Tee war an sich super. Aber Kaffee wäre noch besser. Den hatte ich hier nur noch nicht entdecken können. Kaffee. Ein Königreich für einen Pott Kaffee! Müde saß ich da auf einem Höckerchen und sah dem Tee beim Ziehen zu. Meine Kleidung stank nach Schweiß, überall hatte ich noch Dreck von meiner Flucht durch den Wald auf der Haut. Meine lockigen Haare drehten sich zu wilden Rasterzöpfchen. Wie ein kleiner, zerrupfter Spatz. Hässlich und abstoßend. Da war ich doch total von der Rolle, als ich von der Seite ganz höflichst angesprochen wurde.

„Ist hier noch frei?“

Klar, war ja nicht viel los. Viele Plätze waren noch frei. Und trotzdem sollte es ausgerechnet der Platz neben mir sein. Und als ich dann aufsah, bekam ich Schnappatmung. Bei allen Sinnen, die ich besaß: Wären wir auf offener Straße aneinander vorbei gegangen, ich hätte ihn nie und nimmer erkannt. Und auch jetzt, so wie er mir direkt gegenüberstand, bedurfte es einen zweiten oder gar dritten Blickes, um das zu erkennen, was es zu erkennen galt. Ich dachte, ich träumte. Shinobis sind Meister der Täuschung und der Verwandlung. Aber das hier übertraf echt alles. Braune Haare mit langen Strähnen, die ihm bis in die Augen hingen. Braune Augen, ebenso braun wie die Haare. Lila Streifen unter den Augen und ein übertünchtes Tattoo auf dem Oberarm. Dazu ein schlichtes T-Shirt und eine knielange Hose. Allerdings hatte er viel mehr Gepäck als ich dabei. Ein großer, prallgefüllter Rucksack stand neben ihm auf dem Boden.

Doch die farbigen Kontaktlinsen konnten nicht das neckische Augenblitzen verstecken und das etwas verlegene Grinsen. Ich kannte es. Ich würde es überall wiedererkennen.

Verdattert formten meine Lippen seinen Namen, doch er fiel mir sofort ins Wort, noch ehe ich es ausgesprochen hatte.

„Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Sukea“, und reichte mir dazu höflich die Hand.

Langsam löste sich meine Schockstarre auf, wie ich den Händedruck erwiderte. Ich musste gestarrt haben, als hätte ich den heiligen Gral entdeckt.

„Angenehm. Ich bin heute zum ersten Mal hier. Wie lange verweilen Sie schon in diesem Ort?“, murmelte ich und stieg somit in das abgedrehte Spiel ein. Es war unglaublich. Einfach nur unglaublich.

Er erzählte mir, dass er gegen Mittag den Grenzbahnhof erreicht, sich dann querfeldein geschlagen und mich sogar an dem Ort meines Überfalls überholt hätte. Er hatte mich überholt... Der Nebel...

„Das warst du?!“, rief ich lauthals aus und kam meinem Zustand der Schockstarre schon wieder sehr nahe.

Nur sein Zeigefinger auf seinen Lippen als Geste, meine Lautstärke zu zügeln, erinnerte mich daran, dass wir in einem Teeladen mitten in der Öffentlichkeit saßen und unsere Anwesenheit nicht unbedingt auffliegen sollte. Das war ja einerseits total super, dass er mich eingeholt hatte, weil mich sein Nebel-Jutsu rettete. Aber andererseits war es auch total frustrierend. Da hatte ich mich dreieinhalb Tage meines Lebens durch Wind und Wetter gequält, mich nachts zu Tode gefürchtet, hatte Hunger und Schmerz ertragen und war so unendlich stolz über meine erbrachte Leistung. Was aber musste man dann hören? Ein Shinobi brauchte für die Gesamtstrecke sage und schreibe poplige fünf Stunden, weil er geschwind von Ast zu Ast hüpfte. Das war böse und gemein. Und frustrierend. Nein, es war niedermachend! Nun saß ich hier, spürte einen Kloß im Hals wachsen und wurde auf meinem Stuhl immer kleiner. Warum hatte ich mir ausgerechnet den als Freund ausgesucht und nicht irgendeinen ganz anderen Kerl? Einen, der normal war und nicht so durchgeknallt in der Birne wie der da.

„Du bist doof“, schmollte ich ihn an. „Und was machen wir nun hier?“

„Erzähl ich dir unterwegs.“

Und da wurde ein kleiner zerrupfter Spatz tröstend von einer Vogelscheuche mitgenommen.

33 - Der Tag, an dem ich Tenzô beeindruckte

Wie zwei unscheinbare Rucksacktouristen schlenderten wir durch die Straßen und Gassen des kleinen Ortes. Ich konnte Kakashi überhaupt nicht lange sauer sein. Lieber genoss ich es, so unbeschwert meine Zeit mit ihm verbringen zu können. Niemand erkannte ihn, also beachtete man ihn auch gar nicht oder sprach ihn gar an. Einzig und allein, dass er so frisch und munter und ich hingegen so dreckig und abgekämpft daherkamen, brachte uns vereinzelt stutzige Seitenblicke von Entgegenkommenden ein. Unsere Kombination schien im Gesamtbild nicht so ganz zusammenzupassen. Es war wohl das erste Mal überhaupt, dass wir so viel ungestörte Zeit am Stück füreinander in aller Öffentlichkeit hatten.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern zog Kakashi ziemlich viel außerhalb seines Büros durch Konoha. Meist allein, weil er dann besser nachdenken konnte. Das Hocken in den vier Wänden würde ihn auf Dauer wahnsinnig machen. Eine tagtägliche Frischluftkur durch die Parks und am Fluss entlang waren da eine willkommene Wohltat. Aber irgendein Passant oder Shinobi quatschte ihn dann doch immer mal wieder von der Seite an. Es gab kaum einen Rundgang durchs Dorf ohne Smalltalk. Zu offiziellen Anlässen zog er meist mit Gefolge im Schlepptau los. Zwar war sein Stab an vertrauten Köpfen recht wenig an der Zahl, aber immerhin war der gezwungenermaßen zugegen. Und wenn es mal über die Stadtgrenze von Konoha hinausging, dann war so ein Hokage im Dienst grundsätzlich nie allein. Ohne Aufpasser in der freien Wildbahn herumspazieren? Ohne Begleitung Zugfahren? Undenkbar! Da war bei solchen Ausflügen neben dem Beraterstab noch eine Handvoll ANBU beschäftigt. Kakashi fand die ganze Aufregung um seine Person viel zu übertrieben. Wenn ihm etwas passieren sollte, so gäbe es immer irgendjemanden, der nachrücken könnte. Jeder war nun mal ersetzbar. Das Hofprotokoll jedoch verlangte nach einer Horde an Fußvolk und dem hatte man sich seufzend zu beugen. Ihn nervte das ganze Amt, welches ihm von Tsunade aufgedrückt worden war. Lieber wäre er wieder ein ganz normaler Jonin, wie alle anderen auch. Aber wer in seinem Leben so viel Mist verzapft hätte wie er, der müsste dafür halt auch mal geradestehen. „Sukea“ war schon fast der Ausbruch aus dem goldenen Käfig.

„Ich wusste, dass du mich sofort erkennst“, wurde ich gelobt. „Gai hat es bis heute nicht rausbekommen, obwohl er damals nur gefühlte zwei Zentimeter vor mir stand.“

„Naja, seine Inselbegabung liegt ja auch beim Tai-Jutsu...“, gab ich zu bedenken, dass wir beide kurz über diesen kleinen Witz schmunzeln mussten.

„Befriedigst du nun meine Neugier?“, bohrte ich nach, denn nur allein meiner Bespaßung wegen lohnte sich dieser ganze Maskerade-Aufwand hier absolut nicht. „Oder erahnst du hier zu viele unliebsame Mithörer, dass du nicht darüber sprechen kannst?“

„Der Feind hört mit? Nein, sicherlich nicht. Die Sache ist recht einfach. Die Daimyô der fünf Großreiche können es sich aufgrund ihrer politischen Machtstellung leisten, sich ein feste Shinobi-Truppe samt Kage zu finazieren. Da wir in friedlichen Zeiten leben und wir Kage uns meist einig sind, können wir gut miteinander kommunizieren. Deshalb war das auch gar kein Problem, wenn man es gut begründen kann, fremde Personalakten anzufordern. Wie damals beispielsweise die Unterlagen von deinem Freund ...“

Kakashi stoppte seinen Satz, weil er genau wusste, dass er da einen ganz wunden Punkt getroffen hatte. Dieses Vorab-Ausspionieren, bevor wir überhaupt zusammengekommen waren, bohrte tief in mir. Und das hatte ich ihm auch mal zu einer passenden Gelegenheit genau so und nicht anders um die Ohren geschlagen. Ich konnte vergeben, aber nicht vergessen. Es hatte anschließend zwar eine tagelange Eiszeit zwischen uns eingeläutet, doch so schien das Thema halbwegs geklärt. Deshalb tat ich nun so, als hätte ich mich noch nie über diesen wunden Punkt aufgeregt. Und weil Kakashi von mir keine Reaktion bekam, fuhr er dann mit seinen Ausführungen fort.

„Das Fluss-Reich hat wenig Einfluss auf die Großreiche. Sie können sich darüber hinaus nicht so ein militärisches System leisten wie wir. Hier gibt es zwar auch eine Handvoll Shinobis, um den Daimyô beizustehen oder um als Bote zu dienen, mehr aber auch nicht.“

Zwischenzeitlich hatten wir an einem Verkaufsstand halt gemacht. Mein Magen hing schon in den Kniekehlen. Wenn mein Freund mich nun mit so vielen Informationen abfüllen wollte, die ich auch alle noch kapieren und behalten sollte, dann musste dieses Hungergefühl am besten jetzt sofort enden. Ein paar Münzen später kaute ich hochkonzentriert auf ein paar Dangos herum. Natürlich bot ich ihm mit dem Hinweis „Die sind echt nicht so doll süß!“ auch welche an, doch er lehnte dankend ab. Da ich nun ganz viele für mich allein zum Kauen hatte, kamen mir auch gute Schlussfolgerungen in den Sinn.

„Hm, wenn ich das also richtig verstanden habe, dann hängt es wohl mit diesem Gerücht zusammen, was du gerne geklärt haben möchtest“, dachte ich laut nach. „Und weil hier kein Kage oder sonstige verbündete Person ist, kannst du auch niemanden befragen. Richtig?“

„Sehr richtig!“

„Und warum schickst du dann nicht einfach deine Truppe los, um es herauszufinden?“

„Weil das hier eine reine Privatsache ist. Das geht niemanden etwas an.“

„Ahaa...!“, grübelte ich, denn das wurde ja immer mysteriöser.

So langsam dämmerten mir die Zusammenhänge. Ein Team auf Mission zu schicken, bedurfte eines Auftrages gegen Geld. Also hätte er seine eigenen Leute aus eigener Tasche bezahlen müssen, weil es hier um etwas ging, was nichts mit der Sicherheit Konohas zu tun hätte. Es wäre schwer, solch eine Mission zu rechtfertigen, wäre sie unentgeltlich. Da es zumal etwas sein musste, was wohl auch nicht für jeder Ohren bestimmt wäre, blieb Kakashi wohl im Endeffekt nichts anderes übrig, als der Sache selber auf den Grund zu gehen. Und weil er wiederum nicht einfach so aus dem Dorf abhauen durfte, musste er schon etwas tiefer in die Trickkiste treiben.

„Was hast du vor? Willst den Fall nun allein lösen? Ich bin da sicher keine große Hilfe bei. Und was ist, wenn dir was passiert? Dann ist doch garantiert zu Hause das Geschrei riesig“, teilte ich nun das Ende meiner Gedankengänge mit.

„Bei dir nicht?“ fragte er gespielt enttäuscht.

„Schatz, ich nehme auch das von dir, was hinterher übrig bleibt und hab es ganz doll lieb!“, konterte ich zynisch mit schnippischem Unterton, weil er meine Meinung dazu ganz genau kannte.

Wir beide hatten schon einen echt schrägen Humor.

„Dann bin ich ja beruhigt. Aber um deine Frage zu beantworten: Wir müssen noch auf Tenzô warten.“

Tenzô. Ja, wer auch sonst? Das dynamische Duo unterwegs. Also musste die ganze Angelegenheit doch größer sein, als geahnt. Sonst hätte er auch Gai oder „wen-auch-immer“ mitnehmen können. Was sollte ich eigentlich hier? Na egal, würde ich schon noch mitbekommen. Erstmal freute ich mich über meine heißgeliebte Gesellschaft.

Tanigakure lag nicht nur zwischen den Bergen versteckt, sondern spiegelte auch das Fluss-Reich in kleinen Facetten wider. Viele Brunnen, Kanäle und Kaskaden durchzogen den kleinen Ort und machten seinen ganz besonderen Charme aus. Da war es völlig normal, dass es in vielen Winkeln des Dorfes kleine Badehäuser gab. Schon beim nächstbesten, öffentlichen Bad hielten wir inne, welches an einer begrünten Kreuzung mit schattigen Bäumen lag.

„Ich würde sagen, du verschwindest im Bad und ich besorge was zu essen. Und dann warte ich dort drüben auf dich“, schlug Kakashi vor, da ich noch immer aussah, als hätte ich den ganze Weg nicht zu Fuß abgeschritten, sondern mit dem Spaten gepflügt.

Er deutete unauffällig auf eine abgelegene Parkbank am Rande des Platzes. Ja, das war ein guter Plan, konnte ich mich schon selbst nicht mehr ausstehen. So dreckig und zerzaust. Das Badehaus war sehr traditionell. In einem Vorraum, wo man den Eintritt zahlte, standen ordentlich in Regale sortiert nummerierte Weidenkörbe mit Badeutensilien von regelmäßig einkehrenden Badegästen. Für Gelegenheitsgäste wie mich gab es einen Extrakorb mit Seife, Waschlappen, Handtuch und Yukata. Am Ende des Raumes ging es weiter durch die Umkleide, von dort in den Duschraum mit den Badehockern und Waschschüsseln, dahinter lag ein kleines Becken mit heißem Wasser zum Entspannen. Gern hätte ich mich da länger aufgehalten, doch ich wollte Kakashi ungern warten lassen und stand recht schnell wieder vor dem Bad auf der Straße.

Tatsächlich war er mit dem Einkauf schon fertig. Eine große braune Papiertüte stand gut gefüllt neben dem Rucksack auf dem Boden. Auf der Bank saß Kakashi und döst. Unglaublich, aber wahr: Kein Schmöckern in längst ausgelesenen und zerfledderten Kitschromanen mit detailgetreuem Techtelmechtel, sondern nur stumpfes Dahindämmern. Ein Bild für die Ewigkeit. Obgleich man sich bei ihm nie sicher sein konnte, wie weit er gerade von seiner Umwelt abgeschaltet hatte. Da müsste nur ein Blatt im Busch schieftönig rascheln und schon wäre der mit allen Sinnen wieder hier bei uns.

Ich betrachtete ihn eine Weile aus der Entfernung, wie er da so mit lang ausgestreckten Beinen und verschränkten Armen saß. Es erinnerte mich, wie er zum allerersten Mal bei mir in der Küche in eben dieser Haltung auf meinem Stuhl gesessen hatte. Damals, als ich noch gar nicht wusste, wer mir da ins Haus geschneit war. Wenn ich zurückdachte, wie viel Angst ich damals vor ihm hatte, konnte ich jetzt darüber lachen.

Zurückblickend gab es da für mich oder Yuuki nichts zu fürchten. Es war Kakashis Unsicherheit, die ihn auf die Idee gebracht hatte, sich als ANBU zu tarnen, um sich uns Stück für Stück annähern zu können. Wäre die Idee nicht so verlaufen, wie geplant, hätte man sich auch ebenso wieder zurückziehen können. Ohne Aufsehen, ohne Drama. Eine ganz geschickte Masche, um ein vom Lebenslauf aufgedrücktes Handicap in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungskisten zu vertuschen. Kakashi, der sonst immer so überlegen und selbstsicher wirkte, hatte da seine Schwierigkeiten, auf andere zuzugehen. Man distanzierte sich lieber und blieb förmlich höflich, aber immer mit einer Prise Arroganz, damit bloß niemand auf die Idee kommen könnte, es länger mit ihm aushalten zu wollen. Außerdem hätte man so schnell durchschauen könne, was bei ihm alles Können wäre und was nur Fassade war. Trotzdem hatte ich schon herausgefunden, dass er auch eine verdammt große Portion Traurigkeit in sich trug, die getröstet werden wollte.

Und viel Dunkelheit. Diese Dunkelheit konnte sehr verstörend und erschreckend sein. Seit er mir seine Geschichte erzählt hatte, konnte ich es sogar verstehen. Fremd war es mir dennoch. Akzeptieren war schwer möglich. Sie brach einfach aus heiterem Himmel bei ihm durch und ging auch ebenso schnell wieder. Manchmal konnte man gar nicht nachvollziehen, warum es so war. Dann hatte er Phasen, in welchen er einfach nur nachdenklich nostalgischen Erinnerungen und Selbstzweifeln nachhing.

Da wollte ich auch gar nicht so genau wissen, was er vorhin mit den vier Gestalten im Wald gemacht hatte. Es mochte nur ein Zufall gewesen sein, dass Kakashi just in der Sekunde auftauchte, als ich in Not war. Aber ich war mir sicher, dass er so etwas spüren konnte und Yuuki und ich nun auch zu dem Kreis gehörten, die es neben Asa mehr als alles andere zu beschützen galt. Als ich aus dem Wald herauskam, hatte ich mich schon fast gewundert, weshalb die Angreifer von mir abgelassen hatten. Nun war ich zwar nicht unbedingt schlauer, weil wir über den Überfall noch kein weiteres Wort verloren hatte. Doch ich konnte mir vorstellen, dass die entweder tot über'm Zaun oder verscharrt in der Erde lagen. Alle Vier. Keine Zeugen. Beschützer-Mission erfüllt. Mir jagte diese Art der Problemlösung einen eiskalten Schauer über den Rücken. Manchmal war er einfach so. Dann spulten sich fest antrainierte Muster in seinem Kopf ab.

Ich befreite mich von all den Gedanken und hielt schnurstracks auf die Bank zu. Sofort drehte er seinen Kopf zu mir. Ein Lächeln begrüßte mich. Konnte man so einem wirklich auf Dauer böse sein? Nein, das klappte nicht.

Weiter ging's! Keineswegs würden wir innerhalb der Dorfmauern nächtigen. Sukea wollte wieder Kakashi werden, und Tenzô hätte es leichter, im frühen Morgengrauen zu uns zu stoßen, wenn er nicht jedes einzelne Haus abklappern müsste. Knapp außerhalb böte sich ein Waldgebiet als Unterschlupf an. Man nannte es „Mosaikhain“, weil viele Lichtungen und Bachläufe den Wald zerschnitten. Und so war es tatsächlich. Der Hain erinnerte mich sehr an den Tag, wie Asa und Yuuki den Trainingsplatz überschwemmt hatten und die Bäume wie Leuchttürme aus den Fluten ragten. Allerdings war es hier in keinster Weise sumpfig. Erst hatte ich schon Mückenplagen befürchtet, aber Kakashi beruhigte mich. Mücken würden nicht mehr oder weniger als anderswo kreisen. Es wären ja alles Fließgewässer um uns herum. Der Erdreich wäre erstaunlich trocken.

Es war wie in einem Märchenwald. Die mittlerweile tiefstehende Sonne leuchtete mit warmen Strahlen wie orangene Scheinwerferlichter zwischen den Stämmen der hohen Laubbäume auf den Boden. Das Licht überzog die Fauna mit einem Kupferton. Überall flogen die Pflanzenpollen umher und wirkten wie kleine Elfen. Das Surren einzelner Insekten klang wie das Schlagen von Elfenflügeln. Die kleinen Bächlein waren bestimmt verwunschene Quellen. Auf den vielen Lichtungen standen Pflanzen in voller Blüte. Wildblumen in Hülle und Fülle. Wunderschön!

„Warum hast du diesen Wald ausgewählt?“, fragte ich neugierig.

„Ich mag ihn einfach“, lautete die lakonische Antwort.

Aha, da war ich aber platt. Ich hatte irgendetwas Strategisches erwartet, nicht die pure Geschmacksbefriedigung. Es ging noch etwas tiefer in den Wald hinein, bis man den Waldrand und das Dorf nicht mehr erspähen konnte. Logisch, wir wollten ja ein Feuer machen. Das würde man sonst später in der Dunkelheit sehen können. Drei oder vier Lichtungen später war Kakashi mit dem Rastplatz zufrieden. Unsere auserkorene Lichtung war nicht größer als eine Gartenparzelle. Aber es genügte, um über unseren Köpfen den wolkenlosen Farblauf des Abendhimmels zu sehen. Neidisch blickte ich auf Kakashis Finger, die sich blitzschnell formten und ein kleines Feuerchen entfachten. Ich selbst hätte hier wohl ewig mit einem Feuerzeug gesessen. Bei meinem Glück wäre dieses dann auch noch defekt und ich müsste wie die Steinzeitmenschen zwei Feuersteine aufeinander schlagen. Feuertraum ade! Vermutlich würde ich später bestimmt auch das Pech einkassieren, weit und breit auf dem einzigen Ameisenhügel zu schlafen, sämtlichen Zecken auf meiner Haut ein neues Quartier zu bieten und am nächsten Morgen Millionen von Mückenstiche aufzukratzen, auch wenn mein Freund behauptete, es gäbe nicht so viele. Ein Seufzer entfuhr mir über diese Horrorvision, während ich ausgehungert die Einkaufstüte plünderte. Tanigakure war bekannt für seine Süßwasserfische. Demnach fand ich eben jene im Inneren. Ich spießte sie auf lange Zweige, damit sie über der Flamme grillen konnten. Süßkartoffeln rollte ich an die Glut, dass sie gar werden würden. In einem Becher war eine würzig-scharfe Öltunke. Mit einem trockenen Weißwein spülten wir das Mahl herunter. Alles zusammen schmeckte unerwartet göttlich. Der Hunger trieb es rein, aber es war wirklich gut.

Wir sprachen kaum. Das hätte auch irgendwie nicht so gepasst. Die Müdigkeit holte mich ein. Längst bettete sich mein Kopf auf seinem Oberschenkel, während ich meinen Fisch vom Zweig knabberte und genoss das Kraulen auf meinem Rücken.

„Was issen das da?“ nuschelte ich verschlafen und zeigte grobmotorisch hinüber zum Wald.

Da hatte ich etwas entdeckt. Es waren keine Feuerfunken. Aber mit der halben Flasche Weißwein im Kopf und der Müdigkeit war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich dort drüben wirklich kleine Lichtpunkte sah oder lediglich halluzinierte. Obgleich der Wein laut Etikett kaum Umdrehungen aufwies, lag der bei mir schwer im Magen und noch schwerer zwischen den Ohren.

„Meinst du die Glühwürmchen?“

„Echt jetzt?“

Glühwürmchen. Ich hatte noch nie Glühwürmchen gesehen. Da wollte ich mich flugs aufrichten, um genauer sehen zu können, kam mit meinem Kopf aber nur bis zu seiner Schulter, wo ich die schwere Hirnkugel gleich wieder ablegte. Die letzten drei Tagen waren ein totaler Raubbau an meinem untrainierten Körper gewesen. Nun war ich ausgepowert und müde und sehnte mich nach Streicheleinheiten. Ganz automatisch schlang ich meine Arme um ihn und hielt mich wie an einem Kuscheltier fest. Dort, wo meine Lippen seine Haut berührten, küssten sie ihn. Meine Finger suchten ihren Weg überall entlang und streiften Haarsträhnen, die nun wieder weißgrau waren. Meine Augen trafen auf seine Augen, die nun wieder dunkel waren.

„Ich hab' dich so vermisst!“, gab ich kleinlaut zu, denn sonst tat ich immer so, als könnte ich alles ertragen ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich weiß. Und es tut mir leid.“

„Was tut dir leid?“

„Dass ich dich viel zu oft allein lassen musste.“

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich es mitten im Wald auf einer Lichtung unter freiem Himmel trieb. Es war irgendwie anders. Intensiver, leidenschaftlicher, wilder. Sterne tanzten vor meinen Augen und damit meinte ich nicht die, die über uns von einem nachtblauen Firmament herabschienen. In den Sternenbildern verlor ich mich erst später, kurz bevor mir die Augen zufielen.
 

Es war eine weit vorgerückte Stunde, als ich erwachte. Hoch oben zwischen den Baumwipfeln graute schon der Morgen. Mich hatte nichts ungewöhnliches geweckt. Kein verdächtiges Geräusch oder ein ungutes Gefühl. Das Bedürfnis war rein menschlicher Natur, weshalb ich mich aus dem warmen Schlafsack und von Kakashis Seite schälte. Es war frisch. Fröstelnd schlich ich zum nächsten Baum, erleichterte mich und wollte den Rückweg antreten.

„Guten Morgen!“, trafen mich da geflüsterte Worte, dass ich vor Schreck zusammenzuckte.

Sachte wurde mir eine Hand auf den Mund gehalten, damit ich nicht laut aufschrie. Nach dem Ende des Schreckens wurde sie auch sogleich zurückgezogen. Natürlich kannte ich die Stimme und noch mehr die Person, die sie ausgesprochen hatte. Allerdings hatte ich sie nicht hier und jetzt erwartet. Im Halbschlaf dauerte die Stapelverarbeitung im Gehirn eh länger.

„Seit wann bist du denn hier?“, fragte ich irritiert und dann schoss mir etwas komplett absurdes durch den schlaftrunkenen Kopf.

„Hast du mir etwa beim Pinkeln zugeschaut?“, fragte ich streng.

Völlig überfahren zuckte Tenzô zusammen und schüttelte sofort den Kopf.

„Nein, ich bin doch gerade erst gekommen ...“

„Gekommen? Schwein!“, zog ihn meine Kodderschnauze auf.

Ich kicherte und unterdrückte ein lautes Auflachen. Ha, diesen Spaß liebte ich sehr. Sowohl Kakashis, als auch Tenzôs Gesichtsfarbe konnte man mit solch Zweideutigkeiten sofort in ein hübsches Rot verwandeln. Keiner der beiden nahm es einem krumm, denn sie konnte beide ebenso austeilen, wenn auch weit seltener, als ich es tat.

Er ging nicht weiter auf meine Frechheit ein, lehnte sich mit verschränkten Armen an den Baum und beobachtete Kakashi. Der schlief dort drüben wie ein Stein. Tief und fest.

„Wie hast du das gemacht?“

„Was denn?“

Mein Gesicht musste ein einziges Fragezeichen sein. Also nahm er seinen Rucksack oben an der Schlaufe in die Hand und schwenkte ihn zweimal kurz vor und zurück, um dem Ding etwas Schwung zu verleihen.

„Na, dann pass' mal auf!“, hörte ich Tenzô grinsend sagen, der zeitgleich den Rucksack losließ.

Er flog in einem flachen Bogen über die Grashalme und landete polternd unweit von dem Schlafenden.

Nichts! Keine Reaktion! Ich kapierte immer noch nicht.

„Das meine ich.“

Argh, Tenzô! Nun lass mich doch nicht doof sterben. Worum zum Henker geht es hier?

„Wir reden selten darüber, was den anderen bedrückt. Eigentlich tun wir das nie.“

Er überlegte eine Weile, ob er mir seinen Gedanken anvertrauen konnte. Es war Ehrensache, dass man nicht mit Dritten über Angelegenheiten sprach, die man nur untereinander teilte.

„Aber jemand, der schläft, hat keinen Einfluss darauf, was er verrät. Unterwegs kriegt man dann doch das eine oder andere mit. Kakashi schlief nie viel. Wenn er es dann tat, so wälzte er sich häufig hin und her, war bei jedem fallenden Staubkorn aufgewacht oder schreckte durch Albträume hoch. So wie eben, hab ich den noch nie schlafen sehen. Für seine Umstände ist das schon ein Koma.“

So hatte ich das noch nie gesehen. Klar, die Beobachtungen von Tenzô waren noch nie die meinigen gewesen. Da hatte ich ein völlig anderes Bild. Nun war ich schlagartig entsetzt.

„Meinst du, der kriegt gar nichts mit? Da hätten uns Räuber nachts welche mit dem Knüppel über die Rübe ziehen können?“

Tenzô lachte.

„Keine Sorge. Sein Unterbewusstsein weiß ganz genau, dass nur wir beide hier stehen und sonst niemand. Im Notfall wäre der hellwach.“

Stille kehrte wieder ein. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und rieb mir mit den Handflächen die Oberarme, weil ich fror. Immerhin hatte ich nur ein langes T-Shirt und eine knielange Hose an. Der Schlfamangel steckte mir noch in den Knochen, und die Temperaturen waren in den paar Minuten keineswegs gestiegen. Tenzô war aufmerksam und drückte mir, zuvorkommen wie er war, seinen Poncho in die Hand. Wie in einer großen Decke versank ich bis zur Nasenspitze darin. Verlegen kratzte er sich am Kopf, sah mich prüfend an und meinte dann:

„Weißt du, damals, als er mich fragte, ob ich ihn zu dir begleiten würde, kam mir das alles sehr merkwürdig vor. Aber wie er dann bei dir in der Küche saß, war mir sofort klar, dass Yuukis Jutsu nur ein Vorwand war. Es ging ihm von Anfang an nur um dich.“

Nun war ich doch hellwach. Es war mir immer ein Rätsel gewesen, warum sich ausgerechnet Kakashis und meine Wege gekreuzt hatten. Alles basierte nur auf Vermutungen. Tenzô Aussage brachte da ein wenig Klarheit. Ich war im sehr dankbar dafür. Mehr würde er mir nicht erzählen. Mir reichte es.

In den schlafenden Stein auf der Lichtung kam Bewegung. Ein unmerkliches Strecken, dann saß Kakashi aufrecht. Ich war ein wenig überrascht, weil sein Gesicht nach wie vor unverhüllt war. Doch da fiel mir ein, dass neben mir auch Tenzô eingeweiht war. Das war übrigens damals von Kakashi gelogen, als er behauptet, es gäbe nur zwei Mitwisser: Asa wusste es auch. Mittlerweile auch Yuuki. Der Kreis der Eingeweihten hatten sich vergrößert.

„Was macht ihr denn da? Mitternachtsparty?“

„Nur Lästereien und Unwahrheiten“, entgegnete Tenzô.

Wie auf Kommando verließen wir gleichzeitig unseren Platz unter dem Baum. Nun kam wohl der unangenehme Teil der Reise. Ich saß auf dem Boden und legte die alles zusammen, was in den Rucksack sollte, während Kakashi in Nullkommanichts seine alte Joninkluft überzog. Dann hockte er sich zu mir und sah mich aufmunternd an. Bei mir aber bewirkte es genau das Gegenteil. Es brach mir fast das Herz, ihn so zu sehen. Ich kaute auf meiner Unterlippe, versuchte einen überdimensionalen Kloß hinunterzuschlucken und unterdrückte die Tränen, die mir in den Augen standen. Was immer er auch vorhatte, ich wollte das nicht.

„Hey...“, wollte er mir die Angst nehmen. „Wir sehen uns doch nachher wieder und heute Abend sind wir auch wieder zuhause.“

„Das hat Kenta auch immer gesagt!“, giftete ich zurück.

Solche Sprüche hatte Kenta jedesmal vom Stapel gelassen. Dass alles glatt laufen würde und so'n Kram. Kenta … Seit mein Ex-Freund verschollen war, hatte ich seinen Namen nicht mehr in den Mund nehmen können.

„Das glaub' ich dir sofort.“

Ein Stoffkuss drückte sich auf meine Stirn. Dann wurde ich mit acht Ninken allein gelassen. Ich sah den beiden nach, wie sie zwischen den Baumwipfeln verschwanden. Nur ein oder zwei Hüpfer und schon waren sie weg. Sie würden sich im Dorfe umsehen, ich würde mich mit der Hundemeute auf den Weg nach Nordosten machen. Nicht länger als ein einstündiger Spaziergang. Der Güterverkehr würde dort seine Route haben. Bei den Gebäuden einer Rangieranlage würden wir uns wiedersehen.

34 – Der Tag, an dem ich den Zug erwischen musste

Die wenigen Dinge an unserem Lagerplatz waren schnell im Rucksack verstaut. Dann starrte ich unschlüssig in die Runde und acht Augenpaare starrten zurück. Nein, es waren nur sieben, weil Bisuke das Wetter nicht leiden mochte, über Kopfschmerzen klagte und daher seine Augenlider angespannt zusammenpresste hatte. Da saß er nun mit gesenktem Kopf und eingezogener Rute und harrte der Dinge, die da noch kommen mochten. Bis dato lag es außerhalb meines Wissens, dass Hunde überhaupt Kopfschmerzen haben konnten. Aber es war eh schon sehr gewöhnungsbedürftig für mich, sie wie Menschen sprechen zu hören. Unvergesslich würde für mich wohl auf ewig die Szene am Fluss bleiben, wie Pakkun zum ersten Mal in meiner Anwesenheit sein Maul öffnete und mit seinem Herrchen sprach. Es war in dem Moment so abstrakt, dass ich mir selbst Halluzinationen unterstellte. Nach alledem war es kaum noch verwunderlich, wenn Hunde menschenähnliche Krankheitsbilder aufwiesen.

Pakkun, Ûhei, Buru, Shiba, Bisuke, Urushi, Akino und Guruko. So hieß das Rudel. Die acht Hunde hätten unterschiedlicher nicht sein können. Nicht nur ihrer Rassen wegen, sondern auch von ihrem Charakter. Tiefenentspannt oder aufgeweckt, behäbig oder flink, kräftig oder zart, kreativ oder rational, angriffslustig oder zurückhaltend, superinterlligent oder durchschnittlich. Man müsste die Liste unendlich erweitern, um jedem Tier halbwegs gerecht zu werden. Es waren acht eigenständige Persönlichkeiten, die aber gelernt hatten, ein Rudel zu bilden und zusammenzuarbeiten. Jeder einzelne wäre es wert, ihm mit einem Extrakapitel zu ehren. Vielleicht würde ich es irgendwann auch einmal tun. Da war ich fast schon ein Fremdkörper. Hoffentlich wurde ich von deren Seiten akzeptiert und nicht nur deswegen ausgehalten, weil es ihre befohlene Bestimmung für den heutigen Tag war.

Aus dem Morgengrauen wurde langsam eine Dämmerung, welche die Farben mitbrachte. Die oberen Baumwipfel bekamen schon einen zarten Lichtstreif in Grün vom ersten Sonnenstrahl, der über den Horizont kroch. Auch der Himmel änderte sein Farbkleid zu feinen Pastellfarben. Bald wäre er azurblau. Der Tag würde wieder sonnig, wohl aber weniger heiß werden. Wie schön! Als ich letztens durch die Felder hierher streifte, hatte ich mir einen kräftigen Sonnenbrand eingehandelt. Und Kakashis Einschätzung, in diesem Wald gäbe es garantiert keine bluthungrigen Mücken, hatte er wohl auch nur auf sein eigenes Blut bezogen. Der hatte keinen einzigen Stich. Ich dafür umso mehr. Um genau zu sein, waren es fünf Stiche an den Füßen, zwei an den Unterschenkeln und noch sieben an den Armen. Da brauchte ich nicht lange zu überlegen, dass ich Tenzôs Umhang als Sonnen- und Insektenschutz missbrauchte. Der trug sich erstaunlich leicht und kühlend auf der Haut. Wenn man mich in Begleitung mit den Ninja-Hunde sah, könnte man meinen, ich wäre eine Gesandte Konohas. Ich schickte Stoßgebete zum Himmel mit der Bitte, unterwegs nicht auf andere Mitmenschen zu treffen. Wer wusste schon, wer da draußen herumrannte und einen Groll gegen Konoha hegte? Da wäre ich ein dummes Opfer zum Frustablassen, weil ich zwar aussah wie ein Shinobi, aber nicht so agierte wie einer.

Nun musste es auf meiner Reise endlich weitergehen und ich freute mich sehr, diesmal wenigstens tierische Gesellschaft zu haben. In Gemeinschaft ging es leichter voran. Mal sehen, wie die Meute auf mein Tempo reagieren würde. Ûhei war meinen gleichmäßigen und zügigen Gang gewohnt, doch weil ich nicht von Baum zu Baum sprang, könnte es dem Rest vielleicht zu langsam vorangehen. Auch mit Pakkun war ich schon enger bekannt, weil es Kakashis Liebling war, auch wenn er immer sagte, ihm wären alle acht Tiere gleich lieb. Wenn man beide beobachtete, so sah man sofort, dass die beiden einfach am besten mit einander harmonierten. Sie hatten auch beide die längste Beziehung. Die anderen sieben Hunde folgten erst Jahre später.

Mit dem Rest des Rudels hatte ich bisher nur sehr wenig Kontakt gehabt. Wenn ich es genau überlegte, so hatten wir uns allesamt nur einmal an meiner Wohnungstür gesehen, und da waren sie auch schon alle auf dem Sprung gewesen. Etwas unschlüssig überlegte ich kurz. Dann entschied ich mich, einfach die Hunde den Weg suchen zu lassen. Kakashi hatte sie beauftragt, mich zu begleiten, also würden sie dies wohl auch tun.

„Guten Morgen!“, begann ich zur Meute zu sprechen.

Auch wenn sie schon eine Weile hier saßen, so hatten wir uns noch nicht gegenseitig begrüßt. Es war mir sofort aufgefallen, dass sie es freudig quittierten, wenn man höflich zu ihnen war und Befehle und Aufforderungen lieber als Bitte formulierte. Das kam bei denen gut an.

„Ich habe erst heute morgen erfahren, dass ich in Richtung Nordosten zu einem Güterbahnhof oder so etwas Ähnlichem gehen soll. Dort sollen wir auf Kakashi und Tenzô warten. Ich möchte euch bitten, mir den Weg zu zeigen. Ich weiß den nämlich nicht.“

Natürlich bellte das Alphatier zuerst eine Antwort.

„Stimmt es, dass du immer noch nicht auf Bäume klettern kannst? Dann müssen wir Straßen und Wege nutzen“, fragte Pakkun nach.

Möpse guckten durch ihr Knautschgesicht immer emotionslos. Mittlerweile bin ich sogar davon überzeugt, sie könnten durch die Falten nur zwei Gesichtsausdrücke formen: Schlafen oder Gucken.

„Natürlich kann sie das, aber sie hat doch kein Chakra. Wir müssen also normale Pfade am Boden nutzen“, fiel ihm Ûhei ins Wort.

„Kein Chakra? Ich dachte, das wäre nur ein Gerücht, dass sie keine Kunoichi wäre?“

Shiba guckte da doch echt ein wenig verdutzt und Buru setzte noch einen oben drauf:

„Was hat sich denn Kakashi dabei gedacht, als er dich aussuchte? Hat er überhaupt etwas dabei gedacht?“

Buru meinte sowas nicht böse. Er trug nur stets das Herz auf der Zunge und sprach grundsätzlich frei heraus. Mit dem letzten Satz war die Frage direkt an mich gegangen. Dazu kam Buru noch auf mich zu getrottet und schnüffelte an mir, wie an einem Stück verwestes Fleisch. Buru war riesig und trug seinen Namen zurecht. So groß wie ein Bulle. Da hatte ich schon Muffesausen, wie er so vor mir stand und schnupperte, obwohl er der Schläfrigste von allen war.

„Ich hab keine Ahnung, was er sich dabei gedacht hat“, gab ich verdattert zurück.

Eine schlagfertige Antwort war mir nicht eingefallen. Eher überlegte ich, ob die Hunde nachvollziehen könnten, dass Menschen ihre Partner aufgrund vieler unterschiedlicher Faktoren aussuchten und bei der Wahl besondere Fähigkeiten für erfolgreichen Nachwuchs eher zweitrangig waren. Buru hatte seine Schnuppereinheit an mir beendet und war ohne Worte davongetrottet. Schwer zu sagen, ob er nun von mir überzeugt war oder nicht. Ein Gejammer von der Seite holte mich aus meinen Gedanken.

„Dann brauchen wir ja ewig bis zum Gleisabzweig“, jaulte nun Bisuke dazwischen und kam auf das erste Thema wieder zurück.

Einige nickten Ohje, da hatte ich ja eine Diskussion entfacht und zugleich die Stimmung gekippt. Zumindest wussten die Tiere aber, wohin die Reise gehen sollte. Das war schon einmal ein großer Pluspunkt. Noch bevor ich mir ein paar überzeugende Worte zurechtlegen konnte, setzte sich die Meute plötzlich in Bewegung. Wir marschierten erst auf einem Pfad durch den Mosaikhain bis wir den Waldrand sahen. Dort mündete der Pfad in einen breiten, geschotterten Fahrweg. Es war interessant zu beobachten, wie die Hunde alle um mich herumliefen. Meist in einem Schritttempo, manchmal trabend. Mal hielt einer an und hob an einem Baum sein Bein. Mal wurde am Wegrand geschnuppert oder im Erdreich gescharrt. Wie ein normales Rudel. Ich kam mir vor wie eine Hundetrainerin, die gerade mit ihren Tieren Ausgang hatte. Gassigehen für Fortgeschrittene.

Ich genoss den Spaziergang. Bald schon hatten wir einige Gemüsefelder hinter uns gebracht und näherten uns wieder bewaldeten Gebieten mit morastigen Wiesen. Der Weg war mittlerweile gepflastert und würde auch bis zum Gleis so blieben. Tenzôs Umhang war eine Wohltat, den der Wald war ebenfalls sumpfig. Die verhassten Mücken schwirrten nun in großen Schwärmen umher. Unzählige Brücken und Stege führten über kleine Bäche. Dort, wo es sich im Sumpf zu Tümpeln staute, tanzten Libellen im Sonnenlicht. Noch nie hatte ich so viele verschiedene Libellen gesehen. Auch an den vielen Lilienarten und ihre verschwenderische Blühsucht konnte ich mich kaum sattsehen. Bald kamen wir an eine Schlucht. Tosend stürmte das Flusswasser durch die Felsen. Es rauschte und gurgelte durch die Schlucht. Mitten auf einer Steinbrücke hielt ich inne und verlor mich in dem Anblick des wilden Wassers, wie es dort unten strudelte und spritze. Ein Ohren betäubener Krach. Im Gischt schillerte ein Regenbogen und erinnerte mich an die überdimensionalen Wasserfälle von Tanigakure. Pakkun zupfte an meinem Hosenbein. Ûhei stupste meine Hand an. Es ging weiter.

Nach den letzten überstandenen Etappen war nun diese hier ein Klacks. Schon nach einer gemütlichen Stunde tauchte nach einer Biegung parallel zum Weg das Gleisbett auf. Ich verließ mich auf die Meute und folgte ihr. Schon bald sah man in einer großen Waldschneise einige Lagerhallen, Rangiergleise und ein Stellwerk. Das müsste es wohl sein. Ich war mir nicht sicher, ob ich da einfach darauf zu spazieren oder lieber im Schutz der Bäume bleiben sollte. Wieder gaben die Hunde den Ton an. Sie streunten um die Anlage herum und suchten sich ein ruhiges Plätzen, von wo man zwar gut sichtgeschützt war, aber dennoch alles im Auge hatte. Hier verweilten wir. An einen Baum gelehnt döste ich vor mir her. Mit Kakashi und Tenzô hatten wir keine Uhrzeit vereinbart. Da blieb nichts anderes übrig als warten.

„Hey Nina, was ist Bisuke unter einem Baum?“, bellte mich Shiba an.

„Öhm, keine Ahnung?“, schreckte ich aus dem Halbschlaf hoch.

„Ein schattiges Plätzchen!“

Gegröltes Gekläffe vom Rest und ein beleidigter Bisuke. Der war heute augenscheinlich das auserkorenen Opfer für Witze aller Art. Armer Kerl! Anscheinend war auch dem Rudel ebenso langweilig wie mir. Es dauerte einen Moment, bis ich das Wortspiel verstand. Bisuke konnte man mit „Keks“ übersetzten und ein Plätzchen war ja auch so eine Art Keks. Das Wortspiel war gar nicht mal so blöde. Ein Keks unter einem Baum war ein schattiges Plätzchen. Ich kicherte und kraulte zum Trost Bisukes Nacken. Der schaute nach wie vor schmerzempfindlich und nahm die kleine Massage dankbar an.

Kurz darauf raschelte es im Geäst. Die Hunde rissen die Köpfe hoch, blickten starr alle in dieselbe Richtung und spitzen die Ohren. Ich war angespannt. Was hatten sie denn entdeckt? Plötzlich setzte das große Wedeln ein.

„Kakashi und Tenzô sind nicht mehr weit!“, witterte Akino.

„Ja, aber sie sind nicht allein“, stellte Guruko fest.

Nicht allein? Was war denn da los? Ich fragte nach, wie weit sie denn entfernt wären. Nicht mehr weit, hieß es da. Und schlagartig wurde es Nacht. Ein Donnergrollen brach über uns herein. Blitze zuckten. Die Erde bebte. Reflexartig klammerte ich mich an den Baum, an welchem ich gerade noch gedöst hatte. Ein Shuriken durchbohrte knapp über mir das Holz. Nur ein Wimpernschlag später hockte Kakashi neben mir, schlug die Hände auf den Boden und ließ eine Erdwand mit plastischen Hundeköpfen vor uns beiden aus dem Boden wachsen. Die nächsten feindlichen Wurfgeschoss blieben darin stecken.

„Na, das sind ja Anfänger“, kommentierte er seinen Feind.

„Ist etwas schiefgelaufen?“ fragte ich ängstlich.

„Nö. Die eben haben wir unterwegs aufgegabelt. Komm mit rüber zu den Gleisen!“

Wir rannten los, und es war wohl die Angst, die mich mit ihnen halbwegs Schritt halten ließ. Es waren nur wenige Meter von dem Baum bis zu den Gleisen. Trotzdem keuchte ich mir die Lungenflügel aus dem Leibe. Vornüber gebeugt stützte ich mich auf den Oberschenkeln ab und kämpfte gegen den Kreislaufkollaps. Beinahe hätte ich den Kampf verloren, denn Tenzô stand wie aus dem Nichts schlagartig neben mir. Der Schreck ging mir durch Mark und Bein.

„Zwei sind wir los“, machte er nur trockene Meldung.

Wie, los? Tot? Oder bewusstlos geschlagen? Hm, ich war mir sicher, dass ich die Antwort gar nicht hören wollte. Auf jeden Fall standen wir nun mitten zwischen den Gleisen und für jedermann weithin sichtbar. War das nicht eine ungünstige Position, wenn man angegriffen wurde? So wäre man doch eine hervorragende Zielscheibe. Das musste wohl nur meine Sichtweise sein, denn Tenzô und Kakashi standen so locker in der Gegend herum, als wären sie auf einem Sonntagsspaziergang unterwegs. Die Stimmung des Ortes war merkwürdig gespannt. Noch immer hingen die pechschwarzen Gewitterwolken über unseren Köpfen. Es blitzte und donnerte, doch es fiel kein Tropfen Regen. Wohl auch ein Justu, schlussfolgerte ich mir selbst im Stillen.

„Was wollen die?“, erkundigte sich Pakkun, der sich gelangweilt mit dem Hinterbein am Ohr kratzte.

Kakashi zuckte mit den Schultern. Die Vermutung lag nahe, dass es sich im Abtrünnige handeln müsste und diese nun lieber als Diebesbande durch Lande zog. Das Fluss-Reich schien mir ein gefährliches Pflaster zu sein. Und Tenzô schlug vor, man könnte sie ja mal fragen.

„Welchen denn? Den da hinter der Lagerhalle? Oder den da im Baum?“

„Is' mir egal... Wann kommt eigentlich der Postzug?“

Wusste der Geier, was hier lief. Ich verstand nichts mehr. Wenigstens wussten meine beiden Ninjas wohl, worum es ging und so blieb mir nur die Rolle des erstaunten und stummen Beobachters. Und so sah ich, wie mein Freund Fingerzeichen formte oder besser: Ich sah es eigentlich nicht. Das ging so schnell, dass man meinen könnte, er hätte nur mal eben seine Hände ausgeschüttelt. Dann erstrahlte seine rechte Hand in einem violetten Blitzlicht. Es knisterte als wenn unzählige Knallerbsen gleichzeitig auf den Boden geworfen würden. „Raiton Shiden“ hörte ich ihn noch sagen, dann zuckten violette Blitze so schnell über den Boden, dass man es mit bloßem Auge kaum verfolgen konnte. Zeitgleich hörte und sah man es Plumpsen. Ein Feind rauschte aus der Baumkrone, ein zweiter rollte vom Lagerdach herab. Ich konnte nicht anders, als nur zu gaffen, denn es war faszinierend und unheimlich zugleich. Die Vorstellung wurde komplettiert, als Tenzôs Rankenäste die beiden umschlossen und zu uns vor die Füße wucherten. Den einen hatte der Blitz wohl zu heftig erwischt, denn er hing bewusstlos in den Zweigen und würde erst einmal kein Wort mehr von sich geben. Der andere funkelte uns wütend an, konnte aber seine vor Furcht zitternden Körperteile kaum im Zaum halten. Höflich, aber bestimmt wurde nun unser Gefangener nach seiner Mission ausgefragt. Und immer, wenn die Antwort nicht so klang, wie man es hören wollte, zocken sich die Schlingen kurz fester zusammen. Böse Falle!

„Ich hab' dich sofort erkannt. Wir sind uns früher schon einmal begegnet, Hatake Kakashi! Und irgendwann krieg' ich dich!“, spuckte der Typ nun Gift und Galle ohne auch nur auf eine einzige Frage zu antworten.

Kakashi aber legte nachdenklich den Kopf schief, kratze sich an jenem und seufzte dann:

„Na schön, ich war auf weit über tausend Missionen unterwegs und das ist über zehn Jahre her. Hilf' mir auf die Sprünge! Wann sind WIR beide uns da mal über den Weg gelaufen?“

„Du hast einfach zu viele Fans, Sempai!“, warf Tenzô unkend ein.

Da musste selbst ich ein Lachen unterdrücken, weil mir der schwarze Humor gefiel. Ich verstand nun langsam die Zusammenhänge. Diese Aktion hier hatte nichts mit der Sache zu tun, die meine Beiden untersucht hatten. Es war ein dummer Zufall, dass sie sich auf dem Rückweg über den Weg gelaufen waren, und einer der Angreifer hegte wohl immense Rachegedanken gegenüber den Konoha-Shinobis. Das Spiel hätte man wohl noch eine ganze Weile wie Kaugummi in die Länge ziehen können. Doch ganz andere Ereignisse näherten sich unaufhaltsam. Das Erste sah sogar ich als Laie: Tutend und ratternd näherte sich der Postzug, welcher die Post aus dem Fluss-Reich aufnehmen und dafür Pakete und Briefe aus aller Herren Länder hierher abgeben sollte. Schon hielt er an einer der Laderampen und würde in Kürze weiterfahren. Das Zweite spürte ich fast gar nicht. Ich hatte das Gefühl, der Boden wäre weich geworden und würde nachgeben. Als dann plötzlich gleichzeitig meine beiden Shinobis schnelle Blicke austauschen, wurde mir der Ernst der Lage klar.

„Was machen wir mit dem hier?“, überlegte Tenzô laut und sofort wusste ich, dass es nur eine einzige Lösung gab.

Ich war geschockt. Sie wollten den doch nicht hier vor meine Augen kalt machen? Meine Gedanken mussten sich auf mein Gesicht projizieren, als ich beide kreidebleich ansah. Als hätte Kakashi dieses nun wiederum ablesen können, seufzte er ein zweites Mal und forderte Tenzô auf, beide Gefangenen einfach ziemlich weit und ziemlich lange irgendwo im Wald zu verpflanzen bis unser Vorsprung groß genug wäre. Immerhin hätte unsere Gruppe gleich ein ganz anderes Problem. Ein feindlicher Erd-Jutsu-Nutzer verwandelte den Boden gerade zu Moosgummi. Vermutlich gehörte er auch zu der Bande, die Dank Kakashi und Tenzô schon empfindlich dezimiert worden war.

„Wenn der Zug vorbeifährt, springt du rein!“, wurde mir aufgetragen.

„Ich soll WAS?!“

Dann wurde der Boden unter unseren Füßen wie Pudding. Da gab es nichts mehr zu kapieren, was es nun zu tun galt. Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte mit der Meute zusammen los. Der Zug fuhr zwar im Schritttempo an, aber bis zu ihm hin waren es noch einige hundert Meter. Und ich kam kaum voran. Meine Füße sackten in das Erdreich ein wie in Treibsand. Jeder Schritt wurde schwerer und schwerer. Selbst die Hunde hatten ihre liebe Not. Zu allem Übel hatte der Zug gerade die letzte Weiche passiert und kam nun auf die offene Strecke. Gleich würde er das Tempo anziehen. Hey, warte auf uns! In meinem Kopf kreiste es allein darum, wie ich den Zug rechtzeitig erreichen würde. Soweit, dass ich den auch erklimmen müsste, war ich mit meinen gedanklichen Bemühungen noch nicht, denn der Zug hatte keine offenstehenden Türen. Davon mal ab, klappten solche Stunts, wie auf fahrende Züge aufspringen, eh nur im Film. Ich sah dem Ganzen hoffnungslos entgegen. Als der Zug dann tatsächlich Fahrt aufnahm und just in der Sekunde meine beiden Ninjas an mir vorbeischossen, gab ich entmutigt auf. Die Ninken hatten sich längst in Luft aufgelöst. Zum einen wurden sie hier nicht mehr gebraucht und zum anderen war selbst denen das Hinterhergerenne echt so was von zu blöde. Da wollte ich nun schon stehen bleiben, ein schmollendes Gesicht auflegen und und noch mit dem weißen Taschentuch hinterherwinken. Das Leben war echt unfair und Chakraverteilung unter Mitmenschen so wie so.

Eiserne Rädern blockierten, Bremsen quietschten. Ein Koloss aus Stahl legte eine Notbremsung hin. Ein Haltesignal war durch Fremdeinwirkung auf Rot gesprungen. Perplex glotzte ich auf eine aufspringende Tür am letzten Wagen und die fröhliche Aufforderung, endlich den Waggon zu besteigen. Da kam wieder Leben in meinen Körper. Auf keinen Fall wollte ich hier ausgesetzt werden. Rasch kletterte ich die wenigen Stufen hinauf und war schon im Inneren eines Wagens, der über und über mit Briefsäcken bis an das Dach voll gestapelt war. Nur ein schmaler Gang trennte den Wagen in Längsrichtung in zwei Hälften ein. Die Ladung war nicht gesichert. Na, wenn das man gut ging. Noch so eine Vollbremsung und die Sackberge würden einstürzen. Das wäre doch mal ein ruhmreicher Untergang. Mission erfüllt, aber auf dem Rückweg vom Postsack erschlagen.

Es war dunkel in dem Waggon. Durch die zugestellten Fenster drang nur spärlich Licht hinein. Das gleichmäßige Rattern des Zuges begleitete uns. Bis zum Güterbahnhof von Konoha würde es noch gut zwei Stunden Fahrtzeit dauern. Ich war an Kakashis Schulter eingeschlafen und wurde jäh geweckt, wie Tenzô sich plötzlich mit einem „Bis bald!“ verabschiedete. Dann riss er die Tür auf und ward nicht mehr gesehen. Mission war halt Mission, und seine Dauermission, Orochimaru zu beschatten, noch lange nicht erfüllt. Doch ich hatte, als die Tür auf und zu flog, trotz des blendenden Lichts etwas anderes gesehen. Etwas, was mir vorhin beim Angriff gar nicht aufgefallen war, weil so viel Stress und Unruhe herrschte. Nun aber sah ich es deutlicher. Die Baumwollbinden, mit denen Kakashi seine Beintasche am Bein fixierte, war rot getränkt. Blutrot.

„Wie konnte das denn passieren?“ schrie ich erschrocken auf.

„Ich bin halt nicht mehr so im Training wie früher...“, war die nüchterne Erklärung.

Es war die falsche Erklärung. Das was wollte ich nicht hören. Ich wollte auch nichts davon hören, dass es lediglich eine Fleischwunde wäre. Ein glatter Stich, der schon bald verheilt wäre. Er hatte mir etwas versprochen. Er hatte versprochen, dass er zurückkommt. Ohne Wenn und Aber. Und nun so was. Es mochte unter Shinobis nur ein Kratzer sein, für mich reichte es aus, ihm eine Szene zu machen. Eine Szene mit allem drum und dran. Erst als meine Wut verrauchte, die auf Kummer und Sorge gebaut war, hatte ich die Ruhe zuzuhören. Und es erstaunte mich sehr.

Er hatte lange über meinen Standpunkt nachgedacht, wie man sich wohl als Außenstehende, die nicht in die Shinobi-Welt hineingeboren und mit ihren Ritualen aufgewachsen war, fühlen könnte. Wie es wäre, wenn ein geliebter Mensch ständig weggehen würde und man niemals um dessen Unversehrtheit wisse. Wie es mir, aber auch Yuuki, bei der Trauerbewältigung geholfen hatte, als wir mit Kentas Akte einen Abschluss für unsere Ungewissheit fanden. Auch Asa würde nun irgendwann so eine Wahrheit verkraften müssen. Ihre Mutter würde sie nie wiedersehen. Hikki war von ihrer letzten Mission, ihren Daimyô zu schützen, nicht nach Hause zurückgekehrt.

Für Kakashi oder Tenzô war es etwas völlig Normales, obgleich der Ausdruck „normal“ eher bizarr anmutete: Man lebte fürs Dorf, man starb fürs Dorf. Es ging um das Wohl der Gemeinschaft. Nie um das Wohl des Einzelnen. Der Einzelne hatte selbst zuzusehen, wie er mit seiner Trauer und seinen Gefühlen umging. Bloß nicht den Anderen damit zur Last fallen. Das gehörte sich in dieser Gesellschaft nicht! Sein Familienglück in Kindheitstagen war nur von sehr kurzer Dauer. Tenzô hatte so etwas nie kennen lernen dürfen. Was mochte wohl demnach in jemanden vorgehen, für den das nicht normal war? Kakashi gestand unsicher, dass meine aufgeführte Szene ein ganz neue Erfahrung für ihn wäre. Wenn er früher nach Hause gekommen war, dann war die Wohnung leer. Da gab es niemanden, der wartete, hoffte, sich Sorgen machte und sich über eine Rückkehr freute.

„Weißt du“, gab er zu. „Das ist heute seit Jahren das erste Mal, dass sich jemand interessiert, wenn ich von irgendwoher nach Hause komme.“

Da war ich sprachlos, denn von der Seite hatte ich wiederum das Ganze noch nie gesehen.

35 - Der Tag, an dem Mama anrief

Ninjas können nicht nur klammheimlich Gegenstände aus einem geschlossenen Raum hinausschmuggeln, sondern auch ebenso hinein. So erwachte ich eines Morgens in meinem Bett und rieb mir erstaunt die Augen. Ein riesig großer Wildblumenstrauß stand auf meinem kleinen Nachttisch. Und wenn ich groß sagte, dann meinte ich groß. Er war so groß, dass er den Tisch unter sich verbarg und sich zur Zimmerwand hin die Seite plattdrückte. Dadurch bekam er eine leichte Schlagseite und fiel fast schon wieder auf der Gegenseite herunter. Der Strauß vereinte die unterschiedlichsten Blumen. Bunt und duftend. Nie war mir bewusst, dass es so viele Blumen gab, die zu ein und derselben Jahreszeit wuchsen. Mein ganzes Zimmer war erfüllt von einer angenehmen Duftnote. Wow, wie wunderschön und eine liebevolle Erinnerung an meine erste und einzige Mission überhaupt vor wenigen Tagen. Ich war wirklich überwältigt. Natürlich stand der Strauß nicht grundlos vor meiner Nase. Es war Ende Juni. Somit jährte es sich nun zum ersten Mal der Tag, als Yuuki das Haus zum Einsturz gebracht hatte. Die allererste Begegnung mit Kakashi.

Ich ergötze mich wahrlich an diesem Regenbogenstrauß und mochte meinen Blick kaum abwenden. Kakashi war im Grunde nicht der Typ, der einem Geschenke machte. Da war das hier etwas ganz Besonderes. Und weil der Strauß sogar noch einen persönlichen Bezug hatte, war er mir viel mehr wert, als eine Ladung voller Baccara-Rosen. Eigentlich könnte jeder Morgen so schön beginnen. Andererseits würde aus einer Besonderheit schnell Routine werden. Dann wäre es wiederum normal und langweilig. Es war gut so, wie es wahr.

Noch einmal streckte ich mich ausgiebig unter der warmen Bettdecke, dann hievte ich mich ungern aus den Federn hinaus. Dass mein Handy erbarmungslos lange klingelte, ignorierte ich während des Zähneputzens gekonnt. Es war keiner der Klingeltöne, die ich den Häuptern meiner Lieben zugeordnet hatte. Also wäre der Anrufer wohl ein Fremder. Da könnte man auch noch später zurückrufen. Oder besser: Sollte es derjenige oder diejenige doch einfach später nochmal probieren. Mich trieb an diesem Morgen nichts zur Eile an. Yuuki und Asa würden erst im Laufe des Tages von ihrem ersten Trainingscamp nach Konoha zurückkehren. Die Ruhe vor dem Sturm zu genießen, war nun oberstes Gebot. Ich musste mich in Bezug auf Geduld des Anrufers irren, denn schon wieder klingelte das Handy ausdauernd, fast schon anklagend. Hm, ich wollte nun aber nicht telefonieren, schlüpfte in frische Kleidung und stellte erst einmal die Kaffeemaschine an. Wer auch immer mich nerven und mir den Tag verderben wollte, mit einem Pott Kaffee ließ es sich bestimmt besser ertragen.

Ich war dumm genug, den Hörer abzunehmen OHNE auf das Display zu schauen. Aber die sofort los quakende Stimme bedurfte auch keiner weiteren Erklärung. Es war meine Mutter. Schreck lass nach!

Um meinen Schock besser verstehen zu können, muss ich etwas tiefer in meiner Familiengeschichte graben. Das hatte ich schon sehr lange nicht mehr getan, weil ich mich durch den Umzug nach Konohagakure indirekt von der Sippschaft getrennt hatte. Und bis heute bereute ich diesen Schritt keineswegs. Meine Familienkonstellation und deren Berufe und Berufungen lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen. Mein Heimatort war und ist auch heute noch ein Dorf, in welchem sich zwei Handelsrouten wirtschaftlich günstig kreuzen. Mittlerweile ist aus diesem Dorf, wie auch Konoha, eine blühende Stadt geworden. Aus den einstigen Kleinhändlerläden und gewerbetreibenden Sippen hatten sich schon nach wenigen Jahren regelrechte Händlerdynastien entwickelt. Man wuchs in seiner Gilde auf, übernahm die Geschäfte und vererbte sie weiter. Mein Vater hatte durch kleingeistiges Geschick und viel Glück im Würfelspiel große Anteile an einer Eisenhütte nebst Stahlwerk gewonnen. Man könnte auch sagen, mein Vater „macht in Stahl“. Wie dem auch sei: In meinem ganzen Leben drehte sich alles nur um dieses Stahlwerk, streikende Belegschaften, Arbeitskämpfe und Aktienkurse. Meine Eltern mochten sicherlich im Herzen nette und aufrichtige Leute gewesen sein, doch als Kind und später als Teenager erlebte ich sie nur als völlig abgedrehtes Charity-Paar. Mein Vater lebte weit über unsere Verhältnisse, prahlte gern und gebar sich als Gottmodushändler schlecht hin. Meine Mutter spielte treu die Rolle der extremst strengen Hausvorsteherin, die das Führen der Haushaltskasse und die Erziehung der Kinder über alles stellte. Leider erfüllte sie zum Leidwesen des halben Familienclans nicht die Klischee-Rolle, einen Stammhalter zu gebären. Neben mir gab es nur noch meine jüngere Schwester und drei Fehlgeburten. Danach klappte es nicht mehr so recht mit dem Kinderkriegen. Meine Schwester ist das vollständige Gegenstück zu mir. Sie könnte glatt als Model arbeiten, wäre sie nicht so dumm wie Dosenbrot und würde sich um ihre Gage betrügen lassen. Das war keine Beleidigung, sondern ein Kompliment. Sie erfüllt obendrein ihre Rolle als Tochter aus reichem Haus vorzüglichst, konnte perfekt auf Partys und Empfängen als Dekoration abgestellt werden und taugte immer für inhaltslose Smalltalks. Da war es totale Nebensache, dass sie ihren Schulabschluss erst im dritten Anlauf mit viel Privatunterricht geschafft hatte und nur Bürotätigkeiten ohne wirtschaftliche Gewichtung abwickelte.

Ich hingegen war da wohl anders geraten und hatte recht schnell den Stempel „Schwarzes Schaf der Familie“ aufgedrückt bekommen. Weder an der Stahlindustrie, noch an der Firma meines Vaters zeigte ich Interesse. Auch weigerte ich mich, den nächstbesten Firmensohn zu heiraten, weil es unserer Firma sicherlich einen Bonus gebracht hätte. Sherenina, die Widerspenstige. Mein Schulabschluss war gar nicht mal so schlecht ausgefallen. Mathematisches Denken besaß ich auch, aber mein Steckenpferd war eher der kreative Bereich. Das war schon mal eine nicht akzeptable Kombination. Und als ich mir auch noch den Fauxpas erlaubte, mich unverheiratet von einem Ninja schwängern zu lassen, war der Familienofen aus. Es stellte den Familienfrieden nur in Ansätzen wieder her, als ich die Kontorleitung in Konoha annahm. Wenigstens ein kaufmännischer Beruf, wenn schon kein Eisen und Stahl. Für mich war der Umzug letztendlich eine Erlösung, konnte ich mich doch außerhalb der Fänge meiner Eltern frei entfalten und Yuuki nach meinen Werten aufwachsen lassen. Zwar besuchte ich anstandshalber die Heimat regelmäßig, aber ich beschränkte mich auf den knappen Informationsaustausch, dass bei mir immer alles Bestens wäre. Ich hatte weder erwähnt, dass ich arbeitslos war, noch das Yuuki zum Shinobi ausgebildet wurde. Letzteres wäre ein absolutes Desaster für das Ansehen meiner Familie. Mir war es egal, was sie über mich lästerten, solange sie mich in Ruhe ließen.

Nun aber kam ein Redeschwall durch den Telefonhörer gerauscht, der einem Monsun glich. Die knarzende und energische Stimme meiner Mutter ging durch Mark und Bein. Sie hatte eine Methode entwickelt, dass man ihre Gardinenpredigten weder durchbrechen, noch beenden konnte. Da halfen weder gute Argumente, noch Wahrheiten. Und persönliche Wünsche waren schon mal gar nicht angebracht. Und schon redete sie los ohne Punkt und Komma: Ob ich mich denn gar nicht mehr melden würde? Und warum müsste sie erst auf einer Empfangsgala bloßgestellt werden, dass ich gar nicht mehr für das Stoffkontor arbeiten würde? Wie würde es denn nun mit ihrem Enkelkind weitergehen? Ob er sehr unter meinem Egotrip leiden würde? Wie verantwortungslos wäre ich wohl? Was für eine miserable Mutter wäre ich obendrein! Es würde Zeit werden, dass man mir die Flausen aus dem Kopf treiben müsste. Und abschließend musste ich mir anhören:

„Sherenina, du solltest dringend nach Hause kommen! Hier in der Firma gibt es genug Arbeit. Du könntest einen Außenstelle leiten. Das ist ein unerträglicher Zustand, was ich da über Dritte hören muss und eine Schande für die ganze Familie. Hast du nicht schon Schande genug verbreitet? Ich werde den nächsten Zug nehmen und nach Konoha kommen!“

Dann wurde aufgelegt und ich hörte nur noch das Besetzt-Zeichen. Rumms, das hatte gesessen. Obgleich ich von meinen Eltern völlig unabhängig agierte, so war das ein Schlag durch die Telefonleitung. Natürlich war man volljährig. Da konnte man ganz getrost die Meinung der Eltern ignorieren. Doch so eine Eltern-Kind-Beziehung war etwas, was ein Leben lang hielt. Auch wenn sich die Beziehung veränderte und formte, so blieb diese Band und die Hierarchie bestehen. Es wäre wohl nur zu zerreißen, würde man sich im Streit trennen und nie wieder sehen.

Muss sie unbedingt hier vorbeikommen? Dann wäre sie ja schon heute Abend hier. Ob sie schon ein Hotelzimmer hätte? In meiner Miniwohnung könnte ich sie wohl kaum beherbergen. Da würde sie wohl eh der Schlag treffen, wenn sie meine Behausung zu Gesicht bekäme. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Der Großteil der Diskussionen endeten zwischen uns meist in hitzigen Streitereien und verletzten Gefühlen. Es war noch nicht einmal neun Uhr in der Frühe, aber der Tag schien schon gelaufen. Aus dem Schrank griff ich die nächstbeste Flasche Rotwein, köpfte sie und trank sie binnen kürzester Zeit leer. Dann schleppte ich mich ins Schlafzimmer und warf mich wie ein eingeschnapptes Kind aufs Bett. Ich war fix und fertig. Was sollte ich nur tun? Da wurde ich sogar so gehässig zu wünschen, der Zug sollte einfach entgleisen. Aber Unkraut vergeht nicht. Und garantiert wäre meine Mutter als Wurzel des Bösen die einzige Überlebende.

Der Blumenstrauß! Kakashi! Ich wollte Trost. Und jemand, der mich ganz doll lieb hatte und trösten könnte. Jetzt! Sofort! Also rappelte ich mich wieder auf zur Essecke, um das Handy zu holen. Mir doch egal, ob Kakashi nun eben in einer Besprechung hockte oder nicht. Ich wählte seine Nummer, aber es ging nur der Anrufbeantworter ran. Maaannn! Also wählte ich mal eben ganz dreist die nächste Nummer, nämlich die Amtsdurchwahl fürs Hokagebüro. Mir ging's beschissen und das hier war ein absoluter Notfall! Zumindest aus meiner Sicht. Andere Sichten waren mir so was von egal. Es knackte kurz in der Leitung, dann ertönte das Freizeichen. Nur zweimal Tuten und Gai nahm ab. Ha, Gai! Welch perfektes Opfer für meinen Frust. Gai würde mich bestimmt verstehen und mich zu meinen Freund ins Büro durchstellen. Natürlich ging der Plan auf. Ich klang nicht nur total verheult, ich war es. Und als ich Gai auch noch was vom persönlichem Weltuntergang und vom Ende des jugendlichen Feuers berichtete, war der ganz auf meiner Seite. Da war es doch für eine Selbstverständlichkeit, dass hier ein totaler Notfall vorlag. Er stellte mich zwar nicht wie gewünscht durch, warf aber den Hörer auf die Gabel und machte sich sogleich selber auf den Weg, meinen Hilferuf persönlich zu überbringen. Ich konnte es mir sogar bildlich sehr gut vorstellen, wie Gai mit seinem Rollstuhl voran preschen und sein noch gesundes Bein als Rammbock gegen Kakashis Bürotür nehmen würde. Er würde wie eine glühende Supernova hereinplatzen, und mein Freund würde sich genervt mit der flachen Hand an den Kopf schlagen, wenn er den Grund des Auftritts erfahren würde. Allein diese Szenerie vor Augen zu haben, hob meine Stimmung. Ich musste schmunzeln. Dass Gais Büromission erfolgreich gewesen sein musste, verriet eine Viertelstunde später das Piepen meines Handys:

„War der Strauß nicht groß genug? ;-) Kannst du mich gegen Mittag bei Ichiraku einsammeln? Ich hab' nämlich noch so eine frustrierte Seele im Schlepptau! Ist das OK?“

Noch eine frustrierte Seele? Da fiel mir aus Kakashis Erzählungen eigentlich nur eine passende Person ein, die man ausgerechnet bei Ichiraku trösten konnte, und das machte mich schon wieder neugierig. Naruto war ich noch nie persönlich begegnet und es interessierte mich brennend, ob all das, was Tenzô und Kakashi in Nebensätzen über ihn vom Stapel gelassen hatten, auch wirklich so stimmen würde. Also stimmte ich dem ungeplanten Dinner-for-three zu.

Bis zur verabredeten Mittagessen hatte ich noch etwas Zeit. Meine Wohnung sah wirklich ordentlich aus. Dennoch räumte ich alles noch akribischer auf als sonst, putze und scheuerte jeden Winkel, dass es nur so blitzte, und sortierte noch meine Ablage an Briefen und Rechnungen in die passenden Ordner. Man würde weder ein Staubkorn, noch eine Hausstaubmilbe bei mir vorfinden. Falls Muttern wirklich noch hier aufkreuzen würde, was ich tunlichst vermeiden wollte, so wollte ich mir nicht nachsagen lassen, ich wäre eine Schlampe. Den Strauß stellte ich mitten auf den Küchentisch. Da kam er noch viel besser zur Geltung als neben meinem Bett. Passend zum elften Gongschlag der weithin hörbaren Stadtglocke hatte ich die Hausarbeit beendet und blickte zufrieden auf mein Werk.

Draußen herrschten hochsommerliche Temperaturen. Sobald die Sonne zum Nachmittag am Himmel weitergewandert wäre und die Welt auf Rekordgrade puschen würde, würde es auch hier drin so heiß werden. Also zog ich noch die Vorhänge zu, um die größte Hitze auszusperren. Ich wählte ein einfaches, langes Sommerkleid und einen Strohhut als Schattenspender. Gemütlich machte ich mich auf den Weg.

Es war schwer zu glauben, dass Kakashi und Naruto bereits so zeitig bei der Suppenbude am Tresen saßen. Während vor Kakashi nur eine einzige leere Schüssel stand, stapelten sich vor Narutos Nase schon vier solcher Schüsseln. Meine Güte, wo in seinem Körper hat der soviel Stauraum für soviel Nahrung? Die Fünfte wurde gerade in Beschlag genommen. Während er seine Nudeln in Rekordzeit lautstark schlürfte, hörte er aufmerksam den erklärenden Worten zu und nickte, als würde er alles verstehen. Aber seiner Mimik nach zu urteilen, kapierte er gar nichts, während Kakashi entnervt, aber ausdauernd, nochmal von vorn begann. Da herrschte dicke Luft. Ich gesellte mich still dazu, als würde ich nicht dazugehören oder gar die beiden kennen, grüßte kurz höflichst Teuchi und Ayame zu und gab meine Bestellung auf. Dabei erklomm ich den Hocker genau neben meinem Freund, weil er der einzige noch Freie war. Geschickt eingefädelt. Unauffällig aß ich mein Ramen und lauschte gespannt der Diskussion neben mir zu. Es ging irgendwie um Teameinteilungen und was man bei der Auswahl der Shinobi zu berücksichtigen hatte. Ziemlich komplex das Ganze. Und ja, es stimmt: Wenn man auf Tonkotsu Ramen stand, war man bei Ichiruka goldrichtig. Nirgends gab es eine vergleichbar gute Qualität mit allerbestem Geschmack. Es klapperte. Teuchi schob mittlerweile Portion Nummer Sieben über den Ladentisch, während Ayame die dreckigen Schüsseln spülte. Ob er es wohl bereute, Naruto zur Hochzeit eine kostenlose Ramen-Flatrate geschenkt zu haben? Es reichte, ein stummer Beobachter zu sein. Naruto war wirklich so, wie beschrieben. Ich konnte mir ein Lachen nur schwer verkneifen. Man musste ihn auf eine ganz besonderes Art und Weise einfach mögen.

Doch ich wollte nicht als lauschendes Mäuschen auffallen, zahlte meine Portion und rutschte wieder vom Hocker hinunter. Dabei streiften meine Finger unauffällig den Oberschenkel meines Freundes. Eines von unseren Zeichen, dass wir uns gleich treffen würden. Und schon war ich unter den Sonnenschutztüchern, die vor der Nudelbude hingen, durchgeschlüpft und setzte meinen Weg fort. Kakashi würde bald folgen. Unterwegs zog ich zwei Dosen Eiskaffee aus dem Automaten. Einmal schwarz und einmal mit allem. Ein Kaffee war in meinen Augen erst ein vollwertiges Nahrungsmittel, indem er Kohlenhydrate in Form von Zucker und Eiweiß mittels Milch beinhaltete.

Erbarmungslos brannte die Sonne und trieb aus jeder Hautpore den Schweiß. Ich erklomm eine Treppe. Obgleich sie nicht viele Stufen hatte, japste ich oberhalb auf der Brücke die stickige Luft ein. Es gab viele Hochwege für Fußgänger zwischen den Häusern. Einer dieser Wege zwängte sich eng in einer Häuserschlucht entlang und war nur deshalb so hübsch, weil er durch Stauden und hochstämmige Bäumchen begrünt war. Mit viel Liebe pflegten die hier Wohnenden ihren Gartenstreifen im öffentlichen Raum. Die steinernen Beeteinfassungen boten unzählige Sitzgelegenheiten. Man tat diesem grünen Kleinod unrecht, dass es kaum besucht wurde. Dabei war es gerade hier bei diesen hochsommerlichen Temperaturen sehr schattig und erfrischend. Neben einem Wasserspiel aus Bambusrohren nahm ich Platz, öffnete schon mal meine Dose und ließ meine Beine genauso baumeln wie meine Seele. Es knackte metallisch. Die zweite Dose wurde geöffnet. Kakashi war eingetroffen und saß von einer Sekunde auf die andere lautlos neben mir.

„Bist du sicher, dass Naruto irgendwann mal deine Nachfolge antreten wird? Das vorhin hab' ja sogar ich in Ansätzen verstanden“, schmunzelte ich.

„Warum nicht? Fürs geistig Anspruchsvolle hat er doch Shikamaru. Der regelt ja jetzt schon ganz viel allein“, spielte er den Ball zurück. „Und welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?“

Das klang ziemlich gereizt. Es mussten heute wohl schon so einige ihren Frust bei ihm abgeladen haben. In Anbetracht, dass gerade ein halber Arbeitstag verstrichen war, schrie das förmlich nach einem übellaunigen Hokage-sama. Wenn er eines nicht mochte, dann dass man seine nicht vorhandene Arbeitsmotivation noch durch uneigene Problemchen schrumpfte und sich dadurch seine Schicht noch unnötig in die Länge zog. Und nun kam ich auch noch mit meinem Familienluxusproblem daher. Da nagte das schlechte Gewissen und am Liebsten hätte ich einfach behauptet, es wäre bereits alles wieder in Ordnung. Aber ich war eine extrem schlechte Lügnerin. Also fasst ich mich kurz:

„Meine Mutter hat angerufen, mir eine Tracht Prügel durchs Telefon verpasst und steht nachher auf der Matte.“

„Ich dachte, ihr habt kaum Kontakt? Was will sie denn?“

Kakashi blickte erstaunt herüber, hatte ich doch nie viel über meine Familie erzählt. In Kindheitstagen hatte ich meine Familie sehr gemocht und geliebt. Erst das liebe Geld brachte alles durcheinander und die Hasskappe wuchs.

„Keine Ahnung. In ihrer ach so tollen Welt kann es einfach nicht sein, dass ich aus dem Rahmen falle. Ich hatte ihr bis heute nichts von meiner Situation erzählt und auch nicht, dass Yuuki auf der Akademie ist. Das hat sie wohl ungünstiger Weise durch die Buschtrommel erfahren“, sprudelte ich los und ergänzte nach einer Pause leise. „Und sie will, dass ich zuhause mit in die Firma einsteige.“

„Und steigst du ein?“

Sein Blick durchbohrte mich, als würde er nur eine einzige Antwort akzeptieren können.

„Um Himmels Willen, NEIN!“, fuhr ich erschrocken hoch. „Natürlich wäre es rein vom Kopfgefühl eine gutes Angebot. Meine Geldprobleme wären passé. Aber ich will das nicht. Sonst hätte ich ja schon vor einem halben Jahr im Stoffkontor eine andere Position bekleiden können. Ich will hier bei dir bleiben.“

„Dann sag ihr das auch so. Vielleicht reist sie dann schneller wieder ab, als du denkst. Mir fällt eben auch nicht ein, wie ich dir helfen könnte, sie nicht zu treffen. Wenn ich sie draußen vor den Stadttoren stehen und sie nicht einreisen lasse, müsste ich mir da echt triftige Gründe ausdenken. Das wird nichts. Und einfach mal so eben den Zug aus der Kurve schmeißen, weil eine Schiene gebrochen ist, kommt auch nicht gut an. Zumindest nicht bei den restlichen Passagieren.“

Ich kicherte, weil ich die Vorstellung, wie meine Drachenmutter vor dem Stadttor Zeter und Mordio schreien würde, zum Schießen fand. Und ich wusste nur zu gut, dass Kakashi nur einen Witz gemacht hatte, um mich aufzumuntern. Im Inneren hatte ich mir schon solch verrückten Lösungsvorschläge ausgemalt. Schon toll, dass wir beide häufig dieselben blöden Ideen hatten.

Leider war Kakashis Freizeit heute recht knapp bemessen. Wir verabredeten, dass wir uns später noch einmal austauschen würden. Ich sollte bis dahin in Erfahrung bringen, wann mein Besuch einzutreffen pflegte. Meist würden sich daraus schon neue Pläne ergeben. Ich schätzte an dieser Stelle seinen fast grenzenlosen Optimismus. Kurz darauf war er ebenso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Meine Hand tief in meiner kleinen Tasche vergraben, suchte ich nach meinem Handy und wählte die Nummer meiner Mutter.

Mochte der Drache einfliegen!

36 - Der Tag, an dem es knallte

Ach du liebes Bisschen! Die Kinder! Obgleich meine Mutter noch irgendwo in einem Zug zwischen Heimat und hier saß, hatte sie mich schon dermaßen auf Trab gehalten, dass ich doch beinahe unsere Kinder vergessen hätte. Die würden nämlich heute am Spätnachmittag von ihrem ersten Freilufttraining aus dem Wald wieder in die Zivilisation zurückkehren. Stress kroch in mir hoch. Nun galt es einen handfesten Schlachtplan zu schmieden, der die Kinder, den Drachen und den Kleiderständer miteinander verband. Ach, das hatte ich ja noch nicht erwähnt: Das kurze und bündige Telefonat mit meiner Mutter hatte ergeben, dass ihr Zug aufgrund der starken Regenfälle im Süden des Erd-Reiches mit erheblicher Verspätung eintreffen würde, voraussichtlich erst zur Nachtzeit. Und meine überflüssige Schwester säße auch mit im Zug, da sie ja noch nie Konohagakure besucht hätte. Da ich schon so lange dort wohnen würde, wünschte sie sich ebenfalls ein Bild von der Stadt zu machen. Ein Übel kam selten allein. Ich hatte meiner Schwester den Spitznamen „Kleiderständer“ verpasst, da sie spindeldürre war, stets tagtäglich mehrmals ihre Kleidung wechselte und zur Schau trug. Ihr urkundlich festgehaltener Name war allerdings Lailana, aber alle sprachen nur von Lana.

Nun aber hatte ich anderes zu tun. Zielgenau steuerte ich Kakashis Wohnung an. Wir hatten vereinbart, dass Asa und Yuuki nach ihrem Trainingsausflug dorthin kommen sollten. Ich setzte eine große Kanne Kaffee auf, nahm die trockene Wäsche vom Ständer und döste ein wenig vor mich her. Wenn die beiden zurück wären, hätten sie sicherlich nicht nur unglaublich viele Geschichten im Gepäck, sondern auch Dreckwäsche. So verflog die Zeit im Nu, und ich schreckte schlaftrunken hoch, als Kinderstimmen auf dem kleinen Flur lärmten und mit viel Getöse Packtaschen in die Ecke flogen. Ich begrüßte beide herzlichst und begutachtete den Nachwuchs. Man sah ihnen an, dass ihnen in den letzten Tagen ein Badezimmer nicht begegnet war. Zerzauste Haare, staubüberzogene Haut, dreckige Kleidung. Obgleich beiden die Müdigkeit in den Knochen steckte, leuchteten ihre Augen freudig und die Münder standen kaum still. Dennoch ordnete ich für beide eine kräftige Dusche an und sortierte die mitgebrachte Kleidung. Kurz darauf drehte sich die erste Ladung Wäsche in der Waschtrommel.

Es war ein lustiger und sorgenfreier Nachmittag. Asa konnte reden wie ein Wasserfall. Dabei überschlugen sich die Worte wie kleine Wellen. Yuuki hingegen war das passende Stauwerk, das korrigierte oder Infos lieferte, wenn ich schon nach zwei Sätzen den Faden verloren hatte. Viel zu schnell wurde es Abend und ich steckte die Kinder gleich nach dem Essen ins Bett. Auch wenn der Adrenalinspiegel beide am zappeligen Leben hielt, sah man ihnen den Schlafmangel der vergangenen Tage an. So gab es auch keine Einwände von Asa, den Übernachtungsort zu wechseln, weil es bei mir und Yuuki doch viel cooler wäre. Wir hatten nämlich einen Fernseher daheim, den sie bei sich schmerzlich vermisste. Kakashi meinte, er wäre eh kaum daheim, weshalb die Anschaffung einer Flimmerkiste für ihn daher bis dato kein Thema gewesen war. Auch Yuuki hegte mal keinen Protest, dass er auf seinem Futonlager quer vor Asas Bett zu nächtigen hätte. Beiden schienen zufrieden, nach all den Abenteuern ein Dach über dem Kopf und ein kuscheliges Nachtlager zu haben. Und so waren beide schneller im Land der Träume angekommen, als gedacht. Ich staunte. Ein kurzes Telefonat mit Kakashi, dass die beiden Kinder wieder daheim wären und dann zog ich los zum Bahnhof. Mittlerweile hatte ich kaum noch Gewissensbisse, die Kinder mal für eine kurze Zeit allein zu lassen. Erstens kam das absolut selten vor. Zweitens wollten die beiden Shinobis werden. Und wer im Duo so herrliche Naturgewalten freisetzen und den Trainingsplatz verwüsten konnte, der könnte sich sicherlich hervorragend verteidigen. Dabei kam es in Konoha seltenst vor, dass man Einbrüche zu beklagen hatte.

Man merkte spürbar, dass die Sonne ihren höchsten Stand im Jahreslauf erreicht hatte. Obgleich es Abend war, war es noch taghell. Vor zweiundzwanzig Uhr würde das Licht nicht abnehmen. Die Hitze war jedoch abgeklungen und es war angenehm warm. Die Straßen und Gassen hatten sich merklich geleert. Ich bummelte durch die Stadt und kam an einem Eisladen vorbei. Eiscreme, die hatte ich ewig nicht genascht! Da konnte ich nicht widerstehen und kaufte eine große Waffel mit viel Eis und Soße. Mit der Eistüte in der Hand machte der Weg zum Bahnhof gleich viel mehr Spaß.

Auf der Station angekommen, erkundigte ich mich nach dem verspäteten Zug. So ganz genau konnte man mir die Ankunft zwar auch nicht sagen, aber man schätzte einen Zeitraum zwischen halb neun und neun. Na, das war gar nicht mehr so lange hin. Auf dem Bahnsteig beschlagnahmte ich eine ganze Wartebank für mich, aß genüsslich mein kaltes Süß und haderte der Dingen, die da bald angerauscht kämen. Dabei überlegte ich, in welchem Hotel ich die beiden am Besten unterbringen könnte. Es sollte angemessen, aber nicht zu teuer sein. Zwei Dinge, die sich bei dem Anspruch meiner Gäste ausschlossen.

Die Gleise fingen an zu vibrieren. Sie zischten wie Schlangen. Schon leuchteten die drei Positionslichter der Lok mir entgegen. Sie schob sich samt Waggons durch die langgezogene Kurve an den Bahnsteig heran. Mit quietschenden Rädern, dass man sich die Ohren zuhalten musste, stoppte das eiserne Gefährt Nur eine Sekunde später klappten die Tritte der Wagen klappernd herunter und die Türen sprangen auf. Ich hatte wenig Lust, mich zu erheben, setzte mich aber doch in Bewegung, als ich am Ende des Zuges meine Mutter und meine Schwester erblickte. Au weia, wollten die eine ganze Woche bleiben? Zumindest hatten sie so viele Gepäckstücke dabei. Definitiv würde ich hier nicht den Packesel spielen. Gerade mal von der Bank erhoben, durchbohrte mich schon der Adlerblick meiner Mutter. Ihre Gesichtszüge waren streng in Stein gemeißelt. Es war nur schwer zu beurteilen, ob sie mein Anblick erfreute oder nicht. Meine Schwester hatte hingen ganz andere Probleme. Ungläubige starrte sie den menschenleeren Bahnsteig in alle Richtungen an. Es waren nur wenige Passagiere ausgestiegen, die bereits die Treppen hinabgeströmt waren. Wenn Madame einen Kofferträger erwartet hatte, dann war sie hier schief gewickelt. Wie recht ich mit meiner Einschätzung hatte, ließ sie auch gleich verlauten:

„Nina, hast du niemanden für unsere Koffer beauftragt? Wer trägt das denn nun?“

Sie klang recht entsetzt. Ich hingegen konnte mir ein Grinsen kaum verkneifen. Die Vorstellung, wie sie auf ihren Highheels mit Sack und Pack die Treppe nun hinuntertorkeln würde, wäre sicherlich ein Hingucker. Ihr viel zu enges Kleid schränkte die Bewegung stark ein und trug nicht zu einem guten Gelingen bei. Hauteng, dass die Hüftknochen herausstanden. Ein Ausschnitt, der fast bis zum Bauchnabel reichte, um das bisschen an Busen zu betonen, den sie kaum hatte. Tjoa, wer kein Gramm Fett an sich trug, der trug auch keine Oberweite vor sich her. Ein Wunder, dass sie da noch nie operativ nachgeholfen hatte. Aber für was gab es schon PushUp-BHs? Mir kam das Kleid bekannt vor, denn es war von einem namhaften Designer geschneidert, der über meinen alten Arbeitgeber nur die hochwertigsten Stoffe bezog. Meine Mutter hingegen war wie eh und je praktisch veranlagt und trug ein Kostüm in gedeckten Farben und Schuhe, mit denen man vorankam.

„Herzlich Willkommen. Tut mir leid, aber ich konnte nicht ahnen, dass ihr soviel Gepäck bei euch habt. Es klang am Telefon nur nach einem kurzen Aufenthalt“, gab ich gespielt freundlich, aber trotzdem kühl zurück.

„Schön, dich zu sehen. Und wo ist mein Lieblingsenkel?“, schnarrte der Drache los.

Lieblingsenkel? Sie hatte doch nur den einen Enkel.

„Der liegt schon im Bett und schläft. Ihr werdet euch morgen sehen“, gab ich betont knapp zurück.

„Sherenina! Du hast ihn doch wohl nicht allein gelassen?“

Entsetzen war aus der Stimme des Drachen zu hören. Und eine prima Steilvorlage, mir wieder einmal mehr zu unterstellen, ich wäre eine Rabenmutter. Ich beruhigte sie, dass selbstverständlich ihr Lieblingsenkel nicht allein wäre. Man konnte großzügig verschweigen, dass aktuell nur Asa bei Yuuki war. Wann Kakashi aus dem Büro aufkreuzen würde, war ungewiss, jedoch hatte er versprochen, dass er die Nacht über definitiv zuhause wäre. Und daran hielt er sich sogar.

Zusammen mit dem Drachen und dem Kleiderständer verließ ich den Bahnhof nicht ohne das große Staunen, wie es der Kleiderständer fertiggebracht hatte, zwei junge Shinobi anzuflirten, die höflichst ihre Koffer schleppten. Wie ein Kind auf Stelzen stakste sie voran. Oh Mann, so lange rannte sie schon mit diesen wahnsinnigen Absätzen unter den Füßen herum, hatte es bis heute aber nicht erlernt.

Die von mir erwählte Unterkunft war ein Hotel mit bester Lage. Es lag auf dem halben Wege zur Innenstadt in einer sehr gehobenen und ruhigen Wohngegend. Und es war mir wichtig, dass das Personal auch mit den Bedürfnissen und Problemen ausländischer Gäste zurecht käme. Sehr gut konnte ich mir schon das Gesicht meiner Schwester vorstellen, wie sie einen Blick in die heimische Speisekarten werfen würde. Da würde sie aufgrund der Kanji schon mal gar nichts verstehen und bei ihrem Gemäckel am Essen wohl auch kaum fündig werden, was ihrem Gaumen gerecht werden könnte. Bei diesem Hotel jedoch wusste ich, dass es ein Frühstück anboten, bei dem es für jeden Geschmack etwas zu wählen gab. Dementsprechend war auch der Preis der Zimmer. Da wurde mir beinahe schwindelig, als ich den Preis für die erste Nacht im Voraus bezahlte. Früher hatte ich selbst auf Geschäftsreisen in ähnlichen Hotels genächtigt und getagt. Da war mir der Preis egal gewesen, da es das Kontor zahlte. Nun erst merkte ich, was es doch für finanzielle Einschnitte brachte. Doch ich war zu stolz, meine uneingeladenen Gäste ihre Zimmer selber zahlen zu lassen. Es war einfach ein Akt der Höflichkeit und Gastfreundschaft, die Rechnung zu übernehmen. Außerdem wollte ich nicht, dass sie merkten, wie pleite ich wirklich war.

Der Weg zum Hotel war glücklicherweise viel zu kurz, als dass sich Drache und Kleiderstange aufregen konnten, weshalb wir kein Taxi nutzten, sondern zu Fuß gingen. Ich lenkte die beiden mit Smalltalk über Konoha ab und vereinbarte bei der Verabschiedung, am nächsten Morgen nach dem Frühstück mit einer kleinen Stadtführung zu beginnen und dann ein gemeinsames Mittagessen in einem Restaurant einzunehmen. Damit zeigte man sich einverstanden und ich wurde beide am Hoteltresen los.

Draußen vor der Tür stellte ich fest, dass die Dämmerung einsetzte. Ich kramte nach meinem Handy und tippte eine Nachricht ein.

„Bist du noch im Büro oder schon zuhause?“

„Noch im Büro. Und? Ersten Feindkontakt überlebt? Wo hast du die denn einquartiert?“

„Ich stehe hier vor dem Bankokuno Hoteru und wollte direkt nach Hause gehen.“

„Treffen wir uns am Onigiristand?“

„OK!“

Natürlich war ich zuerst am Onigiristand in der Nähe von Kakashis Wohnung, erstand die Onigiri, von denen ich hoffte, sie würden den heutigen Tagesgeschmack meines Freundes treffen und wartete einen kurzen Augenblick. Mit dem Kauf war Eile geboten, denn nur wenige Minuten später ratterten die schweren Rolläden des Imbisses herunter: Feierabend! Eine geschlagene Dreiviertelstunde später sollte Kakashi dort aufschlagen, was ich aber nicht mehr live miterlebte, weil ich einfach schon vorgegangen war und mich ins Bett begeben hatte. Ha, sollte er doch seine Ninja-Bande in der Gegend dauerparken. So blöde war ich nicht. Ich strafte seine Bummelei damit, dass ich ihn einfach stehen ließ. Das hatte den schönen Nebeneffekt, dass er mir nachlaufen musste. Genial!

Vom Bett aus hörte ich seine schlurfenden Schritte, die hinüber zur Küchenzeile und den dort abgelegten Onigiri führten. Ein paar Minuten später erklang das Geräusch der Badezimmertür und der prasselnden Dusche. Frisch gewaschen und gebügelt lehnte er dann an der Schlafzimmertür, rieb sich müde die Schläfe und wuschelte sich dann kurz durch die noch feuchten Haare. Wenn er da auch wie ein Schluck Wasser in der Kurve hing, so war er doch lecker anzusehen. Der Kerl konnte irgendwie alles tragen. In diesem Falle ein schlichtes Badetuch um die Hüften und einen Dreitagebart, da er die letzten beiden Nächte mit dem Kopf auf dem Schreibtisch übernachtet hatte.

„Ist da noch Platz in meinem eigenen Bett?“

„Nö!“ neckte ich und streckte alle Viere von mir, um den Platz auf der Matratze möglichst klein zu halten. „Bist halt zu spät! Schon besetzt!“

Das wurde natürlich voller Ignoranz überhört. Schon saß der auf der Bettkante und stupste mich in die Seite. Das kitzelte und ich gab lachend nach. Mir saß der Schalk im Nacken und auch noch viel zu viel an überschäumender Lebensenergie.

„Wieso bist du überhaupt noch so wach?“ wurde mein lebhafter Zustand zu vorgerückter Stunde gähnend kritisiert.

„Weil ich noch was vorhabe“, gab ich grinsend zurück, schlang meine Arme um ihn und zog ihn zu mir.
 

Der neue Tag brach viel zu schnell an. Die Kinder waren recht früh wach und hantierten in der Küche. Das waren nämlich die Geräusche, die uns aus dem Schlaf rissen. Es klapperten Schranktüren, Schüsseln und die Kühlschranktür. Ich hob den Kopf und lauschte verwundert. Was zum Teufel trieben die beiden da in aller Herrgottsfrühe? Kakashi hingegen versteckte entnervt seinen Kopf unter dem Kopfkissen, nachdem er Notiz davon nahm, dass die Zeiger des Weckers gerade mal bei Viertel vor sechs angelangt waren.

„Glaub' man ja nicht, dass die für uns Frühstück machen ...“, brummelte es unter dem Kissen hervor.

Und weil er keine Anstalten machte, der Ursache des Kraches auf den Grund zu gehen, blieb das an mir hängen. Widerwillig schälte ich mich unter der Decke hervor, zog ein Nachthemd über und suchte die lauten Übeltäter heim. Und die beiden taten etwas, was ich zuerst überhaupt nicht kapierte. Sie standen sich gegenüber, hatten ihre Hände auf eine Metallschüssel gelegt und beobachten voller kindlicher Neugier, was im Inneren der Schüssel geschah. Da konnte ich mir erst keinen Reim draus machen, doch als ich die geöffneten Lebensmittelverpackungen sah, dämmerte es mir. Vanillezucker, Sahne und Milch. In der Schüssel waren alle Zutaten, wie man sie für Speiseeis benötigt. Yuuki kühlte mit seinem Wasserelement die Schüssel auf Minusgrade, während Asa einen Drehstrudel in der Schüssel entfacht hatte. Ich schmunzelte, denn die Idee war genauso herrlich clever wie selten dämlich bescheuert.

„Guten Morgen!“, griff ich überraschend in die Aktion ein.

Die beiden erschraken so sehr, das Yuuki die Schüssel losließ und Asa ihren Wirbel nicht mehr kontrollieren konnte. Die ganze Küche war nun komplett mit einer süßlichen Milch-Butter-Soße gesprenkelt, denn durch das lange Schlagen der Sahne hatte sie längst ihren Zustand verändert. Insgeheim fiel mir ein Stein vom Herzen, dass es nicht meine frisch geputzte Küche war, die einem Anschlag erlegen war, doch wenn Kakashi hier gleich aufkreuzen würde, dann gäbe es ordentlich Zunder. Als wäre es sein Stichwort gewesen, trabte der auch schon in T-Shirt und Unterhose an, sah die beiden Kinder, sah die Küche und sagte nur drohend:

„Wenn ich hier gleich angezogen wieder reinkomme, ist es hier sauber!“

Noch nie habe ich Yuuki und Asa so fix aufräumen und Putzen sehen, den die Zeitspanne, die Kakashi zum Ankleiden bräuchte, war extremst ultrakurz.

„Naja, naja ...“, ertönte es auch schon einige Sekunden später, als die beiden gerade mal erst die Küchenfront bearbeiten.

In seinem Tonfall lag Versöhnliches und ein verstecktes Grinsen, dass er den ganzen Blödsinn wohl ziemlich amüsant fand. Nach einer gereinigten Küche und einem gemeinsamen Frühstück trennten sich dann unsere Wege. Kakashi musste zur Arbeit, Asa wollte zu einer Spielfreundin und Yuuki hatte die Pechkarte gezogen, einen Tag lang das liebe Enkelkind spielen zu dürfen. Seine Oma mochte er wohl noch gern ertragen. Immerhin schmierte sie ihm großzügig mit Geschenken Honig ums Maul. Doch als er Wind davon bekam, dass Tante Lana auch mit von der Partie wäre, zog über seinem Kopf eine schwarze Wolke auf. Missmutig kam er dann mit mir mit, als wir zum Hotel gingen.

Dort in der Lobby wartete sogar schon meine Mutter. Meine Schwester war weit und breit nicht zu sehen. Eine geschlagene halbe Stunde später tauchte die dann auch mal auf und mir wurde klar, weshalb sie ihren Kleiderschrank im Gepäck hatte. Ein brandneues Kleid mit farblich abgestimmten Accessoires und Schuhen in Korallrot schmiegte sich an ihren Körper wie eine zweite Haut, dass sich die Männer nach ihr umdrehen mussten. Ich verdrehte die Augen und nahm die Gruppe mit. Wir bummelten durch die Innenstadt und kamen nicht sonderlich gut voran, weil sich stets die hochhackigen Schuhe im Kopfsteinpflaster verklemmten. In einigen Geschäften musste die Kleiderstange stundenlang das komplette Bekleidungssortiment anprobieren ohne aber auch nur ein einziges Teil zu kaufen. Fremdschämen pur! Immerhin wohnte ich in diesem Ort und würde den Verkäufern hier immer wieder begegnen, die mich mit der dusseligen Kuh zukünftig verknüpfen würden. Ich wünschte, die Erde würde sich auftun und mich einfach verschlingen. Selbst meiner Mutter wurde es zu bunt und sie herrschte Lana an, sich bitte einmal zu entscheiden oder die Shopping-Attitüden zu belassen. Schmollend hielt sie sich an die Vorgabe des Drachen. Wenigstens etwas.

Lange hatte ich überlegt, ob ich den Schritt wagen würde. Letztendlich wagte ich ihn und nahm meine Familie mit zu meiner aktuellen Wohnung. Mehr als skeptisch begutachteten beide den Wohnklotz. Und als sie dann oben in der Wohnung ankamen, gab es nicht mehr als verachtende Worte:

„Hier in diesem Loch wohnst du nun? Sherenina, das ist doch wohl nicht dein ernst?“, donnerte der Drache los, der meine Behausung schlichtweg gruselig fand.

Seit der Reichtum Einzug in die Familie gehalten hatte, war man solch Wohnungen nicht mehr gewohnt. Da bot man flächenmäßig solche Domizile als Gästezimmer an. Meine dumme Schwester merkte obendrein entsetzt an, dass hier noch nicht einmal Hauspersonal zugegen wäre. Wer würde denn hier reinigen? Oder kochen oder waschen? Boah, mir schwoll der Kamm! Auch als ich noch die Kontorleitung inne hatte und mir es hätte finanziell leisten können, hatte ich mich nie um Personal gekümmert, sondern immer alles selber gemacht. Ich mochte keinen fremden Menschen in meinen eigenen vier Wänden und war froh, wenn ich mich zurückziehen konnte. Ich hatte gern meinen kleinen Haushalt geführt und war stolz, so bodenständig geblieben zu sein. Es war zum Ausrasten. Doch ich bewahrte nach außen ruhig Blut und gab schnippisch zu verstehen, dass die Wohnungsmarktlage zur Zeit sehr angespannt und das Finden einer passenden Wohnung nicht leicht wäre. Der Auszug aus der damaligen Dienstwohnung kam sehr überraschend. Es wäre nur eine vorübergehende Notlösung, bis wir etwas Besseres gefunden hätten. Nur schwer unterdrückte ich Tränen in den Augen. Tränen der Wut. Ich mochte meine Wohnung. Sie war blitzblank geputzt, sehr gemütlich und Kakashis Blumenstrauß blühte auch jetzt noch wie der frische Sommermorgen.

„Nina, kannst du mal das Gestrüpp wegstellen? Ich krieg' davon Heuschnupfen“, beklagte der Kleiderständer, der es sich auf der Bank am Küchentisch bequem gemacht hatte.

Gestrüpp? Das war doch wohl der Oberhammer! Niemand beleidigte Kakashis Blumen. Mir schwoll ein dicker Kloß im Hals an.

„Die sind von Mamas Freund!“, platze mein Kind unbedacht heraus.

Ungläubiges Staunen meiner beiden Gäste und eine angespannte Stimmung. Yuuki merkte sofort, dass sein Satz wohl ungünstig gewesen sein musste, denn er verkrümelte sich sofort mit eingezogenem Kopf in seinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

„Oh, du hast einen Freund? Erzähl doch mal!“, plapperte meine Schwester los und präsentierte ihre einzige Gehirnzelle in Vollendung. „Sieht er gut aus? Verdient er viel? Ist der Sex super?“

Natürlich interessierte sie sich nur für die drei wichtigsten Dinge in IHREM Leben. Dabei platzte sie vor Neugier und strahlte mich an, wie eine Kuh auf Ecstasy. Mal ehrlich, was sind das denn für unseriöse Fragen? Sie überschritten weit die Grenze der Zurückhaltung und Höflichkeit. Klar hätte ich angeberisch jede Frage mit einem Ja beantworten und ganz groß auftragen können. Doch das wollte ich nicht. Ich wollte überhaupt nicht mir ihr über Kakashi reden.

„Ach, weißt du ...“, wollte ich sie abwimmeln und das drohende Gewitter in meiner Wohnung noch abwenden, doch der Drache fuhr mir ungeniert über den Mund.

„Jetzt sag nicht, es ist wieder so ein Ninja?! Ich will doch wohl ganz stark hoffen, dass er einer anständigen Arbeit nachgeht. Oh Sherenina! Hattest du mit dem Letzten nicht schon so viele Scherereien? Den gleichen Fehler musst du doch nun wirklich nicht nochmal machen. Und was ist das überhaupt für einer, der dich hier in einem Schuhkarton hausen lässt und noch nicht mal anständige Blumen für dich übrig hat? Und überhaupt. Wie geht es eigentlich meinem Enkel? Du hast ihn doch für das kaufmännische Internat angemeldet, wie du damals erzählt hattest?“

Der Drache hatte einen Ton am Leibe, der durch Mark und Bein fuhr. Mir kam es vor, wie eine Tracht Prügel. Lange hatte ich mit mir gehadert, was ich im Innersten eigentlich wollte. Ich war hin und hergerissen. Plötzlich wusste ich es. Und ich wusste in dem Moment auch, dass ich wohl mit alten Familienbanden brechen müsste. In mir explodierte alles. Ich könnte später nicht mehr sagen, wie ich trotz alledem die Fassung behielt. Ohne zu Schreien oder hysterisch zu werden, war es nun Zeit, reinen Wein einzuschenken.

„Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Ja, er ist Shinobi, was in einem Dorf voller Shinobis nicht ungewöhnlich ist, und arbeitet zu deiner Zufriedenheit ausschließlich in der Verwaltung. Wir kommen zurecht. Und Yuuki wird nicht auf das Internat gehen. Er besucht seit diesem Schuljahr die Akademie und ...“

Da hatte ich doch mit keinem Wort gelogen ohne zu viel zu verraten. Weiter kam ich nicht, denn meine Mutter war die Meisterin der Satzunterbrechungen. Sie zeigte sich schockiert, sah die Zukunft ihre Enkels in düsterem Schwarz und tadelte mich wie ein Kleinkind, das mit Sand geschmissen hatte. Früher hatte sie mit dieser Methode Erfolg gehabt. Dann war ich eingeschüchtert, hatte alle meine eigenen Träume zurückgestellt und mich verkrochen. Das sollte ab jetzt vorbei sein. Diese Masche zog nicht mehr. Mein Leben stand auf wackeligen Beinen. Früher hätte mich das um den Verstand gebracht. Jetzt juckte es mich nicht die Bohne. Pleite, aber glücklich.

Die frostige Stimmung kippte. Sie entlud sich in hitzigen Wortgefechten. Wir stritten uns nun lauthals, was ich überhaupt nicht mochte. Solch eine Behandlung von meiner Sippschaft hatte ich einfach nicht verdient. Im Gegensatz zu meiner Schwester hatte ich immer hart gearbeitet und aus allen Situationen das Beste gemacht. Sollte man da nicht stolz sein?

Plötzlich ging die Zimmertür auf. Yuuki hatte natürlich alles mit angehört. Man sah ihm an, wie sehr ihn der Streit an die Nieren ging. Er war sehr sensibel. Mit verweinten Augen und zitternden Leibes stand er da und fragte angsterfüllt:

„Mama, wir bleiben doch hier, oder?“

„Natürlich bleiben wir hier. Alles wird gut!“ versuchte ich beruhigend auf ihn einzureden.

„Du bist doch nicht mehr bei Sinnen!“, keifte der Drache. „Ich werde dafür sorgen, dass wenigsten mein Enkel eine anständige Zukunft bekommt. Er wird zu uns ziehen!“

Yuuki hörte die messerscharfen Worte. Er bebte, schnappte nach Luft, stand kurz vor dem Kollaps. Doch was noch viel schlimmer war, dass er in diesem Zustand auch sein Chakra nicht mehr unter Kontrolle hatte. Seine Stirn und seine Hände wurden heiß. Die Augen glasig. Dann wurde es hell. Seine eben noch heißen Hände glühten und tauchten in ein Leuchten ein. Eine orangene Energiekugel bildete sich. Verdammt, was sollte ich nun bloß tun? Ich war verzweifelt, stürzte zu meinem Kind. Ich nahm ihn fest in die Arme und versuchte ihn zu beruhigen mit der Hoffnung, der Chakraball würde sich vielleicht auflösen.

Meine Schwester und meine Mutter glotzten auf den Energieball, wie ich es wohl einst getan haben musste, als ich zum ersten Mal die Ausführungen eines Jutsus mit eigenen Augen sah. Lana bekam es mit der Angst zu tun, denn sie heulte los, versteckte sich in der hintersten Zimmerecke und jammerte, ich sollte doch etwas gegen diesen Hokuspokus machen. Und der Drache fauchte, dass es alles allein meine Schuld wäre. Nun würde ich ernten, was ich gesät hätte.

Ich warf sie kurzerhand raus, alle beide, und gab ihnen mit auf den Rückweg, dass wir nicht ihre Hilfe und ihr verfluchtes Geld und ihre aufgesetzte Welt, sondern die Hilfe von Leuten bräuchten, die uns verstanden und damit umgehen konnte. Alle diese Hilfe hätten wir hier gefunden. Und weit mehr.
 

Ich wusste, dass es das Ende einer langen familiären Beziehungskiste war. Nach diesem Tage brach ich alle Kontakte in die alte Heimat ab, löschte Telefonnummern aus meinem Handy und ließ Briefe unbeantwortet zurückgehen. Meine Mutter war nicht die Person, die kampflos aufgab. Noch lange bombardierte sie mich mit Telefonterror und später mit Anwaltsbriefen. Ich war es leid, mich darum zu kümmer. Es zermürbte mich und machte mich jedes Mal aufs Neue traurig. Irgendwann hatte auch Kakashi die Nase voll von dem Anwaltsspam in unserem späteren, gemeinsamen Briefkasten.

„So, jetzt reicht's!“, hatte er nur verlauten lassen, als er wieder meine vermeintliche Fanpost aus dem Kasten fischte.

Ich weiß bis heute nicht, was er damit meinte oder unternahm. Doch es hörte schlagartig auf. Mir war es nur recht, um endlich ein elendiges Thema abschließen und Ruhe finden zu können.

37 - Der Tag, an dem Kakashi sich entschied

Julizeit, Regenzeit! So schlimm, wie es klang, war es im Feuer-Reich klimatisch zwar nicht bedingt, doch der Juli mit seinen periodisch wiederkehrenden Landregenwochen war ein Monat voller Symbolik und Parallelen zu unserem Leben. Meine Mutter war samt meiner Schwester wie ein Gewittersturm abgerauscht. Es folgten Tage des persönlichen, inneren Aufpralls und der Ernüchterung. Die ersten Regentropfen der aufziehenden Regenfront über Konoha glichen einer reinigenden Dusche. Sie wusch den Staub aus den Straßen und zugleich die Verstörung aus meinem Kopf. Der Besuch meiner Mutter und mein Bruch mit der eigenen Familie setzte mir stärker zu als gedacht. Die Auswirkungen davon verfolgten mich noch lange, teilweise viele Jahre. Die bereits erwähnten Anwaltsbriefe waren nur eine winzige Spitze des Eisberges.

Zwischen den kräftigen Regenfällen brach die Sonne durch die Wolken. Sie erhitze den Erdboden und kochte die Einwohner in dicker, stickiger Luft. Und ebenso hätte man auch die Stimmung bei uns daheim beschreiben können. Es herrschte im wahrsten Sinne des Wortes dicke Luft.

Asa konnte den Tod ihrer geliebten Mutter nicht akzeptieren. Wie hätte man es auch anders erwarten können? Sie reagierte aggressiv, vergaß sämtliche Erziehung, die sie jemals genossen hatte, und hielt Kakashi pausenlos mit ihrer Bockigkeit und rotzfrechen Art auf Trab. Die letzten Tage bis zu den großen Ferien schwänzte sie gar die Akademie und trieb sich stattdessen lieber in den Wäldern rund um Konoha herum. Obgleich sich Kakashi wirklich alle verfügbare Zeit nahm, die er zusammenkratzen konnte, so war es für seine Tochter nur ein winziger Strohhalm, der für den richtigen Halt nicht ausreichte. Ich sah meinem Freund an, wie sehr ihn die Gesamtsituation schlauchte. Tage und Nächte schlug er sich im Büro herum, und wenn er nach Hause kam, so erwartete ihn da auch nur ein Trümmerhaufen. Er sprach ungern über das, was ihn in seinem Herzen bewegte, doch war es spürbar, dass er mit diesem Chaos an Gefühlen heillos überfordert war. Darunter litt auch unsere Beziehung. Es war nicht unsere Art von Streit, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten herausbrüllten. Wir verletzten uns lieber mit kurzen messerscharfen Worten, die tief einschnitten und genau in den Schwachpunkten des jeweils anderen bohrten. Das schmerzte mehr, als eine lautstarke Auseinandersetzung.

Zu guter Letzt fühlte sich Yuuki wie das fünfte Rad am Wagen. Alle hatten ihre Probleme um ihn herum und waren mit sich selbst beschäftigt. Als sensibler und harmoniebedürftiger Geist konnte er dieses ganze Ungleichgewicht gar nicht ertragen. Er zeigte es auf eine ganze stille Weise, dass er sich immer mehr zurückzog, uns sogar mied. Ich schon fürchtete, er würde depressiv werden.

Gerne hätten wir alle gegenseitig Trost und Unterstützung in Anspruch genommen. Doch wir taumelten am Rande der Belastbarkeit und waren absolut unfähig, diesen Zustand zu beenden. Es war Zeit, die Reißleine zu ziehen. Sonst würde es hier nach dem Auftritt meiner Mutter den zweiten großen Knall geben. Und den wollte niemand. Zeit für Veränderungen!

Also riss ich gleich am ersten Ferientag die Reisetaschen von den Kleiderschränken herunter und herrschte die Kinder viel zu geladen an, sie sollten bitte alles einpacken, was man für einen kurzen Urlaub bräuchte. Beide waren wenig begeistert. Asa hockte mittlerweile am Liebsten nur noch in ihrem Zimmer. Ich hätte ihr eh nichts zu sagen, ich wäre ja nicht ihre Mutter. Ha, von so einem Kind wollte ich auch nicht die Mutter sein, brüllte ich da gereizt zurück, weil sie es mir pausenlos vorhielt. In der nächsten Sekunde bereute ich schon wieder meine Kodderschnauze. Ich liebte sie mittlerweile sehr. Genauso, wie ich auch Yuuki liebte. Natürlich würde nichts und niemand ihre Mutter ersetzen können. Leider interessierte das die große, weite Welt überhaupt nicht, die sich einfach rücksichtslos weiterdrehte, als wäre nie etwas geschehen. Yuuki beschwerte sich ebenfalls über meine Reisepläne, wollte er doch mit neu gewonnenen Freunden aus seiner Klasse viel Freizeit verbringen. Unzufrieden stopfte er Kleidung und Kulturbeutel in seine Reisetasche und war nicht so recht zu überzeugen, zumal wir kein festes Reiseziel vor Augen hatten, welches hätte motivieren können. Es hatte eher den Anschein, wir wären auf der Flucht, als denn unterwegs zu einem erholsamen Urlaub.

Schon der nächste Zug in Richtung Keishi war unserer. Dort in der Hauptstadt des Feuer-Reiches und Regierungssitz des Daimyô wollten wir ein oder vielleicht zwei Nächte verbringen und dann weiter zum Meer fahren. Das Feuer-Reich hatte viele schöne Strände. Da wäre auch ein passender für uns dabei, zumal die Küsten von der Regenzeit kaum betroffen waren.

Schon beim Einsteigen kippte bei den Kindern die Stimmung. Man hätte es voraussehen können: Der Zug war aufgrund der Hauptferienzeit restlos belegt. Freie Sitzplätze Fehlanzeige! Mit Glück ergatterte man einen Stehplatz. Den Großteil der knapp vierstündigen Fahrzeit verbrachten wir stehend, eingequetscht wie Ölsardinen. Normalerweise war die Fahrzeit mit einer knappen Stunde wesentlich geringer, doch Erdrutsche und Überschwemmungen der Bahngleise zwangen immer wieder zu Fahrtunterbrechungen inmitten einer eintönigen Waldkulisse. Ok, es hatte dieses Jahr wohl doch kräftiger geregnet, als in all den Jahren zuvor.

Dafür war die Ankunft imposanter. Die Türen des Waggons schlugen auf und der Großstadtlärm Keishis prügelte gnadenlos auf uns ein. Eine Gebrumme und Gesumme wie in einem Bienenstock. Und erst diese Hektik! Seit Ende des vierten Ninjaweltkrieges hatte es wirtschaftlich allerorts geboomt. Doch um den Hauptsitz des Daimyô herum war es geradezu explodiert. Da war Konohas Stadtentwicklung im Vergleich fast lächerlich. Wir traten aus der großen Bahnhofshalle heraus und fühlten uns verloren zwischen den ganzen Häuserschluchten, Menschenmassen und Reizüberflutungen. Unsicher stolperten wir durch die Straßen, ließen uns von den Eindrücken erschlagen und näherten uns so einer Adresse, die ich zuvor herausgesucht hatte. Es war die erste von fünf preiswerten Unterkünften, die es nun abzuklappern galt. Sollten wir keine Glück mit einem freien Zimmer haben, so müsste ich wohl in den sauren Apfel beißen und ein höherklassiges Hotel wählen. Ich hatte es aufgrund der Spontanität versäumt, im Voraus zu reservieren. Dafür erntete ich wieder Unverständnis der Kinder, die lustlos ihr Gepäck hinterherschliffen. Die ersten drei Unterkünfte waren belegt. Mit den Reisetaschen und deren Gewicht in der Hand merkte man erst, wie weit die angepeilten Orte in der Stadt untereinander entfernt lagen. Dennoch ermahnte ich die Kinder, auf keinen Fall irgendwelche Jutsus zur Hilfe zu nehmen. Absolutes Chakra-Anwendungsverbot! Wir kamen zwar aus Konoha, aber das brauchte ja nicht jeder sofort zu wissen. Asa nörgelte wieder ihre Leier herunter, ich hätte ihr eh nichts zu sagen, doch ich hielt passend dagegen, dass ich zum Petzen den wohl besten und kürzesten Draht an die richtige Beschwerdestelle hätte. Das war zwar fies von mir, aber damit war die Diskussion beendet. Wir hatten ziemlich viel Fußmarsch zu absolvieren. Doch es war so interessant, dass wir an fast jeder Ecke etwas zu entdecken hatten. Wenigstens hatten die Kinder allmählich Feuer für die Großstadt gefangen und heulten mir nicht mehr die Ohren voll, wie ätzend doch alles wäre. Stattdessen kam nun die nächste Phase, welche Kinder gern zu spielen hegten, nämlich wann es etwas zu essen gäbe. Man hätte ja so einen unendlichen Hunger. Ohne Worte! Wenigstens gab es hier an fast jeder Ecke eine Garküche.

Wir kamen durch Zufall und Irrwege dann an einer ganz anderen, ungeplanten Unterkunft vorbei. Es war ein traditionelles Gästehaus mit kleinen Gruppenschlafräumen und Futon auf Tatamimatte, Essen auf dem Zimmer und Onsenquelle direkt anbei. Na bitte! Das war doch für alle etwas. Uns gefiel es so gut, dass wir sogar fast eine ganze Woche hierblieben und nun wirklich jeden Winkel und jede Ritze unserer Hauptstadt kannten. Es sollte ein Wink des Schicksals werden, dass wir uns für diesen verlängerten Aufenthalt entschieden hatten.
 

Am Tage der Weiterreise hatten wir ungeplant am Bahnhof noch etwas Zeit. Den ausgewählten Zug an die Küste hatten wir verpasst, denn zu spät merkte ich, dass ich die falschen Tickets gelöst hatte und sie deshalb am Schalter tauschen wollte. Es gab nämlich mehrere Bahngesellschaften, die von hier aus ihre Züge kreuz und quer durch die Welt schickten. Das Schienennetz war für Gelegenheitsfahrer auf den ersten Blick schwer zu durchschauen. Ebenso, welches Ticket zu welchem Zug gehörte. Nur zu gut erinnere ich mich an den Fahrkartenverkäufer. Sein Gesicht glich dem einer Bulldogge. Fast wie Buru. Aber sein Arbeitstempo war eher dem einer Schnecke und seine Auffassungsgabe dem eines Schafs gleichzusetzen. Viel Zeit verplempernd stand ich da nun lange mit anderen Reisenden in der Warteschlange, hatte das eine Auge auf die Kinder und das Andere verträumt in die Leere geworfen, als sich genau in diese Sichtachse freudestrahlend eine alte Bekannte von mir schob. Du meine Güte! Wie viele Jahre mochten verstrichen sein, in denen wir uns nicht mehr gesehen hatten? Und sie wohnte nur einen Steinwurf entfernt an der Küste des Hanguri Golfes? Da wollten wir doch auch hin! Welch ein Glück. Beseelt folgten wir gern ihrer Einladung.

Eine Kaffeepause später rumpelte ein Schienenbus mit uns über eine alte Strecke zu einem Fischerdorf. Wow, war das schön hier! Auf den wenigen Kilometern an einem Fluss entlang wechselte die Landschaft malerisch zwischen bewaldeten Hügeln und Reisfeldern einher. Mir fielen die unzähligen Obstplantagen auf. Man hatte schon etwas Salzgeruch vom Meer in der Nase. Zumindest glaubte ich das. Dann bog sich das Gleis in eine langgestreckte Kurve und schmiegte sich nun an die Hänge, die sich der Meerseite zuwandten. Wir hatten die Küste erreicht. Bäume, Felsen und am Fuße der Hänge weißer Sandstrand. Ein glattgebügeltes Meer in tiefstem Türkisblau. Kurz darauf hielt der Schienenbus an einem einfachen Bahnsteig nahe der Hafenkante. Eine Handvoll Fischerboot dümpelte an der Kaimauer. Vor einem Lokal spielten zwei alte Herren Shogi. Nebenan warteten Obst, Gemüse und Weinflaschen in den Auslagen auf Kundschaft. Viel mehr war hier nicht los. Für einen entspannten Standurlaub genau das Richtige.

Das Haus meiner Bekannten lag etwas abseits vom Schuss in bewaldetem Gebiet. Obgleich es an einer Durchgangsstraße stand, gab es kaum Verkehr. Nur wenige verirrten sich in diese Gegend. Die traditionelle Bauweise imponierte mir sofort. Ein typisches Holzständehaus mit Schiebeelementen. Doch das Highlight folgte erst noch, als wir im Innenraum standen und meine Bekannte eine Schiebetür beiseite schob: Der Strand und das Meer vor der Nase! Mit einem Sprung vom Engawa berührten die Füße sofort einen halben Meter tiefer den feinen Sand. Ja, hier gäbe es viele solcher Häuser günstig zu erschwingen, wurden wir aufgeklärt. Allesamt baufällig. Obwohl es hier wunderschön und ruhig wäre, zöge es die jungen Menschen alle in die große Hauptstadt. Keiner mochte mehr gerne pendeln und beim Gemischtwarenhändler im Hafen einkaufen. So vereinsamte der Landstrich zusehends. Badeurlauber würden sich lieber im Nachbarort weiter südlich tummeln, weil dieser besser zur erreichen wäre und einen größeren Ortskern hätte. Ach, sollten die Leute sich tummeln, wo sie wollten: Wir fahren zufrieden.

So hielten wir es einige Tage mit immer dem selben Rhythmus aus. Aufstehen, Essen, Tag vertrödeln, Sonnenuntergang beobachten, Schlafen. Das Justu-Verbot hatte ich gelockert. So streiften die Kinder durch die Umgebung, legten Dank Chakra größere Entfernungen zurück und waren immer irgendwie beschäftigt. Eines der leerstehenden Häuser war zu einem Geheimversteck auserkoren worden. So zogen die beiden nach dem Frühstück los und kamen abends zum Essen wieder zurück.

Merklich fiel bei uns allen der Stress ab. Mit meiner Bekannten saß ich oft bis spät in die Nacht auf dem Vorbalkon, leerte eine Flasche Obstweinschorle und redete belanglos über alte Zeiten. Ebenso wie ich kam sie aus dem kaufmännischen Bereich und war dort immer noch tätig. Aktuell betrieb sie ein Logistikgewerbe, bei welchem sie sich auch um die Beschaffung der Ware kümmerte. Meine Bekannte hatte das Versprechen an die Kunden herausgegeben, dass sie jede gewünschte Ware termingerecht liefern könnte. Sie hätte schon alles von A nach B transportieren lassen: Teure Gewürze, Eisblöcke, Quietscheenten, Bleistifte. Die Liste war so unendlich wie kurios. Das klang alles sehr spannend, aber auch anstrengend. Man musste immer am Ball bleiben, um die beste Qualität zu finden und dann auch noch pünktlich dem Kunden zu übergeben. Das Geschäft war äußerst lukrativ, hatte aber einen hausgemachten Haken. Nach einem Herumdrucksen kam die Sache auf den Tisch:

„Du kennst mich ja. Ich habe Superideen und genug Ehrgeiz und Kraft, das umzusetzen. Aber dieser Papierkrieg... Ich bräuchte dringend jemand, der sich damit auskennt. Hättest du Lust?“

„Ich weiß nicht ….“, gab ich zu verstehen.

Ja, das wäre eine tolle Möglichkeit, wieder in alten beruflichen Gefilden Fuß zu fassen. Eine einzigartige Chance. Jedoch wäre der Arbeitsplatz in Keishi und nicht in Konoha. Ich müsste entweder pendeln oder umziehen. Ob Kakashi das passen würde? Kein guter Zeitpunkt, von solch Verwirklichungstrips zu sprechen, wo der gerade ganz ungenießbar und gereizt war. Außerdem konnte ich mir die Buchhaltung meiner Bekannten bildhaft nur allzu gut vorstellen. Dafür hatte sie weder Muße, noch Plan. Garantiert würden sich da verschlossenen Briefe, unbezahlte Rechnungen und Papierberge bis an die Zimmerdecke stapeln. Allein die Altlasten zu ordnen und auszumisten, würde schon eine Sondergehaltszahlung rechtfertigen. Ich vertröstete sie und bat um Bedenkzeit, obgleich es mich im Grunde schon gepackt hatte. Trotzdem musste diese Entscheidung wohl durchdacht und beraten werden. Ich hatte in den letzten Monaten soviel aufs Spiel gesetzt und von alten Lebensabschnitten Abschied genommen, da wollte ich neue Bindungen nicht auch noch aus blankem Übermut zerreißen. Ich mochte es kaum zugeben, doch die Nacht war schlaflos.

Frische Luft würde mir guttun. Ich schlüpfte in meine Kleidung und schlich mich leise hinaus, um niemanden zu wecken. Eine milde Brise vom Lande schmeichelte wärmend meine Haut. Sie spielte in meinen Haarsträhnen, und ich musste unwillkürlich an eine Liedzeile denken.

„Gerade noch am Meer gewesen. Wellenrauschen. Salz in deinem Haar.“

Lange verlor sich mein Blick auf der ruhigen Meeresoberfläche. Das Mondlicht ließ die seichten Wellenkämme glitzern. Die Wellen rauschten monoton gleichmäßig an den Strand. Langsam machte ich mich auf den Weg. Mitten in der Nacht spazierte ich da in der Dunkelheit in der Brandung. Badete mich im Mondlicht und meine Füße im Wasser. Man gut, dass ich allein war und wohl kaum Zaungäste zu fürchten hätte. Man hätte mich vielleicht für verrückt erklären können. So mutterseelenallein. Barfuß. Nur eine Yukata übergeworfen. Ich schaute in den Himmel, zählte die Sterne und dachte an Kakashi, weil er auch immer so gerne in den Himmel schaute. Ob er das eben gerade auch tun würde? So weit weg, wie er eben war. Wie weit mochte es bis Konoha sein, das ziemlich zentral im Feuer-Reich lag? Ich vermisste ihn schmerzlich. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, weil ich nun anfing zu frösteln. Ich stand hier bestimmt schon eine Stunde am Strand. Vielleicht sogar schon länger.

Langsam schlenderte ich weiter. Der Strandabschnitt veränderte sein Gesicht. Hatte man eben noch zwischen den Bäumen den dunklen Himmel erahnen können, wurde er nun dichter. Aber was war denn das dort drüben? Ein altes Haus? Ja, hier sollte es ja vieler dieser Häuser geben. Und eines hatte die letzten Tage sogar als Spielstätte herhalten müssen. Ich näherte mich der baufälligen Ruine, die im Mondlicht und aus der Ferne gar nicht so schlimm aussah, wie nun beim Näherkommen. Nur ein Teil reichte an den Strand. Die restliche Häuserfront verbarg ihr Antlitz zwischen den wuchernden Büschen. Nun erst stellte ich fest, dass die Grundfläche viel größer sein musste als geschätzt. Ich wusste nicht, was mich so neugierig machte. Es zog mich magisch an. Zuerst umrundete ich es, denn der Vorbalkon schmiegte sich einmal um das gesamte Gebäude. Als ich die knarzende Schiebetür an der Straßenseite beiseite schob, um etwas Licht hereinzulassen, gruselte es mich ein wenig. Wer wusste schon, was einen dort erwarten würde. Ein Teil des Daches war eingestürzt. Man sah den Mond durchscheinen. Den Rest musste die Taschenlampe an meinem Handy beleuchten. Das Haus war wirklich groß, wenn auch nur ebenerdig. Durch die vielen Schiebeelemente, konnte man unzählige Räumen abtrennen oder verbinden. Es mochte der blanke Wahnsinn sein, aber ich verliebte mich sofort in diese Bruchbude. Aber Träume sind bekanntlich Schäume, und so schritt ich bedächtig wieder hinaus. Dort nahm ich Platz auf dem Engawa, baumelte mit den Füßen und schaute wieder aufs Meer.

Mein Uhr auf meinem Handy mahnte mich, doch endlich einmal den Rückweg anzutreten. Immerhin war ich nun schon gute drei Stunden unterwegs. Hoffentlich vermisste mich keiner und hatte schon einen Suchtrupp losgeschickt. Doch ich ignorierte die späte Nachtstunde und stellte überrascht fest, dass ich einen Anruf von Kakashi verpasst hatte. Logisch, ich hatte es über Nacht lautlos gestellt, um niemanden zu wecken, wenn ich hier stiften ging. Ich probierte einen Rückruf und er nahm sofort ab. Eigentlich wollte ich ihm alles erzählen, weil wir die letzten Tage nichts voneinander gehört hatten. Von unseren spannenden Tagen in Keishi, von dem Strandhaus meiner Bekannten und von deren Stellenangebot. Aber so weit kam ich nicht, weil Kakashi mich umgehend unterbrach und fragte, wo wir den stecken würden. Ich beschrieb ihm ungefähr die Lage des Hauses und versprach, auf ihn zu warten. Dabei mahlten alle Mühlensteine in meinem Kopfe, wie lange der wohl aus Konoha bis hierher brauchen würde. Ich hoffte, es würde nicht bis zum Morgengrauen dauern. Obgleich Kakashi am Telefon sehr ruhig klang, regte sich in mir Unbehagen. Worum es wohl ging, dass es nicht am Telefon besprochen werden konnte? Die Ungewissheit machte mich unruhig. Und noch während mein Hirn sich zermarterte, war ich auf einen Schlag nicht mehr alleine. Wie bitte? Die weite Strecke in der kurzen Zeit? Ich musste total entgeistert geguckt haben, als Kakashi urplötzlich neben mir stand. Der verriet mir Unglaubliches:

„Ich komme nicht aus Konoha. Ich bin seit gestern in Keishi.“

Das erklärte natürlich die Geschwindigkeit. Aber was zum Teufel trieb den nach Keishi? Eine Audienz beim Daimyô? Das waren zu viele Fragen zu viel zu später Stunde. Das ließ mich sprachlos staunen und zugleich grübeln. Nebenbei beobachtete ich meinen Freund, der bedächtig durch das Haus schritt und sich umsah. Dann gesellte er sich wieder zu mir nach draußen. Dummerweise stand er nun rechts von mir, so dass ich seine Mimik nicht lesen konnte. Die Maske wie üblich über die Nase gezogen, verdeckte nun das Stirnband zusätzlich sein linkes Auge. Obgleich er seit über zehn Jahren wieder sein richtiges Auge hatte, so tat es ihm manchmal weh. Dann verdeckte er es, wie er es damals auch mit dem Sharingan gemacht hatte. Es ginge ihm so besser.

„Wieso bist du hier draußen?“, wollte er mit ruhiger Stimme wissen.

„Ach, ich konnte nicht schlafen und ging spazieren. Und das Haus hat mir auf einmal gefallen“, antwortete ich gähnend.

„Tatsächlich? Die alte Kiste? Warum hast du es ausgewählt?“, fragte er überrascht, schob dabei sein Stirnband nach oben und blickte an der Hauswand entlang.

„Keine Ahnung...“

Da sah ich, dass er lächelte. Kakashis Kopfkino spielte meist nur unschöne Filme ab. Aber hier musste es etwas geben, was etwas Schönes hervorgekramt hatte. Das konnte ich ihm ansehen.

„Erinnert mich ein bisschen an mein Elternhaus. Nett!“

Normale Menschen würden vor Freude oder Begeisterung solch Worte benutzen wie „Wahnsinn!“ oder „Genial!“. Wenn Kakashi „Nett!“ sagte, dann war das ein Synonym für solch Begeisterung und hatte eine große Bedeutung. Es verblüffte mich.

„Meinst du, Tenzô kriegt den Holzwurm aus dem Gebälk?“, flachste ich.

„Wenn du ihm einen Topf voll Kartoffelbrei machst, bestimmt!“, entgegnete er lachend.

Kartoffelbrei! Die Anekdote musste kurz angerissen werden, weil sie so saukomisch war. Ich konnte mich bis heute nicht mehr genau an den Grund erinnern, weshalb Tenzô mal bei mir daheim aufkreuzte. Damals hatte ich noch in der Kontorwohnung gelebt. Wie dem auch sei, ich hatte nicht viele Zutaten für ein Mittagessen im Hause, wollte schnell mein hungriges Kind abfüttern und kochte eben jenen Kartoffelbrei. Eine Speise, die Tenzô bis dato gar nicht kannte, weil ich sie mit Milch, Butter und Muskatnuss zubereitete. Solch eine Art des Kochens war in Konoha völlig unbekannt. Das Ende vom Lied war dann, dass Tenzô nicht nur davon probierte, sondern wortlos sofort Feuer und Flamme war. Mit großen Erstaunen beobachtete Yuuki und ich, wie der Topf schnell geleert und blitzblank ausgekratzt war. Es waren die einfachen Dinge des Lebens, die Freude bereiteten.

Doch wir standen nicht hier, um über Kartoffelbrei zu reden. Geduldig hörte Kakashi zu, wie ich ihm von den letzten Tagen berichtete und von dem Stellenangebot. Und dass ich mich nicht entscheiden könnte.

„Aber es wäre doch genau das, was du gerne wieder machen möchtest“, meinte er nüchtern.

Hm? Hatte er nicht zugehört? Unsere Wege würden nicht mehr so schön parallel laufen wie bisher. Womöglich würden wir uns kaum noch sehen, wenn wir an verschiedenen Orten arbeiten würden. Das wäre auf Dauer ein ziemlicher Beziehungskiller. Das konnte ihm doch nicht egal sein. Da wusste ich nun nicht, ob ich heulen oder lachen sollte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Zeitgleich stieg unbändige Wut in mir auf. War nun alles umsonst gewesen? Die Gedanken, ich mir gemacht hatte? Die Opfer, die ich gebracht hatte? Löste sich nun alles in Wohlgefallen auf?

„Bist du glücklich, Nina-chan?“

Hä? Die Frage traf mich so unerwartet wie ein Schlag mit einem Hammer gegen den Kopf. Es dröhnte und zwiebelte und warf mich mental aus dem Gleichgewicht.

„Ob du zufrieden bist?“, wiederholte er sich.

Dabei lehnte der so seelenruhig an dem Holzbalken des Vorbalkons und starrte emotionslos auf die Wellenkämme, als würde er das Telefonbuch vorlesen. Nein, bin ich nicht. Ich bin durcheinander. Und traurig. Und sauer. Und enttäuscht. Und … ich werde das nun alles in einen kurzen Text packen und dir an den Kopf knallen, dass dir Hören und Sehen vergeht, Hatake! Dass du nur weißt, was ich von dir halte. Du, Du …

„Nein, bin ich nicht und ...“, holte ich tief Luft, um auf meine übliche, keifende Art nun krass auszurasten.

„Dann wird es Zeit!“, gab er lächelnd zu verstehen.

Er steckte die Hände in die Hosentaschen, kramte sogleich wieder eine Hand hervor, um sich am Kopf zu kratzen, guckte verschiedene Löcher in die Luft und dachte kurz nach, wie er es immer tat, wenn er irgendetwas sagen wollte, was ihm und anderen unangenehm war.

Ohje, das konnte doch nur was ganz Schlimmes sein. Etwas ganz Schreckliches. Bestimmt war es gleich aus und vorbei. Meine Knie zitterten und gaben nach. Tränen standen mir in den Augen. Was immer jetzt auch kommen mochte, ich wollte es nicht hören.

„Kakashi?“, stammelte ich wimmernd, weil mir meine Nerven durchgingen.

Mir fiel nichts Gescheites zu sagen ein.

„Ich höre auf.“

WIE? WO? WAS? MIT UNS?

„Nächsten Frühling geb' ich das Amt auf und ...“, drehte sich er sich nun zu mir und wunderte sich. „Was is'n mit dir los?“

Seine Augen waren groß wie Kuchenteller, als er mich als nervliches Wrack sah. Die Fragezeichen glühten über ihm genauso hell wie sein grauweißer Schopf. In meinem Kopf wurden immer wieder und wieder diese Worte „... geb' ich das Amt auf ...“ verarbeitet. Dann machte es KLICK.

NEIN, IM ERNST?!?! Der hielt mich wohl zum Narren!

Dann sprang ich ihn an, dass wir beide ins Taumeln gerieten und er unter meiner Umarmung kaum noch Luft bekam.

„Hey, dass dich mein Job genervt hatte, war mir klar. Aber dass es dich so sehr genervt hatte ...“, stammelte er überrumpelt, weil er von meinen apokalyptischen Gedankengängen nichts wissen konnte.

„Idiot! Ich hatte was ganz anderes gedacht...“ nörgelte ich zurück.

Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Mein Kopf gehörte da einfach hin.

„Manchmal bist du echt sonderbar, Nina-chan“, seufzte er.

Zwei Arme legte sich fest um mich. Schützend und tröstend. Sie brachten mich auch zurück in mein Bett, wo sie mich bis zum Morgengrauen hielten und sich dann für die nächsten Tage verabschiedeten.

38 - Der Tag, an dem ich Shoppen ging

Kein Wort hatten wir darüber verloren. Weder über Kakashis nächtlichen Kurzbesuch im Strandhaus, noch über seinen geplanten Rücktritt. Als ich an dem Morgen danach von einem kühlenden Luftzug geweckt wurde, war die Schiebetür zum Vorbalkon noch immer halb geöffnet. Es erinnerte mich an die Stunden zuvor, als Kakashi noch hier war.

„Weißt du, was an diesen alten Häusern toll ist?“, hatte er mich rein rhetorisch gefragt, weil ich die Frage natürlich nicht beantworten konnte, denn noch nie hatte ich in solch einem Haus gelebt.

Daher erwartete er auch gar keine Antwort von mir und schob einfach wortlos die Tür auf. Ich verstand sofort. Die hereinströmende Nachtluft machte nicht nur ein angenehmes Schlafklima, sondern man konnte darüber hinaus von unserem Bett aus sogar in die freie Natur und in den Sternenhimmel blicken. Ich war so totmüde, dass es mir keine fünf Sekunden gelang, in die Sterne zu schauen. Das monotone seichte Rauschen der Wellen an den Strand taten ihr Übriges, dass mir schnellsten die Augen zufielen. Mein Körper lechzte nach Schlaf und als ich erwachte, da war mein Freund schon längst über alle Berge und die Sonne stand hoch am Himmel. Das rhythmische Gezirpe der Heupferde aus den nahen Grasstreifen und Vogelgezwitscher aus den hohen Bäumen übertönten die Meereswellen. Es klopfte an der Tür. Meine Bekannte kam lachend herein und fragte, ob ich ins Koma gefallen wäre, denn die letzten Tage wäre ich nicht so eine Schlafmütze und stattdessen immer die Erste am Frühstückstisch gewesen.

Es sollte das letzte gemeinsame Frühstück im Strandhaus werden, denn meine Bekannte und gleichwohl meine neue zukünftige Chefin musste zurück zu ihrer Firma. Auch für uns war nun die Zeit der Abreise gekommen. Nach einem ausgiebigen Mahl, welches ein halbes Mittagessen ersetzte, packten wir wieder unsere Taschen und folgten meiner Bekannten per Bahn zurück nach Keishi. Ich wollte mir vom Büro und der anfallenden Arbeit ein Bild machen und versprach den Kindern, wenn sie sich solange am Riemen reißen und die Langeweile ertragen würden, dass wir noch in den Freizeitpark am Stadtrand gehen könnten. Kinder in dem Alter sind so herrlich durchschaubar. Der Deal stand!

Im Büro sah es keineswegs so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nein, es war viel, viel schlimmer! Ein wahrer Alptraum in Form einer weißen Blättersammlung. Schockiert stand ich im Türrahmen, hatte die Hände beidseitig in die Hüften gestemmt und meinen Mund so weit offen, dass eine komplette Ananas quer hindurchgepasst hätte. Ich wollte etwas sagen, bekam aber meinen Mund nur dazu, dass die Lippen geräuschvoll aufeinander klappten. Seit Jahren waren hier lose Papiere und Aktenordner kein Rendezvous eingegangen. Es schien, dass jede eingegangene Nachricht und jedes Formular auf einem Haufen abgelegt worden war. Hatte der Haufen einen Turm von Zimmerdeckenhöhe erreicht und drohte umzustürzen, hatte man einfach den nächsten Papierwolkenkratzer daneben errichtet. Ich war fassungslos. Meine Bekannte hingegen hatte eine Gesichtsfarbe wie der einer roten Verkehrsampel gleich, schämte sich zu Tode und suchte das nächstbeste Erdloch, was sich einfach nicht für sie öffnen wollte. Ich dachte nicht weiter nach. Ich schlug in ihr Angebot ein. Allerdings drehte ich beim Aushandelns des Arbeitsvertrag viel zu meinen Gunsten zurecht. Die Bezahlung war akzeptabel, und ich bestand auf einen Heimarbeitsplatz. Wenigstens schienen die Papierstapel eine Chronologie zu haben. So könnte ich etappenweise die Stapel in Kisten verpacken und daheim in Konoha sortieren. Demnach vereinbarten wir, dass ich nur an zwei Tagen in der Woche zwischen Konoha und Keishi pendeln, aber auf stetigem Abruf bereitstehen müsste. Das kam mir sehr entgegen, auch wenn es umständlich werden würde. Es war aber eine gute Chance, Familie und Beruf unter einen viel zu kleinen Hut zu bekommen. Den Tag der Vertragsunterschrift zu meinem ersten Arbeitstag machend, verpackte ich eines der Papierhochhäuser noch vor Ort in fast ein Dutzend Umzugskartons und schickte es nach Konoha. Über die Lagerung und Archivierung der Akten würde ich mir Gedanken machen, wenn ich einen Großteil gesichtet und bearbeitet hätte.

Nörgelnd meldeten sich die Kinder zurück in mein Gedächtnis und erinnerten mich an den Freizeitparkdeal. Ja, sie hatten wirklich tapfer durchgehalten, denn in dem Chaosbüro hatte ich nun schon gute drei Stunden zugebracht. Es wurde nun endlich Zeit, ein Versprechen einzulösen, obwohl ich Freizeitparks hasste. Also trottete ich den beiden von einem Fahrgastgeschäft zum nächsten hinterher, trank mindestens einen Doppelzentner Kaffee nebenbei und genoss die Sonne auf einer Parkbank wartend, während die Kinder irgendwo in irgendwelchen Warteschlangen zu den Karussells sich die Füße platt standen. Aber auch solche Tage gingen vorbei und jeder Park schloss gen Abend mal seine Pforten. Den letzten Abendzug nehmend, saßen wir Drei erschöpft, aber glücklich beisammen und freuten uns trotz der einmalig schönen Tage auf unsere heimischen vier Wände in Konoha.

Schon am nächsten Tag erreichten die Dokumentkisten meine Wohnung. Hui, sah es hier nun aber aus! Jede freie Quadratmillimeter wurde nun von Papier bedeckt. Arbeitsverträge, Kassenberichte, Abholscheine, Lieferscheine, Steuernachzahlungen, Zahlungsaufforderungen, Zollpapiere ... Alles, was tagtäglich in der Firma angefallen war, war wohl zum größten Teil ungesehen und unsortiert auf dem Stapel gelandet. Einige Dokumente waren sehr leicht und verständlich zu ordnen. Andere raubten mir das letzte Bisschen an Nerven, weil man nichts mehr nachvollziehen konnte. Und so langsam schwante es mir auch, weshalb meine Hilfe bittere Not war: Mit der Steuerbehörde und dem Zoll war nicht zu spaßen. Da steckte meine Bekannte doch sehr in der Tinte. Ein Wunder, wie die Firma solange hatte existieren können ohne Konkurs anmelden zu müssen. Wenn ich daran dachte, dass in Keishi noch viele dieser Papiertürme auf mich mit unentdeckten Schätzen und bösen Überraschungen warteten, wurde mir körperlich schlecht. Obgleich in mir Verzweiflung aufstieg, wie ich jemals in kürzester Zeit Herrin der Lage werden sollte, so fühlte ich mich trotzdem super. Ich hatte das Gefühl, gebraucht zu werden und nicht nutzlos mein Leben tagtäglich zu verplempern. Und was noch besser war: Ich hatte wieder festen, finanziellen Boden unter den Füßen.
 

Schon nach dem ersten Arbeitsmonat hatte ich fast alles abgearbeitet, offene Briefe beantwortet, mich als Kontaktperson bei Geschäftspartnern vorgestellt und unzählige Dialoge mit Behörden geführt. Als dann mein erstes Monatsgehalt auf meinem Konto auftauchte, schwebte ich schon voller übersprudelnder Glückshormone in luftigen Höhen und machte etwas, was ich seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte. Ich ging ausgiebig Schoppen.

Da war kleinlaut zugegeben auch ein Schuss Frust-Shoppen mit anbei, denn so prima es mit dem neuen Job lief, so schlecht lief es mit meinem Traumhaus. Oder wie mein Freund zu sagen pflegte: die Bretterbude. Häuser erbauten sich nicht einfach so von selbst. Irgendjemand musste es einst getan haben. Und so musste folglich auch irgendjemanden dieses Haus gehören. Nur leider erlitten in den Wirren des Ninjakrieges nicht nur die Ninjadörfer herbe Verluste. Auch viele Landstrichen wurden unbeabsichtigt verwüstet und viele Zivilisten waren unter den Opfern zu beklagen. Es war nicht ohne Weiteres auszumachen, wem denn nun dieses Domizil gehörte, um es käuflich zu erwerben. Aus den unvollständigen Unterlagen auf der Behörde war kein Besitzer zu entnehmen. Da hatte ich unzählige Besuchstage und somit den ganzen August auf Ämtern verbracht, nur um frustriert wieder aus den Amtsstuben herauszukommen. Kakashi krönte meinen Frust und zog mich mit seinem unbändigen Pragmatismus auf, ich sollte noch anfangen zu recherchieren, ob die Bretterhütte überhaupt ans örtliche Strom- und Wassernetz angeschlossen wäre. Andernfalls sollte ich mein Seifenblasenhaus lieber sofort zerplatzen lassen. Harte Worte für eine traurige Seele mit Traumhaus-Liebeskummer. Doch im Prinzip hatte er recht. Wenn man den Komfort von fließend Wasser und elektrischen Geräten gewohnt war, so war man kaum in der Lage, solch einen Luxus-Verlustschmerz über einen langen Zeitraum zu händeln. Und unsere Kinder könnten das wohl schon gar nicht.

Neulich erst herrschte bei Yuuki Weltuntergangsstimmung, als das Laufwerk seiner Spielekonsole den Geist aufgab. Natürlich an einem Sonntag, wo man nicht umgehend Ersatz beschaffen konnte, da die Geschäfte geschlossen hatten und sich die Stunden bis zur Öffnung des rettenden Ladens wie Kaugummi hinzogen. Schlaflosigkeit im Kinderzimmer und eine defekte Konsole. Und das alles kurz vor dem Endgegner. Ein Drama! Nein, unsere Kinder wären von einem Haus mit dem Komfort eines Igluzeltes nicht zu begeistern.

Dabei war es noch nicht mal klar, ob es ein Dauerwohnsitz werden würde oder nur ein Ferienhaus. Überhaupt war das Thema Haus nur ein Hirngespinst von mir gewesen und noch gar nicht näher innerhalb der Familienbande betrachtet worden. Das war wohl auch für den Anfang gar nicht mal so verkehrt. Viele Wogen mussten geglättet werden, bevor man mit neuen Wogen begann. Ich selbst hatte es als Kind noch hoch oben im heimatlichen Gebirge erleben müssen, wenn wir im Winter durch Schnee und Eis von der Außenwelt abgeschnitten waren. Da gab es Licht nur von der Kerze, Wärme von der Kochstelle und kaltes Wasser, nachdem man das Eis im Brunnen zerhackt und aufgetaut hatte. An Duschen oder gar Wäsche waschen war in der Zeit kaum zu denken. Die Erinnerungen an solche Entbehrungen verblassten umgehend mit dem Umzug in die neue Stadtvilla, welche meine Eltern nach dem Stahl-Boom bauen ließen.

Mit dieser Laune zwischen himmelhochjauchzend und tiefer Enttäuschung streifte ich durch mein geliebtes Konoha, welches mir seit meinen regelmäßigen Aufenthalten in der Großstadt so furchtbar klein vorkam. Trotzdem mochte ich es nach wie vor, und es ließ mich wieder zweifeln, in naher Ferne ein Strandhaus haben zu wollen. Es waren immerhin von Konoha bis raus zum favorisierten Strand rund 150 Kilometer. Luftlinie versteht sich. Für Normalos kein Katzensprung für einen Nachmittagsbesuch. Mit Chakra in ungefähr eineinhalb Stunden zu erreichen.

Ich bog durch eine Seitengasse und erreichte eines der viele Flussufer unseres Dorfes. An dieser Stelle, wo eine Brücke nach der anderen den Fluss überspannte, hatte es sich etabliert, dass regelmäßig Trödelmärkte stattfand. Fündig war ich zwar noch nie so recht geworden, aber zum Stöbern oder Schauen gab es immer etwas für Herz und Seele. An einigen Ständen wurde man aber den Verdacht nicht los, dass hier nur jemand seinen Hausmüll zu Geld machen wollte. Solch ein Ramsch! Mich fesselte plötzlich ein ganz besonderes Stück Stoff. Er war weder hochwertig, noch teuer, hatte aber eine ganz andere Bewandtnis. Er hatte ein auffälliges Karomuster in rötlichen Herbsttönen und war zu einem Trenchcoat verarbeitet worden. Man sah ihm sein Alter an. An den Ärmeln waren Wetzstellen. Das Innenfutter war lieblos repariert worden. An einer Außentasche ging die Naht auf. Dennoch probierte ich ihn an. Das Ding passte überhaupt nicht. Im Schulterbereich war es mir viel zu eng. Dafür waren die Ärmel umso länger. Von dem Grabbeltisch schnappte ich mir noch eine Ballonmütze in tiefstem Dunkelrot. Ich versteckte meine Haare darunter und ließ nur ein paar einzelne Strähnen ins Freie. Dann drehte ich mich zu einem alten Standspiegel, der mehr blind als sehend war, und war doch recht platt von der Kostümierung. Ein schelmisches Grinsen, so breit wie ein Brummkreisel, zierte mein Gesicht.

„Wie Yukie Fujikaze!“, schoss es mir verblüfft durch den Kopf.

Natürlich sah ich nicht ganz wie der berühmte Filmstar aus, aber sie trug in einer Schlüsselszene ihres bekanntesten Filmes eben solch einen Karo-Trenchcoat mit Ballonmütze. Dazu gehörte noch ein tuschkastenbuntes MakeUp und kniehohe Stiefel. Damit konnte der Grabbelstand nicht dienen, tat aber auch nicht Not. Was trug sie eigentlich drunter? Ich wusste es gar nicht mehr. Wer Fujikaze-san nicht kennt: Sie spielte unter anderem die Hauptrolle der Yunko in „Icha Icha Paradise“. Eine Traumbesetzung, wie Kakashi fand. Und er musste es wissen. Immerhin hatte er sie schon zweimal aus beruflichen Gründen beschützen müssen. Perfekte Figur, lackschwarzes Haar, knallblaue Augen und obendrein Prinzessin des Schnee-Reiches. Und diverse Starallüren. Sehr divenhaft. Da konnte man kaum konkurrieren. Ich hingegen fühlte mich in meinem eigenen Körper oft nicht wohl. Er war zu groß gewachsen und zu mollig geworden, wobei mein Freund mir sicherlich schon hunderte Male seufzend erklärt hatte, ich wäre sicherlich nicht zu dick, sondern an den richtigen Stellen perfekt kurvig. Und er mochte meine dunklen Kulleraugen. Wie Schokolade. Sie konnten aber auch ganz frech blitzen, fand er. Zusammen mit meinen lockigen Haaren sähe das schon fast durchtrieben aus.

Ich zahlte mein Kostümschnäppchen mit einem Zehn-Ryô-Stück. Den Spaß musste ich mir einfach geben, bei ihm mit diesen Klamotten aufzukreuzen. Auf das Gesicht war ich mehr als gespannt. Nun passte in meine vollen Einkaufstüten mein Neuerwerb nicht mehr hinein, also behielt ich die Jacke einfach an und die Mütze auf. Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Die Sonne stand schon tief. Man merkte Anfang September doch sehr, wie der Sommer und die langen Tage sich verabschiedeten. Bald würde uns die Dunkelheit des Winters wieder in die Arme schließen. Ich schlenderte noch bis zum Ende des Trödelmarktes und bog dann in eine weitere Seitenstraße, die von den Sonnenstrahlen nicht mehr erreicht wurde. So eine richtige, filmreife Gasse, wo man von gruseligen Gestalten einen über den Kopf gezogen bekam und dann ausgeraubt und missbraucht zwischen den Mülltonnen versteckt wurde. Und in so einer Gasse hörte ich plötzlich quietschende Geräusche hinter mir, dass sich mein Puls erhöhte und sich meine Schritte verlängerten. Keine Frage, ich wurde verfolgt! Zumindest bildete ich mir das ein. Bis zum Ende der Gasse waren es noch einige Meter. Es war eine Kurzschlusshandlung meinerseits. Reflexartig drehte ich mich um, und schlug mit meinen Einkaufstüten brachial auf das ein, was auch immer sich da genähert hatte. Erst auf den zweiten Blick sah ich, wen ich erwischt hatte... Und schlug voller Wut auf jenen noch einmal zu. Und nochmal und nochmal. Mag es vielleicht politisch nicht korrekt sein, auf wehrlose Rollstuhlfahrer einzuprügeln, aber wenn sie in einem grünen Ganzkörperkondom steckten und eine Pilzkopffrisur trugen, dann hatten sie es verdient.

„Verdammt nochmal, Gai! Du hast mich zu Tode erschreckt!“ brüllte ich aus vollen Lungen, dass über uns aus den Fenstern neugierige Nasen in die Gasse hinunter guckten, was sich dort für ein Lärm abspielte.

Gai sagte zu seiner Verteidigung gar nichts. Der rieb sich nur die dicke Beule am Kopf und sah ziemlich verstört aus. Nanu? Das sollte doch wohl nicht von dem Tütenschlag herrühren? Nein, dahinter musste etwas anderes stecken, dass der aussah, als würde er gleich losheulen. Was war dem bloß über die Leber gelaufen?

„Ist das wahr, Nina? Ihr zieht weg?“

Wir zögen weg? Nicht die Bohne! Was redete der da? Nun war ich total verdattert und merkte, dass Gai eine Alkoholfahne hinter sich herzog, wie die Kinder im Herbstwind ihre Drachen. Das war ungewöhnlich und hatte ich bei ihm noch nie erlebt, seit ich ihn kennen lernen und ertragen musste. Ich lud ihn auf ein Entschuldigungsgetränk ein und teilte Yuuki per Telefon mit, dass ich wohl etwas später nach Hause kommen würde. Mit Sicherheit so gegen Neun. Später bestimmt nicht. Er bräuchte sich keine Sorgen machen.

Die nächstbeste Kneipe wurde unsere und schon nach einer Flasche Sake kam ich Gais Traurigkeit auf den Grund. Es war ihm irgendwie durchgesickert, dass Kakashi sein Amt demnächst niederlegen würde. Nun musste man sich einmal Gais soziales Umfeld anschauen, um festzustellen, dass die Anzahl an Personen, mit denen er sehr eng verkehrte, sich an einer Hand abzählen ließen. Der Großteil an Zeit fiel dabei auf Kakashis Gesellschaft. Da dieser jedoch nun neben seiner Arbeit oft bei uns war, stand Gai schlagartig oft ganz allein da. Zugegeben, das war hart.

„Du nimmst ihn mir weg!“ heulte er da unerwartet wie ein Wasserfall los, dass es schon fast peinlich wurde.

Hatte er es anfänglich noch begrüßt, dass Kakashi mich getroffen hatte, fürchtete er nun um die Nachteile. SEINE persönlichen Nachteile. Ich brauchte noch mindestens zwei weitere Sakeflaschen, um Gai zu beruhigen, dass es niemals meine Absicht wäre, ihm seinen allerliebsten Lieblingsrivalen auszuspannen. Ihre freundschaftliche Rivalität wäre doch so unglaublich einzigartig, erklärte ich eindringlich, dass ich mir fast selber glaubte. Vor allem war die Rivalität so einzigartig einseitig. Während Gai die Erfüllung seines Lebens darin sah, spielte Kakashi hingen zu Beginn das Spiel mit, um Ruhe zu haben. Der Weg des Geringsten Widerstandes. Später folgte er der blanken Gewohnheit. Es mochte zudem Gais Hartnäckigkeit gewesen sein, die die Verbindung aufrecht hielt. Selbst dann, als phasenweise keiner mehr Kakashis Gesellschaft suchte. Gai aber war immer irgendwie da. Wie so eine Klette. Natürlich nahm ich ihm auf eine ganz eigene Weise Kakashi weg. Zeiten veränderten sich nun mal. Aber ich blieb bei meinem tröstenden Märchen für Gai, welches in den buntesten Farben schillerte. Da könnte doch niemals irgendjemand einen Keil zwischen die beiden treiben, beteuerte ich. Darauf musste ich dann auch noch einen Schwur vor Gai ablegen, wobei ich nun selbst sternhagelvoll kaum noch die Hand heben konnte. Ohje, Kakashi sollte dringend mal mit Gai reden. Am Besten, wenn der wieder nüchtern wäre.
 

Wir hatten komplett die Zeit vergessen und wurden ganz plötzlich wieder daran erinnert, als ein Schatten in der Eingangstür vorbei zischte und umgehend Gestalt annahm. Nur einen Wimpernschlag später war sie von dem Türrahmen verschwunden und bei uns. Eher direkt vor uns. Mit ernster Haltung und verschränkten Armen vor der Brust wurde eiskalt auf uns Trunkenbolde herabgeblickt.

„Hier seid ihr also. Was soll der Blödsinn?“, wurden wir getadelt.

„Wieso Blödsinn? Ich habe Gai mit den Einkauftüten verhauen, und nun haben wir uns wieder vertragen“, gab ich alkoholgeschwängert zur Verteidigung zu verstehen. „Und ich hasse das, wenn du immer so auftauchst. So, so...“

Dabei fuchtelte ich mit den Armen ungelenk in der Luft herum, um dieses Plop-Auftauchen pantomimisch nachzuahmen. Das gelang mir gar nicht. Aber Gai war auch nicht besser. Der freute sich wie ein Honigkuchenpferd über Kakashis Auftauchen, wollte seinen Lieblingsrivalen überschwänglich begrüßen und kippte dabei mit seinem Rollstuhl laut scheppernd um. Ein schmerzhaftes Gejaule drang da jetzt vom Boden an unsere Ohren. Das sah so bescheuert aus, dass ich irre los kichern musste, obwohl das ganz schön gehässig von mir war.

„Ach, und irgendwas passt mit deiner Bankkarte nicht“, informierte ich noch belanglos nebenbei. „Ich glaub', die is' gesperrt.“

Ich fand schon, dass diese Information wichtig war. Nicht, dass er sich in den nächsten Tagen wundern würde, wenn er etwas bezahlen wollte. Nein, nein. Soviel hatte ich nun wirklich nicht gekauft, winkte ich innerlich ab. Und die ersten vier Tüten hatte ich ja noch selber bezahlt. Kakashi wiederum blickte fast unmerklich zwischen einem Junko-Abklatsch, zwei Dutzend Einkaufstüten einschlägiger Boutiquen und einem absolut verrenkten Gai unter dem Tisch hin und her. Der hing immer noch hilflos unter seinem Rollstuhl fest und konnte sich Dank Alkohol im Blute nicht mehr selbst befreien. Ich war mir sicher, dass Kakashi bei mir am meisten starrte, weil sein Augenschweifen immer wieder den Weg über meine Gestalt machten, aber Mister Vollprofi ließ sich selbstverständlich nicht in die Karten schauen. Menno, ich sah doch echt so süß aus. Ich schmollte sichtbar.

„Also doch Blödsinn!“, kommentierte Hokage-sama emotionslos die Szenerie.

Es war schon eine Besonderheit, wie Kakashi da so stehen konnte ohne auch nur eine einzige Gefühlsregung erkennen zu lassen. Der musste sich doch von uns beiden echt auf den Arm genommen fühlen. Innerlich war der echt geladen. Man konnte die Luft knistern hören. Vielleicht fühlte er sich gar nicht wie in einer Kneipe stehend, sondern in der Außenstelle der geschlossenen Psychiatrie.

„Yuuki rief bei mir an. Der hatte sich schon große Sorgen gemacht und wollte dich suchen gehen.“

Ich zog den Kopf ein, denn seine Stimme klang so ungewohnt scharf. War es denn echt schon so spät? Oh ja, es musste spät sein. Die Uhr über dem Tresen zeigte wahrlich eine extrem vorgerückte Stunde. Der Wirt hatte schon die Stühle hochgestellt und gefegt. Jetzt beobachtete er hinter dem Tresen wie ein altes Tratschweib das ungewöhnliche Gästetrio in seinem Lokal, denn Gai und ich waren die beiden letzten Besucher. Na, das gab ja wieder etwas zu erzählen im Dorfe. Wenn man es mal von einer anderen Seite betrachtete, so beschäftigten Gai und ich Hokage-sama weit mehr, als ihn sein ganzes Dorf es je getan hatte. Mit Gai und mir brauchte das Dorf wahrlich keine Feinde. Wir beide konnten Hokage-sama echt gut auf Trab halten. Welch Negativrekord.

Es war nur eine eindeutige Handbewegung von Kakashi, die unmissverständlich zum Abmarsch blies. Er schob kommentarlos Gais Rollstuhl samt körperlichem Inhalt durch die Tür ins Freie, dicht gefolgt von mir, aber mit respektvollem Abstand des schlechten Gewissens zu ihm. Zu Gais Wohnung hatten wir einige Häuserblocks zu passieren. Die kühle Nachtluft traf mich wie ein Keulenschlag in den Unterleib. Plötzlich wurde ich wach. Alles drehte sich um mich herum. Orientierungslos suchte ich schutzsuchend den Arm meines Freundes, als vorwarnende Krämpfe meine Magengegend heimsuchten.

„Ich warne dich...“, hörte ich ihn noch sagen.

Ja, ja, schon kapiert. Dass er keinen Bock auf vollgekotzte Schuhe hatte, war einleuchtend. Meinem Drehschwindel folgend und statt Kakashis Arm lieber eine Straßenlampe erwischend, suchte viel halbverdauter Sake seinen Weg in die Freiheit. Wie Regenwasser lief er in der Rinne hinab und verschwand im Gulli. Komischerweise ging es mir dann schlagartig besser. Bis auf das bisschen Schwindelgefühl im Kopf. Wieder eine halbwegs senkrechte Körperhaltung einnehmend, stolperte ich hinüber zu Kakashi, der mit einem mittlerweile schlafenden Gai etwas weiter die Straße hinab auf mich gewartet hatte. Wie solch ein Kleinkind im Buggy. Mit offenem Mund, Speichelfäden in den Mundwinkeln und hängenden Gliedmaßen in alle Richtungen. Für mich aber galt: Bloß nicht den Anschluss verlieren! Also stolperte ich auf Kakashi zu wie ein Kind, dass Mama samt Kinderwagen in der Ferne erblickte.

Man gut, dass Gais Wohnung zweckmäßig im Erdgeschoss lag. Die Wohnung war klein und bestand nur aus zwei Räumen und einem Bad. In dem einen Raum stand Gais Bett und ein Kleiderschrank, in dem anderen war eine Küchenzeile und ein Essbereich untergebracht. An der einen Wand stand ein Sofa. In nächster Nähe eine Anrichte mit einem alten Fernseher. Irgendwie hatte Kakashi es geschafft, seinen Lebzeit-Rivalen in dessen Bett zu bugsieren, währenddessen ich mit dem Kopf unter dem Wasserhahn hing, um mir den ekelhaften Geschmack aus dem Munde zu spülen. Frisch gereinigt lehnte ich nun an dem Küchentisch und wartete. Gai musste zwischenzeitlich von der Sabberschlafphase zum Tiefschlaf gefunden haben, denn selbst als Kakashi leise die Tür zu seinem Schlafzimmer schloss, dröhnte sein Schnarchen wie ein komplettes Sägewerk durch das gesamte Wohnhaus. Gai war in allen Lebenslagen einfach nur unheimlich.

„Wie war das? Du hast Gai mit den Tüten gehauen?“, hakte Kakashi mit grinsendem Unterton jetzt doch nochmal genauer nach, den die Geschichte klang schon recht sonderbar.

„Na, da ist doch diese Gasse, die ich oft als Abkürzung nehme, wenn ich vom Trödelmarkt komme. Und als ich hinter mir ein Geräusch hörte, hab ich einfach zugeschlagen. Ohne nachzugucken. Ich dachte, ich werde überfallen...“, plapperte ich ohne Punkt und Komma los und stutzte dann plötzlich.

Moment mal, wurde ich hier eben ganz nebenbei befummelt? Ich sah an mir herab, wie seine Hände schon den Gürtel vom Trenchcoat entknotet und langsam Knopf für Knopf durch die Knopflöcher schob.

„Was machst'n du da?“, fragte ich vernebelt die kleine Drecksau, die immer ganz schüchtern tat und rot anlief, aber nur Unfug und Schweinereien in der Birne hatte.

„Du wolltest deine Geschichte weiter erzählen“, ließ er sich überhaupt nicht beirren.

„Nix weiter. Ich habe mich dann mit ein paar Flaschen Sake entschuldigt.“

Dass Gai mir sein halbes Herz ausgeschüttet hatte, unterschlug ich. Das passte hier jetzt einfach nicht in die Stimmung. Mit einem tiefen Knarzen merkte die Tischplatte an, normalerweise nur das Gewicht von Tellern und Töpfen zu tragen, aber nicht meines. Na, ob das gut ging und nicht zusammenbrach? Egal, war ja nicht meine Wohnung. Es klirrte wie zerbrochenes Glas, als er sich vornüberbeugte und uns beide sanft auf die Tischplatte drückte. Das waren wohl die Kanne und die beiden Tassen gewesen, die über die Tischkante hinweg nun ihren jähen Scherbentod gefunden hatten. Wilde Küsse, die brannten. Hände überall, wo ich es liebte. Ich quiekte kurz auf. Am Bauch war ich kitzelig. Mein Herz raste vor Aufregung doppelt so schnell und in meinem Bauch kribbelte es schlimmer als in einem Ameisenhaufen, weil ich einen Anflug von Unwohlsein verspürte. Hoffentlich wachte Gai nicht auf und meinte, er müsste mal die Küche auf dem Weg zur Toilette durchkreuzen. Mein jetzt schon knallroter Kopf wurde noch eine Spur dunkler bei dem Gedanke, wenn man uns hier so sehen würde. Halb entblößt und auf dem Küchentisch flachgelegt. Doch es würde wohl niemand auftauchen oder von außen durch die Fenster spähen. Da war sich Kakashis Instinkt anscheinend sicher. Wenn er hier so ein Ding abzog, dabei sein Gesicht nicht verhüllt und die volle Aufmerksamkeit bei uns hatte, so musste es totsicher sein. Eine befremdliche Arhythmik erfüllte den Raum. Gais dröhnendes Schnarchen, das tiefe Knarzen des Tisches und dazwischen unsere keuchendes Atmen.

Zu meinem eigenen Erstaunen störte es mich hinterher keineswegs, wie ich aufstand und es überall klebte. Wie mir die Haare wie ein Wischmop zu Berge standen und wie ich immer noch halbnackt das Kehrblech über dem Mülleimer auskippt, auf das Kakashi zuvor die Scherben gefegt hatte. Unter dem Tisch fand ich dann auch meinen Slip wieder.

Es roch nach uns, doch der Luftzug durch die gekippten Fenster würden bis zum Morgengrauen auch diese Spur beseitigt haben. Die Reflektion der Fensterscheibe zeigte mir ein unbekanntes Bild meiner selbst. Verschmiertes MakeUp, zerzauste Frisur, zerrupfte Kleidung. Wie eine Straßenschlampe nach der Arbeit. Fast schon ein bisschen erschreckend, aber dennoch mochte ich es zugleich. Trotzdem wurde es nun Zeit für ganz neue Gefilde.

„Bringst du mich auch in mein Bett?“, nuschelte ich, weil ich nun die späte Nachtstunde gepaart mit dem Sake in den Knochen merkte.

„Soll ich dich auch so verrenkt aufs Bett schmeißen wie Gai?“, wurde gescherzt.

Ich schüttelte den Kopf und grinste.

„Wenn du mir vorher noch die Schuhe ausziehst und mich zudeckst?“

„Lässt sich bestimmt einrichten...“

Und so zogen wir dann leise und unauffällig vom Tatort des Geschehens in die Nacht hinaus, dessen Finsternis uns in den engen Gassen Konohas schon bald verschluckte.

39 - Der Tag, an dem Yuuki Panik schob

Der Sommer verstrich ebenso unauffällig, wie der Wind die welken Blätter von den Zweigen der Bäume strich. In ihrem aschgrauen Gewand tanzten sie wild vor meinem Fenster vorbei just in dem Moment, in welchem ich durch jenes am Esstisch hinausblickte. Es war ein trüber Spätherbsttag, fast schon Winteranfang. In nur wenigen Tagen würde das Jahr schließen. Schon seit dem Morgengrauen hatten sich keine weiteren Farben an den Himmel gesellt. Dort hoch oben über den Dächern Konohas, wo man sonst von einem Azurblau und dicken Schäfchenwolken begrüßt wurde, klebte nun in ungreifbarer Höhe ein großes, grau gestepptes Tuch, und es machte keinerlei Anstalten, sich durch den frischen Wind entfernen zu lassen. Bald würde es Regen geben. Man konnte es förmlich riechen. Obgleich es für das Auge dort draußen vor dem Fenster keinen reizvollen Blickfang zu genießen gab, verlor ich mich mit meinen Blicken in dem feinen Wolkenmuster über mir und hing in einem Tagtraum fest. Meine Güte, so schnell sollte wirklich das Jahr schon zur Neige gehen? Wo waren die ganzen Wochen und Monate geblieben? Ich schmiegte mich an meine Kaffeetasse. Das schwarze Lebenselixier hatte das Porzellan angenehm erwärmt. Es war eine ganz besonders leckere Sorte. Man schmeckte die Herkunft der Bohnen aus dem Erd-Reich. Ich schätzte mich glücklich, in einer Seitenstraße Keishis die Kaffeerösterei entdeckt zu haben. Meine Backe klebte förmlich an dem Becher. Mir fehlte die Wärme und Zuneigung, war ich doch die letzte Zeit allein gewesen. Kakashi war in weiter Ferne im Wind-Reich. Das trübe Wetter und die elendige Stimmung ließen mich ihn nur um so mehr vermissen.

Die letzten Blätter tanzten vorbei. Die ersten Regentropfen setzten sich auf das Fensterglas zu einem ungeordneten Perlenmosaik zusammen. Erst wenige Tröpfchen, dann mehr und mehr. Schlagartig wurde es ungemütlich und düster. Wer jetzt nicht mehr hinausmusste, der vermied es tunlichst und wartete im Trockenen. Der Himmel öffnete alle Schleusen. Es klatschte nur so an das Fenster und ich ärgerte mich insgeheim, dass ich mich noch vor einigen Tagen todesmutig verrenkt hatte, um es zu putzen. Beim nächsten Mal würde ich meine Ninja-Familie zum Fenster putzen jagen. Die klebten Dank Chakra wie Kleister an den Außenwänden. Das gleichmäßige Rauschen des Regens lullte mich gänzlich ein, dass ich die Aktenberge zur Seite schob und für heute Feierabend machte. Es war Freitagnachmittag. Erst am Montag würde ich den ganzen Stapel wieder mit nach Keishi zurücknehmen.

Ruhig war es in den letzten Monaten bei uns in der Familie geworden, weil nun mittlerweile jeder seinen Weg gefunden hatte. Ja, inzwischen bezeichnete ich uns Vier tatsächlich als Familie. Es war nicht so, dass man darüber unglücklich sein konnte wie jeder seinen Alltag für sich und mit sich bewältigte, auch wenn man sich nur wenig untereinander sah. Ganz im Gegenteil: Noch vor gut einem Jahr war ich mit meinem Latein am Ende gewesen, weil ich kurz davor stand, obdachlos zu werden. Nun hatte es sich doch noch zum Guten gewendet, wenn auch nicht zum Perfekten. Aber wer hatte das schon? Die Ruhe und den stumpfen Rhythmus eines Alltages hatten wir nach dem letzten turbulenten Jahr wirklich gebraucht.

Die Korridortür wurde hastig geöffnet und ein bis auf die Knochen aufgeweichtes Kind stolperte in unsere Wohnung hinein. Yuuki war von der Schule heimgekommen, knallte genervt die Schultasche auf den Boden und pellte sich aus der durchnässten Regenjacke, dass die Wassertropfen nur so flogen.

„Hey Großer, schafft es ein Ninja nicht, zwischen den Tropfen hindurch zu hüpfen?“, zog ich ihn lachend auf.

„Boah ey, Mama! Du hast ja so was von keine Ahnung!“, wurde mir da entnervt unverblümt an den Kopf geknallt.

Nee, hatte ich auch nicht, aber damit hatte ich mich abgefunden. Ich beobachtete grinsend, wie mein Herr Sohnemann in sein Zimmer stapfte, um sich nun auch vom Rest der nassen Kleidung zu entledigen. Er hasste Regen. Kurz darauf saß er bei einer heißen Tasse Kakao mit am Tisch, starrte auf die Wasserfäden an der Scheibe und wartete geduldig, bis das Essen auf dem Herd fertigkochte.

„Wamm kommem Kakashi und Asa wiidaa?“, fragte er nur ein paar Minuten später mit vollem Mund.

„Mund zu beim Essen!“, belehrte ich gewohnheitsmäßig und überlegte laut. „Ich weiß nicht genau. Dienstag oder Mittwoch?“

Seit gut zwei Wochen hatten sich die beiden samt Kage-Tross auf den Weg gemacht. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Ziel der Reise war Sunagakure, da dort ein Kage-Treffen angesetzt worden war. Erst war Yuuki doch sehr sauer gewesen, weshalb nun ausgerechnet Asa auf so ein tolles Abenteuer mitgenommen wurde und er daheim die Schulbank drücken musste. Er sah aber schnell ein, dass es hier keineswegs um ein Abenteuer ging, obwohl es sicherlich spannend wäre. Auf der Rückreise würde man einen Umweg zur Hauptstadt des Fluss-Reiches machen. Auch wenn Asas Mutter nun nicht mehr unter uns weilte, so taten es doch noch deren und somit auch Asas Sachen. Kleidung, Spielzeug, Schulkram. Trennungskinder hatten immer zwei Kinderzimmer an zwei verschiedenen Orten. Es mochte nicht viel sein, was Hikki ihrer Tochter darüber hinaus überlassen hatte, dennoch musste man sich darum kümmern. Es hatte Kakashi einiges an Schriftwechsel gekostet, um die Erlaubnis zu erhalten, dass eine Horde an Konoha-Ninjas dort friedlich einfallen und eine Wohnung inspizieren durfte. Für Asa würden schmerzhafte Erinnerungen hochkochen. Ein Abschied konnte aber auch ein neuer Anfang sein. Man würde sehen müssen, wie sie es aufnahm. Es schien ihr allein schon sehr gut zu tun, permanent an der Seite ihres Vaters kleben zu können. Ich war gespannt darauf, wann die beiden wohl wieder in Konoha einträfen und was sie alles an Kram im Gepäck hätten. Oder noch spannender: Wohin man den Kram bringen würde. Weder hier, noch bei Kakashi selber gab es einen freien Quadratmeter an Stauraum, den man voll stellen konnte.

Yuuki hatte in der Zwischenzeit aufgegessen und bat mich nun, ihm bei einem Referat zu helfen. Noch mehr als Regen hasste er Referate. Er stand nicht gern im Mittelpunkt und schon gar nicht vorn vor der Klasse. Und dann sollte man auch noch etwas zeigen und erklären? Wo einen doch alle anglotzten und nur darauf warteten, dass man sich versprechen würde? Oder etwas herunterfällt? Oder ein Blackout einsetzte? Oder …? Yuukis Albtraumliste, was einem alles an Peinlichkeiten bei einem Referat passieren könnte, war ellenlang. Nichts konnte ihn vom Gegenteil überzeugen. Ich hatte ein paar Mitschüler von ihm schon einmal kurz kennen lernen dürfen, als sie Yuuki abholten, und nicht den Eindruck, dass diese ihn auslachen und bloßstellen würden. Doch Yuukis Lampenfieber und Prüfungsangst waren durch nichts zu bremsen. Da würden wir wohl das ganze Wochenende Moderationskärtchen schreiben, ein Plakat basteln und Schritt für Schritt den Vortrag üben, bis endlich alles sitzen würde. Wenigstens war es ein Thema, bei dem ich ihm helfen konnte. Es ging um ein Erdkundethema. Jeder Schüler sollte einen Landstrich vorstellen. Ich war schon sehr stolz, als mein Sohn seine Ergebnisse präsentierte, und fand den Vortrag super. Yuuki hingegen gruselig. Es kamen im unzählige Ideen, was noch optimiert werden könnte und sogar müsste. Dabei verzettelte er sich planlos. Yuuki liebte es mehr, im Team zu arbeiten, wo man nicht im Mittelpunkt stand. Da puzzelte man an seiner zugewiesenen Teilaufgabe und fügte es dann zu etwas Großem zusammen. Überhaupt machte er sich auf der Akademie sehr gut und hatte viel Spaß daran.

Das komplette Gegenteil zu Yuuki war nach wie vor Asa. Sie zog gern alle Aufmerksamkeit auf sich, war immer mit dem Munde voraus und meist voller Fröhlichkeit und Elan trotz des harten Schicksalschlags. Es gab Phasen, da ließ sie ihre Trauer heraus, war dann bockig, schmiss Gegenstände oder schloss sich in ihrem Zimmer ein. Im nächsten Augenblick konnte aber schon wieder ein aufgewecktes Kind durch die Tür treten, weil ihr irgendein Blödsinn eingefallen war, den man noch umsetzten musste. Konzentration war absolut nicht ihr Ding. Da wunderte man sich schon, wie sie auch nur ein einziges Jutsu zustande bringen konnte. Ständig zappelte sie herum. Man sagte, die Handschrift spiegelte das Innere wider. Das mochte wohl stimmen, dann alle ihre Schulhefte waren einem abstraktes Kunstwerk gleich. Da war nichts zu entziffern. Aber Schule oder Akademie wären eh total überbewertet, meinte sie. Ihr Zimmer daheim sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Daher gab es auch nur ein Regal mit Kisten, wo alles grob hinein sortiert wurde. Eine Kiste für Puppen, eine Kiste für Bücher, eine Kiste für Krimskrams und so weiter und so fort. Mehr Ordnung konnte sie nicht halten. Wie das wohl werden würde, wenn dann auch noch der Kram aus ihrem anderen Zimmer hinzukommen würde?

Es wäre eben ganz ruhig in der Klasse, wo Asa nicht da wäre, hatte Yuuki erzählt. Das konnte jeder Mitschüler und Lehrer ohne Nachdenken bestätigen.

Ich war solch ein Verhalten weder von mir noch von Yuuki gewohnt und musste oft an mich halten, mich nicht einzumischen. In einigen Situationen wäre ich sicherlich schon explodiert. Kakashi hingegen begegnete den Eskapaden mit einer stoischen Ruhe, die bewundernswert war. Vermutlich war das auch der einzige und richtige Weg. Aufregungen kosteten einen nur überflüssige Lebensjahre und änderten an der Gesamtsituation rein gar nichts.

Mittlerweile hatte ich auch verstanden, weshalb Asa nicht schon früher wie alle anderen Shinobi-Kinder aus den alteingesessenen Clans zur Akademie geschickt worden war.

„Asa soll später den Weg gehen, den sie will, aber bloß nicht meinen“, hatte Kakashi mal nebenbei verlauten lassen.

Das war ein ganz schöner Tiefschlag für mich gewesen, weil ich ihn in dem Punkt ganz anders eingeschätzt hätte. Daher rührte wohl auch sein Verständnis, dass ich die Akademie für Yuuki zuvor immer abgelehnt hatte. Viele Schattenseiten der Schattenkrieger hatte ich miterleben müssen. Da konnte man lange Zeit nur negativ auf das Shinobi-Thema gestimmt sein. Ich hätte vermutet, dass es Gang und Gäbe wäre, dass die Clans ihre Traditionen mit jeder Generation weiterführten und voller Stolz ihre Kinder ausbildeten. Die Älteren der Clans achteten sehr darauf, wie es mit den Jüngeren weiterging und maßregelten mit großem Einfluss die Mittleren. Aber auf der anderen Seite bildete Kakashi nur einen Ein-Personen-Clan. Wer hätte ihm da reinreden sollen? Seine Entscheidung war wohlüberlegt. Asa hieß noch nicht einmal Hatake, sondern trug den Nachnamen ihrer Mutter. Sähe sie ihm nicht so verdammt ähnlich, man hätte gar keine Verbindung zwischen beiden vermutet.

Es war nun späte Nacht geworden. Immer noch gleichmäßig monoton prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben und begleitete unseren Schlaf.
 

Das gesamte Wochenende blieb ein einziger Regenguss. Obgleich die Briefkästen direkt unten vor der Haustür standen, hatte ich wenig Muße, mich unter den Regenbindfäden hindurch zu winden, um die Post und die Tageszeitung aus dem Kasten zu angeln. Wenn ich allein schon daran dachte, noch einen Abstecher bei Kakashis Wohnung entlang machen zu müssen, um nach dem Rechten zu sehen, sank meine Laune auf einen Tiefpunkt. Ach, was soll's? Früher war er viel länger auf Mission gewesen. Da hatte die Wohnung viel länger um seinen Besitzer ausharren müssen. Da würde schon nichts passiert sein. Kein Wasserrohrbruch, keine eingedrückte Fensterscheibe durch den Wind oder andere Schauermärchen. Und die letzte Zimmerpflanze, die Kakashi je besessen hatte, war vor über zehn Jahren bei der Zerstörung Konohas ebenfalls geplättet worden. Missmutig schlurfte ich in einer übergeworfenen Yukata die Stufen des Treppenhauses hinunter, empfing in der Haustür einen Regenschwall, grapschte patschnass nach der Zeitung und zu meiner Überraschung auch nach einem Brief und stapfte wieder nach oben. Das Wetter war zum Auswandern. Schnell verschwand ich wieder unter der Bettdecke, blätterte das Käseblatt durch und öffnete dann den Brief. Wir bekamen nur selten Post. Wenn sich dann doch mal ein Schriftstück in unseren Kasten verirrte, so waren es allerhöchstens Rechnungen. Zum zweiten Mal an diesem Tage staunte ich. Meine Bekannte, und seit einigen Monaten auch meine Chefin, war zu einem geschäftlichen Empfang bei einem ihrer Kunden eingeladen worden. Eine Memo klebte oben am Rande der Einladung. Meine Chefin wünschte, dass ich sie zu begleiten hätte und bat um Rückruf. Na, die hatte ja Ideen! Sie wusste doch, dass ich alleinerziehend war. Vermutlich würde sie vorschlagen, dass ich die Kinder doch ganz einfach bei meinem Freund abliefern könnte. Seufzend legte ich den Brief auf den Nachttisch. Ich hatte bloß einmal in einem Nebensatz erwähnt, dass Asa nicht meine leibliche Tochter, sondern die meines Freundes wäre. Mehr hatte ich aber nicht erzählt, doch damit war schlussfolgernd klar, dass ich kein Single war. Durch die nicht vorhandenen Informationen ihrerseits konnte sie ja nicht ahnen, dass Kakashi einen Rund-um-die-Uhr-Job hatte. Ich kuschelte mich in meine Bettdecke und beschloss, erst viel später bei meiner Chefin anzurufen. So recht mochte ich keine Ruhe finden. Ich drehte mich um und streckte den Arm aus. Ein kaltes Bettlaken auf einer leeren Matratze war alles, was meine Handfläche spürte. Das fühlte sich so wahnsinnig falsch und einsam an. Es machte mich mürrisch. Vielleicht würde eine heiße Dusche zur Entspannung helfen. Also schlug ich die Bettdecke wieder zurück und raffte mich auf. Auf dem Weg zum Bad verfluchte ich die Wohnung, weil sie keine Badewanne hatte und warf noch einen Blick ins Kinderzimmer. Yuuki daddelte an der Spielekonsole, bekam aber mein Vorübergehen mit und fragte nur in einem Halbsatz nach dem Frühstück. Das gäbe es, wenn ich geduscht hätte, antwortete ich und schlug vor, er könnte ja schon den Tisch decken. Meist tat er das sogar.

Eine gute Stunde später stärkte uns ein ausgiebiges Mahl, denn die Uhr zeigte schon halb Eins an. Man konnte so einen verregneten Tag auch sehr in die Länge ziehen ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Das Handy piepte.

„Wir kommen heute Nacht schon heim“, lautete die Bildunterschrift unter einem Foto mit gut zwei Dutzend Umzugskartons.

Das war weniger als erwartet, aber wenn ich die ganzen Kartons vor meinem geistigen Auge räumlich in Kakashis Wohnung unterbringen wollte, so blieb es mir ein Rätsel, wo die alle gestapelt werden sollten. Na, er würde sich schon etwas dabei gedacht haben. Ich tippte ihm zurück, dass wir beide uns sehr darüber freuen würden und luden Asa und ihn am kommenden Morgen zum gemeinsamen Frühstück ein. Kakashis Kühlschrank wies durch die geplante Dienstreise eh nur eine gähnende Leere auf.
 

Rumms, die Tür war zu! Voller Wut war Yuuki am nächsten Morgen wortlos vom Frühstückstisch aufgesprungen und hatte seine Zimmertür geknallt, dass der Putz von den Wänden rieselte. Zurück blieben drei verdutzt dreinblickende Familienmitglieder, welche diesen Vulkanausbruch nicht hatten kommen sehen und nun sprachlos irritiert einander ansahen. Der Morgen hatte noch nicht mal so recht begonnen, da war er schon im Eimer. Und das lag nicht allein an dem grauen Dauerregen vor der Haustür. Vermutlich war wohl ich die irritiertest Person in der Runde, denn gerade noch hatte ich von meinem Sohn behaupten können, er wäre doch so eine stille, aber auch sehr sensible Person. Nun aber hatte ich ihn zum ersten Mal absolut extrovertiert erleben können und konnte keine Erklärung finden.

Doch was war überhaupt geschehen? Eben gerade noch war es eine lustige Runde gewesen. Man brauchte kein Radio als Hintergrundgedudel. Asa erzählte wie die plappernde Mühle am rauschenden Bach. Wie groß Sunagakure wäre und das die Häuser dort ganz anders aussähen. Unglaublich heiß wäre es dort, aber nachts bitterkalt. So viel Sand hatte sie noch nie am Stück gesehen. Meterhohe Sanddünen erstreckten sich bis zum Horizont. Hatte man eine überwunden, so kamen noch hundert weitere. In allen Farben erzählte sie von den Bazaren und Märkten zwischen den Gassen, dass man Lust bekam, die Stadt selbst einmal besuchen zu wollen. Wir einigten uns darauf, dass wir dieses auch irgendwann in Angriff nehmen würden. Es gab so viele Orte, die man noch nie zu Gesicht bekommen hatte, die aber garantiert eine Reise wert wären.

Yuukis seelischer Super-GAU ereignete sich, als er ganz vertieft mit Asa Schnappschüsse von der Reise auf dem Tablet anschaute und sich Kakashi unbedacht mit der Aussage an mich wandte, dass er die vier anderen Kage von seinem Rücktritt nun in Kenntnis gesetzt hätte. Und bevor ich darauf eine Antwort geben konnte, knallte schon die Kinderzimmertür. Achselzuckend erhob ich mich und meinte zu den anderen, ich würde mal nachhaken, welche Laus Yuuki über die Leber gelaufen wäre.

Im Kinderzimmer musste ich mich erst einmal umsehen. Wenn mein Kind am Boden zerstört war, pflegte es Verstecke aufzusuchen. Unter dem Schreibtisch hockte eine Deckengeist. Es musste mein Kind sein, denn die Füße guckten raus. Es sah urkomisch aus, aber weil dieses hier eine todernste Angelegenheit war, biss ich mir auf die Lippe, um nicht laut loszulachen. Ich hockte mich vor die Schreibtischfestung und begrüßte den Deckengeist aufmunternd.

„Was ist los?“

„NICHTS!“, zischte es gefährlich.

Ja, genau! Deshalb hockst du ja auch mit der Decke über dem Kopf unter dem Schreibtisch. Weder Geduld, noch Hartnäckigkeit halfen weiter. Planlos wollte ich unverrichteter Dinge wieder hinausgehen. Noch im Türrahmen durchbohrten mich rücklings harte Worte, so messerscharf wie ein Shuriken, dass ich gelähmt dort stehen blieb.

„Ich komme erst raus, wenn der Verräter weg ist!“

„Yuuki …?!“, schnappte ich entsetzt nach Luft.

Ich war schockiert. Was ging denn hier ab? Mir musste die Farbe aus dem Gesicht gewichen sein, dann Kakashi sah besorgt zu mir herüber, und auch Asa war ausnahmsweise mal verstummt. Selbst das nervöses Baumeln ihrer Beine hatte geendet. Natürlich hatten beide wie Zaungäste alles mitbekommen. Keiner von uns verstand Yuukis Sinneswandel, bis plötzlich Kakashi aufstand, seine leere Tasse in die Spüle stellte und sich dann an mir vorbeischob. Dort im Zimmer platzierte er sich nicht so wie ich vor, sondern neben dem Schreibtisch, dass die beiden nur von den Tischbeinen getrennt waren. Es war eine geschickte Position, weil man sich so nicht ansah. Man saß deeskalierend nebeneinander auf Augenhöhe und nicht auf Konfrontationskurs gegenüber. Mir schien, dass Kakashi wohl ein Gedanken gekommen war.

„Die größte Diplomatie ist es, mit dem Feind zu sprechen. Wusstest du das?“

Kakashis ruhiger Ton brachte den Deckengeist dazu, den Kopf verneinend zu schütteln. Oder besser gesagt, der obere Deckenteil bewegte sich raschelnd. Yuuki war wirklich nicht auf den Kopf gefallen. Trotz seines jungen Alters von bald zehn Jahren konnte er solch Unterhaltungen gut folgen und geschickte Antworten geben. Eben war er aber von einem diplomatischen Gespräch noch nicht überzeugt. Dennoch hatte ich das Gefühl, unter der Bettdecke wurde angestrengt nachgedacht.

„Mir ist eingefallen, was du mich neulich etwas wichtiges gefragt hattest. Und ich hatte dir etwas versprochen“, setzte Kakashi daher unbeirrt fort.

„Aber, aber ...“, stotterte es verwirrte an die Außenwelt hervor.

Man hörte ganz klar an seiner Stimme, dass er vor Wut geweint hatte.

„Versprochen ist versprochen“, klang Kakashi doch sehr überzeugend.

„Schwörst du das?“, giftete es.

Kakashi lachte auf.

„Hey, seit wann sagt der Schüler dem Kage, was er zu tun hat?“, scherzte er.

„Du bist gar nicht mehr mein Kage!“, maulte es aus den Tiefen der Daunen.

„Ich sehe schon, das billige Fußvolk startet eine Meuterei. Da muss wohl mal hart durchgegriffen werden!“

Gesagt, getan. Yuuki wurde an den Füßen gepackt, aus seinem Versteck hervorgezogen und sah sich einer Wolke aus feinsten Lichtern ausgesetzt. Sie erinnerten mich an Glühwürmchen. Es waren aber natürlich keine Glühwürmchen, sondern winzig kleine elektrisch aufgeladene Teilchen, die Yuukis Haut so kitzelig reizten, dass er sich vor Lachen auf dem Boden wälzte und den Blitzpunkten dennoch nicht entkommen konnte. Es knisterte wie Knallerbsen. Böse Falle!

Noch immer stand ich im Türrahmen, glotze mit kuchentellergroßen Augen wie die Kuh auf dem Eis die beiden an und hielt sie nun für völlig durchgeknallt. Das sollte mal einer kapieren.
 

Wenigsten wurde mir viel später am Tage die Lösung nachgeschoben, dass mir ein ganzer Kronleuchter über meinem Kopf aufflammte und ich herzlich lachen musste. Mein armes, sensibles Kind! Was hatte er sich da wieder für einen Weltuntergang ausgemalt?

In rund vier Monaten würden wieder Genin- und Chûnin-Prüfunfen abgehalten. Auch wenn unsere beiden Kinder erst einmal die Zwischenprüfung zum Genin meistern mussten, bekamen sie doch die Anspannung bei den älteren Mitschülern mit. Die Prüfungen waren allgegenwärtiges Gesprächsthema. Die Akademie regelte und organisierte zwar die ganzen Prüfungen, den Ablauf zu überwachen, blieb dann aber doch beim Hokage hängen. Auch Urkunden schreiben und Stirnbänder feierlich verteilen, gehörte mit dazu, wie sich Yuuki erklären hatte lassen, als er eines abends mitbekam, wie Kakashi sich durch Listen wälzte, wer denn überhaupt zu welchen Prüfungen zugelassen werden sollte. Und so malte sich mein werter Sohn natürlich aus, dass auch er irgendwann mal seine Urkunde und sein Stirnband in Empfang nehmen dürfte. Und natürlich war es ihm ein großes Anliegen, eben jenes aus den Händen seines Allerliebstenlieblingshokage zu bekommen. Bloß, … Der war da nicht mehr im Amt, wenn es so weit wäre. Welch Fauxpax! Welch tiefer Riss in der zarten Kinderseele. Alle Träume zerstört!

Ein Kage blieb immer ein Kage. Der Titel war fest zementiert bis zum Lebensende, auch wenn man nicht mehr das Amt ausübte.

Ach Yuuki, nur für dich wird Kakashi extra nochmal vorbeikommen und wird dir irgendwann dein Stirnband geben. Nur für dich. Das hatte er dir doch versprochen!

Alles wird gut!

40 - Der Tag, an dem ich in ein Loch fiel

Autsch, das hatte fürchterlich wehgetan! Wie ein Maikäfer auf dem Rücken lag ich hilflos in dem aufgeschütteten Schneehaufen und strampelte verzweifelt mit den Beinen in der Luft. Nach einigen ungelenken Versuchen hatte ich es geschafft, mich wieder zurück in die Freiheit zu kämpfen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte ich zur Hauswand und rieb mir den Knöchel, als könnte man den messerscharfen Schmerz einfach abwichen. Leider tat er mir den Gefallen überhaupt nicht. Es zwiebelte und zog im Fuß, dass mir bunte Sterne vor den Augen tanzten. Musste das denn nun ausgerechnet jetzt passieren? Mitten in der Nacht? Und inmitten einer wildfremden Stadt weit weg von Zuhause?

Es war schon ein wenig meine Schuld gewesen, dass ich hier auf dem vereisten Fußweg ausrutschte und mich lang legte. Winterstiefel mit solch einem hohen Absatz waren für die hiesigen Witterungsverhältnisse einfach unpassend. Doch es war meines Erachtens das einzige Paar Schuhe, welches mit meinem dunklen Hosenanzug am Allerbesten harmonierte. Optik war zwar nicht alles, macht aber bei geschäftlichen Treffen die Pluspunkte beim Ersteindruck aus. Also quälte ich mich mit Blasen an den Füßen auf einem viel zu steilgestellten Fußbett stöckelnd voran, welches Orthopäden die Augen tränen ließen. Beim Abschied hatte mein Freund zwar einen Kommentar über mein Schuhwerk bei sich belassen, aber die hochgezogene Augenbraue und das verständnislose Kopfschütteln über meinen Gang wie beim Eiertanz sprach Bände. Aber mal ehrlich, wer konnte bei Schuhen schon mitreden, der selbst nur drei Paar verschiedene Schuhe besaß? Von den Dreien trug er auch hauptsächlich nur ein einziges Paar bis es abgelatscht war und ersetzte es aus pragmatischen Gründen durch das exakt selbe Modell. Nein, so jemand hatte bei der Schuhauswahl nichts zu melden.

Ich ärgerte mich über meinen Sturz genauso sehr, wie mich die ganze Veranstaltung ärgerte, zu der ich zwangsverpflichtet worden war. Das Einladungsschreiben, welches ich von meiner Chefin im Dezember erhalten hatte, hatte mich schnurstracks zu einem gutbetuchten Geschäftsessen in einem Luxusrestaurant in der Hauptstadt des Eisen-Reiches geführt. Dabei gab es einen rein taktischen Hintergrund, weshalb meine Chefin auf meine Anwesenheit pochte. Sie erhoffte sich nämlich durch meine familiären Beziehungen einen besonders positiven Geschäftsabschluss. Das Eisen-Reich war das Hauptgebiet, aus welchem die Stahlhütten meines Vaters ihre Eisenerze bezogen, jedoch waren die vielen Transportunternehmen entweder vollkommen überlastet oder unzuverlässig. Es hatte Phasen gegeben, da hatte tagelang die Produktion stillgestanden, weil kein Erznachschub geliefert worden war. Und nun wollte meine Chefin das lukrative Angebot für sich ergattern, bei welchem ihr Unternehmen für die nächsten zehn Jahre Logistikpartner Nummer Eins werden würde. Leider musste ich auf der Hinfahrt im Zug meiner Chefin stecken, dass ich mich vor ein paar Monaten mit meiner Familie völlig überworfen hatte. Da wäre kein Vitamin B mehr an die Familie zu bringen. Dennoch versprach ich, mein Bestes zu geben und gute Verhandlungen zu führen. Es war bereits die zweite verschwiegene Überraschung für meine Chefin, denn erst am Bahnhof stellte ich sie vor vollendete Tatsachen, dass ich die Kinder mitzunehmen hätte. Die Stimmung war demnach die halbe Fahrt über so frostig wie das Wetter im Eisen-Reich.

Die nördliche Lage und die Nähe zum Frost-Reich bescherten diesem Land einen langen Winter mit dunklen Nächten, dicken Schneeflocken und eisigen Winden. In so eine typische Nacht war ich nun hineingeraten. Mit einer großen Unaufmerksamkeit meinerseits ging es voran, eine hochwichtige Akte im Hotelzimmer zu vergessen. Da blieb mir nichts anderes übrig, als mich von dem Geschäftsessen kurz zu entschuldigen, um zum Hotelzimmer zu sprinten. Es war nicht weit, aber immerhin weit genug, um mich bei dem Glatteis auf den Gehwegen in Gefahr zu begeben. Nur ein schmaler Pfad war von den Anwohner freigeschaufelt worden, so dass man durch hohe Schneeberge wandelte. Insgeheim war ich froh gewesen, aus der Gesellschaft für einen Moment zu entkommen. Die Herrschaften am Verhandlungstisch kamen mir allesamt komisch vor. Mir kam keine einzige dieser Gestalten bekannt vor, was nicht zuletzt daran lag, dass ich keinen Kontakt mehr zur Firma meines Vaters hegte. Viel hatte ich durch die Buschtrommel gehört, mit welchen dunklen Machenschaften sich hochrangige Mitarbeiter hinter dem Rücken meines Vaters ihre eigenen Standbeine aufbauten. Ein Netz aus Lug, Trug und Sachverhalten, von denen mir schlecht wurde. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es mit rechten Dingen und seriös zuging, sondern eine kriminelle Organisation dahinter steckte. Aber vielleicht hatte ich auch gerade nur eine hysterische Phase, weil mich die Kälte und die dicken Schneeflocken nervten. Zwar war ich aus dem Gebirge solch einen Winter gewohnt, doch in den Jahren, wo ich in Konoha lebte, hatte ich mich doch sehr an das neue Klima angepasst. Nun stand ich hier mit einem verstauchten Knöchel, suchte mit den Augen den Schnee ab, fand aber nur deshalb meine Akte, weil das Rascheln der Blätter im Winde das Versteck verrieten. Da lag bereits schon ein feines weißes Tuch auf einigen Seiten. Die Schneeflocken flogen bei jeder Böe auf und rieselten erneut nieder. Und natürlich lag die Akte auf der anderen Seite des Fußweges. Verflucht! Ich biss die Zähne zusammen und trat mit dem verletzten Fuß auf. Tränen traten mir in die Augen. Das war wirklich übel. Das war kein Fuß mehr, der Teil meines Körpers war, sondern ein bösartiger Fremdkörper, der mich quälte. Trotzdem kämpfte ich mich voran, klaubte nach der Akte und warf einen kurzen Blick hinein. Wenigsten schien keines der Dokumente beschädigt oder unvollständig zu sein. Und nun?

Ich dachte nach und beobachtete die weißen Atemwolken, die aus meinem Mund und meiner Nase entwichen und gen Himmel stoben. Nein, es machte keinen Sinn mehr, nun zum Restaurant zurückzukehren. Zum warmen Hotelbett war es um einiges näher. Und vielleicht ließ sich an der Rezeption eine Salbe bestellen. Also rief ich meine Chefin an, dass ich auf dem Rückweg verunglückt wäre und daher zurück auf das Zimmer gehen würde. Erschrocken erkundigte sie sich, ob wirklich alles in Ordnung wäre und wünschte gute Besserung. Es war schon eine sehr späte Stunde. Über Geschäftliches redete am Tisch nun eh keiner mehr. Ein feuchtfröhlicher Smalltalk, der aufgesetzt und gezwungen wäre, war alles, was es noch abzuhalten galt. Darauf hatte ich so oder so keine Lust. Alle wichtigen Informationen für den Deal hatte ich gehört, mein Bauch war gefüllt vom guten Essen, und Alkohol hatte ich auch genug intus. Mein Gesicht glühte vor Hitze und belog mich, der Alkohol würde wärmen. Tatsächlich kühlte er aber nur den Leib aus. Da zog ich jetzt ein kuscheliges Bett für meine unterkühlten Glieder und einen Eisbeutel für meinen Fuß vor, als dummes Gerede bei Tische hören zu müssen. Die Kinder schliefen schon längst. Ich hatte den Fernseher ausschalten müssen, als ich vorhin nach dem Rechten sah und mich dann mit der Akte auf den Weg machte.

Leise fluchend humpelte ich voran. Wenn man es nicht besser wüsste, so könnten man diesen Ort für eine Geisterstadt halten. So bedrückend wirkten die hohen, grauen Steinmauer auf mich. Ich wusste gar nichts über das Eisen-Reich. Es war nur so viel, dass es hier immer schneite, immer dunkel und immer kalt war. Unterwegs hatte der Zug oft pausieren müssen, weil der Schnee zu hoch auf die Gleise geweht worden oder Weichen eingefroren waren. Aus dem Abteilfenster hatten wir dann den Berg bewundern können, dessen Form drei zu Eis erstarrten Wölfen glich. Das war sehr beeindruckend, doch sonst gab es hier nichts außer verschneite Nadelbaumwälder, hohe Berge und vereinzelte Gehöfte in traditioneller Holzbauweise. Da sah das Stadtbild schon ganz anders aus. Prägend waren endlos lange und eintönige Steinmauern, welche die Gassen mannshoch zäumten und die Außenwelt von den Wohnhäusern abschirmten. Die Eingänge durch die Mauern zu diesen besagten Häusern hingegen waren imposant und erinnerten an kleine Palasttore. Rechts und links an den Säulen prangte in goldenen Zeichen der Familienname der Hausbesitzer. Obig auf den Säulen ruhte ein viel zu schwer wirkendes Ziegeldach. Verschlossen wurde das Tor durch schwere Holztüren. Hinter diesen Mauern verbargen sich wahre Paradiese mit einem kleinen Garten, einem Hofplatz und einem eingeschossigem Wohnhaus. Aber vor der Tür hätte man sich in den vielen rechtwinklig verlaufenden Gassen verirren können, weil jede Straße wirklich gleich aussah. Was gab es hier sonst noch? Anstelle von Ninjas gab es hier als militärische Streitmacht ein Heer aus Samurai und man täte wohl gut daran, diese nicht zu verärgern. Dennoch lag in diesem Samurailand der Sitz der Shinobi-Union. Vermutlich, weil das Eisen-Reich als neutrales Land galt.

Langsamer und immer langsamer humpelte ich voran. Der Schmerz war für eine Sofakartoffel wie mich wirklich höllisch. Profis trainierten, um diesen Schmerz zu ignorieren. Ich war aber kein Profi und hatte auch keine Ambitionen, mich zusammenzureißen. Also hielt ich auch die einzelnen Tränen nicht zurück, sondern kämpfte nur gegen das Schwarzwerden vor den Augen an. Nach jedem Schritt hielt ich inne und hob den Fuß in die Höhe wie ein Flamingo im Wasser. So kam ich kaum voran. Einbeinig wartete ich ungeduldig, bis der Schmerz wieder abgeklungen war. Dann ging es mit einem halben Hopserschritt voran, nur um wieder die Flamingoposition einzunehmen. Ich blickte um mich, verfolgte mit den Blicken meine Atemwolke in die finstere Nacht und klopfte mir eine erste feine Schneehaube vom Mantel. In dem Tempo würde ich das Hotel niemals erreichen, denn vorher wäre ich dem Kältetod erlegen. Das sähe am nächsten Morgen bestimmt ziemlich bescheuert aus, wenn ich hier wie eine vereiste Flamingoskulptur stehen würde. Kunst im öffentlichen Raum. Vielleicht sollte ich vorher eine coolere Pose einnehmen und die Arme wie Flügel ausbreiten? Ach, verdammt! Ich fluchte und hopste weiter.

Keine Menschenseele war um diese Uhrzeit bei diesem Schneetreiben unterwegs. Wirklich niemand? Ich stockte. Obwohl sich mein Körper dem Winterklima entwöhnt hatte, so hatten meine Sinne all die Jahre dies nicht getan. Mein Gespür für Schnee war geblieben. In meiner Heimatsprache gab es weit über fünfzig Begriffe für Schnee, je nach dem wie die Schneekristalle beschaffen waren und sich vereinten. In Konoha gab es das nicht. Da gab es Pulverschnee, Backschnee, verwehter Schnee, Schnee am Berge... Aber man erreichte nicht die Anzahl wie in meiner Muttersprache. Das sah man schon an den Kanji. Das Eis-Kanji leitete sich vom Wasser-Kanji ab. Das Schnee-Kanji beinhaltete das Regen-Kanji. Man erlebte im Feuer-Reich das Himmelswasser meist in flüssiger, aber selten in gefrorener Form.

Mein Gespür war anders geschult. Man hörte am Knirschen, wie viele Menschen unterwegs waren. Ob sie fern oder nahe wären. Ob sie gingen oder kamen. Man sah an den Spuren, ob sie schwer bepackt oder leichtfüßig waren. Ob sie eilten oder weilten. An den Flocken erkannte man einen Wetterwechsel. Der Wind schmeichelte oder warnte. Und hier eben in der Gasse war etwas nicht in Ordnung. Ich spürte es bis auf die Knochen, dass sich hier von einer Sekunde auf die andere etwas verändert hatte. Ganz in meiner Nähe waren Schneeflocken von einem Dach herabgerieselt. Ganz fein und unscheinbar. Als wären sie einfach nur durch den Wind von den Ziegeln gerutscht. Aber ich wusste es besser. So fielen Flocken nur hinab, wenn sie durch ein Gewicht von oben herab getreten wurden. Nein, ich war nicht allein! Da war jemand. Jemand, der sich für sehr schlau hielt und nicht erkannt werden wollte. Feindliche Shinobi? Mein Herz raste. Für den Moment vergaß ich den Fuß, weil ich es mit der Angst bekam. Man wollte mir glaubhaft machen, ich wäre allein unterwegs und somit in völliger Sicherheit. Doch ich war es nicht. Ich wurde verfolgt!

An einer Kreuzung stierten meine Augen in die Richtung, in die das Hotel lag. Man konnte die Fassade trotz des Schneefalls einige Häuser weiter schon erahnen. Hier hätte ich abbiegen müssen. Doch die Angst hielt mich zurück. Die Luft hatte sich verändert. Drastisch war sie so unbeschreiblich schwer und hart geworden. Man fand gar keine Worte dafür, diesen Luftzustand zu beschreiben. So ein Luftgefühl hatte man nur, wenn man im Schnee aufgewachsen war. Und diese Stille erst. Plötzlich herrschte eine andere Stille. Als wäre man taub auf beiden Ohren. Schwer keuchend versuchte ich einen klaren Gedanken zu fassen. Wer verfolgte mich? Und warum? Mensch, Sherenina! Es sind nur noch wenige Hopser bis zum rettenden Hotel. Warum gehst du nicht?

Weil ich es nicht konnte. Die Angst brüllte auf mich ein, dass auf diesen wenigen Metern das Böse lauerte. Alle Straßenblöcke waren rechteckig. Aus der Luft sah die Stadt sicher wie ein Schachbrett aus. Und wenn ich einfach geradeaus weitergehe und einen Häuserblock umrundete? Dann könnte ich von der Rückseite das Hotel erreichen. Der Plan war absolut aussichtslos. Trotzdem setzte ich ihn in die Tat um, weil die Angst in Panik umschlug und mir jeglichen Verstand raubte. Es hätte so viele Lösungen gegeben, die allesamt cleverer gewesen wären. Doch ich entschied mich für die dümmste Lösung: Humpelnd trat ich im Schneckentempo die Flucht an.

Zwei Hopser und ich war um die Hausecke in die entgegengesetzte Richtung verschwunden. Das würde meinen Verfolgern sicherlich nicht entgangen sein. Wie viele mochten es sein? Einer oder mehrere? Ich lehnte zum Verschnaufen an einer dieser vielen Holztüren zum Hof und fühlte mich im Halbschatten teilweise versteckt. Als Laie bildete man sich ein, man wäre getarnt. Ein Shinobi hingegen hätte alles im Blick. Den würde es nicht einmal irritieren, wenn man als Gejagte einen Haken schlug. Von einer Sekunde auf die andere erschrak ich, als die Tür hinter mir nachgab. Ich stolperte nach hinten, verlor das Gleichgewicht und landete schon wieder auf der Nase. Hatte ich erst noch schöne Wohnanlagen im Kopfe gehabt, offenbarte sich auf dem Fuße, weshalb wohl dieser Wohnhof eine kaputte Haustür besaß: Entweder war dieses hier die öffentliche Müllkippe oder hier wohnten Leute mit Messie-Syndrom. Himmelhohe Berge mit Müll und Trödel türmten sich über und über und waren nur allein deshalb schön anzusehen, weil eine weiße Schneeschicht das Grauen bedeckte. Das Haus wirkte verfallen. Kein Lichtschein drang aus den Fenstern. Vielleicht konnte ich dieses Labyrinth an Schrott zu meinem Vorteil nutzen und mich verstecken? Hoffentlich wohnte hier niemand, der mir noch unangenehme Fragen stellen würde. Meine Fußspuren im Schnee waren deutlich zu erkennen. Dennoch hielt ich fieberhaft nach einem Unterschlupf Ausschau. Mein umherschweifender Blick erhaschte einen Schuppen, den ich ohne großes Nachdenken sofort ansteuerte. Keuchend und schwitzend kämpfte ich mich auf das Ziel zu. Der Stress hatte meine Sinne vollständig ausgeschaltet. Da geschah in meinem Kopf nichts mehr mit klarem Verstand. Und so kam es, wie es kommen musste. Es war nur eine feine Schneeschicht, die mein Schicksal besiegeln sollte. Nur hauchdünne Millimeter der weißen Flocken. Sie benetzten Holzdielen im Boden, welche eine Grube sichern sollten. Doch die Bohle waren alt. Bestimmt viel älter als das Haus und die ganze Stadt. Ich trat auf sie. Das Knacken machte mich stutzig, weil ich doch noch bis eben gefrorenen Boden als Untergrund unter den Füßen hatte. Da brach ich auch schon ein und viel in die Tiefe.

Die Landung war hart, als hätte man einen Reissack vom Dachboden auf die Diele geworfen. So plumpste ich durch die zerberstenden Bretter in einen pechschwarzen Kellerraum. Schneehaufen rutschen von oben nach. Es war so dunkel, dass man die Hand nicht vor den Augen sah. Da war es erst recht nicht möglich, den Raum zu erkennen. Mein Körper füllte sich an, als wären alle Knochen einzeln zerbrochen. Der Aufprall hatte meinen Brustkorb für Sekunden zusammengedrückt und mir den Atem genommen. Mit einer unbeholfenen Drehung schraubte ich mich auf den Rücken und streckte schmerzerfüllt alle Viere von mir. Der Sturz hatte nicht lange gedauert, also konnte der Kellerraum nicht tief sein. Über mir vermutete ich den Nachthimmel, denn ich spürte die einzelnen Schneeflocken auf meiner Haut. Doch es war dort oben genauso düster wie hier unter. Könnte man das Handylicht zum Erhellen nutzen? Oder würde man den Schein oben sehen? Schwer zu sagen. Ich robbte auf dem Bauch wir eine Raupe voran. Meine Kleidung rieb auf dem eiskalten Boden und machte Geräusche, die mir unendlich laut vorkamen. Trotzdem wollte ich nicht sofort entdeckt werden, würde jemand durch das Loch starren. Da konnte ich nur hoffen, dass der Schneefall und der Wind meine Spuren bereits verweht hätten. Meine Hand stieß an etwas Hartes. Eine Steinwand. Hier war also mein Kerkergefängnis zu ende, denn ich wusste genau: Mit den zugetragenen Blessuren würde ich hier ohne Hilfe kaum entkommen können. Ich wagte das Risiko von wem auch immer entdeckt zu werden, kramte nach meinem Handy und beleuchtete die Finsternis. Im Handyschein kam ein winzige Kammer zutage. Eine rostige Gittertür mit einer ebenso rostigen Absperrkette versperrte den Weg nach draußen. Ansonsten gab es hier ein umgefallenes Holzregal und einen Haufen alter Jutesäcke.

Es war zum Verzweifeln. Wo steckten eigentlich immer all diese Superhelden, die in solch aussichtslosen Situationen aus dem Nichts heraussprangen und einen retteten? Hmm, sie versauerten nichtsahnend in einem Hokagebüro, langweilten sich zu Tode und lasen zum millionsten Male die IchaIcha-Reihe. Ein dicker Kloß wuchs in meinem Hals, wenn ich nur daran dachte, dass mich hier niemand finden würde. Mein Handy hatte keinen Empfang, und die Akkuleistung ging durch die Kälte rasend schnell zur Neige. Nein, niemand würde mich finden. Vorher wäre ich sanft eingeschlafen und erfroren. Die Kinder würden am nächsten Morgen feststellen, dass mein Bett leer wäre. Nur allzu gut konnte ich mir vorstellen, wie Yuuki in Panik durchdrehen würde. Auch Asa wäre heillos damit überfordert. Bis dann wiederum Kakashi von allem erfahren würde, wäre bestimmt alles zu spät. Da konnte ich nur noch Sturzbäche heulen, weil ich meine Kinder nie wieder sehen würde. Und Kakashi auch nicht.

Nun war doch eh alles egal, denn hier würde ich mein eisiges Grab finden. Entweder durch den Winter oder durch die Verfolger, wenn diese nicht bereits sogar aufgegeben hätten. Obgleich es wiederum ein Funken Hoffnung auf ein Überleben wäre, würden die Verfolger mich von hier fort bringen. Verschleppt an einen hoffentlich warmen Ort. Oder wollten sie meinen Tod? Dann wäre Erfrieren doch die bessere Wahl als Kehleaufschlitzen. Heulend wie ein Schlosshund quälte ich mich zu dem Berg aus Jutesäcken, bettete mich darin, so gut es ging, und hoffte auf irgendeine Art von Absolution.

Ich schniefte. Meine Wangen waren bereits so kalt, dass ich meinte, die Tränen würden dort zu Eiszapfen gefrieren. Draußen heulte nur der Wind. Durch das Loch über mir in den Holzdielen rieselte sanft der Schnee. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, so dass sich wenigstens das Loch schemenhaft gegen den Himmel abhob. Ansonsten gab es da nichts zu sehen. Es gab nur das Fühlen. Nur Finsternis und Kälte und Hoffnungslosigkeit.

In meinen Gedanken war es warm. Da schien die Sonne durch die Fenster auf den Frühstückstisch in meiner Wohnung. Es war eine Szene von heute früh. Yuuki verquirlte gerade ein extra super weichgekochtes Ei mit dem heißen Reis und der Sojasauce in seiner Schüssel. Asa badete ihre Cornflakes in einem Kakaosee. Kakashi starrte etwas gedankenverloren in seine Kaffeetasse, weil ihn etwas beschäftigte. Insgesamt eine übliche Szene. Sie war so warm, so herzlich, so fröhlich. Ich klammerte mich an diese Erinnerung und verabschiedete mich von meinen Lieben.

Erschöpft fielen mir die Augen zu.

41 - Der Tag, an dem ich wieder aufwachte

Alles war weiß. Ich glaubte, es hätte die Nacht noch weiter geschneit, denn ich spürte auf meinem gesamten Körper eine Schneedecke lasten. Aber etwas daran war extrem ungewöhnlich. Eine Hand und ein Fuß von mir guckten unter dem Schnee hervor und lagen somit im Freien. Hatte mich etwa eine Lawine verschüttet? Nein, dafür war es viel zu warm außerhalb der Schneehaube. Wieso war es warm? Es müsste doch total kalt sein? Aber auch die Schneedecke war merkwürdig. Sie war nämlich ebenso warm wie die Temperatur außerhalb. Dabei war sie so weich und roch nach Waschmittel und …

Mein Hirn kam mit dieser Reizüberflutung nicht zurecht und hängte sich auf wie mein Handy, wenn ich wieder einmal zu viele Sprachnachrichten fast zeitgleich abgeschickt hatte.

Bestimmt war ich Tod und gen Himmel aufgefahren und ruhte dort oben auf einer weichen Wattewolke. Da wollte ich schon laut losheulen und mich selbst bemitleiden, als ich anders als gedacht ruckartig den Kopf hochriss. Mein Hirn hatte neugestartet und etwas kapiert: Nein, ich war weder tot, noch im Schnee stecken geblieben. Das war ein Bett! Und ich hatte mich unter der Bettdecke verheddert. Aber wo zum Henker stand denn dieses Bett? Immer noch bäuchlings liegend, hatte ich den Kopf wie ein Säugling kurz vor dem Loskrabbeln erhoben und lugte unter der Decke vorsichtig hervor. Mein Nacken schmerzte von der ungewohnten Kraftanstrengung. Also plumpste mein Haupt wie ein großer Weißkohl wieder in das Kissen zurück. Aua! Meine Haut an Wange und Stirn brannte schmerzhaft. Überhaupt tat es an unzähligen Stellen im und am Körper weh. Es war mir bis dato gar nicht klar gewesen, wie viele Stellen so ein Körper hatte. Und mein verstauchter Fuß? Der war so schwer und unbeweglich, als hinge eine Eisenkugel daran, wie man es von Knastbrüdern aus dem Märchen kannte. Hm, aber meine Kleidung war nicht so gestreift wie Sträflingskleidung. Also war mein Bett wohl nicht in einem Gefängnis zu finden. Wieso hatte ich eigentlich mein Nachthemd an? Boah, könnte mir mal einer auf die Sprünge helfen? So musste es sich anfühlen, wenn man gefühlte drei Tage Nonstop nur Alkohol und andere berauschende Substanzen inhaliert hatte und später nicht mehr wusste, was geschehen war. Ganz böse Vorahnungen schlichen sich in mein Erinnerungsvermögen ein. Da hatte ich mal einen Horrorthriller zu später Nachtstunde im Fernsehen geschaut. Es ging auch um Entführungen, wo die Opfer eingesperrt und dann in ihre organischen Einzelteile zerlegt wurden. Ein Schauder erfasste mich. Sherenina, du glotzt eindeutig zu viel fern!

Wie dem auch sei, musste ich dringend herausfinden, wo ich war. Wenn es ein böser Ort war, so müsste ich fliehen. Aber das würde kein Spaziergang werden. Mein ganzer Leib fühlte sich wie vom Zug überfahren an. Meine Sicht war eingeschränkt, denn ich sah nur im Tunnelblick alles zeitweise verschwommen. Dazu kam noch dieser blöde Schwindel. Trotzdem wollte ich wissen, was passiert war und wohin es mich verschlagen hatte.

Es war dunkele Nacht. Soviel hatte ich ausmachen können, denn direkt neben meinem Bett war ein großes Fenster. Die Gardinen waren nicht zugezogen und gaben den Blick auf das nächtliche Finsternis frei. Obgleich hier in meinem Zimmer keine Lichtquelle brannte, spiegelte sich schemenhaft mein Zimmer in der Glasscheibe, so dass ich in dem Nachthimmel nicht entnehmen konnte, ob dort nun die Sterne standen oder Wolkenschafe über das Firmament zogen. Allein der Mond besah sich mein Elend, wie er es immer tat. Still und stumm. Der Mond. Angesicht zu Angesicht. Also gab es wohl gerade keine Wolken am Himmel. Ob es draußen kalt war? Der Mann im Mond blickte schon fast ein wenig erbarmungsvoll herab. Meine Augen hingen förmlich an den Kraterumrissen, die mir sein Gesicht suggerierten. Ich konnte mich kaum davon abwenden.

Ich fühlte mich wie eine leere Büchse. Inhaltslos und verbraucht. Mein Freund hatte mir mal erzählt, im Feuer-Reich würde man gar keinen Mann im Mond sehen, sondern einen Hasen mit einem Bottich. Da hatte ich schon recht viel Fantasie gebrauchen müssen. Doch es stimmte. Nach einer gefühlten Ewigkeit fand ich das Tier mit seinen langen Ohren und den Bottich. Und mit dem verschwommenen Tunnelblick hoppelte es sogar wie bei einem Daumenkino auf und ab. Wenn ich Kakashi jemals wiedersehen würde, dann müsste er mir einmal die Legende dazu erzählen, warum man im Erd-Reich ausgerechnet einen Hasen sah. Und wieso hatte der einen Bottich bei sich? Maannn, schon wieder so viele Fragen für das gemarterte Hirn.

Kakashi … Nun heulte ich doch. Und als mir Yuuki und Asa in den Sinn kamen, da heulte ich noch mehr. Wo waren sie? Wie ging es ihnen?

Es war nicht allein der Hase und meine Familie, die meine Sinne so betäubte. Neben dem Langohr hoppelten noch ganz andere Bilder und Filmsequenzen durch meinen Verstand. Ich kapierte nichts davon. Es war alles nur schrecklich und unheimlich zu gleich. Auch dieser unbekannte Ort jagte mir Angst ein. Also gab ich meiner Müdigkeit nach, wo sich meine Wahnvorstellungen nun als Traum weiter austobten.

Da gab es im Traum finstere Geister, die mich aus einem vereisten Käfig mitnahmen. Sie tanzten über den Dächern zusammen mit den Schneeflocken, als wären sie Marionetten. Aber ihr Fäden waren nicht aus Stoff, sondern wie schwarze Schatten. Die Marionetten zerrten an den Schattenfäden und verhedderten sich immer mehr und mehr. Zum Schluss klebten sie alle in einem großen Schattenspinnennetz fest. Und all diejenigen, die nicht in dem Netz bleiben wollten, wurden zurück geweht. Ein blonder Pfau mit vier Zöpfen und lila Federn schlug ein großes weißes Rad mit drei roten Augen und fächerte alle Fliehenden wieder in das Netz. Plötzlich krochen aus allen Ecken und Enden Gestalten in schwarzen Mänteln und weißen Tiermasken hervor. Eine Maske gruseliger als die andere. Als die Masken niederfielen, meinte ich Yuuki und Asa darunter zu sehen. Der Schock fuhr mir in die Glieder. Ich schrie und schrie. Doch dann landete ich auf dem Rücken eines Pferdes. Ich konnte genau spüren, wie sich meine Beine um seinen Leib schlangen, die Haken sich treibend in das Fleisch bohrten und meine Arme sich eng um seinen Hals schmiegten. Mein Gesicht vergrub sich in einer grauen Mähne. Mein Apfelschimmel trug mich geborgen über alle Dächer hinweg.

Plötzlich kracht es. Etwas war herunter gefallen und ein stechender, kurzer Schmerz durchfuhr meinen Handrücken. Schweißgebadet wachte ich auf. Ich hörte mir selber zu, wie mir ein spitzer Schrei im Halse stecken blieb. Das Mondlicht konnte mit seinem silbernen Glanz nicht verhindern, wie sich mein blütenweißes Bett nun mit rotem Blut aus meiner Hand befleckte. Ein gleichmäßiger Rinnsal rann aus einer feinen Wunde heraus. Wenigen Tropfen genügten, und sofort bildete sich ein großer, dunkler Fleck auf dem reinweißen Untergrund. Scheiße, was war das hier für ein Alptraum?

Da wurde auch schon die Tür aufgerissen und eine besorgte Frau stürmte herein. Ein gedämpftes Zimmerlicht wurde eingeschaltet, damit es in den Augen nicht so blendete. Meine endgültige Ankunft in der Wachwelt. Ein Krankenhaus! Ich war in einem Krankenhaus gelandet. Und meine Hand blutete, weil sich die Infusionsnadel unfreiwillig gelöst hatte. Während meines Alptraums hatte ich wohl nicht mit bösen Dämonen, sondern wiederholt mit der Decke gerungen, dabei den Ständer für den Infusionsbeutel umgeworfen und somit die feine Kanüle aus meiner Hand am Schlauch herausgerissen.

„Oh, sie sind endlich aufgewacht, Jibek-san. Es ist alles in Ordnung“, redete die junge Krankenschwester beruhigend auf mich ein, versorgte meine Wunde und bereinigte das Malheur.

Sie hatte einen freundlichen Blick und eine unendliche Ruhe und Fürsorge, obgleich ich ihr eine große Last bescherte, so eingesaut wie mein Bett nun aussah. Aber, so dachte ich, eine medizinische Belegschaft sähe sicherlich noch viel krassere Sachen als meine Blutung am Handrücken. Also doch kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Ob man der Schwester trauen konnte? Wieder fiel mir der Film aus dem Fernsehen ein mit den Leicheneinzelteilen. Spielte das nicht auch in einem Krankenhaus?

Ich konnte nur stumm zusehen und war verwirrt. Endlich aufgewacht? Meine Güte, wie lange hatte ich denn geschlafen? Langsam drehte ich den Kopf in beide Richtungen. Die Schwester hatte mich aufgerichtet. Ich war bisher nur einmal zu Yuukis Entbindung im Krankenhaus gewesen. Trotzdem konnte ich mich an die Schwesternkluft erinnern. Meine letzten Zweifel über meinen Aufenthaltsort wurden durch einen Blick aus dem Fenster beseitigt. Dort draußen sah man die Dächer von Konohagakure. In der Ferne wachten die Hokageköpfe über die Nachtruhe ihres Dorfes. Ich musste tatsächlich nach Hause gekommen sein. Wie auch immer. Zumindest schien alles in Ordnung. Trotzdem war ich fix und fertig.

Ich sprach keinen Ton und sah wie durch eine Nebelwand, dass mir die Schwester die Hand verband. Sie redete freundliche Worte mit mir, doch ich hörte gar nicht hin. Dann drückte sie sanft gegen meine Schulter, dass ich mich wieder hinlegen sollte. Schon wieder schlafen? Ich hatte doch erst geschlafen, und anscheinend auch sehr, sehr lang. Mein Körper verbat jegliche Diskussion. Er gab den Worten der Schwester nach und schlief wieder ein.

Es wurde kein erquickender Schlaf der Genesung. Bequem in meine Decke gegewickelt, dämmerte ich gleichermaßen vor mich her, wie die Sonne draußen die neue Morgendämmerung vor sich herschob. Da waren sie wieder. Diese Bilder, die ich nicht verstand. Und diesmal waren sie schlimmer und heftiger als zuvor. Ganz langsam wurde es heller und heller. Leider geschah das ganz und gar nicht in meinen Erinnerungen. Da waren wieder schwarze Traumbilder, zu denen sich mittlerweile neue gesellt hatten.

Es klopfte leise an die Tür. Die Nachtschwester, welche meine Hand versorgt hatte, begrüßte mich, maß die Körpertemperatur, nahm den Puls und erkundigte sich nach meinem Befinden. Stumm wie ein Fisch sah ich sie merklich unbeweglich an. Man selber sah sich und seinen Gesichtsausdruck ja nicht, doch meine Mimik war wohl emotionslos und die Augen total leer. Das hätte ich wohl selber auch gar nicht registriert, hätte die Schwester mich nicht auf eine hübsche Sache hingewiesen, die meine Stimmung auffrischte.

„Wenn es ihnen besser geht, dann müssen sie mir einmal ihren heimlichen Verehrer vorstellen“, witzelte die Schwester herzerwärmend, nur um die Stille zu durchbrechen und mich mit einem belanglosen Gespräch aufzumuntern. „Ich habe ihn noch nie gesehen, aber er bringt jede Nacht eine neue Blume mit. Dabei bin ich wirklich achtsam. Und hier auf Station liegen gerade nicht so viele Patienten. Hm, er ist wohl Jô-Nin?“

Und erst da drehte ich wohl meinen Kopf, erblickte auf einem Tisch neben meinem Bett einen Wildblumenstrauß und erstrahlte wie die aufgehende Frühlingssonne. Meine Güte, wo hatte er die denn her so mitten im Winter? So dachte ich im Stillen bei mir selbst und bekam dann doch wieder das unerträgliche Gefühl der puren Ahnungslosigkeit. Ich war viel zu antriebslos, die einzelnen Blumen zu zählen, doch es war schon ein ganzer Strauß. Und wenn er wirklich jede Nacht eine weitere Blume hatte in die Vase dazugestellt, dann war ich wie befürchtet schon eine halbe Ewigkeit hier. Doch in dem Moment zählte nur die Freude über die liebe Geste.

Ich nickte eine bejahende Antwort, den Mund bekam ich noch nicht auf. Die ganzen Ränge der Shinobis kannte ich gar nicht. War Jô-Nin ein hoher Rang? Gab es da viele von, die so einen Rang hatten? Keine Ahnung. Aber es musste wohl ein hoher Rang sein, wenn die Schwester, die sich mir noch als Schwester Kiri vorstellte, meinte, nur ein Jô-Nin könnte sich an ihr vorbeischleichen. Na, sollte sie doch alle Jô-Nin im Kopf durchgehen, die sie kannte. Da hatte sie ein kleines Rätsel zu lösen, wenn es sie so sehr interessierte. Ich sollte mich zukünftig mit den Rängen beschäftigen, schwor ich mir selbst. Yuuki und Asa waren auf dem Weg zur Ge-Nin-Prüfung. Das war ganz unten in der Reihenfolge. Ganz oben war Kage. Also müsste ich nur noch das Mittelfeld lernen.

Schwester Kiri war wirklich nett. Und auch sehr taff. Sie verabschiedete sich von mir, denn ihre Schicht endete nun. Aber in den kommenden Nächten wäre sie wieder da. Schon in einer halben Stunde würde die nächste Schicht das Frühstück bringen. Und die Visite würde mir dann erzählen, welche Befunde ich hätte. Ich nickte nur stumm zum Abschied und drehte mich den Umständen entsprechend schwerfällig auf die Seite. Mein verstauchter Knöchel war nämlich gar nicht verstaucht gewesen. Ein komplizierter Trümmerbruch an eben dieser Stelle hatte mir nun eine Operationsnarbe, eine Metallplatte und fünf Schrauben eingebracht. Das schwere Gewicht am Fuß rührte von der Schiene her.

Draußen sah es schön aus. Der wolkenlose Himmel färbte sich nun pastellfarben. Erst leckte die Sonne mit ihren Strahlen oben an den schroffen Felsen und an den Spitzen der Hochhäuser. Dann kletterte der gelbe Ball mühsam über die Horizontlinie und legte seine beiden lichthellen Arme über die Stadt. Ein neuer Tag hatte begonnen. Ganz idyllisch und friedlich.

Die Tür wurde leise geöffnet, ein Tablett mit Essen wurde gebracht. Es gäbe erst einmal nur eine Kleinigkeit, bis die Ärzte mich begutachtet hätten, wurde mir unverblümt von einer etwas mürrischen Schwester mitgeteilt. Na schön. Ich schlürfte den heißen Tee, schob langsam Reiskorn für Reiskorn in meinen Mund und empfand die Prozedur des Essens als ungeheuer mühselig. Erschöpft kuschelte ich mich wieder ins Bett. Was auch immer ich hatte, es musste mich schwer aus der Bahn geworfen haben, wenn selbst Essen schon anstrengender war als ein Marathonlauf.

Gespannt wartete ich auf den Ärztetrupp. Was würden sie mir wohl erzählen? Wie lange müsste ich noch hier bleiben. Der Wunsch brannte in mir, mich bei meiner Familie zu melden, weshalb ich mich nun mehr mit meinem Zimmer beschäftigte. Es war ein Einzelzimmer. Trotzdem konnte man Vorhänge um das Bett herum zuziehen, dass man nicht sofort gesehen wurde, falls jemand durch die Zimmertür kam oder jemand durch das kleine Türenfenster sah. Neben meinem Bett war ein Nachtschrank und direkt hinter mir an der Wand pappte ein Pinbrett mit Ergebnissen von medizinischen Untersuchungen. Es fiel mir schwer, solange nach hinten an die Wand zu schauen, doch die Schublade im Schrank wollte ich mir näher betrachten. Viel war nicht darin. Eine Packung Taschentücher. Ein Essensplan, den ich logischerweise noch nicht ausgefüllt hatte. Was brauchte man wohl auch, wenn man die ganze Zeit nur schlief? Wie hatte ich eigentlich im Schlaf gegessen? Eine Magensonde hatte ich nicht. Dafür fand ich einige schöne Kinderzeichnungen. Asa und Yuuki hatten sich wirklich ins Zeug gelegt, mir viele bunte Bilder zu zeichnen.

Es klopfte. Ein Tross an Ärzten strömte herein und breitete sich um mein Bett herum aus. Ich fühlte mich wie ein belagertes Zootier in einem viel zu engen Käfig.

„Guten Morgen!“ schallte es mir entgegen.

Boah, nicht so laut! Meine Ohren klingelten. Ein großer, hagerer Typ stellte sich als vertretender Oberarzt vor, weil die für mich zuständige Ärztin gerade zu einer Konferenz gereist wäre. Wie es mir denn so ginge, wurde ich gefragt. Mir war das schon alles zu viel. Zu viele Menschen. Zu viel Lärm. Zu viele Fragen. Zu viel Stress. Die Informationen über meinen Gesundheitszustand ließ ich einfach so über mich ergehen. Einen gebrochenen Knöchel, viele Prellungen und Blutergüsse, eine starke Unterkühlung und eine virale Infektion, ein Gen-Justu und daher ein tiefer Schlaf mit Halluzinationen und Schlafwandeln von fast drei Wochen. Was zum Henker ist ein Gen-Justu? Dürfte ich mal meinen Telefonjoker anrufen? Nö, so weit kam ich gar nicht mit meinen Bedürfnissen, konnte ich noch nicht einmal den Worten des Arztes richtig folgen. Auf jeden Fall bekam ich mit, dass ich wohl noch ein paar Tage hier im Krankenhaus bleiben müsste und mein Fuß nun Physiotherapie bräuchte. Und es würde noch eine Psychologin wegen des Gen-Jutsus vorbeischauen. Es wurden fleißig Notizen über mich gemacht, ein neuer Zettel über meinem Kopf an des Brett gepinnt und schon rauschte der Schwarm an Halbgöttern in Weiß zum nächsten Zimmer. Plötzlich war wieder Stille eingekehrt.

Telefonieren, ich möchte gerne telefonieren. Wieder gab es Schritte auf dem Gang. Die Tür ging auf. Mein Essenstablett wurde wieder abgeholt. Dafür platzierte sich nun eine Kanne Tee und eine Tasse auf meinem Nachttisch. Und so zog es sich durch den ganzen lieben langen Tag. Tür auf, Tür zu. Wie in einem Taubenschlag. Nur Ruhe fand man hier gar nicht. Und telefonieren wurde auch nichts. Dafür konnte ich meinen Fuß bestaunen, als der Physiotherapeut die Schiene entfernte. Eine Narbe zierte nun meinen Knöchel. Die Fäden waren bereits gezogen worden. Und es schmerzte, obgleich der Therapeut äußerst behutsam mit dem Fuß umging. Ich verbiss den Schmerz, ließ aber in den Augenwinkeln Tränen zurück. Dann war schon Mittagszeit. Diesmal Reis mit Gemüse. Klappklapp, und das Tablett war auch schon wieder weg.

Erschöpft sank ich wieder in das Bett und döste. Mit halben Augen genoss ich, wie draußen der Sonnenschein die Stadt erwärmte. Dort hinten war der Hokageturm und daneben die Akademie. Am Liebsten hätte ich einen Stein an Kakashis Bürofenster geworfen. Er war garantiert dort. Blöd, dass ich nichts zum Werfen hatte und erst recht nicht so weit werfen konnte. Aber wenn er wirklich jede Nacht hier aufgekreuzt wäre, würde er es diese Nacht auch wieder tun. Da konnte ich nur abwarten.

Nachmittagszeit. Tür auf, neue Teekanne und Mochis rein, Tür zu. Jedes Mal schreckte ich auf, wenn diese Tür ging. Ich hatte genug, raffte mich hoch und zog wenigstens den Vorhang zur Türseite hin zu. Dann humpelte ich mit den an meinem Bett parkenden Gehhilfen zur Tür und sah zum ersten Mal aus meinem Zimmer heraus. Ich war am Ende eines kurzen Ganges. Am anderen Ende war wohl das Schwesternzimmer. Und wo war die Toilette? Wieder wurde mir schwindelig. Auch der Tunnelblick wollte nicht so recht weichen. Also musste ich mehr den Kopf hin- und herdrehen, was zu neuem Schwindel führte.

„Sie sollten noch nicht alleine aufstehen. Ich helfe ihnen!“ rief es da aufgeregt aus dem Schwesternzimmer heraus.

Hui, die bekamen hier ja wirklich alles mit, wie Schwester Kiri behauptet hatte. Schon stürzte ein Pfleger herbei, griff mir unter die Arme und schob mich nur eine Tür weiter zum Klo. Kaum zurück auf dem Zimmer, wurde schon das Teegedeck gegen die Abendmahlzeit ersetzt. Reis, Gemüse und sogar Fisch. Und natürlich wieder der obligatorische grüne Tee. Ob man um einen Kaffee betteln durfte? Lieber nicht. Das wären nach dem Telefonanruf schon zwei Wünsche auf einmal. Wer wüsste schon, ob das nicht ein wenig unverschämt wäre. Gerade mal aus dem Dornröschenschlaf erwacht und schon Anforderungen stellen. Trotzdem konnte ich meine Ungeduld nicht länger zügeln.

Meine nächste Wanderschaft auf Krücken wurde schon weit aus sicherer. Tock klack, tock klack, tock klack, trommelten die Gehilfen und mein gesunder Fuß einen Rhythmus um die Wette. Hoffentlich kam mir niemand entgegen. Auf dem schmalen Flur wäre das Ausweichen eine wirkliche Kunst für sich geworden, und in meinem Nachthemd fühlte ich mich darüber hinaus sehr unangezogen, oder besser: halbnackt. Puh geschafft! Geschlaucht lehnte ich nun am Türpfosten. Der Pfleger von vorhin sah mir neugierig entgegen und wies mir einen Stuhl neben dem Schreibtisch zu, auf welchem das heißersehnte Telefon stand. Das war noch so ein ganz uraltes Ding mit Kordelschnur zum Vernudeln und Wählscheibe. Ich dachte immer, so etwas gäbe es nur noch in einem Technikmuseum. Aber das Schöne daran war, dass die Hörer noch so riesig waren, dass man sie bequem zwischen Schulter und Ohr einklemmen konnte. Wie ich den Zeigefinger in der Wählscheibe versenkte, überlegte ich fieberhaft, wie sich Kakashis Handynummer zusammensetzte. Die hatte ich zwar gespeichert, aber genau deshalb kannte ich sie gar nicht so recht auswendig, weil man sich stets nur auf die Rückwahltaste verließ. Hoffentlich landete ich nun auf dem richtigen Handy. Zweimal Freizeichen und der wortlose Anrufbeantworter ging ran. Ich sackte innerlich zusammen. Wenn der Telefonsklave abnahm, dann hatte mein Freund viel um die Ohren.

„Hey, hier ist Nina. Ich bin wieder wach“, sprach ich darauf.

Etwas Schlaueres war mir nicht eingefallen. Das war wohl auch ganz gut so, denn der Pfleger war nicht sonderlich diskret. Der hockte immer noch an dem Gruppentisch unmittelbar neben mir und hatte gespannt gelauscht. Ich dankte ihm und mit Tock-Klack machte ich mich auf den Rückweg in mein Zimmer. Das Tablett vom Abendessen war schon wieder abgeräumt. Ich hoffte, etwas Ruhe zu finden, denn eigentlich dürfte heute kein Personal mehr ins Zimmer schneien.
 

Spät war es, vielleicht so gegen Mitternacht, als es wieder einmal klopfte. Müde rieb ich mir die Augen. Der Mond hatte nun seine wahre Größe erreicht. Ein kreisrunder silberner Spiegel erhellte mein Zimmer ausreichend, dass man auf elektrisches Licht verzichten konnte. Es klopfte noch einmal. Nun mit etwas mehr Nachdruck. Nein, es war nicht die Tür, sondern das Fenster, welches nun lautlos von Außen aufgeschoben wurde. Ein wohlbekanntes Gesicht lugte um den Fensterrahmen. Kakashis heller Schopf leuchtete genauso hell wie der Mond. Er war unverwechselbar.

„Kommst du wie immer durchs Fenster?“ kicherte ich leise zu Begrüßung. „Die Nachtschwester rätselt schon ganz gespannt, wer sich immer an ihr vorbeischleicht.“

Obgleich Kakashi schnell das Fenster wieder hinter sich geschlossen hatte, war kühlende Nachtluft in einen viel zu warmen Raum nachgeströmt. Meine Lungenflügel flatterten und brachten mich zum Husten.

Ein besorgter Blick musterte mich gründlich. Finger schoben Haarsträhnen aus meinem Gesicht. Leise wurde ich herangezogen und umarmt, wie man ein lange vermisstes Schnuffeltuch umschlingt. Es tat einfach nur gut. Und endlich hatte ich das Gefühl, wirklich wieder zuhause zu sein. Sicher und geborgen.

42 - Der Tag, an dem es viele Fragen gab

Indes war ich zu meinem Bedauern wieder aus der liebevollen Schraubstockumarmung freigelassen worden. Es gierte in mir, wieder behütet und beschützt zu werden, weil mir ohne seine Obacht alles so haltlos und furchtsam schien. Ein leichtes Zittern überkam mich. Ob es nur von der bloßen Erschöpfung oder eher von der inneren Unruhe herrührte, vermochte ich zu dieser späten Nachtstunde nicht zu sagen. Ich war auch nicht sonderlich in der Verfassung, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Mit stiller Ungeduld verfolgten stattdessen meine Augen Kakashis Hände, wie aus schützendem Papier sorgsam eine weitere Blume ausgewickelt und in die Vase gestellt wurde. Ich kannte die Pflanze sogar. Schleierkraut. Für viele Menschen nur ein unbeachtetes Unkraut am Wegesrand, aber für die Auslese an Wildblumen neben meinem Krankenbett absolut passend. Und hatte Schleierkraut nicht auch sogar eine romantische Bedeutung? Ich wusste es gar nicht, nahm mir aber vor, dieses nachzuschlagen, sobald ich mich dazu wieder im Stande fühlte. Einige andere Blumen wurden aus der Vase herausgefischt. Die waren wohl schon länger dort, denn sie waren welk und verblüht. Trotzdem war der sommerlich frische Strauß hübsch und ein Seelenbalsam gegen die dunklen Winternächte und grauen Tage außerhalb des Krankenzimmers.

Ich seufzte innerlich, denn vermutlich hatte ich die romantische Ader meines Freundes mit dieser blumigen Aufmerksamkeit für den Rest des Jahres ausgeschöpft. Mit der Romantik war es bei dem Pragmatiker einfach nicht so weit her. Manchmal war er in einigen Punkten sogar schon dogmatischer Natur, was mit meiner Sprunghaftigkeit in keinster Weise kompatibel war. Da überraschte es mich jedes Mal aufs Neue, wie wir eine Balance zwischen uns fanden, wo wir doch unterschiedlicher nicht sein konnten. Bildlich gesprochen preschte ich mit meinem kreativem Übermut immer ein paar Schritte voraus, und Kakashi mit seinem Hang zur Nostalgie konnte da nur noch den Staub schlucken. Trotzdem schlenderte er symbolisch dann immer völlig unbeeindruckt mit den Händen in den Hosentaschen irgendwie hinterher, obgleich ich selbst schon wieder meinungstechnisch dreimal die Richtung gewechselt hatte. Vielleicht trafen wir deshalb immer wieder aufeinander, weil sich mein unsteter Zickzackkurs mit seinem ruhigem Fahrwasser kreuzte. Nein, eher drängte es sich mir ins Bewusstsein, wie sehr ich schon manipuliert worden war, dass ich wie ein unruhiger Trabant um ihn kreiste, wo ich mir doch geschworen hatte, dass mir so etwas nie wieder passieren würde. Und nun tat ich es.

Als sich Kakashi zu mir auf die Bettkante setzte, rutschte ich sofort eng an ihn heran. Direkt bei ihm war mein Kopf plötzlich so unglaublich leicht und leer geworden. Da waren alle schlechten Bilder wie ausgelöscht. Manchmal wünschte ich, nicht so furchtbar groß gewachsen zu sein. Wäre ich eine oder zwei Handbreit kleiner geraten, wie es die meisten Frauen hier im Feuer-Reich waren, so könnte ich meinen Kopf bequem gegen seine Schulter lehnen. Klappte aber in der Realität nicht so wie ersehnt. Selbst im Sitzen waren wir beide gleichgroß. Es betrübte mich ein wenig, mich nicht ganz klein machen und bei ihm verstecken zu können. Kakashi störte es wohl weniger. Längst hatte er wieder einen Arm um mich gelegt, wuschelte mir sachte durch die Haare und vergrub sein Gesicht darin. Zeichen einer stummen Freude, mich wieder zurück zu haben. Aber auch ein Zeichen, wie todmüde er gerade war. Da hätte man schon eher sagen können, er lehnte sich nur bei mir an, um nicht beim Einschlafen von der Bettkante zu purzeln.

Ich rieb mir müde durchs Gesicht und verspürte stechende Schmerzen. Hatte ich da etwa auch Verletzungen?

„Autsch...“, murmelte ich leise, weil ich eine Hautstelle gestreift hatte, die mir bis dato noch nicht bewusste gewesen war.

„Wie fühlst du dich?“

„Ich weiß nicht … Alles tut weh. Ständig dreht sich alles. Ich könnte die ganze Zeit nur schlafen... Und dann träume ich aber immer so eine gequirlte Scheiße...!“, beschwerte ich mich genervt.

Ich fühlte mich nicht nur wie vom Zug überfahren, nein, ich sah wohl auch so aus. Grün und blau am ganzen Körper. Schürfwunden besonders im Gesicht. Einige waren schon verheilt, andere verbargen sich immer noch unter dickem Schorf. Das wollte ich mir einmal in Ruhe ansehen, weil ich es kaum glauben konnte, obgleich es mit jeder Faser spürbar war. Kakashi riet mir ab, gab aber seufzend meinem Sturrkopf nach und kramte aus seiner Gesäßtasche eine Spiegelscherbe hervor, mit der man eigentlich in undurchsichtigen Arealen um die Ecke spionierte. Ich erschrak. Schrecklich, einfach nur schrecklich! Das entsellte Monster dort im Spiegelbild sollte ich sein? Das Mondlicht zeichnete die Konturen weich, konnte aber das ganze Ausmaß nicht verbergen. Das würde bald wieder verheilt sein, wurde ich getröstet. Genauso wie der Fuß und die restlichen lädierten Knochen. Mehr sorgten Kakashi die Bilder in meinem Kopf, doch wir waren beide nicht mehr gewillt, zur jetzigen Nachtstunde alles aufzuarbeiten. Nur das Nötigste an Worten in kurzen Sätzen wechselte den Besitzer, und das reichte mir schon, um verunsichert zu sein. Am liebsten hätte ich ihn festgehalten und nicht mehr losgelassen. Die Vernunft musste dem stumpfen Verlangen weichen. Und plötzlich kam eine unerwartete Hektik in meinen Schlaftablettenfreund. Nur ein flüchtiger Kuss und raus war der wieder aus meinem Zimmer. Ab durch die Mitte und durchs Fenster. Verdattert blickte ich über diesen flinken Abgang hinterdrein und schaute wohl mit Augen so groß wie Salatschüsseln dann zur Zimmertür, welche just in der Sekunde aufsprang, als Kakashi gerade noch das Fenster von außen zugeschoben hatte. Eine aktionsgeladene Schwester Kiri platzte herein und gab mit vollstem Übermut zum Besten:

„Ha, fast erwischt!“

Dabei streckte sie die Faust siegessicher zum Himmel und grinste so breit wie ein irrer Clown von einem Ohr zum anderen.

„Nächstes Mal erwische ich ihn!“

Sie brannte vor Neugier und strahlte Eifer und Tatendrang aus. Ich brach nur in schallendes Gelächter aus. Schwester Kiri hatte ihr höchst persönliches Katz-und-Maus-Spiel gegen meinem Freund eröffnet. Mal sehen, ob sie es jemals gewinnen würde.

Einmal Kissen aufschütteln, das dreckige Geschirr abräumen und neue Tabletten hinstellen. Und schon war sie ebenso zackig wieder hinaus gerauscht hinüber ins Nachbarzimmer. Man konnte ihre einprägsame, markante Stimme auch durch die Zimmerwand hören. Na denn, eine gute Nacht!
 

Meine Nacht blieb traumlos. Und das war auch gut so. Nur ein gleichmäßiges Rauschen begleitete meine ruhige Fahrt durch das Schlummerland. Das Rauschen verstärkte sich und trommelte bald einen gleichmäßigen Rhythmus. Langsam zwang ich mich, die Augen zu öffnen und erwartetet schon die gleißende Morgensonne, wie sie in den müden Augen brennen würde. Aber da war nichts dergleichen. Draußen regnete es in Strömen und die Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheibe. Auf dem Nachttisch neben mir war die Lampe eingeschaltet. Sie setzte mit ihrem Schein sanft mein Frühstück ins rechte Licht. So spät war es wohl schon? Ich hatte gar nicht bemerkt, wie mir das Tablett gebracht worden war.

Ich fühlte mich den Umständen entsprechend erstaunlich gut und schwang mich behände aus dem Bett. Nach wie vor eine schwierige Sache mit der Schiene am Fuß, doch es gelang unglaublich gut. Gestern noch hatte ich mich schlapp gefühlt. Heute ging es wesentlich besser. Zusammen mit meinen Gehhilfen überwand ich die kurze Entfernung zur Toilette und vergaß dabei nicht, auf dem Flur auf die Wanduhr zu schauen. Schon neun Uhr durch. Na, kein Wunder, dass man die Zeit nicht so recht einschätzen konnte. Bei dem Regen und den dicken Wolken da draußen wurde es gar nicht richtig hell, sondern blieb dämmerig.

Auf dem Klo angekommen, begutachtete ich nun auch endlich ausgiebig mein Gesicht. Der Spiegel über dem Waschbecken war so groß, dass ich auch meinen Oberkörper gut sehen konnte. Ja, es war übel. Man sollte vielleicht einfach an der Geschichte vom hässlichen Entlein festhalten, welches zu einem Schwan würde. Allerdings konnte ich mir keineswegs vorstellen, auch nur jemals im Leben an einen Schwan heranzureichen. Ich war einfach zu selbstkritisch mir und meinem Äußeren gegenüber. Seufzend verrichte ich mein Geschäft und vermisste nun eine Zahnbürste oder einen Waschlappen. Ein Handtuch und Seife wären auch super. Und ein frisches Nachthemd. Kakashi hatte versprochen, die Kinder heute vorbeizuschicken. Diese könnten es eh kaum erwarten, mich wieder aufgewacht zu erleben. Ich hoffte, sie würden an eine Tasche mit solch Utensilien denken.

Denken war sowieso das rechte Stichwort. Auf dem Klo konnte man gut denken, weil man nicht abgelenkt wurde, auch wenn es in meinem Krankenzimmer nicht minder Ablenkung gab. Aber allein der ansprechende Ausblick über die Dächer Konohas nahm die Gedanken mit und ließen sie abschweifen. So nahm ich mir die Freiheit einer langen Klositzung heraus, nur um mich und die Welt drumherum zu vergessen und mein aktuelles Leben zu ordnen.

Ich hatte so gut wie den kompletten Februar verpasst. Von dem Tage an, an dem ich von der Bildfläche durch den Sturz verschwunden war, bis zu dem Tag, wo man mich fand, war schon fast eine Woche verstrichen. Dann hatte die Rückreise auch noch einen guten Tag lang gedauert, und hier im Krankenhaus hatte ich seitdem gute weitere zwei Wochen verbracht. Einzelheiten hatte ich noch nicht erfahren dürfen. Das knappste hart an mir, einen Monat im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen zu haben.

Kakashis Vorsicht mir gegenüber kam nicht von ungefähr, als er mich gestern besuchte. Während ich schlief, war natürlich das Leben um mich herum weitergelaufen. Und so langsam sollte ich auch erfahren, warum ich zu Beginn so zaghaft in den Arm genommen wurde. Ich selbst hatte im Schlaf gar nichts mitbekommen. Meine Umwelt von mir jedoch sehr wohl und sehr viel. So wurde ich vor lauter Scham immer kleiner und kleiner und senkte schuldbewusst meinen Blick, als ich mir von ihm noch so einiges Unglaubliches über mich anhören durfte. Mich hatten die Entführer in ein Gen-Justu gesteckt, welches bei meiner Befreiung nicht richtig gelöst worden war. Demnach benahm ich mich wie ein Schlafwandler. Ich sollte erwacht sein, steckte aber noch immer halbwegs in der Illusion fest. Ich machte völlig unberechenbare Dinge und erkannte auch niemanden. Im Zuge dessen wurde mir klar, weshalb man mich nicht künstlich ernähren musste. Ich hatte jede Mahlzeit, die auf meinen Tisch gestellt worden war, auch gegessen. Und ich war auch regelmäßig zum Klo gehumpelt trotz des gebrochenen Fußes. Waren die vermeintlichen Wachphasen beendet, schlief ich wieder wie ein Stein in tiefstem Koma. Hatte ich die Augen geöffnet, so hatte ich auch alles mitbekommen, konnte die aufgenommenen Reize aber nicht verarbeiten. Und darin lag wohl das Problem, womit ich unbewusst in Schwierigkeiten geriet. Ich erkannte nur verworrene Zerrbilder, reagierte über und schlug wild um mich, weil ich dachte, ich würde bedroht werden. Auch Kakashi gehörte zu den Leidtragenden, die meine Faust vor einigen Nächten gegen seinen Kiefer zu spüren bekommen hatte, dass es nur so knackte. Ziemlich unverblümt hatte er über seine geschwollene Kauleiste kommentiert, dass er nun genaustens wüsste, wie ich damals die vier ANBUs verprügelt hätte. Gai hingegen hätte nur lästern gefragt, ob mein Freund und ich wohl Beziehungsprobleme hätten, denn trotz der Maskierung sah man, dass die eine Gesichtshälfte deutlich angeschwollen war. Wer den Schaden hatte, brauchte für Spott nicht zu sorgen. Kakashi hatte wie so oft den Filter in seinem Ohr aktiviert, Gais Gerede einfach stumm zu schalten, und hatte sich hinter seinen Schreibtisch verzogen.

Es klopfte ungeduldig an die Toilettentür. Und schon war ich wieder mit meinen Gedanken in der Gegenwart und bewusst darüber, dass ich mir mit anderen Patienten das stille Örtchen zu teilen hatte. Schnell zog ich meinen Schlüpfer wieder über den Po, auf dem nun schon ein knallroter, kreisrunder Abdruck von der Klobrille prangte, und drückte die Spülung.
 

Welch Freude erwartete mich da in meinem Zimmer. Yuuki und Asa waren zu Besuch gekommen. überschwänglich wurde ich angesprungen, umarmt und zu Boden gerissen, als hätte mich ein Rudel Hunde überfallen. Yuuki wollte mich gar nicht mehr loslassen und verbarg seine Tränen in meinem Nachthemd. Asa wedelte mit einer Beuteltasche vor meiner Nase herum:

„Papa hat gesagt, wir sollen mal alles einpacken, was man so braucht!“

Der Inhalt war kindgerecht. An Buntstifte, Kekse, eine Puppe und ein Märchenbuch hatte Asa gedacht. Yuuki hatte durchgesetzt, dass Hausschuhe, eine Yukata und mein Handy bestimmt auch eine gute Idee wären. Um den Sinn und Zweck von Waschzeug hatten die beiden gestritten und beschlossen, dass es nicht mehr in den Beutel passte. Dafür hatte aber noch ein Gästehandtuch Platz gefunden. Die beiden waren wirklich rührend. Ich lobte sie über den Klee, obgleich mein Gesicht bei dem Sammelsurium an „wichtigen“ Dingen wohl Bände sprach. Gemeinsam machten wir eine Liste, was mir noch fehlen würde. Währenddessen erzählten beide, wie sie die letzten Tage ohne mich verbracht hatten.

Natürlich waren sie total aufgeregt gewesen, als ich morgens gar nicht in meinem Hotelbett lag. Und als ich dann auch nicht unter der Dusche stand oder bereits vor ihnen das Frühstücksbufett geplündert hatte, wurden den beiden mulmig zumute. Asa fand ja, sie hätten mich auch auf eigene Faust suchen können. Immerhin würden sie nun schon bald ihre Zwischenprüfung an der Akademie machen. Da wäre man schon ausreichend Shinobi genug, um solch eine Befreiungsmission zu starten. Yuuki aber, der vor Panik mal wieder fast durchgedreht war, ließ Vernunft walten und trommelte solange und so laut gegen die Hotelzimmertür meiner Chefin bis nicht nur alle Hotelgäste, sondern auch der halbe Ort wach lag. Schneller als geglaubt, zog das Kreise in Konoha, wovon aber die Kinder nicht so sehr viel mitbekamen. Die wurden von einem Trupp ANBUS wieder in heimische Gefilde eskortiert und waren dann den Großteil der Zeit doch recht auf sich allein gestellt. Und obgleich Kakashi viel Zeit auf der Arbeit verbrachte und sich tagtäglich ein paar Stunden für die beiden freischaufelte, so rauften sie sich doch zu dritt irgendwie zurecht ohne sich großartig viel zu sehen. Zu Beginn schliefen alle Drei in Kakashis Wohnung. Doch nach ein paar Tagen wurde es allen zu eng. Also beschloss mein werter Sohn zu meinem größten Erstaunen, dass er doch schon zehn Jahre alt wäre und auch allein in seinem eigenen Bett schlafen könnte. Hui, ich war sprachlos! Yuuki allein zuhause. Frühstück machen ging super, aber das mit dem Wäsche waschen war ihm ein Rätsel, bis ihn Kakashi aufklärte, dass es sehr wohl einen Unterschied machte, ob man seine Klamotten auf 30°C oder 60°C wusch. Und nach Farben sortieren könnte grundsätzlich nur ein Vorteil sein. Hm, meine weißen Badetücher wären nun wohl alle himmelblau. Manchmal aber übernachtete auch Asa in unserer Wohnung, weil es dort ja den heißgeliebten Fernseher gab, den sie daheim vermisste. Kakashi sammelte sie dann mitten in der Nacht vor der Glotze auf, sah bei Yuuki nach dem Rechten und machte sich anschließend mit Kind und Kegel auf dem Rücken auf dem Heimweg. Asa hingegen hatte die Magie des Kochens, aber nicht den Zauber des Abwaschens entdeckt. Man konnte jeden Abend Nudeln mit Ketchup produzieren, bevor ihr Vater nach Hause kam und ihr zu verstehen gab, dass ihm die Küchenschlacht gar nicht behagte. Aber man musste immer eine volle Tüte Nudeln in den Topf werfen, fuhr sie ungehindert in ihren Erzählungen fort, weil man ja nur die Hälfte essen könnte. Immer würde die andere Hälfte wie ein Klumpen unten am Boden kleben bleiben, beschwerte sie sich. So was blödes! Ach, das Wasser müsste erst kochen, wenn man die Nudeln hinein geben würde? Nicht mein Ernst! Aber die Hunde fanden die Reste im Topf immer super. Da strahlte sie dann, dass sie alle so glücklich gemacht hatte. Ich konnte mir das ganze Chaos bildhaft vorstellen. Es gab ja noch so viele ähnlich gestrickte Abenteuer zu berichten.

Was alles so unbeschwert und normal klang, verursachte bei mir einen faden Beigeschmack. In Konoha war es Gang und Gäbe, dass Kinder sich selbst überlassen waren. Kakashi war bereits im Alter von acht Jahren für sich und sein Leben verantwortlich geworden. Da fiel es dem wohl gar nicht mal so sonderlich auf, dass ihrem Schicksal überlassenen Kinder nicht normal wären. Es mochte auch ein Zutun haben, dass er sich in der nun dauerhaft aufgedrückten Vaterrolle so rein gar nicht wieder fand. Keine Frage, Asa war ihm mehr als heilig, aber nun diese permanente Beständigkeit? Irgendwie lief das noch nicht so rund. Vielleicht lag es auch einfach nur ganz profan daran, dass es zum Berufsrisiko gehörte, auf einer Mission zu sterben. Der Tod, auch wenn er kaum Eingang in die öffentliche Diskussion fand, war immer allgegenwärtig. Es blieben dann die Familien zurück, die stets mit solch einem Verlust rechneten. Somit gab es viele Halb- oder gar Vollwaisen im Dorfe. Seit der letzte Krieg jedoch schon über elf Jahre zurücklag, stellte man bei der neueren Generation ein schleichendes Umdenken fest. Es gab nicht mehr so viele Shinobis wie früher und erst recht nicht so viele Missionen. Bei den Missionen ging es häufig nur noch um Nachrichtenübermittlung oder Geleitschutz. Ausspionieren war unter befreundeten Reichen out, geschah aber dennoch, wenn auch recht selten. Es war die erste Generation an Einwohnern, die sich um Hinterbliebene oder Traumatisierte kümmerte. Man musste nicht mehr mit sich allein sein. Ein guter Anfang.

Ich hingegen hatte nun den inneren Drang entwickelt, unbedingt ganz schnell wieder genesen nach Hause zu kommen. Das ging meines Erachtens so gar nicht!

Die Zeit verging wie im Fluge. Der Ärztetross zur morgendlichen Visite stapfte durch die Räume und erklärte mir, dass ich noch bis zum Wochenende hier verbringen müsste. Noch ganze sechs Tage! Sechs endlos lange Tage! Argh! Mein zweiter Seufzer an diesem Tag. Zur Mittagszeit verabschiedeten sich die Kinder von mir. Sie würden am Nachmittag alle notierten Dinge von der Liste mitbringen. Das taten sie dann auch. Wir vertrieben uns die Zeit, indem wir noch einige Runden Karten und ein Würfelspiel spielten. Und schon kam der Abend und die Kinder wurden von den Schwestern hinausgeschoben. Schlafenszeit für Kranke im Krankenhaus und für Kinder im heimischen Bett. Schweren Herzen verabschiedeten wir uns voneinander.
 

Kakashi tauchte diesmal viel früher am Abend auf. Ich hatte ihn schon bemerkt, als er von außen um den Holzrahmen spähte, ob sich Schwester Kiri endlich mal aus dem Zimmer hinaus bequemen würde. Heute nahm sie es besonders gründlich mit der Blutabnahme und dem Pulsmessen. Gern hörte ich ihr beim Reden zu, denn sie war so erfrischend herzlich, und der Dorftratsch nicht minder spannend. Zwischenzeitlich schaute ich immer wieder und wieder zum Fenster, auf dessen Scheibe sich wie schon den lieben langen Tag die Regentropfen perlten. Mein ständiges Wegschauen musste einfach auffallen, denn sie sprach mich sofort an, ob ich denn nervös wäre oder Panikattacken hätte. Ich schob es auf die Regentropfen und das unruhige Prasselgeräusch, konnte aber schlecht lügen. Sie glaubte mir sicherlich kein Wort. Hätte nicht ein Patient aus einem der anderen Zimmer nach ihr geklingelt, hätte sie vermutlich die halbe Nacht dort an meinem Bett gestanden, nur um endlich das Geheimnis meines nächtlichen Besuchers zu lüften. Nun aber musste sie sich von dannen trollen mit dem Hinweis, sie würde später auf jeden Fall noch einmal nachschauen, ob alles in Ordnung wäre. War das nun ein umsorgter Zimmerservice oder eine Drohung?

Kaum hatte sie die Tür geschlossen, als Kakashi schon auf dem Fensterbrett locker-lässig hockte und eine Hand zum unförmlichen Gruß hob.

„Jo!“, strahlte er unter einem weiten Regenponcho hervor, hatte eine große, durchweichte Papiertüte dabei, die kurz vor dem Aufreißen war, und fragte dann doch etwas geknickt: „Darf ich reinkommen?“

Klar durfte er das, und erbrachte einen großen Schwung Regen mit herein. Eine Wasserlache bildete sich zu seinen Füßen, obwohl er den Poncho umgehend abgestreift hatte. Als er kurz seine Haare ausschüttelte, duschte ich mit.

„Leider war die Auswahl so kurz vor Ladenschluss nicht mehr sonderlich groß“, entschuldigte er den Tüteninhalt, als er die Papiertüte auf meinem Bett abstellte.

„Ist doch gar nicht so schlimm“, winkte ich ab, war ich doch auch so schon ganz begeistert.

Die Krankenhausspeisung war wirklich gut, aber doch sehr genau auf das Gewicht des Patienten abgewogen und nicht abwechslungsreich. Reis mit Gemüse oder Gemüse mit Reis. Selten Fleisch oder Fisch. Da beherbergte Kakashis Einkaufstüte ein wahres Schlaraffenland. Zweimal Bento und ganz viel Süßkram. Bei der kleinen Flasche Rotwein guckte ich ihn dann doch ein bisschen fragend an.

„Du hast was mit dem Fuß und nicht mit dem Magen. Außerdem weiß ich, dass dir zu deinem Süßkram sonst irgendwas fehlt“, wurde ich pragmatisch belehrt.

Das stimmte wohl. Mittlerweile kannte er meine ungesunden Fressgewohnheiten nur zu gut. Nun saßen wir uns gegenüber auf meinem Bett wie auf einer Picknickdecke und hatten alles ausgebreitet. Genüsslich fischte ich aus der Bentobox eine panierte Garnele und ließ sie mir auf der Zunge zergehen. Mit dem Rotwein rundete ich den Geschmack in meinem Mund ab. Eine pure Geschmacksexplosion. Ha, das war herrlich! So kehrten Lebensgeister wieder viel besser heim als bei diesem ganzen therapeutische Wahnsinn. Ich grinste selig wie ein Brummkreisel.

Die Regenfront war vorübergezogen. Die Wolkendecke wurde vom Wind zerfetzt und riss auf. Endlich schaute der Mond wieder auf die Erde herab. Obgleich schon gestern Vollmond war, so reichte auch heute noch sein Licht aus, das Zimmer so zu erhellen, dass wir das Lampenlicht löschen konnten. Schwester Kiri sollte nicht denken, ich wäre eingeschlafen und hätte das Licht vergessen auszuschalten. Dann stünde sie sicher gleich wieder auf der Matte. Der Mond, Kakashi und ich waren aber eine weit aus bessere Kombination, als ein Quartett mit Schwester Kiri.

„Warum ist das ein Hase?“, starrte ich verträumt, fast schon philosophisch, den Mond an und schob dabei den Garnelenschwanz von einem Mundwinkel in den anderen.

„Wie kommst du da jetzt drauf?“

Manchmal waren Kakashi meine Gedankensprünge zu suspekt. Er dachte kurz nach und erzählte mir dann eine kleine Legende:

„Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte noch richtig zusammen bekomme. In einem Wald lebten ein Fuchs, ein Affe und ein Hase friedlich zusammen. Der Herr des Himmels fand die Freundschaft der Dreien sehr ungewöhnlich und suchte sie verkleidet als alter Mann auf, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die drei Tiere wollten abends am Lagerfeuer ihre Gastfreundschaft zeigen. Der Fuchs brachte Fisch und der Affe Nüsse mit. Der Hase aber aß ja nur Gras und konnte dem alten Mann nichts anbieten. Also sprang er ins Feuer und bot sich selbst als Speise an. Davon war der Alte so gerührt, dass er den Hasen wieder zum Leben erweckte. Der Qualm zeichnet noch heute die Gestalt des Hasen auf den Mond.“

„Verstehe. Und wieso stampft der in einem Bottich?“, bohrte ich weiter.

„Du hast Fragen ...“, kam die seufzende Antwort, führte aber dazu, dass Kakashi nun ebenfalls den Mond anstarrte.

„Wo siehst du da einen Bottich?“

Ich fuchtelte mit den Armen und bildete mit den Fingern einen Rahmen, um den Bottich besser präsentieren zu können, doch wenn man die Fantasie nicht spielen ließ, so sah man auch keinen Bottich. Nichts zu machen. Also Themenwechsel!

„Du, sag mal! Wie habt ihr mich eigentlich so schnell gefunden? Ich hätte ja überall sein können“, klapperte ich meinen angestauten Fragenkatalog weiter ab.

Die Reaktion war erstaunlich, denn für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte er zur Salzsäule und hätte sich beinahe an der Reisbeilage verschluckt. Trotz des Dämmerlichtes sah ich dem ganz klar an, dass der rot wurde. So, so. Da steckte wohl mehr dahinter. Mein Brummkreiselgrinsen wechselte zur Diabolik. Ich hatte den Spaß gefunden und nun angebissen.

„Na, du hattest halt Glück, dass Shikamaru und Temari eh auf den Weg zur Sitzung der Shinobi Union waren. Die findet ja im selben Ort statt“, kam eine ausweichende Antwort, aber am liebsten hätte er sich wohl in der Bentobox versteckt.

Na, das war doch nicht die ganze Wahrheit. Bildete sich da nicht schon eine Schweißperle?

„Und weiter?“, griente ich.

„Nichts weiter!“

„Wie jetzt? Nichts weiter?“

Aus der Nummer gab es kein Entkommen. In meinem Kopf formte sich nun endlich ein Klarbild zu den verzerrten Spiegelungen aus meinen Träumen. Das Schattennetz war Shikamarus Jutsu. Der Pfau, der das Rad schlug, war niemand geringeres als Temari und ihr großer Fächer. Soviel hatte ich schon durchschaut. Der Apfelschimmel, der Apfelschimmel … Überrascht schlug ich mir mit der Hand vor die offenstehende Futterluke.

„Sag' bloß nicht, DU hast mich den ganzen Weg Huckepack nach Hause geschleppt?!“

„Naja, Dank des Gen-Jutsus hast du ja auf alles eingeprügelt, was dir in den Weg kam... Von den blauen Flecken auf meinen Oberschenkel hatte ich die ganze Woche was von. Du hast aber auch zugetreten ...“

Nun war ich diejenige, die beschämt dreinblickte. Aber trotzdem vergaß ich die Frage des Abends nicht.

„Und wie habt ihr mich nun gefunden?“

„Ich hab einen Teil deiner Kleidung mit einem Jutsu markiert.“

Nun war es raus und ich grübelte, welche Teile es wohl sein könnten. Es musste ja etwas sein, was ich auf jeden Fall anziehen würde. Über meinem Kopf flammte ein ganzer Kronleuchter der Erkenntnis auf.

„Du kleine Drecksau! Das ist jetzt nicht das, was ich denke? Hat das einer mitbekommen?“, keifte ich leise, aber dennoch tadelnd los, um keinen Lärm zu verursachen.

Innerlich lachte ich mich kaputt. Auf solche Ideen konnte nur Kakashi kommen. Der kam nun ziemlich ins Schwitzen und Stottern, weil das Thema bei ihm immer ein Schwitzen und Stottern verursachte. Maaaannn, dabei waren wir doch schon über ein Jahr zusammen. Einfach nur zum ungläubigen Kopfschütteln.

„Ich hatte so ein ungutes Gefühl bei der Sache, als ich las, mit wem deine Chefin Handel betreibt... Aber du hattest für die paar Tage ja ein halbes Kaufhaus eingepackt... Und deine Unterwäsche würdest du auf jeden Fall anziehen... Das war das einfachste, die fix zu markieren. So hab ich dich gefunden. Und das hat bestimmt auch keiner gemerkt... Deine Entführer leben jedenfalls nicht mehr...“, wurde sich da um Kopf und Kragen geredet.

Nein, die lebten nicht mehr. Das war der unschöne Teil der Geschichte. Nichts anderes als Kakashis „Ayatsuito no Jutsu“ hatte sich den Feinden um den Hals gelegt, sich tief in die Haut einritzt, bis das Blut nur so spritzte, und ihnen die Kehlen durchschnitten. Es war eine Art von eiskalter Brutalität, die bei meiner Befreiung nicht von Nöten gewesen wäre. Die von allen Anwesenden vor Ort schon seit Ewigkeiten nicht mehr von Kakashi erwartet worden wäre und alle still verstummen ließ. Der Kampf war längst beendet. Die Gefangenen gemacht. Als Kakashi den Ort des Verbrechens erreichte, genügte wohl der Anblick einer Sherenina, die wie eine blutüberströmte Biomasse aussah, aber tobte wie eine Furie. Kein Fragen nach dem Warum? Und Wieso? an die Gefangenen. Er schritt bedächtig an ihnen vorbei zu mir herüber und würdigte ihnen keines Blickes. Ein Fingerzeichen, drei Menschen tot. Ein Schalter hatte sich in seinem Kopf umgelegt und die alte Dunkelheit wieder herausgelassen.

Und nun hockte er da. Mein Freund mit seinen zwei Gesichtern. Der einfach nicht aus seiner Vergangenheit herauskam, so sehr er sich auch bemühte. Ganz nahe bei mir war er wie ein Häufchen Elend und wartete auf meine Reaktion, weil er genaustens wusste, dass mir solche Methoden zuwider waren. Für mich kämpfen: Ja, gerne! Aber für mich töten? Ich fand keine Antwort.

Man hätte vielleicht darüber explodieren und eine Szene machen können. Oder ihn rausschmeißen können. Für immer und ewig. Doch ich hatte etwas anderes gelernt, seit ich ihn kannte und liebte. In den Arm nehmen, verzeihen und trösten.

43 - Der Tag, an dem ich auf den Hund kam

Ûhei hasst Supermärkte. Und noch viel mehr hasste er die Drogerieabteilung. Supermärkte waren dem großen, braun-weißen Ninken generell viel zu überfüllt. Menschen hetzten durch die labyrinthartigen, himmelhohen Regalgänge, stierten unschlüssig die grell-bunte Verpackungsware an und schoben ihre Einkaufswagen wie metallische Schutzschilde vor sich her, welche gnadenlos den Weg freiräumten. Dabei vergaßen die Menschen doch sehr häufig, dass zu ihren Füßen manchmal auch kleinere Wesen ihren Weg suchten. Diese wurden dann glatt mal über den Haufen gefahren. Schmerzvoll gequetschte Zehen und Pfoten waren die Folge. Und erst diese ganzen Gerüche, welche die feine Hundenase malträtierten, waren furchtbar. Besonders zwischen all dem Waschpulvern, Shampoos und Deoflaschen war es besonders grässlich. Nein, ein Supermarkt war einfach kein guter Platz für einen Hund. Es musste wohl auch genau deshalb ein Zusammenhang zwischen dieser Feststellung und dem Hundeverbotsschild an der Ladentür bestehen.

Warum Ûhei nun ausgerechnet solche Schilder absolut desinteressiert übersah, stand auf einem anderen Blatt. Es mochte das Angebot an Tiernahrungsmitteln sein, welches den Hund magisch anlockte. Zwar war er kaum bestechlich, doch irgend ein Laster hatte jedes Lebewesen. Und für Hunde gab es anscheinend nirgends bessere Leckerlis aus Rindfleisch zu ergattern als eben in diesem Einkaufsparadies. Tag für Tag. Man könnte sogar behaupten, Ûhei wäre ein Leckerli-Junkie.

Kakashi kaufte so gut wie nie Leckerlis für sein Rudel, denn davon würden die Hunde zu schnell zu fett werden, meinte er dann immer. So blieb solch einer verfressenen Hundeschnauze wie Ûhei sie hatte nichts weiter übrig, als sich selbst um das unnütze Zusatzfutter zu kümmern. Dazu robbte er absolut sehenswert am Eingang durch die Obststände, ließ den Lebensmittelbereich links liegen, kürzte rechts herum durch die Haushaltswarenregale ab und kroch dann unter den Bekleidungsständern hindurch, bis er gerade noch mit einem Beutel Leckerli im Maul kurz vor dem Ausgang erwischt und rausgeworfen wurde. Ansonsten gab es für den Vierbeiner eigentlich keinen Grund, durch den Supermarkt zu schleichen. Aber ihn beim Klauen zu beobachten, sah einfach zu komisch aus. Er nahm es dafür sogar billigend in Kauf, sich jedes Mal großen Ärger einzuhandeln. Na, ob das nun für einen gut ausgebildeten Ninjahund stand, dass er so häufig erwischt wurde? Ich zweifelte ein wenig an ihm. Trotzdem blieb er mein absoluter Liebling.

Also beschloss Kakashi, einmal andere Seiten bei dem beschworenen Vierbeiner aufzuziehen. Ûhei wurde zum Hütehund degradiert, der nichts anderes zu tun hätte, als eben mich zu behüten. So hätte er eine dauerhafte Aufgabe und ich wiederum hätte einen ständigen Begleiter, weil ich zeitweilig unter Panikattacken litt, sobald ich mich allein und verlassen fühlte. Eine Win-Win-Situation, befand Kakashi. Somit war es eine beschlossenen Sache, dass mir Ûhei seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus nicht mehr von der Seite zu weichen hätte. Ich hingegen fand das schon etwas verrückt, denn ohne Chakra würde doch so ein vertrauter Geist einfach wieder irgendwohin verschwinden. Ich hätte doch noch nicht einmal einen blutbesiegelten Pakt mit Ûhei geschlossen. Warum sollte der bei mir bleiben? Nun gut, wir verstanden uns beide sehr gut. Als ich letztes Jahr in Otafuku auf dem Festival unterwegs war, hatte er mich auch begleitet. Doch ein Ninken war kein normaler Hund. Die tickten anders. Sie hatten Chakra und beherrschten antrainierte Jutsus. Und sie konnten sprechen und komplexer Denken als normale Hunde, was nicht unbedingt heißen sollte, sie wären nun sehr viel schlauer. Hunde blieben dann doch irgendwie Hunde. Das stimmte wohl, wurde ich aufgeklärt, aber die Ninken wären mittlerweile alle in Konoha oder in der näheren Umgebung beheimatet und würde in der Zeit, wo sie von Langeweile geplagt würden, nur noch Blödsinn im Kopf haben. Das lag im Großen und Ganzen daran, dass Kakashi kaum noch aus dem Büro und dem Dorf herauskam. Wenn Kakashi die Hunde also irgendwo in der großen, weiten Welt zu sich rief, so rief er sie aus den Straßen oder den Wäldern des Dorfes herbei, wobei die Hunde mittlerweile sehr häufig seine Wohnung in Beschlag genommen hatten. Ich hätte sie nur noch nie so oft bei ihm daheim gesehen, weil er sie dann vorher immer rausschmeißen würde. Die Wohnung wäre ja nur so klein und überhaupt, meinte Kakashi. Aha! Wieder etwas gelernt. Es verstand sich meines Erachtens ganz von selbst, das Rudel vor die Tür zu schicken. Tierische Zeugen bei Bettgeschichten brauchte niemand. Zu dem Thema „Blödsinn im Kopf“ musste ich innerlich lachen, weil wir das Sprichwort einfiel: „Wie der Herr so das Gescherr!“ Blieb nur die Frage zu klären, wer da wem in manch wenigen Dingen immer ähnlicher wurde.
 

Mit Ûhei an meiner Seite durch die Straßen zu gehen, tat meiner Seele gut. Langsame, kurze Spaziergänge verhalfen mir, wieder zurück in den Alltag zu finden. Meine Entführung hatte Spuren hinterlassen. Nachts träumte ich nach wie vor schlimme Dinge. Dann wachte ich manchmal schweißgebadet auf, hatte Atemprobleme und Herzrasen. Tagsüber zuckte ich zusammen, wenn ich Geräusche vernahm, die ich nicht zuordnen konnte. War meine Familie aus dem Haus, fürchtete ich, verfolgt und überwacht zu werden. In der nächste Woche wollte ich eigentlich wieder in die Hauptstadt zur Arbeit pendeln, aber mein Freund riet mir ab. Es wäre alles noch viel zu frisch. Es würde nicht schaden, wenn ich nicht zur Arbeit fahren, sondern mich stattdessen gründlich auskurieren und wieder Sicherheit finden würde. Sicherlich hatte er recht, doch war ich mit Hummeln im Allerwertesten auf die Welt gekommen und konnte kaum stillsitzen. Der Weg durch die vertrauten Straßen mit der Gewissheit, beschützt zu sein, war heilsamer Balsam. Heute wollten der Ninken und ich eine längere Tour wagen. Erst am Flussufer entlang, bei den Kirschbäumen vorbei und dann in die vom Hund verhasste Drogerie. Die Ausläufer des Winters waren lang in diesem Jahr. Es war noch immer recht frisch für die Jahreszeit. Im Feuer-Reich würde man üblicherweise Anfang März wegen der milden Temperaturen die Winterjacken wieder in die Kleiderschränke zurückhängen und schon im Pullover herumlaufen. Den trug ich zwar eben auch, hatte aber zusätzlich noch ein T-Shirt untergezogen und einen dicken Schal umgewickelt, weil ich die kühle Brise auf der nackten Haut am Hals nicht mochte. Auch heute wehte wieder ein frisches Lüftchen. Die Böden und Wege waren teilweise noch gefroren. Wo sie bereits aufgetaut waren, versank man in knöchelhohem Matsch. Wir verharrten kurz unter den Kirschbäumen, weil mein Fuß eine Pause benötigte. Normalerweise würden Mitte März die Knospen an den Bäumen kurz vor dem Öffnen stehen. Doch diesmal war noch alles Grau in Grau. Kahle Äste schmückten sich gerade mal mit winzigen Ansätzen von sehr kleinen Knospen. Die Blüten würden sich wohl erst im April entfalten. Ja, es dauerte alles irgendwie länger in diesem Jahr. Seit gut einer Woche war ich nun wieder daheim. Mein Fuß wollte nur schlecht verheilen. Zwar brauchte ich keine Krücken mehr, hatte aber beim Gehen noch eine Schiene zu benutzen und leichte Schmerzen zu ertragen. Fußprobleme lagen wohl anscheinend in der Familie. Mein Sohn war letztes Jahr im Februar auf dem Weg zur Schule über die Dächer gehüpft und abgerutscht. Da hatte es Yuuki mit seinem Knöchelbruch leichter gehabt. Der war dank Chakratherapie nach wenigen Tagen wieder verheilt. Ich aber musste genervt abwarten, bis der langsame, aber stete Heilungsprozess abgeschlossen war. Unfair!

Bei meiner Entlassung glaubte ich zu spüren, dass das halbe Krankenhaus aufatmete, mich endlich los zu werden. Längst hatte der Buschfunk in den sterilen Gängen getrommelt, dass dort in einem Einzelzimmer eine verrückte Schlafwandlerin wäre, die alles kurz und klein prügeln würde. Eine kräftige rechte Faust hätte ich wohl, die immer, wirklich immer, treffen würde. Und das Losschlagen wäre unberechenbar. Da konnte die Belegschaft nur froh sein, mich endlich entlassen zu können. Nur Schwester Kiri tat mir ein bisschen leid. Sie hatte ihre Jagd nach dem geheimnisvollen Jo-Nin verloren und seine Identität nicht lüften können. Bei der Verabschiedung wirkte sie sehr geknickt. Trösten wollte sie sich mit dem Gedanken, dass sie es wohl mit einem ziemlich guten Jo-Nin zu tun haben müsste. Da gab man doch gern klein bei. Das sollte ich doch meinem Freund einmal lobend ausrichten. Ach, winkte ich da nur herunterspielend ab und entgegnete ohne zu viel zu verraten, dass der besagte Jo-Nin früher mal bessere Zeiten gehabt hätte. Mit der Aussage wurde ich von Schwester Kiri nur ganz entgeistert angeschaut.

Soviel hatte ich selbst ja nun schon gelernt, dass wohl damals mit dem Sharingan alles wie geschnitten Brot lief und heutzutage nach dem bedauerlichen Verlust nicht mehr so sehr. Es hatte wohl viel Training und Tüftelei seitens Kakashis gebraucht, sich neue Jutsu zu basteln, welche die Sharinganlosigkeit kompensierten. Aber das brauchte ja keiner so genau zu wissen. Ich hatte mir einmal versucht auszumalen, wie er wohl mit diesen zwei verschieden farbigen Augen ausgesehen haben musste. Ein dunkelgraues, normales Auge und ein leuchtend rotes Auge mit schwarzem Muster. Vermutlich hätte ich mich zu Tode gefürchtet und wäre schreiend weggelaufen. Beziehungsförderlich wäre das wohl nicht für uns beide gewesen. Eher unheimlich und das Ende vom Anfang.

Ûhei und ich setzten unseren Weg fort. Am Ende des Kirschbaumhaines führte eine Holzbrücke über den Fluss zurück in Richtung Stadt. Mitten auf der Brücke verweilte ich kurz am Geländer und sah auf das kristallklare Wasser hinab. In ruhigen Bahnen floss es unter uns hinweg. Man konnte bis auf den Grund sehen. Ein Fischschwarm passierte das Brückenhindernis. Als er den Holzpfosten ausweichen musste, teilte sich der Schwarm kurz. Noch war das Holz der Planken vom letzten Regen nicht ganz getrocknet. Es tropfte auf die Wasseroberfläche hinab. Trotz des seichten Wasserstromes bildeten sich Kreise auf der Oberfläche, wo sich die Tropfen von der Brücke mit dem Fluss vereinten. Mir kam die Erinnerung zurück vor Augen, wie ich an Kakashis Händen damals mitten auf dem Fluss gestanden hatte. Es war so unglaublich und so wunderschön gewesen. War das tatsächlich schon eineinhalb Jahre her? Die Zeit raste.

Wir ließen die Brücke hinter uns, folgten der Hauptstraße des Viertels und bogen dann in eine Seitengasse. Recht unscheinbar und heruntergekommen stand dort eine sehr schmale Lagerhalle, in welche seit einem guten halben Jahr ein ganz besonderer Supermarkt eingezogen war. Außen pfui, aber innen hui! Ich war schon durch die gläsernen Schiebeeingangstüren eingetreten, als ich feststellte, dass mir etwas fehlte. Wo war der Hund? Der saß trotzig noch draußen und wollte partout nicht mit hinein. Doch heute half kein Winseln und kein Jaulen. Mein Waschpulver daheim war aufgebraucht, und die Kinder hatten es mir vom Einkauf nicht mitgebracht, weil es an meiner vergesslichen Wenigkeit gelegen hatte, es auf dem Einkaufszettel nicht zu notieren. Und außerdem gab es auch spezielle Dinge, die notierte man nicht auf einem Einkaufszettel, die man Kindern mitgab.

Mit hängenden Lefzen trottete Ûhei hinter mir her und machte einen übertrieben Eindruck voller Leid und Qual. Gern hätte ich ihm meine Odyssee durch die Drogerieabteilung erspart. Aber ich hatte diesen Laden noch nicht so oft besucht, und das Sortiment war hier anders in die Regale einsortiert, als in anderen Geschäften, die ich sonst aufsuchte. Ich musste also erst ein wenig suchen. Mittlerweile nannte ich diesen Laden nur noch den „Wunderladen“. Es musste bei der Auswahl der Produkte der Wettbewerb geherrscht haben: „Wie bekommt man möglichst viel Ware auf möglichst wenig Platz?“ Es gab hier alles. Und wenn ich sage alles, dann meine ich alles. Neben Lebensmitteln, Haushalt und Drogerie, gab es auch Elektronik, Möbel, Teppiche, Farbe, Holz, Fahrräder, Geschirr, Camping, Sport und so weiter und so fort. Bis an die Decke stapelten sich die Dinge. Und dass alles in dieser einen einzigen Lagerhalle, wo anderorts platztechnisch ganze Einkaufszentren von Nöten wären.

Endlich hatte ich den Gang mit den Waschmitteln gefunden und suchte ihn Meter für Meter ab. Es gab einfach viel zu viel Auswahl. Gefunden! Auf zur nächsten Suche. Ich wechselte von einem Gang zum nächsten.

„Was suchst du denn jetzt noch?“, jaulte es verzweifelt vom Hauptgang.

Ûhei lag dort auf den kühlen Fliesen, hatte alle Viere von sich gestreckt und schnappte nach Luft. Die Nase zuckte unruhig, und das Weiß seiner Augenäpfel war zu sehen. In seinem Hirn tanzten bestimmt schon bunte Sterne. Nun tat er mir doch ein bisschen Leid. Trotzdem musste ich bei seinem Anblick ein innerlich grinsen. Ich biss mir auf die Zunge, um mir nichts anmerken zu lassen.

„Hab's ja gleich!“, rief ich unbeeindruckt zu ihm zurück und hielt dann ganz in seiner Nähe inne, weil ich das Ziel erreicht hatte.

Perplex starrte ich dann auf das ausgedünnte Angebot. In Konoha musst der Frühling ausgebrochen sein, denn viele Haken mit den Kondomverpackungen gähnte leer. Auch die Sorte, welche wir nutzen, war aus. Na so was. Während ich noch überlegte, in welches Modell sich mein Freund nun einzutüten hätte, hatte ich nicht bemerkt, wie der Hund sich zwischenzeitlich neben mich gesetzt hatte und mich von der Seite her prüfend anblickte.

„Wollt ihr keinen Wurf? Aber du bist doch eben läufig?“

Bitte was? Woher wusste er denn nun das wieder? Roch der das? Ich war von dieser Frage in dem Moment so überfahren worden, dass ich irritiert hervorbracht:

„Wir haben doch schon zwei Kinder.“

Zwei reichten definitiv hin. Beim Umzug im vorletzten Jahr fiel mir ein Karton mit Yuukis alten Babysachen in die Hände. Da war gar nicht so viel drin. Nur einzelne, wenige Stücke, die ich besonders mochte und niedlich fand. Ein alter Strampler. Ein Schlafsack. Winzige Strümpfe und eine weiche Mütze. Eine hübsche Rassel und drei Milchflaschen aus Glas. Ganz süße Babyfotos in einem Fotoalbum. Ich hatte es schon vermisst. Kaum zu glauben, dass mein Sohn da jemals in den Strampler hineingepasst hatte. Und nun war er schon so groß gewachsen und reichte mir fast bis an die Schulter. Manchmal hatte ich schon das Bedürfnis nach einem zweiten Kind gehabt. Doch jahrelang hatte der passende Mann an meiner Seite gefehlt. Kenta war einfach nicht zurückgekehrt. Die Arbeit hatte mich aufgefressen. Wenigstens hatte sich Yuuki als unkompliziertes Kind entpuppt. Jetzt war ich, so blöde es auch klingen mochte, zu alt für ein zweites Kind. In ein paar Tagen würde ich schon siebenunddreißig Jahre alt werden. Klar könnte man da noch ein Kind bekommen, dennoch ich fühlte mich dem nervlich nicht mehr so gewachsen wie noch vor gut zehn Jahren, als mein Sohn zur Welt kam. Yuukis Kleinkindphase war eine schöne, aber auch anstrengende Zeit gewesen. Die mochte ich nicht missen. Aber nun war ich doch froh, dass er aus dem Gröbsten heraus und so selbstständig war. Da bahnten sich nun ganz neue pubertäre und schulische Phasen an. Dazu konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, noch so einen kleinen Wurm auf dem Arm zu haben, der einem unaufhörlich ins Ohr quakte, weil er Hunger oder die Windel voll hatte.

Ich hatte Kakashi mal schräg von der Seite angeschaut, als er hatte verlauten lassen, er hätte ja schon fünf Kinder. Als er dann aber lachend im Nachsatz meine Irritation auflöste, war ich doch gleich wieder entspannter. Es wären, wie mir bereits bekannt, nur ein einziges Leibliches und aber noch Vier im Herzen. Und Drei davon wären glücklicherweise schon erwachsen. Das würde ihm, der sowieso niemals über eine Familie nachgedacht hatte, bei Weitem ausreichen, weil er sich für absolut familienuntauglich hielt. Von dem ganzen Dorf, was er noch zu bemuttern hatte, wollte man gar nicht erst reden. Somit war unsere Linie klar, ohne dass wir jemals viel darüber gesprochen hatten: keine zusätzlichen Kinder. Trotzdem konnte ich nicht nachvollziehen, warum er sich als nicht familientauglich bezeichnete. Kakashi setzte sich generell selber unter Druck, mit allem was er tat, seinen Mitmenschen und sich selbst nicht zu genügen. Seine Fähigkeiten, die von vielen bewundert wurden, sah er nicht auf dieselbe Weise an, sondern stempelte sie als mittelmäßig bis wenig ausreichend ab. Ein seelischer Knacks, basierend auf vielen Fehlentscheidungen und Niederlagen, gegen den noch kein Gegenmittel gefunden worden war.

Ich wusste nun nicht, ob ich über Ûheis tierische Wortwahl lachen oder ihn wegen seiner Indiskretion schelten sollte. Sicherlich waren dem nur die ganzen Parfümdüfte zu Kopfe gestiegen und war nun im Hirn wohl total benebelt. Nein, Ûhei war sich seiner Worte im öffentlichen Raum nicht bewusst. Er hatte artig neben mir Platz gemacht, sich mit dem Hinterlauf am Ohr gekratzt und mich mit großen Augen recht emotionslos angeschaut. Wie Hunde das halt so machen. Ich überlegte, ob Hunde auch so etwas wie Liebe untereinander empfanden oder ob sie sich einfach nur stumpf fortpflanzten. Weiter überlegte ich noch, ob es an Ort und Stelle wirklich Sinn machte, sich mit ihm über den Unterschied an Empfindungen zwischen Mensch und Tier auseinanderzusetzen. Zwei weitere Kunden im Gang gingen kichernd und tuschelnd an uns vorbei, hatten sie wohl Ûheis vorlautes Mundwerk mitbekommen. Nun ja, seine Ausdrucksweise war aber auch zu komisch. Und so fuhr er nun ungeniert fort.

„Und wieso paart ihr euch dann so oft?“

„Wieso oft? Und was soll überhaupt diese Fragerei?“

Pff, was verstand der unter „oft“? Als ob wir es unentwegt treiben würden. Also, nee. Das taten wir sicherlich deshalb schon nicht, weil wir uns gar nicht so regelmäßig sahen, wie wir es gerne würden. Nun war ich doch irgendwie gereizt. Mal ehrlich, ich wurde inmitten eines Supermarktes von einem Hund über mein Sexualleben ausgefragt. So langsam wurde es mir peinlich. Der Markt war gut besucht. Wir waren hier in der Drogerieabteilung definitiv nicht unter uns. Ich hatte das dringende Bedürfnis, meinen Einkauf zu bezahlen. Also peilte ich schon mal mit den Augen die Kasse an und setzte mich dann, so flink es mit dem kaputten Fuß möglich war, in Bewegung.

Es rumorte weiterhin in dem kleinen Hundeschädel. Da war einfach keine Ruhe unter der pelzigen Kopfhaut zu finden. Ich hatte gerade die Sachen auf das Kassenband gelegt, da folgte nun der nächste Knüller aus seiner Schnauze heraus:

„Stört es dich eigentlich, dass er dir ständig untreu ist?“

„WAS?!?!?!?“, schrie ich es im Affekt aus mir heraus, dass es garantiert über alle fünf Groß-Reiche hinweg hallte.

Dass draußen vor der Tür die Vögel auf dem Baum aufschreckten und in die Höhe flatterten oder der Postbote zuckend seine Briefe aus den Händen verlor, war bestimmt kein Zufall. Nun hatte ich definitiv das, was ich auf gar keinen Fall haben wollte. Es war mucksmäuschenstill in dem Laden geworden. Die Zeit war eingefroren. Alle nur erdenklichen Augenpaare waren auf mich gerichtet. Auf mich und den Hund, den ich am Halsband gepackt und in die Luft gerissen hatte. Dieser strampelte unkonditioniert mit den Pfoten herum, würgte um sein Leben und jaulte. Panisch blickte er mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich musste wohl so sauer ausgesehen haben, dass er glaubte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Da hatte er alle großen Missionen, Schlachten und Kriege überlebt und würde nun hier in einem billigen Supermarkt sterben, weil ihm etwas über die Lefzen gerutscht war, was er wohl besser nicht hätte aussprechen sollen. Welch ein bitteres Schicksal.

So weit sollte es nicht kommen. Schnell kam ich zu mir. Mit einem hochroten Kopf voller Wut und peinlicher Berührtheit zahlte ich wortlos meine Ware und machte, dass ich davonkam von diesem Ort voller Aufmerksamkeit. Ûhei zog ich einfach am Halsband hinterher. Man konnte sich gar nicht vorstellen, was ein Hund so wog, wenn man den ziehen musste. Wie ein Reissack. Und schon waren wir wieder draußen auf der Straße.

Der Wind war kälter geworden. Er kühlte meinen heißen Kopf und mein hitziges Gemüt. Tief und fest saugte ich die Luft auf und pumpte sie in meine Lungenflügel. Dabei zählte ich langsam die Zahlen von Zehn bis Null runter. Der Ninken brauchte länger mit der Regeneration. Der lag auf den Pflastersteinen wie ein Löwenfellteppich und japste.

Er tat mir leid, wie er da so lag.

Es tat mir leid, so überreagiert zu haben.

Was auch immer Kakashi trieb: Ûhei konnte nichts dafür. Ich kniete mich zu ihm herunter, las in von der Straße auf und umschlang ihn wie ein Stofftier. Dabei stammelte ich entschuldigende Worte und vergrub mein Gesicht in seinem Fell. Wir waren doch Freunde und wollten es auch bleiben. Ûhei hätte einfach so in einer Wolken verpuffen und sich weg teleportieren können. Tat er aber nicht. Also war es ihm wichtig und ich glaubte sogar zu erkennen, wie er über seine Wortwahl nachdachte. Da war wohl etwas schiefgelaufen. Wir rauften uns zusammen und gingen nach Hause. Schweigend und nachdenklich. Mir kam in den Sinn wie mich meine Eifersucht schon einmal aufgrund eines Missverständnisses in den Knast gebracht hatte. Ich hatte es einfach nicht im Griff, mich zu beherrschen. Wie bescheuert! Was hatte ich denn zu befürchten? Gar nichts! Kakashi war eine treue Tomate. Völlig ausgeschlossen, dass der noch eine Zweitfrau hatte.

Ich überwand mich und hakte nach, was Ûhei über Kakashi gemeint haben könnte. Na, er würde doch ständig mit seiner Nase in den Büchern und mit dem Gedanken ganz woanders hängen. Wie ich das denn aushalten würde, wenn ich da gar nicht an erster Stelle stehen würde. Wow, ein ganz schön vielschichtiges Gedankenmodell mit Tiefgang und Komplexität für so einen Hund. Und da lachte ich und erklärte ihm, dass so ein Buch doch überhaupt gar keine Konkurrenz wäre. Jeder hätte halt so seine Macken. Der eine würde ständig Hundekuchen klauen und der andere versteckte sich hinter viel Stoff und las versaute Bücher in der Öffentlichkeit. Ûhei staunte und meinte, er würde die Menschen nicht verstehen. Die wären so kompliziert. Das mochte wohl stimmen, meinte ich, denn Menschen hätten verschiedene Ebenen, auf denen sie fühlten und sich ihren Mitmenschen zu- oder abwandten. Das wäre wirklich sehr kompliziert. Und es wäre so kompliziert, dass man es häufig selbst gar nicht verstand.

Wir beschlossen gemeinsam, dass wir so komplizierte Sachen gar nicht vertiefen wollten.

Wir wollten lieber Freunde bleiben.

44 - Der Tag, an dem ich aus dem Bett geklingelt wurde

Mein Freund hatte mich per Kurznachricht zu sich ins Büro bestellt. Einfach so. Ganz unerwartet. So zwischen REM-Phase und Erwachen. Ohne sich darum zu scheren, ob mir der plötzliche Schlafabbruch passte oder eben nicht. Er hatte sich auch gar nicht erst die Mühe gemacht, mir in seiner kurzen, einzeiligen Nachricht mitzuteilen, worum es ging. Aber es musste extremst wichtig sein, sonst käme er gar nicht erst auf solche Ideen, mich mitten in der Nacht aus dem Bett zu klingeln und dann auch noch in den heiligen Hallen seines Büros zu empfangen. Das war schon total ungewöhnlich, weil er grundsätzlich Berufliches von Privatem trennte. Und es musste auch sehr eilig sein, denn sonst hätte er mit der Auflösung der Geheimniskrämerei eh bis heute Abend gewartet, falls er denn überhaupt heute Abend nach Hause käme. Das hatte er die letzten drei Tage und drei Nächte nicht mehr getan. Zwischendurch war er noch nicht einmal in Konoha gewesen. Mit der Arbeitsbelastung, die er akut um die Ohren hatte, würde er so etwas nicht im Mindesten in Erwägung ziehen.

Ich wollte nicht zu unrecht sauer auf ihn sein und versuchte, die ganze Weckaktion von einer ganz anderen Seite her zu interpretieren und mir folgendes Bild auszumalen: Garantiert würde er auch heute wieder nicht nach Hause kommen. Obendrein hätte er dabei anscheinend jegliches Zeitgefühl verloren. Nebenbei, er hatte eh keines. Er würde sich völlig übermüdet von einem Kaffeepott zum nächsten hangeln. Mit Streichhölzern in den Augen hätte er den Einzeiler an mich getippt, denn der Satzbau machte grammatikalisch nicht unbedingt Sinn. Ja, so müsste es gewesen sein. Das nun war eine logische Erklärung, die mich nach dem ersten und vor dem zweiten Gähner zufriedenstellte.

Die ganzen Umstände mit seinem Amt waren ein großer Seufzer. Hatte er mir nicht hoch und heilig bei Vollmond und Meeresrauschen geschworen, dieses Frühjahr seinen Job an den Nagel zu hängen?

Daraus wurde natürlich rein gar nichts. Unser Feuer-Reich hatte nämlich seit Anfang des Jahres einen neuen Daimyô gekrönt. Der schimpfte sich mit feierlichem Adelsnamen Ikkyû Madoka und hatte unseren Zukunftsplänen einen ziemlichen Strich durch die Rechnung gemacht. Der frischgebackene Feudalherr wollte sich an erster Stelle und völlig zurecht einen Überblick über die Sachlage in seinem Reiche machen und später entscheiden, ob er einem Hokagewechsel zustimmen würde. Die politische Lage war angespannt. Wir lebten in einer Friedenszeit, welche die fünf Kage mit großer Diplomatie und Vertrauen hegten und pflegten. Doch die Feudalherren der vielen unterschiedlichen Reiche liefen nicht immer mit dem diplomatischen Kurs der Kage konform. Es gab Meinungsverschiedenheiten. Besonders die Feudalherren der kleinen Reiche sahen sich gegenüber den Großreichen mit ihren Shinobi-Dörfern kriegerisch bedroht und wirtschaftlich abgehängt. Sie begehrten auf. Es brodelte an allen Ecken und Enden. So wäre es nur noch eine Frage der Zeit, wann es überkochen würde. Kakashi hatte da schon so ein Bauchgefühl gehabt, dass außerhalb unserer heimatlichen Gebietsgrenzen etwas im Argen war, als er unverrichteter Dinge vorgestern aus dem Herrscherpalast heimkehrte und sich bei mir nur aus dem Büro per Telefon zurückmeldete. Madoka-sama jedenfalls hatte klipp und klar mitgeteilt, dass ein Hokagewechsel zu solch Krisenzeiten absolut ausgeschlossen wäre. Immerhin hätte Kakashi durch seine Dienstzeit genug Hintergrundwissen und Erfahrung, die Geschicke wieder in ruhige Fahrwasser zu lenken. Wenn die Lage wieder entspannter wäre, könnte Naruto seine Nachfolge antreten. Basta! Es stand in den Sternen, wann der Daimyô die Krise für überwunden und er sich selbst als erleuchtet über sein Volk erklären würde. Das waren alles vernünftige und legitime Ansichten von unserem neuen Herren, doch uns persönlich passten sie keineswegs. Selbst Kakashi merkte man seine Enttäuschung an, obwohl er so tat, als hätte es nie eine Anfrage auf Rücktritt seinerseits beim Feudalherren und den Dorfältesten gegeben. Er hatte tief und fest geglaubt, den verhassten Posten an den Nagel hängen zu können. Nach den vielen Kriegen, Schlachten und Missionen fühlte er sich ausgebrannt und leer. An der Spitze seines Dorfes zu stehen, hatte ihn lange hilflos überfordert. Es hatte schon seine Zeit in Anspruch genommen, bis er sich über das Abwiegen seiner Entscheidungen und deren Reichweite im Klaren war, um gezielter handeln zu können. Und nun solch ein Negativbescheid vom Daimyô. Da blieb nur zu hoffen, dass der Feudalherr sich schnell umstimmen würde.

Wie spät war es überhaupt? Spät war der falsche Ausdruck. Wie früh war es überhaupt? Das passte besser. Durch müde Augenschlitze visierte ich die Digitalanzeige meines Radioweckers an. Doch die grünen Leuchtstriche tanzten zu dieser Nachtstunde noch vor den Augen herum. Sollte das da wirklich eine „6:12“ auf dem Display sein? Ich rieb mir nochmal mit dem Handrücken über die Augen. Nun verschwammen die Zahlen nur noch hin und her, bis die Anzeige sich schärfte. Argh! Die 6 war sogar nur eine 5! War der irre? Mitten in der Nacht! Unmotiviert schlug ich wieder die Decke über meinen Kopf. Ich wollte jetzt nicht aufstehen!

Hm, natürlich war der irre, sonst wäre er weder Hokage geworden, noch mit mir zusammen. Und seine schrägen Macken bestätigten, dass er irre war. Das ich persönlich diese Macken ganz süß fand, verriet mir mein Lächeln auf den Lippen, wenn ich daran dachte. Stille Wasser sind tief... und dreckig! Weiter dachte ich so in meiner Betthöhle vor mich her, dass man den Unmut über diesen Weckruf nur verlauten lassen konnte, wenn man persönlich dort vorsprach, woher der Unmut rührte. Ein bisschen neugierig auf den Arbeitsplatz meines Freundes war ich auch. Ich kannte zwar sein Büro und das von Gai, doch dabei war es auch schon geblieben. Es fielen immer mal wieder Namen von Shinobis am Rande, zu denen ich allzu gern mal ein Gesicht zuordnen würde. Vielleicht würde mir wenigstens einer von denjenigen in den heiligen Hallen über den Weg laufen. Also rollte ich mich unter der Decke hervor und setzte die Füße auf den Boden. Ich wunderte mich erst, dass mich ein so weicher Bettvorleger an den Fußsohlen kitzelte. Doch der Bettvorleger jaulte schmerzvoll auf und erinnerte mich, nun eine stolze Hundebesitzerin zu sein. An den Hund hatte ich so schlaftrunken gar nicht mehr gedacht und erst recht nicht an seinen Schlafplatz vor meinem Bett. Ich entschuldigte mich bei Ûhei und schlurfte zu meiner Klusche. Es hatte sich mittlerweile eingebürgert, meine winzige Klo-Dusche-Kombination auf engstem Raume als Klusche zu betiteln. Wenigstens war es nicht mehr ganz so klamm in der Wohnung, weil die Außentemperaturen langsam anstiegen. Übermorgen war mein Geburtstag. In meiner Heimat lag da immer noch eine dicke Schneedecke, und es hatte mich als Kind immer traurig gestimmt, wenn die ganzen Kinder zu meiner feierlichen Kakaorunde wegen des Schneefalls absagen mussten. Manchmal waren die Straßen tagelang nicht passierbar. In Konoha war zur gleichen Zeit hingegen immer Frühlingswetter. Allerdings hatte ich die letzten Jahre meinen Geburtstag gar nicht gefeiert. Ich war nicht so sehr der Mensch, der auf das Geburtstagsfeiern Wert legte. Außerdem hatte ich ebenso lang niemanden zum Feiern einladen können, denn ich hatte zu wenig Kontaktpflege betrieben.

Als ich wieder aus der Klusche zurück in mein Schlafzimmer kam, warf ich einen prüfenden Blick hinaus. Wie würde wohl das Wetter werden? Was sollte man da anziehen? Noch war es draußen dunkel, denn die Sonne würde erst in einer guten halben Stunde aufgehen. Die Straßenlampen offenbarten mir in ihrem Schein hingegen eine dicke Nebelsuppe. Aber wenn die Sonne später die Nebelschwaden aufgelöst hätte, sollte es recht angenehm mild sein. Zumindest hatte das der heutige Wetterbericht angekündigt. Ich wählte ein bequemes, leichtes Zwiebelprinzip. Jeans, Langärmer und Fleecejacke. Dazu nahm ich einen kleinen Rucksack mit, in welchen ich später meine Jacke stopfen könnte, weil mir das Tragen der Jacke über dem Arm grundlegend lästig war.

Ich weckte Yuuki früher als sonst zur Schule. Er nickte schläfrig unter der Bettdecke hervor, trollte sich aber dennoch aus dem Bett heraus. Unser Frühstück blieb angesichts der verfrühten Morgenstunde recht schweigsam. Vor der Haustür auf den Treppenstufen blieb ich stehen und saugte die frische Luft ein. Erquickend wie frisches Wasser. Und ich staunte. Es dämmerte bereits am Horizont. Viel früher, als ich es erwartet hätte.

Da ich nun mit von der Partie war, fiel Yuukis üblicher Schulweg über die Dächer Konohas aus. Zu dritt nahmen wir aber nicht den üblichen Weg durch die Straßen unseres Viertels, sondern kürzten durch die Felder und den Parkwald ab. Es war gespenstisch, wie die Häuser hinter uns im Nebel versanken, dafür aber die teilweise laubfreien Bäume vor uns auftauchten. Erst sah man nur schemenhaft Äste, die wie lange Finger mahnend in den Himmel zeigten, bevor sich daraus ganze Baumgerippe zusammensetzten. Der Nebel verschluckte sogar unsere Schritte. Ab und zu hörte man, wie Ûhei durchs hohe Gras streifte. Er benahm sich ganz wie ein gewöhnlicher Hund, schnüffelte überall herum und umkreiste uns trabend. Wir kamen trotz meines Fuß-Handicaps besser voran als gedacht. Nach kurzer Zeit hatten wir den Waldrand erreicht. Die ersten Sonnenstrahlen leckten über die Felswände, welche schützend wie ein Ring um Konoha lagen. So einen schönen Tagesanfang hatte ich hier noch nie erlebt, weil ich so früh noch nie durch die Parks spazieren gegangen war. Ich konnte mich kaum an dieser idyllischen Romantik sattsehen und verlor mich in Gedanken.

„Mama? Mama!“, quengelte mein Sohn laut und holte mich zurück in die Wirklichkeit. „Träumst du? Ich will wissen, ob wir da lang gehen.“

Etwas argwöhnisch schaute ich auf einen Trampelpfad, der sich vom Hauptweg entfernte. Im Sommer musste der wohl derart zugewuchert sein, dass er mir noch nie aufgefallen war. Sein Ziel am Ende war mir unbekannt, aber mein Sohn war sich sehr sicher. Und der Hund war eh völlig schmerzbefreit, was Wege durchs Unterholz und unbekannte Pfade anging. Wir verließen den befestigten Weg und folgten dem Pfad. Er war gerade so breit, dass man nicht zu zweit nebeneinander, sondern nur hintereinander laufen konnte. Die schwarzen Baumstämme, Nebelfetzen und unzählige Farnarten versetzten uns in eine mystische Welt. Es fehlten nur noch einige dekorative Fabelwesen in dieser verzauberten Kulisse. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen die verästelte Kuppel über unseren Köpfen wie Scheinwerfer. Der Pfad schlängelte sich über kleine Hügelchen hoch und runter. Baumstämme dienten als kurze Stege über Bächlein hinweg. Man musste vorsichtig sein, denn es war durch das feuchte Moos sehr rutschig. Unsere Fantasiereise durch einen magischen Ort endete schon nach wenigen Minuten direkt an der Hauptstraße von Konohagakure, welche sich vom Stadthaupttor durch die Innenstadt schnurgerade auf den Hokageturm ausrichtete. Man gut, dass es hier überall kleine öffentliche Quellen und Brunnen gab. An unserem Schuhwerk hatten sich dicke Matschklumpen gehängt.

Ich zögerte, was den weiteren Verlauf unserer Marschroute anging. Die letzten Tage hatte ich morgens Yuuki pünktlich zur Schule geweckt und waren dann gemeinsam mit ihm zu Kakashis Wohnung gegangen, um Asa abzuholen. Sie war einfach noch viel zu jung, um zeitig aus den Federn zu kommen und sich allein fertig für die Schule zu machen. Auch wenn ich mir immer wieder die Worte meine damaligen Mitarbeiterin Akka ins Gedächtnis rief, man könnte sich doch gar nicht mit Kakashi streiten, so taten wir es in einigen Punkten dennoch. Dass Asa so allein und auf sich gestellt war, missfiel mir. Ich fand's gruselig, Kakashi überhaupt nicht. Der fand das normal. Überhaupt empfand ich die Gesamtsituation mit vier Leuten und zwei Haushalten auf viel zu engem Raum zu leben als nervig. Es wäre für alle Beteiligten einfacher, wir würden nur an einem einzigen Standort alles beisammen haben. Ständig suchte ich Dinge, die ich in einer der beiden Wohnungen vergessen hatte. Entweder mal einen Pullover, dann mal wieder meine Frischhaltedosen. Mein Haushalt hatte Beine bekommen und pendelte unkontrolliert zwischen zwei Wohnsitzen. Neulich hätte mein Kind fast schon arge Schwierigkeiten auf der Akademie bekommen, weil er seine Rechenmappe mit den Hausaufgaben nicht finden konnte. Stundenlang hatte er Kakashis Wohnung durchwühlt, weil er sich so unglaublich sicher gewesen wäre. Natürlich lag die Mappe friedlich in seinem Kinderzimmer bei uns daheim. Es war zum Mäuse melken. Ja, ich war tatsächlich nach dieser viel zu kurzen, aber sehr intensiven Zeit soweit, dass ich mit meinem Freund zusammenziehen würde. Aber nur, weil ich total entnervt war. Das sah zwar sogar Kakashi ein, wenn auch mäßig begeistert, doch aktuell konnte man mit ihm über ein Zusammenziehen wenig reden. Wieder so ein Streitpunkt. Unsere Art des Konflikteaustragens war gewöhnungsbedürftig. Ich konnte wütend herumbrüllen und Sachen durch die Gegend pfeffern. Kakashi blieb erst ruhig und einsilbig. Wenn ich mich nicht wieder selber kontrollieren konnte, gab es das eiskalte Wort zum Sonntag, welches sich gewaschen hatte und mir die Zehennägel aufrollte. Warum auch immer, schlug diese seltsame Mischung von Passivität und Dominanz bei mir an. So war der ganze Krach zwischen uns schon nach wenigen Augenblicken beendet. Oft zog ich den Kürzeren, was überhaupt nicht meine Art war. Es gab immer mal etwas zum Streiten. Eine merkwürdige Art von Friede, Freude, Eierkuchen. Hach, die alte Akka mit ihrer Weisheit und Klugheit. Der ruhende Pol im Kontor, wenn mal wieder alle am Durchdrehen waren. Ich vermisste sie. Was sie wohl machen würde? Ob ich sie einmal besuchen sollte? Ich beschloss, genau diese in Kürze zu tun.

Mein Kind nahm mir die Entscheidung ab, ob ich nun noch Asa wecken sollte oder nicht. Es trottete allein hinüber zu Kakashis Wohnung, um mit ihr ein zweites Frühstück zu futtern. Ich könnte doch schon zum Hokageturm gehen, wenn es so wichtig wäre. Ich blickte ihm noch eine Weile nach, bis er mit den Häuserschatten in der engen Gasse verschmolz. Yuuki kam mir so groß und selbstständig vor, dabei war er gerade mal erst zehn Jahre alt geworden. Asa würde im Sommer schon acht werden. Trotzdem waren sie Kinder, und ich fand es richtig, wenn sie das auch noch möglichst lange so blieben. Man musste nicht so schnell erwachsen werden. Das wurde man eh viel zu früh.

Bereits schon nächste Woche fing das zweite Schuljahr auf der Akademie an. Nächste Woche würde es eine große Aufregung bei uns daheim geben, dann waren die Zwischenprüfungen dran, ob man auch tatsächlich in der nächsthöheren Klasse sitzen dürfte oder etwa wiederholen müsste. Es war spannend zu sehen, wie unsere Kinder damit umgingen. Yuuki machte sich jetzt schon verrückt, dass er bestimmt durchfallen würde, obgleich er im oberen Mittelfeld mit seinen Leistungen lag. Da gab es keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Asa war die Ruhe selbst und strotze nur so vor Überzeugung, die Prüfungen wären doch ein Klacks. Ja, den praktischen Teil, würde sie mit Bravour meistern. Aber beim theoretischen Teil würde es wohl rappeln. Es standen alle Zeichen auf Nichtbestehen. Das konnte sie aber gar nicht glauben. Da fragte ich mich manchmal, ob ihre Mutter auch so gewesen sein mochte. Von Kakashi mochte sie wohl die zum Himmel stinkende Arroganz in die Wiege gelegt bekommen haben. Aber diesen Hang zur krassen Selbstüberschätzung und ihr schnelles Aufgeben, sobald es schwierig wurde, hatte er ihr bestimmt nicht vererbt.

Ûhei und ich schlenderten weiter die Straße hinab. Von hier aus wirkte der Hokageturm viel mächtiger und größer, als er es eigentlich war. Er überragte zwar die meisten Gebäude des rekonstruierten Stadtzentrums, doch wenn man davor stand, sah der Turm eher klein und kompakt aus. Nun aber lief man auf dieser Hauptachse genau darauf zu, und es hatte schon fast etwas Rituelles. So ähnlich wie pilgern. Wie mochten sich die Shinobis fühlen, wenn sie von den Missionen zurückkehrten? Man hatte nur noch diese eine Straßenlänge Zeit sich zu überlegen, was und wie man seinem Hokage zu berichten hätte. Bei einer verfehlten Mission könnte diese Straßenlänge sehr erdrückend wirken, fast schon quälend. Mit jedem Schritt kam man seinem Ziel näher und je nach dem, wie man abgeschnitten hatte, waren es schwere oder leichte Schritte. Auch in mir machte sich so ein unruhiges Bauchgefühl in der Magengegend breit. Mit jedem Schritt auf den Turm zu, wuchs der Stück für Stück ein bisschen mehr in den Himmel und wurde immer größer und bedrohlicher. Ein albernes, aber wirkungsvolles Psycho-Spiel. Ich konnte mit der Ninja-Bande mitfühlen. Vielleicht war das der Grund, warum Kakashi grundsätzlich durch die Fenster stieg und seltens durch Türen ging. Immer nur die eigenen Wege. Ob man bestraft wurde, wenn man eine Mission in den Sand gesetzt hatte? So grübelte und grübelte ich den ganzen Straßenzug entlang.

Ich wusste nicht, worum es bei meinem Besuch ging und was mich erwarten würde. Doch ehe ich mich versah, hatte ich die Strecke schon grübelnd hinter mich gebracht und stand vor dem Haupttor, welches den Weg auf den Innenhof freigab. Hm, was sollte ich denn da nun dem Wachposten sagen, was mein Anliegen wäre? Hatte Kakashi überhaupt Bescheid gegeben, dass ich hier eingelassen werden durfte? Der Hund regelte anstelle meiner alle Probleme. Er trabte auf den Shinobi hinter dem Tresen zu, wedelte fröhlich mit der Rute und wechselte kurze Worte. Anschließend kehrte er zu mir zurück und meinte, ich solle mitkommen. Der Hund war hier logischerweise bekannt, atmete ich erleichtert auf und freute mich, hier nicht länger als notwendig aufgehalten zu werden. Was auch immer der Ninken da gerade erzählt hatte, der Shinobi musterte mich hochinteressiert von oben bis unten. Doch schon bogen der Hund und ich um die Ecke und traten in das Gebäude ein. So schnell, wie Ûhei den Gang entlang und die ersten Treppenstufen empor flitzte, konnte ich nicht folgen. Schlagartig verlassen stand ich nun in dem leeren Flur. Unschlüssig blickte ich um mich. Nein, hier war wirklich niemand, der mich nach meinem Anliegen ausfragen würde, und da mich auch gar keine Eile antrieb, wandelte ich auf Ûheis Pfaden gemütlich hinterher.

„Da bist du ja schon“, wurde ich auf halbem Wege erfreut empfangen just als ich um die Ecke bog.

Die Müdigkeit vom kurzen Schlafe meldete sich zurück. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch, schlang die Arme wärmend um mich und lehnte mich einfach nach vorn gegen einen Kakashi, der nun direkt vor mir stand. Mein Kopf musste so schwer wie eine Wassermelone auf seiner Schulter wiegen, denn er legte seine Arme um mich, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Wir musste also tatsächlich hier mutterseelenallein sein, wenn ich mit einer Umarmung und ein einem Kuss ohne Stoff auf die Schläfe in aller Öffentlichkeit begrüßt wurde.

„Kannst du nicht einfach mal nach Hause kommen, wie alle anderen Menschen auch auf dieser Welt?“, klagte ich murmelnd an und wollte ihn nur ein wenig aufziehen.

„Später...“, antwortete er knapp.

„Welche Zeitspanne umfasst das ungefähr?“, wollte ich mich nicht zufrieden geben.

„Kaffee?“, kam einfach eine Gegenfrage von ihm.

„Lenk' nich' vom Thema ab! Aber ja, gerne“, und hob meinen Kopf wieder an.

Ich schlürfte hinter ihm her und fand mich kurzum zu meiner Verwunderung nicht eine Etage höher in seinem Büro wieder, sondern in einem kleinen Kämmerlein auf selbiger Etage, auf welcher wir uns eben getroffen hatten. Mit dem Tisch in der Mitte und den beiden Sofas rechts und links flankiert sah es aus wie ein Warteraum.

„Wieso ist hier so wenig los?“, fragte ich neugierig und nahm freudig die randvolle Kaffeetasse an mich, welche schon auf dem Tisch auf mich gewartet hatte.

„Die trudeln alle erste zwischen sieben und acht zur Arbeit ein. Eben sind wir hier nur zu viert.“

Kakashi ging aber nicht weiter auf meine Frage ein. Er ordnete einige Zettel, riss noch ein Kuvert auf und überflog den Inhalt dessen.

„Dachte ich mir...“, sprach er zu sich selbst und sah mich dann prüfend an. „Was lässt denn deine Mutter per Anwalt ausrichten, wenn da monatlich diese Briefe bei dir im Kasten eintrudeln?“

Ich war verdutzt. Was hatten denn die Briefe meiner Mutter mit meinem Besuch hier zu tun? Wieso kam er überhaupt auf dieses nervige Thema? Nachdem ich mich letzten Sommer mit meiner Familie zerstritten hatte, wollte ich nichts mehr von denen hören, bekam aber, wie ich es bereits schon einmal erwähnte, immer noch Post mit wilden Forderungen. Darin stand unter anderem, Yuuki hätte im Erd-Reich zu wohnen und nicht hier im Feuer-Reich. Als Rabenmutter hätte ich total versagt und wäre erst recht nicht erziehungsfähig. Obendrein wäre ich nicht liquide und unfähig, einen Haushalt zu führen. Ich las die Anwaltsschreiben schon lange nicht mehr, sondern warf sie mittlerweile unbeantwortet und unbeachtet in den Mülleimer. Man konnte uns hier fern der Heimat sowieso nichts anhaben.

„Ich dachte, du hattest dich klar von deiner Verwandtschaft distanziert?“, hakte Kakashi nun streng nach, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief.

„Komm zum Thema. Du machst mir Angst!“, beschwerte ich mich und nahm noch einen beruhigenden Schluck Kaffee.

Mein Freund seufzte.

„Du hättest dich klarer denen gegenüber ausdrücken sollen ...“, meinte er dann, trank schnell seine Tasse aus und tat das, worum ich gebeten hatte: Er kam zum Thema.

„Die sind hier letztes Jahr nichts grundlos in Konoha aufgetaucht, Nina. Ich kenne deine Familie nicht und kann daher nicht beurteilen, wie ihr alle zueinander steht. Fakt ist aber, dass dein Vater unheilbar krank ist und in diesem Zuge sein Testament vor gut einem Jahr geändert hatte...“

„Mein Vater ist krank?!“, platze es aus mir heraus, doch davon ließ sich Kakashi nicht unterbrechen.

„Er liegt im Sterben. Du bist Alleinerbin. Der Rest deiner Sippe geht leer aus. Ist doch klar, dass denen lieber wäre, Yuuki wäre unter deren Fittiche aufgehoben. Sollte dir jemals etwas passieren, wäre Yuuki dein einziger Nachfahre. Und solch einen Entführungszirkus im Eisen-Reich zu veranstalten, nur weil deine Chefin ein Logistikunternehmen führt und du dort angestellt bist, wäre viel zu viel Aufwand. Deine Entführung war also von langer Hand seitens deiner Mutter geplant. Genau wie deine vermeintliche Fanpost. Bitteschön, Frau Stahlprinzessin!“

Mit einem leisen Klatschen landeten die Zettel aus Kakashis Hand vor meiner Nase auf dem Tisch. Das war ein harter Brocken, den es hier zu schlucken und zu verdauen galt. Sprachlos blickte ich auf den offenen Briefumschlag, welches ein Shinobi-Team heute früh heim gebracht hatte. Eine vollständige Kopie des Testaments hatte das Team ausspioniert. Ich war so geschockt, dass ich mich nicht einmal aufregen konnte, dass mein Freund ohne mein Wissen mal wieder in meiner Vergangenheit gestochert hatte. Er musste einfach herumschnüffeln. Wenn er seine Neugier nicht befriedigen konnte, war er nicht glücklich.

Ich fühlte alles und nichts. Geschockt über die Neuigkeiten, die ich blauäugig nicht sehen wollte. Wütend auf dieses perfide Spiel, welches sogar ohne Rücksicht auf mein Leben gespielt wurde. Sprachlos über so viel Intriganz um die Dinge, die ich überhaupt nicht haben wollte. Ich wollte auf Teufel komm raus keine Stahlprinzessin sein. Die Wut gewann die Oberhand. Am liebsten hätte ich alles kurz und klein geschlagen. Trotzdem saß ich wie zur Salzsäule erstarrt auf dem Sofa und schnappte nach Luft. Kakashi hatte sich von seinem Sitzplatz erhoben und bot mir eine Hand zum Aufstehen an. Er zog mich zu sich herauf.

„Ich schlage vor, wir beobachten die ganze Angelegenheit so, als wüssten wir von nichts. Wenn sich etwas ändert, kann man immer noch reagieren. Und du solltest dir in Ruhe überlegen, welches für dich die beste Lösung wäre.“

Stumm nickte ich. Allein schon, dass er das Wörtchen „wir“ benutzte, beruhigte mich. Und mein Freund tat viel daran, mich abzulenken. Langsam gingen wir durch den Flur und steckten unsere Köpfe durch die Türen, die ihre Pforten schon geöffnet hatten. Tatsächlich wurde es nun voller im Gebäude. Ich begrüßte Gai, damit er mir nicht beleidigt vorhalten würde, ich hätte ihn bei meinem Besuch im Hokageturm vergessen. Ich dankte Shikamaru noch einmal aufrichtig für meine Rettung und ließ an seine Frau Temari Grüße ausrichten. Der Wachposten vorhin am Eingangstor hieß Kotetsu. Der war nun aber damit beschäftigt, nicht auf das Tor aufzupassen, sondern auf ein Dutzend Siruptöpfe, die einfach nicht in die unterste Schublade seinen Schreibtisches passen wollten. Wenn sein Teamkollege und bester Freund Izumo auftauchen würde, gäbe es mit dem Sirup wieder Streit, weil Kotetsu lieber Töpfe auslöffelte, als zu arbeiten. Verrichteten die beiden nicht ihren Wachdienst, tobten sie sich im Archiv aus. Ich lernte noch einige weitere Namen und Gesichter kennen, die ich mir aber alle gar nicht so merken konnte. Trotzdem heiterte es meine Laune auf, weil es sich anfühlte, als wäre man wieder ein Quäntchen mehr im eigenen Dorfe zuhause. Viel zu schnell war der Rundgang beendet und wir standen wieder unten am Tor.

„Ich sehe zu, dass ich heute Abend wieder zuhause bin“, gelobte mein Freund Besserung.

„Versprochen?“, bohrte ich versichernd nach.

„Versprochen!“, gab er ausnahmsweise klein bei.

45 - Der Tag, an dem das Einhorn Ausgang hatte

Den Hokageturm hinter mich lassend war ich schweigend durch die Straßen gelaufen. Auf den ersten Blick wohl etwas planlos, doch auf den zweiten Blick suchte ich gezielt Umwege auf, weil ich wegen des Fußes noch einen Arzttermin hatte. Allerdings wäre ich auf direktem Wege viel zu früh dort in der Praxis aufgeschlagen und hätte es mit all diesen neuen Informationen in meinem Kopf gar nicht ertragen, im Wartezimmer still auf einem Stuhl die Zeit absitzen zu müssen. Das Adrenalin rannte durch meinen Körper wie eine Horde Karnevalsjecken. Es kribbelte in mir, weil ich so durcheinander war. Hatte ich eben wirklich das Wort „Informationen“ benutzt? Früher hätte ich vielleicht „Erkenntnisse“ oder eher „Neuigkeiten“ gesagt. So sehr hatte mich der Ninja-Kram schon infiziert, dass ich teilweise das Vokabular von der Bande übernahm. Ich blieb mir selbst die Antwort schuldig, ob das nun ein gutes oder schlechtes Zeichen wäre. Viel zu sehr beschäftigt hing ich meinen Gedanken nach.

Mein Vater war also schwerkrank und lag im Sterben. Krebs. Wie so viele Menschen dieses Schicksal ereilte, so hatte es auch ihn erwischt. Nun gut. Das war hart, aber nicht zu ändern. Trotzdem traf es mich empfindlich. Blut war doch dicker als Wasser. Man hatte alle die ganzen Jahre immerhin familiär verbracht. Wäre ich Raucherin, ich hätte mir wohl oder übel eine Kippe angesteckt, weil das ja angeblich so entspannend wirken sollte. Ernsthaft hatte ich sogar für eine Sekunde die absurde Idee gehabt, ich hätte Shikamaru um einen Glimmstängel anbetteln sollen. Das war natürlich Blödsinn, weil ich nie das Bedürfnis gehabt hatte, mich von der Nichtraucherseite abzuwenden. Shikamaru übrigens auch nicht. Aber ab und zu in der Pause rauchte er auf dem Seitenbalkon des Turms eine Asuma-Gedächtnis-Zigarette. Das musste so sein und basta!

Mein Verhältnis zu meinem Vater war schwer zu beschreiben. Einerseits war er sehr offenherzig gewesen, andererseits undurchschaubar und stets auf Distanz. Darüber hinaus war er zuhause so gut wie nie anzutreffen. Wenn ich meiner Familie nach deren Meinung Schande bereitet hatte, so hatte ich stets die Kämpfe mit meiner Mutter auszutragen. Mein Vater war nie zugegen. Umso mehr wunderte mich nun sein Entschluss, mir die Firma zu vermachen. Auch da wurde ich mir selbst nicht klar, ob das nun gut oder schlecht wäre. Ich glaubte mal eher, es wäre schlecht, denn obgleich die Stahlhütten volle Auftragsbücher hatten, so steuerte durch Misswirtschaft der ganze Karren in den Dreck. Man könnte auch klar sagen: Die Firma stand kurz vor dem Ruin. Vielleicht sollte es der letzte Wille und Wunsch meines Vaters sein, dass ich diesen Karren aus dem besagten Dreck zu ziehen hätte, weil ich als einzige im Gegensatz zu allen anderen Familienmitgliedern jahrelang kaufmännisches Geschick bewiesen hatte.

Schon wieder war ich am Grübeln. Ich grübelte oft in letzter Zeit. Viel zu viel. Die Leichtigkeit, dass Leben in vollen Zügen zu genießen, wie ich es die vergangenen Jahre getan hatte als ich mit Yuuki noch im Kontor wohnte, war mir abhanden gekommen. Ich erinnerte mich wieder, wie mich mein Freund mal fragte, ob ich glücklich und zufrieden wäre. Ich meinte schon, dass ich diese Frage bejaht hätte. Nun aber war ich wieder völlig verunsichert und durcheinander. Dabei hatte ich doch ganz viel, was mich glücklich machen müsste. Da begann ich nun zu grübeln, was Glück wirklich wäre und wie man es erkennen und schätzen lernen müsste. Mein Kopf qualmte wie Shikamarus Zigaretten.

Ûhei war wirklich ein zuvorkommender und aufmerksamer Ninken. Es entging ihm ganz und gar nicht, dass ich recht niedergeschlagen war, obwohl ich versuchte zu lächeln. Und er konnte deutlich sehen, wie sehr ich mich durch das Gehen überanstrengte und mehr und mehr humpelte. Eine besorgte Hundeschnauze schnappte nach meinem Hosenbein und zog mich sanft, aber energisch zu einem naheliegenden Ramenrestaurant, welches gerade seine Pforten öffnete. Mein Magen knurrte, und erst jetzt wurde mir klar, dass es schon fast Mittagszeit war.

Ichirakus Ramenbude hatte sich durch sein Werbeaushängeschild namens Naruto gewaltig verändert. Ein großzügiger Umbau hatte die einstige Bretterhütte in ein modernes Restaurant mit unzähligen Sitzplätzen verwandelt. Wohl aus nostalgischen Gründen flatterten an der äußeren Seitenfront noch die alten, dem Sonnenschutz dienenden Tücher, unter welchen man hindurch tauchten musste, wollte man das Restaurant über den Seiteneingang betreten oder verlassen. Heilfroh ergatterte ich einen Tisch fernab der Theke und dem Gedränge, welches gerade hereinströmte. Eine Handvoll Zeitschriften lagen auf einem der Stühle. Ungewöhnlich, dass sie beim Saubermachen der Lokalität vergessen worden waren, doch ich nahm sie gerne zur Hand, um meine Gedanken zu zerstreuen bis man meine Bestellung aufnehmen würde. Das ging hier ziemlich schnell von statten, obgleich die Bedienung ein wenig stutzte: Der Verkaufsschlager war Tonkotsu-Ramen, die ich aber gar nicht so mochte, weil die Brühe, wie der Name schon sagte, auf abgekochten Schweineknochen basierte. Ich orderte lieber eine Miso-Ramen mit Lauchzwiebel, halbgekochtem Ei, Mais, Thunfisch und Nori-Blättern. Naja, wird sich die Bedienung gedacht haben, Touristen hätten immer besondere Extrawünsche, und zog mit ihrem Notizblock fleißig zum nächsten Tisch. Optisch gehörte ich nach wie vor nicht zu Konoha. Und meinen Dialekt konnte ich oft auch nicht unter Kontrolle bringen.

Der Laden füllte sich in unglaublicher Geschwindigkeit. Schon bald war er bis auf den letzten Platz besetzt. Ein hektisches Treiben setzte hinter dem Tresen ein. Wenn man gewollt hätte, hätte man zuschauen können, wie der Koch die Speisen herstellt, weil die ganze Kochprozedur nämlich direkt dahinter stattfand. Zack, und schon stand der heiße Suppenteller frisch dampfend vor mir. Ich bezahlte gleich, damit ich später nicht warten müsste. Das hasste ich nämlich, wenn man sich auf den Weg machen wollte, aber die Bedienung nicht zum Kassieren an Land kam. Ich fragte Ûhei, ob er vielleicht auch etwas zu fressen oder zu saufen bräuchte, doch der Hund schien wunschlos glücklich. Er lag zu meinen Füßen unter dem Tisch und döste. Schulterzuckend schlürfte ich die Schüssel leer und fand es einfach nur lecker. Da nutzte mir auch der Touristenbonus, beim Schlürfen den Tisch bekleckern oder die Nudel durchbeißen zu können, wie es mir beliebte, denn als Auswärtige wüsste ich es ja eh nicht besser. Mein Kopf war freier geworden. Gedankenverloren irrten meine Augen durch die Essensgäste ohne sich einen von diesen genauer anzusehen. Der Bekleidung nach waren ebenso viele Passanten wie Shinobis hier. Diejenigen, die fertig mit ihrer Mahlzeit waren, zogen an meinem Tisch entlang wieder hinaus. Mein Geist musste verrückt spielen, denn zeitweilig meinte ich, dass einige Leute extra an meinem Tisch entlang streiften. Bohrende Blicke auf mir spürend, zuckte ich zusammen. Nein, das war bestimmt nur eine Einbildung. Seit der Entführung hatte ich mir einen Dachschaden geholt. Es hatte auch nur mäßig geholfen, mich mit meinem Freund über solch schlimme Erlebnisse auszutauschen. Wir hatten noch nicht die passende Gelegenheit dazu gefunden. Und Kakashi ging mit seinen Traumata auch nur in so fern um, dass er nicht darüber sprach und sie unverarbeitet hinunterschluckte.

Meine Schüssel war geleert, doch wollte ich noch nicht weiter. Bis zum Arztbesuch hatte ich noch etwas Zeit. Ich blätterte wieder durch die Regenbogenpresse, die teilweise schon ein paar Wochen auf dem Buckel hatte, und blieb beim Jahreshoroskop hängen. Da musste ich schmunzeln, wie mir bei den Horoskopen immer einer Anekdote aus der Schwangerschaft einfiel. Mein Frauenarzt war erkrankt, weshalb ich zu einer regelmäßigen Routineuntersuchung eine andere Praxis aufsuchen musste. Eine junge Frau stellte sich mir als Ärztin vor, untersuchte mich und las sich anschließend in dem Schwangerschaftsheftchen von Seite zu Seite, um die Ergebnisse einzutragen. Plötzlich wurde sie blass. Nein, blass war gar kein Ausdruck. Sie wurde weißer als der Kalk an der Wand. Weißer als ihr Arztkittel. Natürlich geriet ich ihn Panik, dachte ich schon, mit meinem Baby wäre etwas nicht in Ordnung. Und dann begann sie auch noch so geheimnisvoll und bestürzt zu fragen, ob ich mein Baby nicht später bekommen möchte. Sie würde dafür alles in die Wege leiten. Ich musste Augen so groß wie Kuchenteller gehabt haben, und ich wusste noch ganz genau, wie es mir heiß und kalt den Rücken herunterlief. Das Ende vom Lied war ein alberner Aberglaube dieser Ärztin. Das hätte ich von ihr gar nicht gedacht, denn sie schien mir so frisch und frei aus der Ausbildung zu kommen, wo es doch wissenschaftlich und nicht okkult zugehen müsste. Ganz unverblümt redete sich nun die Ärztin ihr Problem von der Seele. Der errechnete Geburtstermin läge kurz vor dem Neujahrstag. Würde das Kind vor diesem Tage zur Welt kommen, würde es im Schlangen-Jahr geboren werden. Und Schlangen-Kinder wären sehr schwierig. Zwar wären sie klug, aber auch sehr machtgierig. Es wäre doch besser, wenn das Kind ein paar Tage später im Jahr des Pferdes geboren würde. Die wären zwar auch schwierig und sprunghaft, aber nicht so schlimm wie Schlangen und obendrein gesellig. Ich musste die Ärztin angeschaut haben, als hätte ich einen Geist angetroffen. Schockiert lehnte ich das Angebot ab und verließ die Praxis. Übrigens sollte ich Yuuki sogar schon zwei Wochen vor dem errechneten Termin überglücklich in meinen Armen halten. Er war dem Datum nach definitiv eine Schlange, aber Hauptsache gesund. Wir beide kamen bis jetzt gut damit zurecht. Heute konnte ich über diese Geschichte lachen. Damals hatte sie mich in Angst und Schrecken versetzt. Amüsiert blätterte ich in den Zeitschriften weiter.

„Feind auf fünf Uhr!“, knurrte es warnend vom Hund unter dem Tisch hervor.

Verwundert sah ich auf und sah auch schon in einem Wandspiegel das grüne Schicksal von schräg hinten auf mich zurollen wie ein Panzer auf dem Schlachtfeld. Gai war sicherlich kein Feind wie es Ûhei spöttisch ausdrückte, aber ich fand ihn nach wie vor extremst anstrengend. Oder wie Shikamaru sagen würde: Nervig! Schlimmer als ein Gai allein, war ein Gai mit Personen im Schlepptau, die ich gar nicht allesamt kannte. Hoffentlich waren das keine Gai-Kopien wie Rock Lee oder dessen Sohn Metal Lee.

„Hallo, Sherenina! Das ist ja eine Überraschung. Was macht dein Fuß? Hier ist doch sicherlich noch Platz für uns?“

Gai strahlte mit der weißen Kauleiste heller als die Neonröhren an der Fensterfront. Ohne meine Antwort abzuwarten, platzierte er sich einfach neben mich und deutete seinen beiden Begleitern jeweils einen Stuhl an. Die setzten sich grüßend, taten aber eher verhaltend, weil sie mich ebenso gut kannten wie ich die beiden. Nämlich gar nicht.

„Och, es geht schon ganz gut mit dem Fuß“, versuchte ich der Situation zu entkommen. „Ich muss auch damit gleich zum Arzt weiter.“

Ich war unruhig und nervlich angespannt. Es wäre ein Unding, wäre dieses den beiden Shinobi neben Gai nicht aufgefallen. Die hatten dafür gewöhnlich gepolte Antennen. Der grüne Clown hingegen hatte meiner erlebten Erfahrung nach für vieles gar keine Antennen. Er rollte wie ein Elefant im Porzellanladen durchs Leben und merkte erst hinterher, was er mit seinem Feuereifer alles platt gefahren hatte. Das war sehr schade, denn er hatte durchaus die positiven Eigenschaften, dass man sich mehr als hundertprozentig auf ihn verlassen konnte und er einen niemals hängen ließ. Doch sein überdrehtes Auftreten war und blieb einfach peinlich und stieß Menschen, die ihn nicht kannten, sofort unangenehm vor den Kopf.

„Du schaust aber blass um die Nase aus“, stellte Gai besorgt fest.

Ich winkte ab und behauptete, dass ich seit der Entführung manchmal übersensibel reagieren würde. Und so ganz gelogen war das noch nicht einmal. Mir war nicht danach, das Thema zu vertiefen und hoffte, Kakashis selbsternannter Rivale Nummer Eins würde nicht weiter nachhaken. Unbedacht schob ich nach:

„Ich habe seit heute Morgen das Gefühl, ich werde angestarrt.“

„Angestarrt?“, wunderte sich Gai.

Kurzes Schweigen. Doch selbst hier am Tisch spürte ich, wie ich gemustert wurde. Mir wurde es mulmig zu Mute. Hatte ich die Pest am Leibe oder einen bösen Fluch an mir?

„Das ist keine Einbildung. Kennst du das Einhorn-Syndrom?“, fragte mich der Typ mit dem Zahnstocher im Munde.

Da er mich offen ansprach, nahm ich den nun genauer unter die Lupe. Geschätzt musste der so groß wie ich sein. Mit Sicherheit so alt wie mein Freund, aber nicht älter als Gai. Und ich hatte den verdammt schon einmal irgendwo gesehen. Aber wo? Es wollte mir beim besten Willen nicht einfallen. Er grinste etwas verwegen, schob das Stäbchen von einem in den anderen Mundwinkel und sah mich aufmerksam an. Das Einhorn-Syndrom? Nie davon gehört. Ich schüttelte den Kopf, war aber gespannt, was es damit auf sich haben könnte.

„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, ein Fabeltier wie zum Beispiel ein Einhorn zu treffen?“, wollte er mir einen Denkansatz geben.

„Die Wahrscheinlichkeit liegt wohl bei Null, denn es gibt in der Realität keine Einhörner“, antwortete ich und hoffte, mich nicht blamiert zu haben, weil ich ihm eventuell bei einer geschickten Fangfrage auf den Leim gegangen wäre.

„Ganz genau!“, bestätigte er jedoch meine Antwort und ließ mich erleichtert aufatmen. „Auf einer Mission hatte es mich früher mal auf eine abgelegene Insel verschlagen. Die Einwohner dort sind alle irgendwie um viele Ecken miteinander verwandt. Darum sehen die sich auch alle sehr ähnlich. Alle haben einen dunklen Teint, schwarze Haare und braune Augen. Die Inselbewohner halten kaum Kontaktpflege zur Außenwelt. Für Außenstehende gibt es dort nichts, was eine Reise lohnen würde. Somit sind die Leute dort stets unter sich. Man kennt demnach Menschen mit einer anderen Haar- oder Augenfarbe nur aus Berichten und Erzählungen. Die Wahrscheinlichkeit, mal solch einen anders ausschauenden Menschen zu treffen, geht gegen Null.“

Ah, nun verstand ich. Sollte auf der Insel jemals ein unbekannter Neuling entdeckt werden, so würde der von den Einheimischen automatisch begafft wie ein exotisches Wunderding. Weiter erzählte mir der Shinobi, dessen Name mir immer noch nicht eingefallen war, dass es sogar ältere Inselbewohner wären, die blonde Haare von Besuchern anfassen würden, nur um zu sehen, ob diese echt wären. Das klang so unglaublich, dass wir in der Runde am Tisch uns erstaunt äußerten. Doch es sollte wohl tatsächlich der Wahrheit entspringen.

Und was hatte nun das Einhorn mit mir zu tun? Doch dann fiel der Groschen und ich lachte kurz auf. Jemals eine Frau an Kakashis Seite zu wissen, war genau so unwahrscheinlich, wie ein Einhorn zu sichten. Vermutlich glaubte man sogar im Dorfe, es wäre eine sowieso Unmöglichkeit, dass mein Freund eine Beziehung hätte, weil er zeit seines Lebens als Einzelgänger unterwegs war. Sonderbar und fast schon ein bisschen traurig, was die Leute anscheinend so dachten. Es fiel mir wieder ein, wie Kakashis Chakraspur an mir klebte und der eine oder andere Shinobi mich merkwürdig beäugt hatte. Völlig ausgeschlossen, dass an einer wildfremden Frau seine Chakraspur haften könnte. Also so was!

YEEESS! ICH war das Einhorn! Und seit heute Morgen nach dem Rundgang durch Kakashis Arbeitsstelle war das nun wohl mit unsere Beziehung für den einen oder anderen offensichtlich, obgleich wir durch die Flure sehr unpersönlich nebeneinander hergegangen waren. Man hätte eher vermuten können, ich wäre lediglich eine Botin aus einem der anderen Reiche und hätte eine Nachricht an Hokage-sama übergeben müssen. Nun ja, eine Kleinstgruppierung im engsten Bekanntenkreis wusste ja schon länger Bescheid. Trotzdem wurde augenscheinlich getuschelt. So ein Einhorn wollte ja jeder mal gesehen haben.

Genauso, wie der Shinobi mit dem komischen Zahnstocher im Mund.

„Cleveres Mädchen“, kam es zufrieden vom Stäbchenkauer und reichte mir dann begrüßend seine Hand, weil er wohl wusste, dass dieses in meiner Heimat so Usus wäre.

„Genma!“, stellte er sich kurz und knapp vor.

Der Name kam mir ebenso bekannt vor, wie sein Gesicht. Woher, woher? Ich feilte immer noch die Groschen in meinen Hirnwindungen, damit sie endlich mal fallen könnten. Da half nur noch beschämtes Nachfragen.

„Wir sind uns schon mal flüchtig über den Weg gelaufen, aber ich weiß nicht mehr, wo das war“, gestand ich.

„Bei der Anmeldung zur Aufnahmeprüfung auf die Akademie. Du hattest mir am Meldetisch die Formulare überreicht“, kam es ohne großes Überlegen seinerseits.

Mit der flachen Hand deutete ich einen Schlag an meine Stirn an. Es stimmte. Plötzlich hatte ich wieder das Bild vor Augen, wie ich Genma Yuukis Startzettel zur Prüfung gab und er mich dabei irritiert anglotzte, just in der Sekunde, wo sich unsere Finger berührten.

Und nun stellten sich auch der Dritte im Bunde vor. Ebisu hieß der. Den hatte ich noch nie zuvor gesehen und war aber wohl ein ruhigerer Vertreter. Kerzengerade sitzend und still hatte er gelauscht. Zwischendurch schob er seine Sonnenbrille mit kleinen Rundgläsern auf der Nase zurecht.

Die Bedienung tippelte an unserem Tisch vorbei, um die Essenswünsche zu notieren. Ich hingen nutzte die Chance und zahlte bei ihr mein Essen. Sie unterbrach unsere Vorstellungsrunde. Schade, gerade wurde es interessant. So konnte ich durch Gais vorlautes Mundwerk noch erfahren, dass Ebisu, Genma und er früher in ein und demselben Ausbildungsteam waren. Viel zu selten liefe man sich heutzutage nur noch über den Weg, weil jeder von ihnen einen anderen Karriereweg eingeschlagen hatte. Obendrein hatten sie allesamt mit Kakashi zusammen die Schulbank gedrückt. So schloss sich ein weiterer Kreis. Gai konnte es sich in diesem Zuge auch nicht verkneifen zu berichten, wie sie Kakashis Team einmal grandios geschlagen hätten. Ebisu musste jedoch den Erfolg kleinreden. Mit dem damaligen Tollpatsch Obito in einem Team wären Siegeschancen von Beginn an gering gewesen. Für einen Moment schien es, dass jeder der Drei irgendeiner Erinnerung nachhing, sie aber sofort wieder beiseite schob.

Mein Blick fiel auf die Uhr. Doch schon so spät? Erschrocken sprang ich auf. Ich hatte doch noch den Arzttermin! Von meinem Übereifer überrascht, riss Ûhei den Kopf hoch und stieß ihn sich ganz empfindlich an der Stuhlkante. Da erst bemerkte man den Ninken. Ebisu beugte sich sogar etwas zu ihm hinab.

„Nanu, was machst du denn hier?“

Ûhei kroch hervor, machte an meiner Seite ganz artig „Sitz!“ sagte nur:

„Geheimmission!“

Er konnte und wollte nicht zugeben, dass er von seinem Herrchen zu mir zur Strafe abkommandiert worden war für die vielen geklauten Hundekuchen im Supermarkt. Wenigstens war er ehrlich und sagte häufig, dass es doch eine sehr milde Strafe wäre, an meiner Seite zu sein. Eher ein entspanntes Arbeiten mit vielen Pausen und Freiräumen.

Ich dankte für die nette Bekanntmachung und verabschiedete mich höflich. Die Shinobis ebenso. Verdächtig grinsend saß Genma auf dem Stuhl und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Es lag im etwas auf der Zunge, was sein schelmisches Grinsen schon fast zu einer boshaften Fratze werden ließ. Was auch immer ihm gerade bei der Verabschiedung durch den Kopf schoss, es schien mir unheilvoll und boshaft. Ich wünschte, er hätte es nie ausgespuckt. Tat er aber. Völlig unverblümt und rücksichtslos.

„Pass gut auf dich auf!“ sagte er mir noch und gab mir ein bitterböses Rätsel mit auf den Weg: „Wie erreicht man das Herzen einer Frau am schnellsten?“

„Was soll das, Genma!?“, polterte Gai sofort entsetzt los.

Ebisu verlor beinahe seine Brille und räusperte sich bestürzt. Ûhei zuckte zusammen. Man gut, dass mir die Geschichte hinter dieser Frage bekannt war. Da half nur absolute Souveränität. Auf gar keinen Fall durfte man sich von so etwas einschüchtern oder gar verunsichern lassen. So wandte ich mich zu ihm und sagte mit Grabesstimme.

„So sei es!“

Mit einem Pokerface machte ich auf dem Absatz kehrt, da das diabolische Grinsen nun auf meiner Seite war. Zu gerne hätte ich nun die neuen Reaktionen am Tisch beobachtet, doch dazu fehlten mir an meinem Hinterkopf ein paar passende Augen. Gai meinte irgendwann später, Genmas Gesicht wäre zu Eis erstarrt und sein Senbon wäre ihm zum ersten Mal im Leben in aller Öffentlichkeit aus dem Mund gefallen. Selbst von Ebisu, der sich selten in Streitereien einmischte, hagelte es eine Handvoll saftiger Tadel. Mit so einer Antwort meinerseits hatte niemand gerechnet, und Genma am wenigsten. Er ist ein schwer zu durchschauender Mensch. Keine Ahnung, was er sich dabei gedachte hatte, ausgerechnet diese Frage zu stellen. Ob das nur ein ganz übler Scherz sein sollte, eine Warnung oder weil er Kakashi eines auswischen wollte. Beide waren sich häufig nicht ganz einig. Kakashi kam immer ins Grübeln, wenn es um Genma ging. Was auch immer zwischen den beiden ein Problem war, es hatte Genma den Job gekostet, weiterhin zur Hokage-Leibgarde zu gehören. Vielleicht würde es sich in ferner Zukunft klären.

Ich dankte für die nette Bekanntmachung und verabschiedete mich höflichst. Äußerlich gefestigt, innerlich getroffen, trabte mit geknicktem Fuße ein Einhorn zum Arzt.
 

Teams wurden auf Missionen geschickt. Teams kehrten auch wieder nach Hause. Doch manchmal fehlte einer auf dem Rückweg. Im schlimmsten Falle musste das ganze Team sogar gerettet werden, weil die Mission fehlgeschlagen war. Dann wurden die Überleben lange und übelst verhört, getadelt, bestraft oder gar mit Spott übersät. Getröstet wurden sie nie. Niemand scherte sich um die zerrissenen Seelen und gebrochene Herzen. Nur kaputte Knochen und zerfetzte Körperteile wurden geheilt.

Wenn ein Teammitglied starb, so sprach man nicht darüber, wie und warum dieses geschah. Man machte es mit sich aus und teilte niemals den Schmerz.

Ein Shinobi zeigte keinen Schmerz.

Ein Shinobi weinte nicht.

Als Rin tödlich verletzt und Kakashi bewusstlos im Wald aufgegabelt wurden, machten schnell Gerüchte die Runde. Das hätte er nur getan, um die nächste Stufe des Sharingans zu aktivieren, warf man ihm vor. Vom Kameradenmörder Kakashi wurde da gelästert. Und viele glaubten das sogar und wandten sich von ihm ab.

Da war es kein Wunder, dass eines düsteren Tages Kakashis Spindtür mit Blut beschrieben wurde:

„Wie erreicht man das Herzen einer Frau am schnellsten? - CHIDORI!“

46 – Der Tag, an dem ich Geburtstag hatte

Mein schauspielerisches Talent der absoluten seelischen Unverwundbarkeit reichte nur bis zur Restauranttür. Kaum war diese voller Wut von außen zugeknallt, gierten meine Augen nach irgend einem Gegenstand, an dem man diese unbändige Hassattacke abbauen konnte. Sämtlichen Sicherungen in meinem Kopf drohten herauszufliegen. So was Freches! So was Unverschämtes! Kakashi hatte wohlweislich Fehler wie am Fließband in seinem Leben produziert. Allerdings müsste nun schon so viel Wasser den Fluss hinunter geflossen sein, dass man alte Themen auch mal belassen könnte. Genmas Spruch hallte in meinem Kopf wie ein Donnergrollen. Je mehr es nachhallte, desto schmerzhafter und tiefgründiger wurde es. Das war ekelhaft und böse und geheim von ihm gewesen. Was bildete sich dieser Typ eigentlich ein? Das hier müsste eigentlich Kakashis Wut sein, die ich an seiner Stelle für ihn austobte. Wie steckte Kakashi so etwas immer weg? Der würde nur mit den Schultern zucken und so besonnen und ruhig tun, als hätte Genma einen Witz über ein Paar abgewetzte Schuhe gemacht. Ja, so würde mein Freund nach außen hin damit umgehen. Aber nachts hatte er immer mal wieder Alpträume und Kopfkino von schlimmen Rückblenden, die ihn schweißgebadet hochschreckten. Ich kannte ihn doch mittlerweile gut genug.

Es schepperte und pollerte. Der Müllcontainer hinter Ichirakus Nudelbude außerhalb der Sichtweite von Passanten und Ninjas musste einiges aushalten. Und da ich chakralos war, würden weder Genma, noch Gai oder Ebisu beim Ramen futtern etwas von meinen Gefühlsausbrüchen mitbekommen. Meine geballten Fäuste und meine Fußtritte trotz Plastikschiene am Knöchel zimmerten einen unkontrollierten Beat gegen die Wand des Containers. Der Fuß war eh hinüber. Was sollte da noch schiefgehen?

Stumme Tränen verschleierten meine Sicht. Erst als meine Hände schmerzten und der Container eine üble Delle und einen scharfen Riss aufwies, gab ich auf. Dennoch hatte ich immer noch das unveränderte Verlangen, Genma eine rein zu prügeln. Zugegeben, da würde ich sofort den Kürzeren ziehen, falls ich überhaupt jemals mit meinen Fäusten in die Reichweite von dem Shinobi kommen würde. Haha, die plumpe Sherenina gegen den Jo-Nin Genma. Der Kampf wäre bereits entschieden, noch bevor er angefangen hätte. Trotzdem ging mir die Vielfältigkeit an Racheelementen nicht aus, die ich mir vor den inneren Augen zurecht malte. Eine Facette gruseliger und schwärzer als die andere. Hatte Kakashi jemals so etwas wie Rachegedanken verspürt? Keine Ahnung! Doch so, wie ich ihn kennengelernt hatte, konnte ich diese Frage nur verneinen. Eine Eigenschaft, die mir anbetungswürdig schien. Ich konnte nicht ohne Weiteres über solchen Dingen stehen und gelassen bleiben wie er, sondern bearbeitete lieber anstelle dessen eine Mülltonne. Man gut, dass hier wohl bis auf das Küchenpersonal niemand vorbeikam. Zeugen meines ungleichen Boxkampfes gegen den Container hätten verwundert den Kopf geschüttelt.

Meine tierische Begleitung saß unweit von mir und wartete geduldig, bis ich wieder in einen Modus wechselte, denn Ûhei aus seiner Sicht als normal bezeichnete. Zweimal, dreimal atmete ich langsam tief durch, zählte bis Zehn und machte mich auf den Weg. Die Zeit bis zum Termin, die ich hatte schinden wollen, war nun schon fast überfällig. Überpünktlich auf die Minute genau stand ich dann in der Praxis und ergab mich dem Schicksal, nun in einem völlig überfüllten Wartezimmer sämtliche Illustrierten der letzten Monate lesen zu dürfen. Seufzend sackte ich auf dem nächstbesten Stuhl zusammen. Der Tag hatte miserabel begonnen. Weshalb sollte er plötzlich zu Höhenflügen ansetzen?
 

Stunden später stolzierte ich wieder gut gelaunt durch die Straßen. Meine Wut vom Mittag hatte genau zur rechten Zeit einen heilsamen Dämpfer bekommen. Obgleich die Diagnosen vor ein paar Tagen im Krankenhaus in Bezug auf meinen Fuß noch recht düster geklungen hatten, war heute wohl der ambulante Halbgott in Weiß äußerst zufrieden damit. Ab sofort sollte ich ohne Plastikschiene mein Glück versuchen. Ich genoss die zurückgewonnene Bewegungsfreiheit. Es war, als hätte ich am Bein eine Eisenkugel samt Kette verloren. Die Schiene war zwar nicht schwer, doch unbequem und hinderlich gewesen. Gewaltmärsche sollte ich für den Beginn tunlichst vermeiden, wurde mir noch geraten. Nun denn, als ob ich von allein auf sportliche Ideen kommen würde...

Ich entschied mich, die Kinder von der Akademie abzuholen und zum Essen einzuladen. Irgendeinen Fast-Food-Tempel würden sie schon favorisieren, wenn sie sich beide einigen könnten. Asa liebte Burger, Yuuki hingegen Paste mit allen möglichen Saucen. Normalerweise hätten die beiden schon längstens Schulschluss gehabt, doch die Akademie hatte für die Prüfungen in den nächsten Tagen noch einige Nachhilfekurse angesetzt. Mein Sohn büffelte freiwillig vor lauter Prüfungsangst bis spät in die Nacht hinein und ließ sich keinen Kurs entgehen. Asa wiederum war von ihrem Klassenlehrer zwangsverdonnert worden. Sie konnte trotz ihrer jungen Lebensjahre schon einen ganzen Stapel an Schimpfwörtern gebrauchen, und sie war kreativ genug, diese auf Schulfächer zu übertragen. Wenn sie wieder einen ihrer Wutanfälle hatte, schimpfte wie ein Rohrspatz und die Bücher durch die Gegend pfefferte, sah das zu ihrem Leidwesen meist recht niedlich aus. Das durfte man jedoch auf gar keinen Fall laut anmerken, wenn einem das Wohnungsinventar heilig war. So ein Asa-Tornado konnte ganze Straßenzüge zerlegen. Da blieb man also lieber bierernst und tat seriös, indem man sie für ihr ungehobeltes Verhalten tadelte.

Tatsächlich hatte ich einen guten Moment abgepasst. Die Schulkinder aus den Abendkursen strömten gerade aus dem Akademiegebäude. Trotzdem war es ein leichtes, meine beiden Kinder aus der Masse herauszufischen. Asas Gezeter über unverständliche Grammatikübungen hörte man schon von Weitem. Da kam ich doch gerade recht mit meiner Idee, mal etwas herrlich Ungesundes futtern zu gehen. Und weil Yuuki wohl schon von der schrillen, lauten Stimme Asas arg überstrapaziert war, wurde es diskussionslos die Burger-Bruzzelei, welche aus unerfindlichen Gründen am heutigen Abend brechend voll war. Endlos lange Warteschlangen an der Kasse schoben die Zeiger der Uhr auf eine späte Abendstunde. Yuuki gähnte. Und auch Asa hing müde wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Planänderung. Wir nahmen die ganze Bestellung mit nach Hause und lärmten dabei, weil wir uns fröhlich über sinnlosen Quatsch unterhielten. Beinahe hätte ich noch den falschen Schlüssel ins Türschloss geschoben, weil man aus Gewohnheit heraus immer zuerst den eigenen Hausschlüssel aus der Tasche herausfischte. Na, den hätte ich dann an Kakashis Haustürschloss mit vollstem Elan verkantet und abgebrochen.

Während sich die Kinder samt Essenstüten zur Küchenzeile trollten, warf ich einen prüfenden Blick durch die Wohnung meines Freundes. Es war zwar sehr ordentlich, doch irgend etwas blieb immer liegen. Und Dank Asa blieb nun immer mal etwas mehr liegen. Beim Badezimmer angelangt, stutzte ich: Die Waschmaschine lief. Und das schon eine ganze Weile, denn das Anzeigelämpchen blinkte bereits den Endspurt zum Schleudergang herbei. Verwundert trat ich den Weg zum Schlafzimmer an und spähte vorsichtig durch den Türspalt. Oh welch Wunder, Hokage-sama hatte tatsächlich mal die richtige Fährte nach Hause gefunden. Vorsichtig schubste ich die Tür an, um den Spalt lautlos zu vergrößern. Keineswegs wollte ich hereinplatzen und seinen bitter notwendigen Schlaf stören. An den Türpfosten gelehnt betrachtete ich eine Weile meinen schlafenden Freund, wie er sich da so selbst in die Decke eingewickelt hatte. Gleichmäßig Atemzüge drangen sanft zu mir ans Ohr. Kakashi schnarchte kaum. Ein breites Lächeln zog sich über mein ganzen Gesicht. Ich mochte ihn einfach gerne anstarren und in Gedanken an ihm 'rumsabbern. Zu Beginn unseres Kennenlernens hatte mich Kakashi immer mal wieder schief von der Seite angesehen, weil er sofort spürte, wenn er beobachtet wurde und Blicke auf ihm ruhten. Da hatte er dann immer sofort gedacht, etwas wäre nicht in Ordnung. Er, der ja seit jeher immer und überall im Dorfe auf irgendwelchen privaten Lauschposten war, aber sich stets bemühte, durch Verhalten und Kleidung komplett unsichtbar für die Umwelt zu sein, wurde beobachtet. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass man sich nicht mehr verstecken konnte. Und als Kage ginge das schon gar nicht. Das wäre wohl die gerechte Strafe für jemanden, der so viel Mist gebaut und sich früher lieber aus allen Verantwortungen herausgezogen hätte. Zumindest hatte er diese Feststellung selbst einmal über sich gesagt.

Es wurde lauter in der Küchenecke. In der Hähnchennugget-Box war problematischer Weise nur eine ungerade Anzahl von Nuggets verpackt worden. Man stritt um den letzten Nugget. Yuuki hielt wohl die Oberhand inne, denn Asa zeterte. Es war wohl heute weder mein, noch Asas Tag, stellte ich fest. Ich seufzte, denn ich war mir nicht so ganz sicher, ob die beiden die frühkindliche Trotzphase tatsächlich jemals hinter sich gelassen hatten. Oder beide waren direkt von der Trotzphase hinüber in die Pubertät gesprungen, ohne uns geplagten Eltern eine Verschnaufpause zu gönnen. Kinder konnte man immer mal wieder gerne an die Wand klatschen oder im Wald aussetzten. Es gab so unglaublich viele Situationen, in welchen man gerne so gehandelt hätte, wenn man denn dürfte. Dummerweise würden unsere beiden als Shinobi-Anwärter wohl auch ohne Kieselsteine und Brotkrumen nach Hause finden. Kakashi hatte sarkastisch gemeint, wenn er die beiden in ein Gen-Jutsu stecken würde, dann wäre der Rückweg mindestens doppelt so weit. So ein Wald könnte dann wirklich riesig groß wirken und unzählige doppelte Bäume habe. Ich hatte diese Art von Humor wirklich gern, denn wir teilten ihn.

Nichtsdestotrotz wurde es nun aber Zeit, für Ruhe zu sorgen. Ich wandte mich wieder von meinem Türpfostenplatz ab, zog sachte die Tür heran und meinte nur:

„He, ihr beiden! Mal ein bisschen leiser! Kakashi ist schon zuhause.“

Ok, das waren nun die falschen Worte gewesen und bewirkten genau das Gegenteil. Asa schoss wie von der Tarantel gestochen voller Freude an mir vorbei und stürmte das Schlafzimmer. Kurz darauf kam ein schlaftrunkener Kakashi samt einem kindlichen Klammeraffen auf dem Arm aus dem Zimmer getorkelt. Man hatte es mit den Bälgern nicht leicht.

„Tut mir leid...“, murmelte ich schuldbewusst, weil ich den Überfall weder geahnt, noch verhindert hatte.

Darüber hinaus hätten wir ihm garantiert etwas zum Abendessen mitgebracht, hätten wir um seine Anwesenheit gewusst. Doch mein Freund winkte müde ab, stellte den Klammeraffen wieder auf dem festen Zimmerboden ab und lehnte sich rücklings an die Arbeitsplatte. Wo wäre eigentlich Ûhei abgeblieben, fragte er und rieb sich dabei den Schlaf aus den Augen, was nicht wie gewünscht gelang. Das war eine gute Frage. Mir war in dem Trubel gar nicht aufgefallen, dass er verschwunden war. Der wäre in einer Wolke verpufft, meinte Yuuki schmatzend und ich tadelte ihn, dass man beim Essen die Futterluke zu schließen hätte. Kakashi hatte stumm gelauscht und nickte als Zeichen, dass das Verschwinden wohl in Ordnung wäre. Solch ein Justu des vertrauten Geistes wäre kein Dauer-Abo. Auch das löste sich irgendwann einmal auf, weil die Geister nach Ruhe suchten. Nach einer Weile könnte man Ûhei wieder herbeirufen.

Die Kinder hatten ihr Festmahl beendet. Ich naschte noch zwei oder drei erkaltete Pommes aus dem Pappbecher und sortierte dann die Verpackungen in den Müll. Unsere Küchensitzung löste sich auf. Während Kakashi seine Tochter ins Bett scheuchte, räumte ich die Waschmaschine aus. Das ging fix, denn eine komplette Shinobi-Uniform füllt schon eine ganze Waschtrommel aus, unter der Voraussetzung, man fummelte die Protektoren aus der Weste heraus. Letzteres bekam man noch recht gut hin, aber bis heute hatte ich den Trick nie verstanden, wie man die Protektoren auch wieder in die engen Stofftaschen zurückschob. Mir kam es immer wieder vor, als wäre die schwarz-graue Hokage-Weste beim Waschen eingelaufen. War sie natürlich nicht. Mein Freund bewies mir mit wenigen Handgriffen jedes Mal wieder, dass alles ineinanderpasst. Pfff, es waren seine Arbeitsklamotten. Sollte er sie doch selbst wieder zusammenbasteln. Ich hatte kapituliert. Immerhin war ich ja schon gnädig, dass ich aufgetrennte Nähte behob oder Risse stopfte. Die eine olivfarbene Weste war mir ja mittlerweile ein Dorn im Auge. Ebenso die dunkelblauen Hosen. Solch zerfledderte Teile. Aber an denen hing er wohl am meisten und durfte auf gar keinen Fall gegen eine Neue ersetzt werden. Eine von vielen Macken, die mein Freund so an sich hatte.

Auf dem Flur beschwerte sich mein Sohn über die lange Wartezeit. Es war Zeit für eine gesunde Mütze voll Schlaf für jeden von uns.
 

Verzweifelt stand ich am nächsten Abend vor meinem Kleiderschrank. Der war voll bis obenhin, aber das Passende zum Ankleiden war nicht darunter. Dabei passierte heute etwas noch nie Dagewesenes: Ich war von Kakashi zum Essen eingeladen worden! Unglaublich, aber wahr. Und zwar nicht mal eben in so einer Garküche oder an einem Onigiri-Stand im Vorbeigehen wie sonst immer, weil es sich so spontan ergab. Nein, ein echtes Restaurant! Man könnte sagen, es wäre unser erstes Date. Macht man so was nicht normalerweise zum Anfang einer Beziehung, um zu sehen, ob man überhaupt Interesse für den jeweils anderen hegte? Aber was war hier in unserer Patchwork-Familie schon normal? Gar nichts. Und so hätte man schon wieder sagen können, es wäre normal, dass unsere Beziehung eine andere Reihenfolge des Kennenlernens hatte.

„Maaaann Mama, nun hat der Gegner mich platt gemacht!“, beschwerte sich Yuuki lautstark.

Auch Asa war wenig begeistert. In meiner Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung hatte wir bisher nur wenig potentielle Plätze ausprobieren können, wo der Fernseher am günstigsten stand. Nun befand er sich mal wieder auf einem kleinen, wackeligen Tisch im Schlafzimmer. Die Kinder hatten die Spielekonsole angeschlossen, saßen mit einer großen Schüssel Chips auf meinem Bett und bestritten abenteuerliche Quests in einem Rollenspiel. Allem in allem ein guter Platz zum Zocken. Nur meine Person, die ständig zwischen Spiegel und Schrank pendelte und somit immer wieder vor der Glotze vorbeihüpfte, störte den Spielspaß empfindlich. Ich sah es ein. Das ging gar nicht.

„Asa, wir müssen eh bald los. Könntet ihr nicht mal irgendwo einen Speicherpunkt anpeilen?“, fragte ich vorsichtig an und bekam ein gepfeffertes „Nein!“ an den Kopf geworfen.

'Tschuldigung, dass ich gefragt hatte. Dabei war es abgesprochen, dass ich Asa zu einer Schulfreundin bringen sollte. Praktischerweise feierte die heute eine Kinder-Pyjama-Party. So war schon mal ein Kind über die Nacht gut betreut. Yuuki war in diesem Videospiel versunken und würde so schnell nicht wieder auftauchen. Bull würde auf ihn aufpassen. Die große, dunkle Bulldogge würde beim Daddeln einschlafen, aber im Notfall gut auf mein Kind Acht geben.

Mein Kleiderproblem hatte ich noch nicht gelöst. Dafür baute sich allmählich der Zeitdruck auf. Ach, was soll all die Maskerade! Ich wählte der kalten Nacht entsprechend einen dicke Leggings, darüber ein langärmliges Kurzkleid und Stiefel mit flacher Sohle. Wer könnte schon vorher ahnen, wohin es Kakashi mit seinen Ideen hinzog und wo man wieder überall herumturnen müsste. Er hatte nur von einem Restaurant gesprochen, jedoch nicht, wo es wäre. Das konnte überall sein. Meine Wischmopp-Haare bändigte ein Zopfgummi. Ein kuscheliger Schal und die dicke Winterjacke mit den vielen Taschen rundeten das Gesamtbild ab, so dass ich alles Notwendige verstauen und auf eine Handtasche verzichten konnte. Sicher war sicher.

Kurz darauf waren Asa und ich auch schon unterwegs, und ich bereute meine Entscheidung keine Sekunde. Es war eiskalt. Im Westen konnte man die letzte Dämmerung erahnen, die sich langsam davonschlich und den Tag mit sich zog. Über unseren Köpfen breitete sich ein kristallklarer Sternenhimmel in alle Richtungen aus. Kein Wölkchen sollte diesen Ausblick trüben. Nicht einmal die Atemwolken, die aus unseren Mündern gen Himmelszelt. Nur eine kräftige Mondsichel konkurrierte mit dem Funkeln der Sterne. Gespenstisch reflektierte das Mondlicht auf den Dachziegeln der Häuser und gab ihnen einen hochpolierten Glanz. Leider machte Asa keine Anstalten, sich an diesem kleinen Naturschauspiel zu ergötzen, so wie ich es für nur einen kleinen Augenblick gern getan hätte. Zugegeben, es war wirklich kalt. Wir waren gerade mal eine Viertelstunde Fußmarsch unterwegs und schon fast blau angelaufen. Kaum auszumalen, dass im letzten Jahr das Wetter schon so mild gewesen war, dass wir hatten Hanami feiern konnten. Dieses Jahr würden die Kirschblüten noch eine ganze Weile auf sich warten lassen.

Ich lieferte Asa bei der richtigen Adresse ab und eilte durch die Straßen. An einem Teehaus hatten sich mein Freund und ich verabredet, aber die Kälte trieb mich hinein. Man könnte eh nicht abschätzen, wann er mal die Bürotür von außen schließen würde. Da wollte ich mir keineswegs blaue Füße und abgestorbene Finger holen. Als eingefleischter Kaffeetrinker hatte ich wenig Ahnung von Tee. Und da Kakashi noch lange nicht in Sichtweite und ich gerade die einzige Kundin im Laden war, ließ ich mich von dem jugendlich wirkenden Verkäufer durch die Welt der Grünteesorten führen. Mein Gaumen war nicht auf Teegeschmäcker geschult. So war ich umso erstaunter, dass die grünen Tees tatsächlich allesamt verschieden schmeckten. Ich bestellte eine kleine Kanne vom Kukicha. Das war zwar nicht der hochwertigste, dafür aber der fruchtigste Tee unter den Grünen. Mir schmeckte er. Mit der dampfenden Tasse in den Händen blickte ich verträumt hinaus und wartete auf das, was da auch immer kommen möge.

Nun ja, so ungewiss war das Schicksal nicht, was sich da schon bald dem Teehaus annäherte. Kakashis heller Schopf war auch im gedämpften Laternenlicht unter den anderen Passanten schnell auszumachen. Hmm, hier warten oder entgegen gehen? Die dünnen Bambusrohre klapperten ganz aufgeregt, als die Ladentür geöffnet wurde. Mein Freund hatte mir die Entscheidung abgenommen. Völlig tiefenentspannt mit den Händen in den Hosentaschen stellte er sich lautlos neben mich.

„Bist ja schon da?“, stellte er verwundert fest.

„Ich bin grundsätzlich vor dir da. Da ist keine Kunst“, lachte ich kurz auf.

„Ist wohl so“, kam es bedröppelt zurück.

Eine kurze Abschiedsgeste beim Bezahlen und schon standen wir beide draußen auf der Straße. Gespannt trat ich von einem Fuß auf den anderen. Die Kälte trug ihren Teil dazu bei. Kakashi schaute etwas nachdenklich die Straße entlang, als würde er seine Idee bereuen.

„Also die Gegend ist nicht die allerbeste...“, versuchte er sich nun um Kopf und Kragen zu reden, obgleich ich gar nicht wusste, wohin es mich nun führen würde.

Da stieg doch die Neugier sofort ins Unermessliche. Baden in unterirdischen Katakomben, Übernachten mitten im Wald, Balancieren auf Ästen, Aufspringen auf fahrende Züge … Mit Kakashi hatte ich schon eine Menge durchgemacht. Abenteuerlustig starrte ich ihn mit blitzenden Augen an, dass er verlegen lächelte und sich dann mit mir auf den Weg machte. Schon nach wenigen Straßenzügen wurde mir relativ schnell klar, zu welchem Stadtteil wir uns entgegen bewegten. Es gab eine Straße, da wurden die Nacht zum Tag gemacht. Tagsüber herrschte hier tote Hose, doch nachts tobte dort das pure Leben. Zwischen den Karaokebars, Glücksspielhöllen und Kneipen roch es stets nach Alkohol und Sex. Kam man auf dieser Bar- und Kneipenmeile vom Wege ab und landete man in einer der Nebengassen, so wurde es umgehend schmuddeliger, um nicht zu sagen: rotbelichteter. Und durch so eine Gasse irrten wir nun auch. Freiwillig wäre ich wohl nie hierher geraten. Und da es immer dunkler und enger zwischen den Häusern und die Gestalten immer bizarrer wurden, machte sich neben dem Hungergefühl nun ein ganz anderes flaues Gefühl in der Magengegend breit. Am Ende der Gasse, wo sich wohl der dunkelste Ort auf der ganzen Welt befand, hielten wir vor einer unscheinbaren Holztür.

„Sagt dir das Restaurant am Friedenspark etwas?“, hakte Kakashi nach.

Klar kannte ich das. Es sollte eine sensationell gute Küche haben. Doch für meinen Geldbeutel fern jeglicher zahlbarer Reichweite. Demnach hatte ich es nie besucht oder mich kulinarisch gar in die Nähe gewagt. Aber probiert hätte ich dort gerne einmal etwas, nur um mal ein gutes heimisches Essen von einem schlechten unterscheiden zu können.

„Dort haben lange Zeit zwei Brüder gekocht. Doch wie es immer so ist, geritten sie in Streit. Der eine führt nun das Restaurant allein. Der andere kocht nur noch für einzelne Gäste wie es ihm beliebt“, wurde ich aufgeklärt. „Du wolltest doch mal richtig Essen gehen, oder?“

Da war es wieder. Mein gedankenlesender Freund. Konnte alles, sah alles, wusste alles. Knarzend schob sich die Holzschiebetür beiseite. Als wir durch sie eintraten, war ich baff. Von außen sah das Haus abweisend, fast schon baufällig aus. Doch hier drin war es warm, hell und freundlich. Ein ganz normales Wohnhaus inmitten eines schlüpfrigen Viertels. Das war wirklich mal ein Geheimtipp. Sofort kam auch die Dame des Hauses in Yukata angelaufen, begrüßte uns überschwänglich mit Verbeugung und wartete, bis wir unsere Schuhe sorgfältig im Genkan abgestellt hatten und in die bereit gestellten Gästepantoffeln geschlüpft waren. Mir schwante Übles. Unter diesem Dach herrschten bestimmt sämtliche Anstandsregeln der höheren Gesellschaft. Wer nicht in einem heimischen Clan geboren und in all diesen Sitten und Gebräuchen eingeführt worden war, konnte nur in alle erdenklichen Fettnäpfchen treten. Da half nur eines: Abgucken bei den Einheimischen, am Besten zu Beginn nicht reden und demütig hintertrippeln. Ich grüßte höflichst lächelnd mit einer Verbeugung zurück und verfolgte meinen Plan des Unsichtbarmachens. Es war ein schönes Wohnhaus aus traditioneller Holzständerbauweise, dass an allen Ecken und Enden Geräusche machte. Es ging einen Flur entlang, eine Treppe hinauf bis vor eine weitere Schiebetür. Bis hierhin hatte ich schon wieder die Kunst der Shinobis bewundern können, wie Kakashi es geschaffte hatte, völlig lautlos zu gehen während ich wohl jede Diele in Schwingungen versetzte. Hoppla, beinahe ein Fettnäpfchen erwischt! Vor uns war ein schlichtes Zimmer mit Tatami-Matten ausgelegt. Also fix auf dem Flur aus den Pantoffeln geschlüpft, denn Tatami betrat man niemals mit Schuhen. Dafür wurde man mit einem tollen haptischen Gehgefühl unter der Fußsohle belohnt. Auch Sitzen konnte man auf den Matten gut. Allerdings schaffte ich es mit meinen Kartoffelstampferbeinen nicht, im typischen Frauensitz zu sitzen. Wie machten die Frauen in Konoha das eigentlich immer? Mit taten schon nach wenigen Minuten die Knie weh, die Unterschenkel samt Füße schliefen ein und kribbelten dann wie wild, wenn man sich wieder erheben wollte. Zwei Essensplätze waren dort auf dem Fußboden schon bereitgestellt worden, als hätte man Zirkel und Lineal benutzt, um das Geschirr und die Sitzkissen auszurichten. Eine Reispapierlampe erhellte den Platz. Ich musste beim Hinsetzen wohl ein wenig geknickt geschaut haben, wie mir die Schmerzen durch diese Sitzhaltung in Erinnerung kamen, weil Kakashi leise meinte:

„Wir sind hier allein. Du kannst dich setzen, wie du magst.“

Erleichtert atmete ich auf und rutschte vom Fersensitz in den Seitsitz, kaum war die Hausdame verschwunden. Diese hatte zuvor in einer ganz bestimmten Reihenfolge ein Schüsselchen nach dem anderen aufgetischt. Die kleinen Speisehäppchen und Suppen waren so hübsch und filigran wie Kunstwerke angerichtet. Ich traute mich kaum, sie mit den Essstäbchen zu zerstören, zumal ich mir auch gar nicht immer sicher war, ob man den Teil der Speise nun essen konnte oder ob es nur reine Dekoration war. Hatte man es sich dann aber auf der Zunge zergehen lassen, war es eine überwältigende Geschmacksexplosion. So gut hatte ich noch nie gegessen. Und so sagte ja auch ein altes Sprichwort:

„Man isst sich nicht satt, sondern glücklich.“

Die Zeit verging wie im Fluge. Während des Essens fielen einem belanglose Alltagsgeschichten ein, aus denen sich neue Geschichten ergaben. Ein wirklich schöner Abend. Kein Zeitdruck, keine nörgelnden Kinder. Nur wir zwei. Am liebsten wäre ich einfach hiergeblieben.

Es mochte wohl kurz vor Mitternacht sein, als wir uns auf den Heimweg machten. Wir wollten Begegnungen mit den ersten Schnapsleichen im Vergnügungsviertel umgehen, weshalb wir den Weg durch den Park am See wählten. An einem Pavillon am Seeufer hielten wir kurz inne. Noch immer war ein brillanter Sternenhimmel zu bewundern. Das Mondlicht erhellte die Baumwipfel und glänzte auf den Dächern. Der See ruhte still wie ein Spiegel und reflektierte die Mondsichel. Eine leichte Brise kam auf und ließ mich trotz der dicken Jacke frösteln. Der helle Mond, die dunkle Nacht und der kühle Wind. Wie gebannt starrte ich den Himmelsbegleiter an.

„Irgendwie hab' ich dem Mond viel zu verdanken“, platze ich in die Stille hinaus.

„Dem Mond?“

Kakashi wandte seinen Blick irritiert nach oben.

„Weißt du noch, wie du mich das allererste Mal allein besucht hattest? Oder als du mich da auf dem Stein am Fluss eingesammelt hattest? Oder als wir da am Strand waren? Ganz oft hatten wir Vollmond. Ich glaub', der verbindet uns!“, philosophierte ich vor mich her.

„Ahja...“, kam es belustigt von meinem Freund zurück, der nun just in seiner Tasche kramte, als man aus der Ferne die Turmuhr Mitternacht schlagen hörte. „Ich sehe schon, ich hätte dir also lieber ein Stück Mond kaufen sollen, als das hier. Mal wieder voll vorbei gegriffen beim Geschenkekauf.“

Ein farbiges Kuvert kam zum Vorschein und wurde mir entgegen gehalten. Es war nicht zu übersehen, wie sich Kakashi über meinen verdutzen Gesichtsausdruck amüsierte.

„Das Original ließ sich leider nicht verpacken. Ich hoffe, dass ist in Ordnung so. Alles Gute zum Geburtstag!“

Das wurde ja immer rätselhafter. Und wie ich Kakashi kannte, musste es etwas total Verrücktes sein. Nervös rissen meine Finger den Umschlag auf und hätten beinahe noch den Inhalt zerfetzt. Es sah wie ein amtliches Formular aus. Nein, eine Kopie davon. Schräg hielt ich den Zettel ins Mondlicht, um überhaupt etwas entziffern zu können. Ich konnte gar nicht so recht glauben, was darauf stand. Mein Gesichtsausdruck machte eine Reise von ungläubig über verwundert zu weinend. Ich schlang meine Arme um Kakashis Hals, heulte vor Freude Rotz und Wasser und stammelte:

„Wie hast du das gemacht?“

„Du wolltest es unbedingt haben“, war die geheimnisvolle Antwort.

„Aber, aber, aber … Das kann ich doch nicht annehmen? Bist du irre?“

„Du willst den Brief nicht? Ok, nächstes Mal grabe ich es aus und lasse es herkarren. Deine Chefin bekommt den Transport bestimmt geregelt“, wurde ich lachend aufgezogen.

„Idiot!“, knuffte ich ihn und stellte mir gerade bildlich die unzähligen Tonnen Erdreich vor.

Wir setzten unseren Heimweg fort. Man gut, dass mein Freund bei mir war und mich immer scherzend daran erinnerte, nach vorn zu blicken. Ohne ihn hätte ich ziemlich viele Hindernisse wie Straßenlaternen oder Briefkästen umgerannt, weil ich die ganze Zeit nur auf den Zettel starrte.

Die Hausruine am Meer, welche ich so gerne erworben hätte von meinem Lotteriegewinn, aber kläglich gescheitert war, gehörte nun mir. Oder genauer gesagt: Nur die Hälfte davon. Die andere Hälfte gehörte meinem Freund. Wenn wir uns mal streiten würden, könnte er so wenigsten nicht rausgeworfen werden, meinte er nur. Pragmatiker durch und durch.

47 - Der Tag, an dem einer zurückblieb

Die Kirschblüten mussten in diesem Jahr einige eisige Winde überdauern. Selbst im März, wo es für gewöhnlich wärmer wurde, hatte die Sonne noch nicht ihre volle Kraft entfalten können, um den Boden vom Eis zu befreien und die letzten Winterwolken aufzulösen. Und so war es dann Anfang April in den Gefilden von Konoha doch sehr ungewöhnlich zu beobachten, dass hier und da noch letzte Überreste an dreckigen Backschneehaufen in den Straßenwinkeln zurückgeblieben waren und die Kinder auf den Klassenfotos diesmal in dicke Jacken gehüllt in die Kamera des Schulfotografen alberten. Neben dem Wetter brachte auch die Zwischenprüfung so manch einen Erstklässler auf dem Weg in die zweite Klasse gehörig ins Schlittern. Der morastige Untergrund des Trainingsplatzes, die glitschigen Äste und die eingefrorenen Finger hatten da schon einige Schüler an den Rand des Wahnsinns treiben können, weil für den praktische Teil ein schwerer Outdoor-Parcours in einer knapp bemessenen Zeit absolviert werden musste. Urig wie Waldschrate, aber voller Stolz und Glück kehrten unsere Kinder vom Parcours nach dem ersten Prüfungstag heim. Das wäre ein Klacks gewesen, meinte Asa und machte ihr Späße über Yuuki, der vor dem Start noch heftigen Durchfall vor Aufregung bekam und beinah von der Kloschüssel nicht mehr heruntergekommen wäre. Nicht nur blöd für ihn allein, hätte er nicht antreten können, sondern auch für seinen beiden Teammitglieder, die dann ebenfalls durchgefallen wären. Hatte sie erst noch gespottet, wendete sich das Blatt schon am Folgetag zu Asas Ungunsten, als es um die schriftlichen Arbeiten ging. Meinem Sohn ging es zwar körperlich und seelisch noch schlechter, denn er übergab sich mehrmals, schloss aber zur Verwunderung aller die Theorie-Prüfung als Jahrgangsbester ab. Selbst Kakashi äußerte sich erstaunt, obgleich er mir von vornherein prophezeit hatte, Yuuki wäre ein Kandidat für die oberen Spitzenplätze. Aber in allen Bereichen auf Platz Eins zu stehen, war schon eine Hausnummer an sich, wenn man hinzu noch berücksichtigte, dass Yuuki die Leistungen trotz Prüfungsangstattacken meisterte. Asa hingegen fiel sang- und klanglos durch. Gerade noch himmelhochjauzend und nun zu Tode betrübt saß sie dann am Abend heulend bei ihrem Vater auf dem Schoß und spielte wieder Klammeraffe. Wir wünschten ihr am nächsten Morgen am Frühstückstisch allesamt viel Glück und drückten alle Daumen, damit sie wenigstens über die Nachprüfungen noch ihre Chance auf die Versetzung wahren könnte. Tat sie dann auch. Mit Ach und Krach bestand sie und brachte freudestrahlend ihr Zeugnis mit. Puh, wieder einen Meilenstein erreicht und eine Sorge weniger. Leider teilte Yuuki diese Ansicht überhaupt nicht. Er dachte nun schon voller Panik an die Genin-Prüfung im nächsten Jahr und hatte wieder Bauchschmerzen und Übelkeit. Ich fühlte mich hilflos, weil ich nicht wusste, wie man ihm diese Angst hätte nehmen können und verließ mich auf das alte Sprichwort:

„Kommt Zeit, kommt Rat!“

Doch bei meiner Ungeduld kam die Zeit viel zu langsam in die Gänge und brachte auch keinen Rat mit sich. Eines Abends, als die Kinder schon längst im Bett lagen, machte ich meinen Sorgen gegenüber Kakashi Luft. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Mitschüler, machte sich Yuuki unentwegt Gedanken, wie es um seine Zukunft bestellt wäre. Mein Kind hatte auf der Akademie eine stille, aber steile Wandlung durchlaufen. Aus der anfänglichen Neugier und Faszination auf die große, unbekannte Ninja-Welt war schon nach wenigen Monaten ein inniger Wunsch entbrannt, nämlich selbst einmal ein herausragender Shinobi zu werden. Er hatte erfahren, wie er ein Teil dieser verschworenen Gemeinschaft werden konnte und dass er mit seinem Talent gar nicht so schlecht dastünde. Allerdings hatte er kein gesundes Selbstbewusstsein, sondern haderte permanent mit sich und seinen Fähigkeiten. Woher diese Selbstzweifel kamen, konnte ich mir nicht erklären. Das Lernen fiel ihm leicht, obgleich er nicht immer der fleißigste Schüler war. Der Fleiß war erst seit den Akadamietagen bei ihm ausgebrochen. Stets behauptete er, nicht gut genug zu sein. Und so trainierte er mittlerweile jede freie Minute. Manchmal erkannte ich mein eigenes Kind gar nicht mehr wieder. Es machte mir Angst. Grund genug, meine Befindlichkeiten bei meinem Freund abzuladen. Ich wollte gar keine Nonplusultra-Lösung für meine Bedenken von ihm bekommen. Es genügte mir, ein paar neue Impulse von außen zu sammeln, um das Chaos in meinem Kopf zu ordnen. Ich öffnete eine Flasche Wein und gesellte mich samt Glas in der Hand zu meinem Freund an den Küchentisch.

„Weißt du,...“ redete ich mir von der Seele. „... als ich damals nachgegeben hatte und ihn zur Akademie schickte, wollte ich nur, dass er auf Gleichgesinnte trifft und seine Kräfte kontrollieren lernt. Jetzt aber ist er plötzlich in einem absoluten Trainingswahn und findet gar kein Ende mehr. Gestern war er so fertig, dass ich ihn auf dem Trainingsplatz einsammeln musste. Der konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Er behauptete, er müsste noch was üben. Ich habe das Gefühl, er gibt sich die Schuld für mein Unglück, weil er mir nicht helfen konnte.“

„Inwiefern?“, hakte Kakashi relativ emotionslos nach ohne seinen Blick zu heben.

Er war hochkonzentriert in Papierkram vertieft, der am Besten schon hätte vorgestern erledigt sein müssen. Trotzdem wusste ich, dass er genau zugehört hatte.

„Er ist doch immer so harmoniebedürftig und strebt stets danach, dass man es allen recht macht. Als ich dann da in das Kellerloch gefallen war, hat er sich wohl in den Kopf gesetzt, dass er mich hätte beschützen können mit seinen Jutsus, hätte er mich begleitet. Stattdessen schlief er aber im Hotelbett und ich rannte allein durch die Stadt. Er macht sich ständig Vorwürfe. Ach, ich weiß nicht. Mal ehrlich, jemand in Yuukis seelischem Zustand kann doch gar nicht Ninja werden, oder? Würdest du so jemanden in den Kader aufnehmen, der beim kleinsten Hindernis Amok läuft?“

Ein großer Schluck aus dem Weinglas füllte meinen Mund aus. Ich behielt ihn einige Sekunden auf der Zunge, um die feinen Nuancen herauszuschmecken, bevor es die Speiseröhre hinabging und sich wollig im Bauch anfühlte. Im Glas schwenkte sich das flüssige Rot noch wenige Male umher, ehe es sich wieder beruhigte. Es war ein schönes Weinrot. Tiefdunkel, aber brillant. Ein Rot, wie ich es nur von Rosenblättern kannte. Und ein edler Tropfen obendrauf. Das war ein guter Zufallskauf gewesen, als ich gestern von der Arbeit aus Keishi zurückgekehrt war.

Kakashi legte den Stift beiseite, klappte den Ordner zu, in welchem er gerade noch Schriftstücke durchforstet hatte und schob ihn nun auf dem Tisch zur Seite. Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen, als er mich prüfend anblickte. Das sah ich selbst durch seine Maske hindurch. Er war zwar schon vor einer Weile mit Sack und Pack in Form von Akten nach Hause gekommen, hatte aber noch keine Notwendigkeit gesehen, sich von seiner Uniform zu trennen, obgleich ihm bewusste war, dass ich das nicht leiden mochte. Arbeit war Arbeit und Zuhause war Zuhause. Bei Kakashi war es ein und dasselbe. Da gab es noch nicht einmal einen fließenden Übergang zwischen Privatem und Beruflichem, auf dass die eine Phase in die andere übergehen würde. Es existierte in seinem Rhythmus immer nur die Arbeit mit Leerlaufpausen. So, wie er da auf meiner Küchenbank saß, hätte er sofort aus dem Fenster hüpfen und ins nächste Gefecht ziehen können. Gerade eben hatte ich aber wohl Glück, bei Hokage-sama eine Audienz ergattert zu haben. Er würde wohl nicht so fix wieder gehen.

„Ist das eine Fangfrage?“, fragte er leicht belustigt.

Ja, ok. Die Frage war wohl ungünstig formuliert. Zwar hatte ich mich mit dem Schicksal abgefunden, dass mein Kind höchstwahrscheinlich einen Shinobi-Weg wählen würde. Doch im tiefsten Winkel meines Herzen hoffte ich das Gegenteil. Egal, wie gut oder schlecht er auf der Akademie abschneiden würde, eine offizielle Absage, jemals in den auserwählten Kreis aufgenommen zu werden, würde ich wohl begrüßen, aber bei Yuuki wohl alle Träume zerstören. Würde er wider meiner Erwartung aufgenommen, würde es mir das Herz brechen. Und somit wäre jede Antwort von Kakashi in die eine oder die andere Richtung falsch. Da gab es anscheinend nur den diplomatischen Mittelweg, und wir beide brauchten nicht viele Worte untereinander, dass er verstanden hatte, worum es mir im Eigentlichen ging.

„Erinnerst du dich noch, wie ich dir mal erzählte, dass kaum noch Shinobis im Dienst gebraucht werden?“

Ich nickte. Das war schon länger her, aber es kam mir nun wieder frisch zurück ins Gedächtnis. Es waren Friedenszeiten. Die Feudalherren der großen Reiche kooperierten untereinander. Die kleinen Reichen begehrten zwar auf, schienen aber noch kontrolliert zu agieren, auch wenn man das Brodeln spüren konnte. Aufträge kamen kaum noch rein. Man brauchte demnach zwar nur noch wenige, dafür aber extremst gute Shinobi.

„Wenn ich mich entscheide jemanden aufzunehmen, liegt es nicht nur allein daran, dass derjenige ein Meister seines Faches ist, sondern ich muss mich auch 101% auf den verlassen können. Es muss jemand sein, der seine eigenen Interessen hinten anstellen kann, um seine Mission zu erfüllen. Wenn man nicht den nötigen Ernst mitbringt, ist die ganze Aktion von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Und es gehört auch dazu, dass man Dinge auf einer Mission entscheiden und tun muss, die einem absolut widerstreben. Hadert man stets mit sich selbst und stellt sein Handeln in Frage, ist man Fehl am Platze. Denn im schlimmsten Falle besiegelt ein Fehltritt das eigene Schicksal.“

Ich nippte wieder an meinem Wein und dachte kurz über diese Antwort nach. Mein Blick trübte sich zur Traurigkeit.

„Um deine Frage zu beantworten...“, fuhr Kakashi weiter fort. „Yuuki kann das. Der ist zwar unglaublich emotional, doch wenn er sich innerlich erstmal gefunden hat, ist der zu allem in der Lage und bereit, bis zum Äußerste zu gehen.“

Verunsichert stand ich auf, um mir nachzuschenken. Ich nahm die Flasche diesmal gleich von der Küchenzeile mit. Wenn ich daran dachte, dass mein Kind, wohlbehütet aufgewachsen und heißgeliebt bemuttert, bald dort draußen herumlief und dabei Leuten die Kehle aufschlitzen würde, wurde mir echt schlecht. Das konnte und wollte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Wie kam er darauf, dass unser kleiner „Schisser“, wie Kakashi in manchmal scherzhaft aufzog, zu so etwas im Stande wäre? Vor meinem geistigen Auge sah ich auf einen am Boden kauernden Yuuki, der auf einer Mission heulend zusammenbrechen würde, weil er hilflos den Druck, mit dem Tode konfrontiert zu werden, nicht aushalten könnte.

„Ist es das, was ihr „Weg des Ninjas“ nennt? Diese Entschlossenheit?“, überlegte ich laut.

„So ungefähr. Worüber denkst du gerade nach?“

Mein Freund war ein guter Beobachter. Er merkte sofort, dass mir querfeldein ein Gedanke geschossen kam, der meine Stimmung kippte. In seiner Stimme hatte ein unheilvoller Nachdruck mitgeklungen, weil er ahnte, welch Diskussion gleich wieder vom Zaun brechen würde, würde einer von uns beiden den Absprung nicht finden. Und auf diese Art von Streit hatte er verständlicherweise keine Lust, denn es kam häufig so, dass ich lamentierte und er sich in die Ecke gedrängt fühlte, aber keinen Anlass sah, sich vor mir rechtfertigen zu müssen.

„Ich habe da keinen Bezug zu, sondern habe das ja immer nur als Außenstehende mitbekommen. Das ist etwas, was ich halt nicht kapiere. Kenta war auch so drauf. Den Himmel auf Erden hat er mir versprochen. Und dann aber hätte er kein Problem gehabt, in der nächsten Sekunde ins blanke Messer zuspringen, um sich für seinen Dienstherren zu opfern. Mal ehrlich, das ist doch total bescheuert!“, sprudelte ich anklagend heraus. „Denkt ihr denn nie drüber nach, dass auch immer wer zurückbleibt, der um euch heult?“

Kakashi seufzte und sackte für eine Sekunde innerlich zusammen. Da war er wieder: Der abgebrochene Zaun. Doch die dumme Nina mit dem leckeren Rotwein im Kopfe war nicht mehr feinfühlig genug und konnte somit nicht mehr ihr Kodderschnauze zügeln.

„Wie oft haben wir das schon besprochen?“, stöhnte er auf und ergänzte noch, als wenn er es mir nicht bereits unzählige Male gesagt hätte. „Ich weiß, wie das ist, wenn man zurückbleibt.“

Sein Blick lag irgendwo zwischen genervt und verzweifelt. Kakashi diskutierte nicht gern. Und schon gar nicht über Dinge, die schon so häufig thematisiert worden waren und darüber hinaus alte Wunden aufrissen. Er mochte sich nicht wiederholen und rechtfertigen. Der Kreis der geliebten Menschen hatte sich Stück für Stück immer mehr verkleinert, bis er sich gänzlich aufgelöst hatte. Da war es doch schlussfolgernd nur richtig gewesen, zukünftig selbst keine Bindungen einzugehen, da sie eh nur zerreißen würden. Man befolgte lieber stumpf seine Berufung.

„Nina...“, begann er und streckte seine Hand aus, auf das er meine berühren könnte, doch ich zog sie weg.

Ich wollte mich nicht vertragen. Ich wollte mal eine handfeste Antwort aus seinem Munde hören und nicht immer so ein Gerede um den heißen Brei herum. Was wäre im Ernstfall wichtiger? Das Shinobi-Weg oder wir?

„Ich kann dir nichts versprechen und das weißt du auch. Alle Versprechen, die ich jemals in meinem Leben gemacht hatte, habe ich letztendlich nicht einhalten können, sondern auf ganzer Linie in den Sand gesetzt.“

Hmpf, wieder keine ordentliche Antwort. Ich schmollte, leerte mein Glas mit einem großen Zug aus und dachte für einen Moment nach. Seine offene Hand ruhte noch immer auf dem Tisch. Wenigstens den Handschuh hätte er mal ausziehen können. Dann gab ich meinem Herz einen Stoß. Für jemanden wie Kakashi, der immer alles besser wusste und so herrlich arrogant von oben herab reden konnte, war das doch eben eine recht demütige Geste. Er wollte nicht auf seinem Standpunkt beharren, sondern lieber den Frieden des Abends wahren. Wenn ich ihn in der letzten Zeit intensiv beobachtete, so stellte ich fest, dass er mir müde und ausgebrannt vorkam. Da wollte er sich nicht auch noch zuhause streiten. Ich streckte meine Hand nun doch aus. Unsere Finger umspielten sich, bevor sie sich festhielten.

„Tut mir leid!“, nuschelte ich und gähnte dabei herzhaft.

„Ich weiß.“

Wir brachen unsere Mitternachtsrunde am Küchentisch ab. Zeit zum Schlafen gehen. Ich war Seitenschläfer. Schon immer. Bis an die Nasenspitze in meine Decke eingerollt, beobachtete ich noch ein kleines Windlicht in der Fensterbank, weil ich mich seit meiner Entführung vor der Dunkelheit fürchtete. Das Teelicht leuchtete mir meinen Weg durch die Nacht und war immer erst erloschen, wenn ich schon lange eingeschlafen war und der Morgen anbrach. Die Decke neben mir raschelte, und die Matratze gab leicht nach. Ein nachfragendes Streicheln auf meinem Rücken. Der sanfte Druck seiner Hand auf meiner Schulter drehten mich herum zu ihm, der sich sich nun an mich schmiegte und schützend einen Arm um mich legte. Seine Haarsträhnen kitzelten mein Gesicht. Mit den Fingern schob ich sie beiseite. In dem Kerzenschein sahen die noch wilder aus als sonst. Es war äußerst selten, dass er meine Nähe durch Anschmiegen suchte. Meist war es eher umgekehrt, dass ich den ersten Schritt machte, oder er zog mich zu sich heran, dass ich in seinem Arm lag. Heute mal nicht. Mit den Fingerspitzen strich ich von seinen Haaren weiter über sein nun bloßes Gesicht, welches im schwachen Licht viel weicher gezeichnet war. Nur die dunkelgrauen Augen stachen klar daraus hervor wie eh und je.

Sherenina, sei doch mal zufrieden, tadelte ich mich stumm. Zwar sagt er es nie, aber er passt die ganze Zeit schon auf dich auf. Und auf Yuuki und Asa auch. Obendrein ist er arg um euch bemüht und sieht verdammt nochmal gut aus. Was willst du denn noch?

Wohlbehütet ließ es sich gut einschlafen.
 

Der April war schon fast vorüber, da beglückten die Kirschbäume uns endlich mit ihrer rauschenden Blühpracht. Und so ähnlich wie Feiertage zwar ihren eingestanzten Termin im Kalender hatten und turnusgemäß wiederkehrten, brach auch das Hanami so unglaublich überraschend über die Bevölkerung herein, dass man die Kirschblütenfront trotz permanenter Vorhersage in den einschlägigen Medien nicht hatte erahnen können. Ruckartig setzte der alljährliche Feststress ein. Man pilgerte in die Geschäfte, um sich mit reichlich Lebensmittel und Alkohol einzudecken. Wem sein Yukata-Muster vom Vorjahr nicht mehr gefiel, der durchkämmte die Kaufhäuser nach den neusten Modetrends. Mir kam es vor, dass die Leute in diesem Jahr noch viel verrückter waren, als in den vergangenen Jahren davor. Aber ich mochte mich täuschen, denn außer meine Teilnahme im letzten Jahr hatte ich mich zuvor nie so unbedingt um dieses Fest geschert. Vielleicht lag es aber auch einfach nur an der plötzlich veränderten Wetterlage, welche die Leute so ausflippen ließ. Hatte man schon fast geglaubt, es würde ewig grau und kalt bleiben, weil der Winter nicht verschwinden wollte, so hatten die milden Temperaturen nun den Start frei gegeben für den ersten zarten Flaum an frischem Grün, der sich über Parks und Wälder gelegt hatte. Jung und Alt labten sich gleichermaßen an dem einsetzenden Frühling.

Ganz einheimisch geprägt kämpfte ich mich mit den Kindern durch die Massen an Menschen. Beide waren wieder ein Stück gewachsen und brauchte neue Kleidung. Asa von dem Kleiderbummel zu überzeugen, war gar nicht so einfach, bis ihr Vater ein Machtwort sprach. Das müsste nun so sein mit den neuen Klamotten und basta! Ihre bisherige Kleidung war ein bunter Mix, dessen Herkunft nicht unbedingt zu definieren war. Irgendwo zwischen Lumpensammler und Silvesterrakete konnte man ihren Stil einordnen, was nicht zuletzt daran lag, dass Kinder in dem Alter zum Großteil die Klamotten von ihren Eltern vorgesetzt bekamen und wenig Mitsprache hatten. Bei Asa passte wieder größen-, noch farbentechnisch irgendetwas zusammen. Manches war viel zu groß, manches schon viel zu eng. Zerrissen, gestopft, verwaschen. Noch gut kam mir das Bild zurück aus der Erinnerung, wie sie dazumal in der Wettkampfarena stand und diesen schlabbrigen Pullover trug, bei welchem sie sich stets in den Ärmeln verhedderte. Trotzdem konnte sie sich von keinem einzigen Stück trennen. Die Sachen hatte ihr doch immer Mama gegeben, aber Mama war nicht mehr da. Wenn die Sachen weg wären, wäre gar nichts mehr da. Dann lief sie wieder weg und weinte heimlich.

Und diese Haare erst … Wenn man bei Kakashis Frisur von einem Vogelnest sprechen mochte, so war es bei Asa mindestens ein Adlerhorst. Obgleich man hinzufügen musste, dass Kakashis Haare bei weitem nicht mehr so lang waren, wie man es noch kopfschüttelnd auf alten Fotos bestaunen konnte. Da standen die Strähnen heutzutage doch schon fast geordnet in alle Richtungen. Bei seiner Tochter gab es da ein ganz anderes Problem: in der Vergangenheit einmal geflochten und bis heute völlig verfilzt. Im Stillen dachte ich bei mir, dass hier nur ein Kurzhaarschnitt helfen würde, um eine Grundreinigung auf dem Kopfe zu erzielen. Doch das durfte man Asa nicht sagen, weil sie ihre langen Haare liebte. Bis die wieder auf solch eine Länge nachgewachsen wären, würde einige Zeit ins Land ziehen. Himmelgütiger, hatte sich Hikki da nie drum bemüht, wie dieses Kind in der Öffentlichkeit herumlief? Anscheinend nicht. Und man könnte sie auch nicht mehr fragen, warum es war, wie es war. Blanke Mutmaßungen darüber fand ich unfair, weil sich Hikki nicht mehr verteidigen könnte. Mein Freund hatte sich dazu nicht eingemischt, wie Hikki das Kind erzog, weil dann wieder die Stimmung ins Gegenteilige gekippt wäre und er monatelang weder etwas von seiner Tochter gehört, noch gesehen hätte. Zu Beginn hatte er Asa sogar total abgelehnt, hatte er mir mal kleinlaut gestanden. Unglaublich, wie kindisch erwachsene Menschen sich verhalten konnten, wenn es um gekränkte Eitelkeiten und verletzte Gefühle ging.

Nun aber sollten nicht familiäre, sondern Einkaufsprobleme unsere momentane Situation bestimmen. Ein Drängeln und Schieben herrschte in den Straßen, und wir strömten einfach mit. Bis plötzlich Asa vor einem Schaufenster stehen blieb. Sie drückte ihre Nase nahezu an der Schaufensterscheibe platt. Erstaunt blieben Yuuki und ich stehen und spähten auch durch die Scheibe, ob es dahinter wohl einen Sack voll Gold gäbe. Aber nein. Es war eine Boutique für Kinderbekleidung. Sehr fröhlich, bunt und ausgefallen. Und natürlich dementsprechend teuer. Ich kannte den Laden, denn sie nähten die Kleidungsstücke in einem Atelier am Rande der Stadt selbst und hatten früher immer ihre Stoffe aus dem Kontor bezogen. Ohne groß zu überlegen, schob ich Asa durch die Ladentür, bevor das Kind die Faszination verlieren würde. Mit strahlenden Augen probierte sie ein Baumwollkleid an, was dem Schnitt nach an ein verlängertes, nach unten hin ausgestelltes Shirt erinnerte. Noch nie hatte ich diese Mädchen in einem Kleid gesehen. Im Rausche der Farben und kindlichen Muster fand wir noch einige andere Stücke. Yuuki schaute uns entgeistert an. Für Jungs war der Laden wirklich nichts. Mein Sohn war schon in einem Alter angelangt, wo man nur noch coole Farben trug und kein Papageienkostüm. Beim Bezahlen musste ich bei der Summe kräftig schlucken. Doch wie hatte ich früher immer im Kontor gepredigt? Qualität hat nun mal seinen Preis. Das durfte ich als Endverbraucher nun ganz kräftig spüren. Dafür hatte das Kind endlich mal etwas Vernünftiges zum Anziehen im Schrank.

Und weiter ging die Shopping-Jagd. Am Ende des Tages waren wir mit dem Einkauf und den Nerven am Ende. Hanami konnte kommen.
 

Unsere Hanami-Gruppe sollte dieses Mal ganz im Zeichen der abgeschlossenen Lebenskapitel und Neuanfänge stehen. Es gab immer einen Grund zum Feiern und Verabschieden, und an Hanami bot es sich an, einige Anlässe zusammenzulegen.

Wir feierten meinen Geburtstag nach, auch wenn der nun schon vier Wochen her war.

Wir feierten das Bestehen der Zwischenprüfung von Asa und Yuuki.

Wir feierten den Abschied von Tenzô, denn er trat bis auf die Überwachung Orochimarus von allen Ämtern zurück.

Wir feierten Gais Entscheidung, ebenfalls in den Ruhestand zu gehen, wenn Kakashis letzter Arbeitstag wäre.

Nur Kakashi hatte nichts so recht zu feiern.

Der wartete immer noch auf Post vom Feudalherrn.

Einer blieb halt immer zurück.

48 – Der Tag, an dem schräge Vögel landeten

Manche Szenen konnten echt Mitleid erzeugen. Zum Beispiel das allmorgendliche Ritual, wenn Kakashi im Büro an seinem Schreibtisch saß und den ersten Schwung an Postzustellungen durchblätterte, nur um festzustellen, dass vom Daimyô kein Schreiben darunter zu finden war. Zumindest keines, was sein Privatleben tiefer gehend tangierte. Gai wusste von unglaublich vielen Briefen zu berichten, die trotz der Möglichkeit des Email-Verkehrs immer noch geschickt wurden. Der Papierberg konnte Hokage-sama manchmal gar bis in den Nachmittag beschäftigen. Dann sah man ihm seinen innerlichen Seufzer an, wenn der Berg ergebnislos bezwungen worden war, und weiter ging es frisch und fröhlich im Hofprotokoll. So wie jeden Tag. Und aus Tagen wurden Wochen. Und aus Wochen wurden Monate.

„Ich bewundere dich“, sagte ich eines Tages zu ihm gedankenversunken daher, als wir zur Mittagszeit unter einem schattigen Baum am See saßen und unsere Bentôboxen leerten.

Die Hochsommerphase vor dem großen Regen war immer von heftigen Hitzewellen geprägt. Das sollte auch in diesem Sommer nicht anders sein. Die Nächte hatten tropische Temperaturen, und noch vor Sonnenaufgang kletterte das Thermometer bereits über die 25°C-Marke. Zum Sonnenhöchststand hielt man es schon gar nicht mehr aus. Wer es sich erlauben konnte, dehnte die Mittagspause wie Kaugummi auf ein fast endloses Maß aus und arbeitete lieber des Nächtens. Selbst mein Freund zeigte zur Abwechselung mal viel Haut, weil er kurzärmlig unter der Weste trug und die fingerlosen Handschuhe in die Gürteltasche gestopft hatte. Ich frotzelte, er sollte sich bloß keinen Sonnenbrand holen, da seine Haut soviel UV-Bestrahlung gar nicht gewohnt wäre.

Wenn wir es beruflich einrichten konnten, rasteten wir zum Essen in einem Teil des Parks, wohin sich Passanten seltener verirrten. Eine großgewachsene Weide mit unendlich viel Geäst und Laub schützte uns vor der sengenden Sonne und den Blicken der kaum zu erwartenden Spaziergänger. Die Badestellen waren angesichts der heißen Juli-Temperaturen zwar völlig überfüllt, doch lagen sie auf der anderen Seite des Sees. Bald schon würde der Badespaß enden, wenn die Regenzeit wieder einsetzen würde. Im Gegensatz zu den energiegeladenen Wasserratten genossen wir lieber die Ruhe und ließen die Seele baumeln, bevor sich bis zum Abend unsere Wege wieder trennen würden. Man konnte nur verwundert den Kopf schütteln, wenn man bei der Gluthitze Shinobi trainieren sah. Zwar müssten die zu jeder Jahreszeit und Witterung parat stehen und ihre Leistung abrufen können, übertreiben und die Gesundheit aufs Spiel setzen müsste man aber trotzdem nicht. Kakashi zog es generell vor, lieber in den späten Abend- oder frühen Morgenstunden zu trainieren. Es war die einzige Tageszeit, wo er es sich neben der Büroarbeit einrichten konnte. Das Training käme, seit er auf dem Bürostuhl festgeklebt worden war, viel zu kurz, mokierte er oft. Doch die Unzufriedenheit rührte einfach daher, dass er seir jeher viel lieber unterwegs war, als in irgendeinem Arbeitszimmer eingesperrt zu sein.

„Hm?“

Es war die einzige Antwortmöglichkeit, die Kakashi mit vollen Backen auf meine Aussage hin wählen konnte. Ich hatte übrigens den Trick durchschaut, wie er mit dem Rollkragen über der Nase etwas Essen konnte: Ein simples Gen-Jutsu und eine hohe Geschwindigkeit steckte dahinter. Wenn man die Illusion nämlich durchschaut hatte, fiel man nicht mehr auf sie herein. Davon mal ab, ging ich auf dieses blöde Spiel eh nicht ein, da ich sowieso jeden Millimeter Haut von ihm kannte. Optisch, wie haptisch. Sollten doch andere ihren Spaß mit der Jagd auf sein Äußeres haben. Jedes Dorf brauchte wohl einen Running Gag, und mit Kakashis Maskierung hatte es den in der Tat. Wären sie allesamt generell aufmerksamer, dann wüsste sie um sein Aussehen schon längst Bescheid, weil „Sukea“ in der Vergangenheit oft durchs Dorf gestreift war. Und mal ehrlich: Das Wortspiel hatte selbst ich auf Anhieb verstanden. Wortspiel? Ok, ich erkläre es einmal für alle Bahnhofsversteher. Sukea klang in den Ohren wie Scare, was wiederum ein Wortteil von Scarecrow war. Alles klar? Vielleicht war aber noch nie jemand darauf gekommen, weil die Antwort viel zu simple und greifbar war. Sozusagen direkt vor die Nase gesetzt. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Nein, so einfach konnte doch eine Lösung nicht sein, mochte man sich denken. Im Leben war doch immer alles komplizierter gestimmt. Sukea zumindest amüsierte sich köstlich. Ein wenig Nervenkitzel, ob er doch mal auffliegen würde, war auch dabei. Ich fand, man müsste lediglich Asa ins Gesicht schauen, um ihren Vater zu entdecken. Die Ähnlichkeit war absolut verblüffend. Iruka-sensei hätte Asa wohl mal im Scherze gefragt, ob Hokage-sama zu lange in den heißen Quellen gesessen hätte und deshalb eingelaufen wäre, weil sich Vater und Tochter so spiegelten.

„Ich beneide deine Unbekümmertheit“, führte ich weiter aus. „Egal, was passiert, du bist immer ruhig und lachst dann vielleicht noch darüber. Ich raste meist immer total aus und mache unüberlegte Dinge.“

Nun ja, so ganz stimmte das auch wieder nicht. Kakashi hatte auch seine unausstehlichen oder betrübten Seiten. Auch wütend, einschüchternd oder gar eifersüchtig hatte ich ihn bereits erleben dürfen. Aber das kam nun wirklich nicht oft vor. Solche Tage konnte man dann schon im Kalender ankreuzen, wenn er sich mal aus der Reihe andersartig benahm. Dafür traf man ihn öfters mal melancholisch in Tagträumen versunken an.

„Ich hab häufiger meine Unbekümmertheit verloren, als dir lieb sein mag. Es gab eine Phase, da hatte ich sie sogar gänzlich verloren. Wie kommst du gerade eben drauf?“

Manchmal waren ihm meine Gedankensprünge so völlig aus dem Sinnzusammenhang gerissen unheimlich. Man konnte sie nicht vorhersehen oder gar durchschauen. Nee, so etwas kam bei einem auf Riten getrimmten Ninja nicht gut an. Um so dankbarer war ich, dass er meine Macke ohne Widerspruch akzeptierte. Er machte sich sogar die Mühe, meine verwobenen Gedankenknäule zu entwirren, indem er nachfragte und teilhaben wollte. Seine unbändige Neugier trieb ihn wohl zusätzlich an.

„Ach, ich hatte vor längerem mal Gai und sein altes Team getroffen und ...“

Ich biss mir auf die Lippe. Nun trug ich schon seit fast vier Monaten meine sonderbare Begegnung der dritten Art im Ramen-Laden mit mir im Kopfe herum, hatte aber noch nicht den Mut gehabt, Kakashi davon zu berichten. Er hatte genug um die Ohren. Da wollte ich ihn mit solch einem blöden Spruch, wie Genma ihn in den Mund genommen hatte, nicht noch zusätzlich belasten. Trotzdem rumorte es in mir. Ich konnte nicht so recht damit umgehen, weil ich nicht wusste, was den alltäglichen Umgang zwischen den beiden so erschüttert hatte. Ob sie jemals überhaupt enge Vertraute waren, vermochte ich ebenfalls nicht beurteilen zu können. Aktuell waren sie es definitiv nicht mehr.

Ich beschloss, mein Herz in Kurzform ganz unverblümt zu erleichtern. So erzählte ich von Gais Teamkameraden, von Genmas Spruch und wie ich dann anstelle Genma die Mülltonne verprügelt hatte. Kakashis Blick verfinsterte sich kurz. Ich meinte, jede angespannte Zelle seines Körpers einzeln erkennen zu können.

„Gai hatte etwas angedeutet, aber nur herum gedruckst“, klang es eisiger als der Nordwind, aber schlagartig wurde das Thema gewechselt und fröhlich abgewunken. „Lass' ihn doch reden!“

Dass Kakashi diese Information innerlich noch lange nicht zu den Akten gelegt hatte, konnte ich an diesem herrlichen Sommertag nicht ahnen. Das sollte sich erst viel später herausstellen.

Ein Luftzug huschte durchs Geäst. Einige Blätter raschelten.

„Wir bekommen Besuch“, wurde ich aufgeklärt.

Und schon in der nächsten Sekunde hockte ein ANBU zu unseren Füßen. Ein Bein hatte er aufgestellt und stützte seinen Unterarmrm darauf ab. Den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt und den Blick tief und ehrfürchtig nach unten gesenkt. Eine untertänigste Begrüßung. Ein Wunder, dass der ANBU unter dem langen Mantel keinen Hitzetod starb. Zugegebener Maßen machte diese ganze Szene schon etwas her, wie der ANBU seinen Chef unterwürfig grüßte, der im angedeuteten Schneidersitz kerzengerade vor ihm saß.

„Rokudaime, der Daimyô wünschte Sie in seinem Herrscherpalast zu empfangen. Ihr sollt Euch dort in drei Tagen einfinden“, richtete der ANBU wohlerzogen aus.

Ich kicherte leise, denn dessen Wortwahl klang schon etwas wie aus dem Märchenbuch, wenn der Bote zum König bestellt wurde.

„Ich danke dir, Hisui“, nickte Kakashi die Botschaft ab und wollte den ANBU schon wieder gehen lassen.

Doch als er seinen Kopf anhob und ich auf seine Maske blickte, erschrak ich mich zu Tode.

„DU!!!“, kreischte ich auf. „DU HAST MIR DOCH MAL INS KREUZ GETRETEN?!“

Boah, den Typen mit der jadegrün gestreiften Vogelmaske würde ich niemals vergessen, der mich nach Yuukis vermeintlichem Angriff auf Kakashi überwältigt hatte. Tagelang hatte ich Rückenschmerzen, Schürfwunden und blaue Flecke. Ein paar Haarsträhnen hatte ich auch einbüßen müssen. Und nun hockte der hier so unbeteiligt neben mir, als wäre ich Luft. Rasend vor Wut lief ich rot an und zeigte ihm die geballte Faust. Dabei war ich gefährlich nahe an ihn heran aufgesprungen, sodass ich sogar noch eine Handbreit größer war als er selbst. Pfff, das der immer noch ungestraft herumlief. Was aber hätte eine gerechte Strafe für ihn sein können? Es war sein Job, Kakashi zu beschützen, und das hatte er anstandslos getan. Dass ich aber kein Täter, sondern eigentlich nur ein Opfer war, wurde damals unter den Tisch gekehrt.

Ob nun durch den Windhauch meines Schreies oder durch den Überraschungsmoment des Aufspringens bliebe dahingestellt. Jedenfalls ging der Vogelninja körperhaltungsmäßig just in der Sekunde in eine leichte Schieflage über und fuhr überrumpelt mit der Maskenansicht zu mir herum. Auch mein Freund blickte mich bestürzt über meinen Ausbruch an, fand es dann aber passend, den Streit lieber sofort zu schlichten, noch ehe ich auch nur einen Treffer mit meiner Faust landen könnte.

„Hey, hey, ganz ruhig. Zugegeben, meine Entschuldigung anstelle ihrer fiel damals sehr formell und abwimmelnd aus. Aber du hast nie wieder erwähnt, dass für dich die Sache noch nicht abgeschlossen wäre“, versuchte Kakashi mein Gemüt wieder zu beruhigen. „Willst du noch etwas geklärt haben?“

Sauer und knallrot wie eine Tomate setzte ich mich wieder auf meine vier Buchstaben und funkelte den ANBU wütend an. Könnte man Hitze sehen, es wären wohl Dunstschwaden von meiner Haut emporgestiegen. In meiner blanken Wut hatte es mir die Sprache verschlagen. Ich schnaubte einmal kräftig. Hisui, der Eisvogel mit der jadefarbenen Vogelmaske. Den würde ich niemals aus meinem Gedächtnis verdrängen. Es ratterte in meinen Hirnwindungen, weil mein Gehör über etwas gestolpert war, was ich jedoch in meiner Rage nicht sofort verarbeitet hatte. Ratter, ratter, ratter, …

Öhm, Moment mal! Hatte Kakashi eben nicht gerade das Wort „ihrer“ benutzt anstelle „seiner“? „Er“ war eine „Sie“? Is' ja 'n Ding! Nun schaute ich recht dümmlich aus der Wäsche.

„Na, wir werden sehen...“, beurteilte Kakashi die Situation und schickte mit einer Handbewegung den ANBU weg und somit in unüberbrückbare Schlagdistanz zu mir.

Die Chance ließ sich der Vogel auch nicht entgehen und ward plötzlich nur noch ein verschwundener Schatten. Noch eine kleine Weile starrte ich auf die Stelle, wo gerade vor meinen Augen ein Shinobi verpufft war, als ich spürte, wie Kakashi sanft mein Handgelenk umgriff und zu sich zog.

„Wenn du weiter so unkontrolliert um dich schlägst, dann prophezeie ich dir, wird bald kein einziger Handknochen mehr heil an seinem rechten Platze sitzen, Nina-chan.“

Dabei tippten seine Fingerspitzen auf bestimmte Punkte in meiner Handfläche, dass ich zusammenzuckte, um mir das Problem noch einmal zu verdeutlichen.

„Ich glaube“, fuhr er unbeirrt fort. „Du brauchst auch mal ein Training. Eines, wo du lernst, wie man auf etwas eindrischt, ohne sich gleich selbst zu verletzen. Und noch eines, dass man gar nicht erst auf etwas eindreschen muss, wenn man mal wieder sauer ist.“

Danke, Kakashi! Du nahmst mir mit deinem Humor gerade die Wut. Ich konnte wieder lächeln, obgleich ich immer noch über das ANBU-Mädel nachdachte, und wie ich die Sache nun finden sollte, dass dieses fremde Weib auf Kage-Ausflügen aus beruflichen Gründen ziemlich nahe an meinem Freund klebte. Ich hing schon wieder eifersüchtigen Gedanken nach und sah Gespenster.

„Wie heißen denn die andere ANBU, die unterwegs immer auf dich aufpassen müssen? Sind das auch alles Weiber?“, fragte ich neugierig mit einem scharfen Unterton in der Stimme.

Kakashi roch den Braten und tat so, als würde er meine Frage überhören. Mit melancholischem Blick wandte er sich von mir ab und starrte durch die Zweige auf die Wasseroberfläche.

„Du solltest ans Meer fahren“, meinte er plötzlich.

„Ans Meer?“, fragte ich verdutzt über den Themenwechsel.

„Die Kinder sind ab morgen für drei Wochen im Trainingscamp. Ich werde für ein paar Tage auch nicht da sein. Es würde sich doch anbieten, nachdem du an deiner Arbeitsstelle in Keishi fertig bist, mal unsere Abrisshütte bei Tageslicht in Augenschein zunehmen. Und auch mal, wie es um den Rest des Grundstückes bestellt ist.“

„Hast du das nicht mal vorher gemacht?“

„Nö, ich hab die Katze im Sack gekauft.“

„War die Katze wenigstens billig?“

„Nö.“

Ich musste sehr fassungslos geschaut haben. Hatte ich nicht vor wenigen Sekunden noch gesagt, ich würde seine Unbekümmertheit bewundern? Eben gerade machte sie mich sprachlos und trieb mich fast an den Rand des Wahnsinns.

„Du wolltest sie unbedingt haben“, verteidigte er sich und warf mir ein Lächeln zu, dass man nur so dahinschmolz und ihm gar nicht böse sein konnte, solch einen Irrsinn in die Tat umgesetzt zu haben.

Und somit war der Plan beschloss. Zusammen würden wir zeitgleich nach Keishi reisen. Von dort würde ich gleich weiter zum Haus fahren, und er würde ein paar Tage später nachfolgen. Mit dem halben Kage-Tross im Handgepäck zum Kennenlernen.
 

Der Bummelzug ratterte in einem einschläfernden Takt über die alte Bahntrasse. Die Sonne knallte erbarmungslos auf das Blechdach des kleinen Schienenbusses und grillte die Insassen. Obgleich alle Schiebefenster bis zum Anschlag geöffnet waren, brachte der Fahrtwind kaum Linderung. Höchstens einen steifen Nacken und einen dicken Schnupfen. Trotzdem freute ich mich sehr, als sich der Zug endlich gemütlich in Bewegung setzte. Keishi hatte an diesen heißen Sommertagen seinen Gästen lediglich eine große Portion an stickiger Luft und flüssigem Asphalt zu bieten. Das Büro meiner Chefin glich einer Sauna. Ich war heilfroh, der Großstadt zu entkommen. Die Landschaftsbilder, die am Zugfenster vorbei schlichen, waren mir nicht fremd und weckten eine gewisse Art von Urlaubsstimmung und Neugier.

„Wie lange dauert es denn noch?“, hechelte Ûhei unter der Holzbank hervor.

Dort lag er halbtot auf der Seite und zeigte das Weiß in seinen Augen. Seine Lefzen waren so lang, dass man mit ihnen den Boden hätte aufwischen können. Über die ausgerollte Zunge rann genug Speichel zum Bohnern nach. Wann so ein Hund wohl endgültig ausgetrocknet wäre?

„Wir sind gleich da! Schau, dort ist schon des Fischerdörfchen. Nur noch um die zwei Hügel herum“, deutet ich mit dem Finger Richtung offenes Fenster zu den Bahngleisen, um den Ninken aufzumuntern.

Der aber mochte lieber wie eine tote Flunder auf dem Boden liegen. Erst als das Rumpeln des Zuges stoppte, kam ein zaghafter Hauch von Leben in die Tierknochen. Hätte ich ihn im Nackenfell gepackt und hinterher geschliffen, er wäre wohl schneller auf dem Bahnsteig angekommen. So, wie der Hund aussah, so fühlte sich mein Magen an. Wir brauchten beide eine Stärkung und einen schattigen Platz. Beides bekamen wir unerwarteter als gedacht, denn vor dem kleinen Bahnhofshäuschen harrte ein Mann mittleren Alters aus. Seinen Bauchladen hatte er abgenommen und neben sich abgestellt. Er fächerte sich Luft zu und beobachtete die Passagiere, die hier strandeten. Das waren um diese Uhrzeit nur Ûhei und ich. Der Herr verkaufte selbstgemachte Bentô mit Köstlichkeiten der Region. Ob hier denn öfters Mal Reisende ankämen, fragte ich ihn ungläubig, denn das Nest hier sah nicht nach einem Touristenmagnet aus. Zu bestimmten Zeiten würden Fischhändler kommen, um direkt bei den Fischern die Fänge zu begutachten und zu handeln, meinte dieser, überreichte mir für wenig Geld eine Box und lieh uns sogar noch eine Schüssel für den Hund, damit ich vor dem Bahnhof am Brunnen Wasser schöpfen konnte. Es wäre eine so klare Quelle, dass man direkt daraus trinken dürfte. Die Wasserqualität hätte sich herumgesprochen, weshalb manchmal sogar Leute aus Keishi kämen, um das erquickende Nass flaschenweise abzufüllen. Aha, das klang alles interessant. Der Typ mochte also von hier stammen und könnte sicherlich ein wenig erzählen. Vielleicht könnte ich ihn ausquetschen und Informationen sammeln. Hm, hatte ich gerade schon wieder „Informationen sammeln“ gesagt? Ich wohnte nicht nur mit einem Ninja und zwei Halb-Ninjas unter einem Dach: Ich benahm mich schon so wie ein Ninja, indem ich hier anfing, Spionage zu betreiben. Ein Lächeln huschte mir über das Gesicht. Ich überlegte, wie ich nun weiter vorgehen könnte. Nein, ich müsste keine Geheimniskrämerei betreiben, weil ich eine Mission angenommen hätte. Ganz im Gegenteil, ich würde hier bald wohnen und könnte frei heraus auftreten. Da war doch die Wahrheit immer das Beste. Teilwahrheiten waren aber auch nie ganz verkehrt.

„Ich möchte mich kurz vorstellen“, begann ich und verbeugte mich höflich. „Sherenina Jibek. Ich werde zukünftig öfters hier anreisen, denn ich habe hier ein Grundstück erworben. Sie scheinen von hier zu sein. Können Sie mir dazu vielleicht etwas erzählen? Aber natürlich nur, wenn ich Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch nehme.“

„Hocherfreut“, verbeugte sich der Mann ebenfalls höflich zurück und wohl auch glücklich, in diesem fast ausgestorbenen Dorf mal neue Impulse durch einen Plausch zu erhalten. „Shô Ôgawa. Was trieb Sie dazu an, hier Land zu erwerben, wenn es erlaubt ist zu fragen?“

Shô also. Er schien mir sehr nett und so plauderten wir kurz über Belangloses. Während ich aß und der Ninken endlich sein Wasser hatte, erfuhr ich so einiges. Der Ort hätte neben den Fischerbooten, einem Lokal und einem Gemischtwarenhändler sogar noch einen Arzt, eine Post, ein Gästehaus und eine Weberei. Hui, hier boomte wahrlich die Wirtschaft. Und wenn ich zu Ûhei hinunterschaute, so könnte man auch im übertragenen Sinne sagen, hier läge der Hund begraben. Shô erzählte noch, dass seine Eltern auch Fischer wären, jedoch nicht auf dem Meer, sondern auf dem großen Fluss fischten, welcher hier ins Meer mündete. Er selber würde aber seine Familie damit ernähren, dass er auf der Obstplantage seines Schwagers aushelfen und die selbstgemachten Bentô seiner Frau verkaufen würde. Das wäre nicht viel, aber man käme gut zurecht. Auch von mir gab ich nun ein bisschen preis. Dass ich aus der Großstadt käme, einen Bürojob hätte und mir die Landschaft beim letzten Urlaubsbesuch so gut gefiel. Man könnte hier sicherlich Ruhe tanken. Verwunderung zeichnete sich auf Shôs Gesicht ab, als er erfuhr, welches Haus denn nun das Meine wäre. Ein schlimmes Familiendrama hätte sich dort einst vor Generationen abgespielt. Angeblich würde es dort nun spuken. Viele Einheimische wären sehr abergläubisch und würden daher einen Bogen um das Anwesen schlagen. Na toll! Eine Spukhaus!

Einen Geist hatte ich bei Vollmond jedoch im letzten Sommer nicht gesehen. Es würde sicherlich nicht so schlimm werden. Da das Haus vermutlich eh aufgrund seiner Baufälligkeit dem Erdboden gleich gemacht würde, könnte man einen Geist vielleicht vertreiben. Oder er würde wütender werden, wenn man sein Domizil nicht rettete. Ach, da könnte sich doch mal Kakashi prima drum kümmern. Wenn es Gen-Jutsus gab, gab es doch garantiert auch ein verbotenes Geisterjäger-Jutsu. Sollte er doch mal im Archiv in den alten Schriftrollen kramen. Ich konnte mir nur zu gut seinen Gesichtsausdruck vorstellen, wenn ich ihm von Gespenstern erzählen würde. Vermutlich total entgeistert. Ich lachte bei diesem Gedanken kurz auf, just in der Sekunde, wo die Gleise zischten. Dann hörte man den lauten Motor des herannahenden Schienenbusses. Wir beide hatten solange geredet, dass gute zwei Stunden verstrichen waren. Neue Kundschaft für Shô nahte heran. Ich beschloss, ihn nicht weiter aufzuhalten. Man würde sich zukünftig wohl eh vermehrt über den Weg laufen. Also verabschiedete ich mich und schlenderte durch den kleinen Ort über die einzige Durchgangsstraße hinaus zur bewaldeten Küste.

„Hab' ich zu viel erzählt? Ich meine, er müsse ja nicht alles so genau wissen“, fragte ich Ûhei etwas verunsichert unterwegs.

„Nein. Er weiß nur, dass du dort bald wohnen wirst. Mehr nicht. War doch in Ordnung so“, gab Ûhei an.

Ich war beruhigt. Die Bevölkerung reagierte sehr unterschiedlich auf Ninjas in der Nachbarschaft. Meist nahm sie es hin und beäugten sie skeptisch voller Vorurteile. Doch viele Überfälle durch Nuke-Nin hatten nicht sonderlich dazu beigetragen, den Ninjas zu vertrauen. Für viele waren Ninjas eine verschworene, unheimliche Truppe voller Mörder. Dieser Meinung hing auch ich lange nach und hatte sie noch immer nicht gänzlich ablegen können. Mittlerweile stand ich dem neutraler gegenüber, was nicht hieß, dass ich es befürwortete. Jedenfalls war es geschickt, meine zukünftige Nachbarschaft noch nicht über die beruflichen Ambitionen meiner Familie aufzuklären.

Trotz der schützenden Bäume spürte man eine leichte Brise vom Meer her aufkommen. Sie spielte mit meinem luftigen Sommerkleid und meinen Haarsträhnen. Ein angenehmer Luftzug, der durch das hohe Gras raschelte. Es schmeckte nach Salz und roch nach Meerwasser. Nach einer Weile passierten wir das Haus meiner Chefin, in welchem wir letztes Jahr verweilten. Folglich müsste das nächste Haus unseres sein. Die Straße machte eine leichte Biegung. Sie zog sich ins Endlose. Ich dachte schon fast, wir hätten uns in der Gegend geirrt, denn als ich damals mitten in der Nacht am Strand entlang ging, kam mir der Abstand zwischen dem einen Haus bis zum nächsten Haus gar nicht so weit vor. Der Ninken behauptete, die Straße würde sich von der Wasserlinie entfernen und deshalb wäre es weiter entfernt. Tatsächlich tauchte bald schon ein zugewachsener Stichweg auf, der uns nach wenigen Schritten direkt vor die Haustür führte.

Ohje! Mehr fiel mir wirklich nicht ein. Auch wenn Kakashi es eher immer im Scherze gemeint hatte, war das Haus bei Tageslicht wirklich eine Abrisshütte. Das Mondlicht hatte die Konturen der Ruine weichgezeichnet. Nun in der Realität bei Sonnenschein stand hier kein Pfosten mehr auf dem anderen. Das Dach schien an der einen Stelle undicht und eingebrochen. Somit war die Seitenwand verfault und eingestürzt. Gestrüpp wucherte durch die Öffnung ins Innere hinein. Ûhei ulkte, es wäre ein verkapptes Gewächshaus. Nur mit großem Kraftaufwand konnte ich die Haustür öffnen. Der Türrahmen war völlig verzogen. Doch dahinter war ich schon fast ein wenig überrascht, von dem, was mich dort erwartete, denn es sah wohnlicher aus, als vermutet. Dieser Teil des Gebäudes machte einen noch recht intakten Eindruck. Es war auch der Bereich, den ich schon bei Nacht gesehen und in den ich mich so sehr verliebt hatte. Im Grunde war das ganze Domizil viel zu groß für unsere vierköpfige Familie. Vielleicht könnte man sich sogar von den verfallenen Räumen trennen und würde nur den gut erhaltenen Teil wohnbar machen.

Es war ein ganz typisches Haus traditioneller Bauweise. Das ganze Dach, welches weit überstand, ruhte auf wenigen, innen liegenden Pfosten. Durch das Holzgerüst konnte alle Innen- und Außenwände beliebig als Schiebeelemente geschoben werden. Das machte es einerseits sehr luftig im Sommer, doch im Winter bot es keinerlei Wärmeisolierung. Geräuschedämmung gab es praktisch gar nicht. „Spartanisch“ war das Zauberwort in puncto Inneneinrichtung. Viele würden mich wohl für verrückt erklären, wenn sie den Zustand des Hauses sehen würden. Doch ich sah es auch als Chance, denn wo viel zerstört war, konnte man auch viel nach eigenen Wünschen erneuern. Es würde sicherlich ein Stilmix werden aus Tradition und Moderne, aus Erd-Reich und Feuer-Reich. Auf jeden Fall wollte ich den Charakter des Hauses erhalten. Was da noch auf mich zukommen würde, darüber mochte ich mir keine Gedanken machen. Das würde mir den Spaß schon nehmen, bevor es überhaupt begonnen hätte. Ich schoss ein paar Bilder mit dem Handy, um mir später noch einmal alles in Ruhe ansehen zu können. Eben war ich total reizüberflutet. Außerdem könnte ich Tenzô ein paar Bilder schicken und mit ihm seine Kartoffelbrei-Bezahlung aushandeln, wenn er uns bei den Holzelementen unter die Arme greifen würde. Doch die ersten Bilder schickte ich an Kakashi und teilte ihm mit, dass ich mir auch mal das Gelände ansehen würde. Es gäbe zwar eine Wasserversorgung entlang der Straße, und auch Strommasten hatte ich dort gesehen, aber in den Unterlagen war zu lesen, dass das Grundstück irgendwo eine heiße Quelle aufweisen müsste. Und es gäbe wohl ein Rohrsystem, welches Quelle und Haus verbände. Das wäre doch mal ein Bonus.

Ich war nicht gut im Kartenlesen. Das hatte ich bereits letztes Jahr gemerkt, als ich die drei Tage lang zum Fluss-Reich marschierte. Und so schätze ich auch die ganzen Entfernungen falsch ein. Ûhei und ich ließen das Haus hinter uns und streiften quer durch die Felder. Weg vom Meer, hin zu den kleinen Hügeln und Bergen. Die Quelle wollte sich einfach nicht finden lassen. Dabei sah es auf der Karte, auf welcher das gesamte Grundstück verzeichnet war, recht nahe aus. Der Hund bot an, die Karte auch einmal genauer zu betrachten. Mir sollte es recht sein. Der war einfach erfahrener in solchen Dingen.

„Wollt ihr mal eine Farm aufmachen?“

„Bitte?“, fragte ich verdutzt.

„Na, wenn die Karte stimmt, dann haben wir noch einiges an Fußmarsch vor uns.“

„Nicht dein ernst...“

Ich stöhnte und so langsam schwante es mir, warum das Haus soviel Geld gekostet hatte: Es lag nicht an der Immobilie an sich, sondern an denn Quadratmetern Landmasse drumherum. Oder sollte ich besser sagen Quadratkilometer? Ich war in Mathematik wirklich immer eine gute Schülerin gewesen. Auch bei der Flächenberechnung hatte ich nie Fehler gemacht, aber mir fehlte eine klare Vorstellung darüber, wie groß überhaupt ein Hektar oder ein Morgen oder gar ein Quadratkilometer in der wirklichen Natur waren. In den Besitzunterlagen waren darüber hinaus nur altertümliche Feldmaße zu finden, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte.

Mittlerweile war ich dem Hund solange bergauf gefolgt, dass wir beide die Felder am Hang durchschritten hatten und einen Waldrand erreichten. Völlig außer Atem ließ ich mich ins Gras fallen und betrachtete nun im Schatten der Bäume und einer kühlenden Meeresbrise, was sich dort zu meinen Füßen ausstreckte. Die Aussicht von hier oben war noch besser als das, was man von dort unten nur erahnte. Erst einmal erstreckte sich unter einem wolkenlosen, knallblauen Himmel das endlos weite Meer. In kühlem Blau ruhte es dort wie eine riesengroße Pfütze. Früher hatte ich immer gedacht, man könnte vom Festland über den Hanguri Golf hinüber zur Halbinsel blicken, weil es mir per Luftlinie nicht so weit entfernt schien. Doch so sehr ich die Horizontlinie gen Südosten mit den Augen fokussierte, ich konnte die Halbinsel, die sich das Feuer-Reich mit dem Nudel-Reich und dem Tee-Reich territorial teilten, nicht entdecken. Also legte ich mein Hauptaugenmerk auf die nähere Umgebung. Von hier oben sah ich klarer. Unser Grundstück reichte von der Wasserkante über die ersten Hügeln hinweg bis hoch zu den flachen Bergen. Dazwischen lag viel Waldgebiet und Brachland. Auf den ersten Blick hatte ich schon erkennen können, dass es einst Gemüsefelder gewesen waren. Nun konnte ich auch besser einen zugewachsenen Fahrweg ausmachen, von dem laut Lageplan Pfade zur Quelle, zu einer kleinen Hütte und einem Schrein führen sollten. Ûhei meinte, er hätte schon die ganze Zeit über die Quelle gewittert, doch er war sich unsicher, ob es die richtige wäre, da ich angab, es wäre nicht weit vom Haus entfernt. Ich winkte ab. Heute hatte ich keine Lust mehr, noch weiter durch die Gluthitze zu wandern. Nach einer ausgiebigen Pause, als die Sonne mit ihrer Kraft gegen Abend etwas nachgab, machten wir uns auf den Rückweg. Wir verabschiedeten uns vom Haus und trotteten wieder zurück in das Dörfchen, in welchem es laut Shôs Erzählung ein Gästehaus geben sollte. Darauf freute ich mich sehr, denn den letzten Zug nach Keishi hatten wir verpasst. Es war keine Option, in unserem Haus zu kampieren. Zu sehr hatte ich Sorge, mir würde nachts ein morscher Balken auf den Kopf fallen, ich würde durch den fauligen Boden durchbrechen oder vielleicht doch den Hausgeist antreffen. Nein, das Gästehaus mit einem reinigenden Bad, einem servierten Abendessen und einem stabilen Dach über dem Kopf hatte bei der Abwägung klar gepunktet. Welch Wohltat, als wir es am anderen Ende des Dorfes fanden und einkehrten.
 

Morgenstund hat Gold im Mund. Für mich galt das an diesem Morgen überhaupt nicht. Die Nacht war wieder einmal mehr tropischer Temperatur gewesen, dass ich nur schwer in den Schlaf fand. Und dann hatte ich noch einen wirren Mix aus Geisterhaus, fauligem Holz und heißen Quellen mit schwarzem Wasser geträumt. So einen richtigen Hirnmüll. Und nun rüttelte es nach zu wenigen Stunden des Schlafes auch noch sachte an meiner Schulter.

„Ûhei, lass mich in Ruhe! Ich will schlafen!“, schnaufte ich entnervt.

Bis zum Frühstück war es doch sicherlich noch etwas Zeit, denn draußen dämmerte es erst. Was wollte dieser Hund schon wieder? Für gewöhnlich ging der immer allein Gassi. Und hartnäckig war der auch noch! Schon wieder tippte es an meine Schulter. Und jetzt strich es auch noch an meinem Hals und meiner Wange liebkosend entlang. Na warte, du Vieh! Wenn das da deine Zunge in meinem Gesicht wäre, dann Gnade dir! Da wollte ich mich schon umdrehen und meinen Kopf unter das Kissen schieben, als mir jenes plötzlich einfach unter dem Haupte hinweggezogen wurde. Jetzt schlug's dreizehn!

„HUND!“, beschwerte ich mich laut.

Sauer fuhr ich hoch. Wehe, Ûhei hätte keinen triftigen Grund für diesen Weckruf. Der sollte es noch einmal wagen! Im ersten Moment des Wachwerdens dachte ich noch, mein Traum hätte sich in die Realität verflüchtigt, denn Kakashis Hokage-Mantel sah bei meinem schlafgetrübten Blick tatsächlich aus, wie das weiße Gewand eines Bettlakengeistes. Und da der rote Hut und der schwarze Rollkragen kaum Licht reflektierten, sah der Manteltorso obenrum recht kopflos aus. Zum Schreien! Normalerweise würde man sich erst zu Tode erschreckten und dann fragen „Wie kommst du hier rein?“ oder „Wo kommst du denn her?“ Das hatte ich mir schon lange abgewöhnt, denn ein Shinobi kam überall jederzeit rein. Also alles völlig überflüssige Fragen. Da passte doch besser:

„Wieso bist du denn so übertrieben gut gelaunt?“

In der Tat hatte mein Freund mich heimgesucht und freute sich diverse Löcher. Vielleicht lachte er mich auch einfach nur aus, weil ich so bescheuert dämlich aussah, wie ich da schlaftrunken um mein Kissen kämpfte. Dabei rieb ich mir müde die Augen, riss nach einigen Versuchen maulend mein Kissen wieder an mich und ließ mich zurück auf mein Nachtlager fallen. Idiot!

„Du platzt ja vor Freude, mich zu sehen. Dann hätte ich mich gar nicht zu beeilen brauchen“, wurde von ihm nüchtern festgestellt. „Dabei willst du doch wichtige Dinge immer sofort wissen.“

Wichtige Dinge? Wenn Kakashi strahlte wie ein Klumpen Uran und mich mitten aus dem Schlaf riss, dann konnte das nur eine Sache bedeuten: Er hatte sich mit dem Daimyô über seinen Rücktritt einigen können. Ruckartig drehte ich mich wieder zu ihm zurück.

„Wann?“

„Ende Oktober.“

Ende Oktober? Das waren nur noch gute drei Monate. Doch so plötzlich? Ich konnte es gar nicht fassen. Erst bibberte man dem Termin entgegen und dann stand er augenblicklich vor der Tür. Das war fast schon ein bisschen unheimlich. Nach insgesamt elf Jahren neigte sich die Kage-Ära Kakashi dem Ende entgegen. Und eben gerade schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, denn Kakashi auch haben musste:

„Weißt du, dass wir uns genau so getroffen hatten?“, kam es gleichzeitig aus unseren Mündern.

Kurzes Verlegenheitslachen auf beiden Seiten. Ja, das war in etwa so abgelaufen. Damals auf dem staubigen Kopfsteinpflaster. Kakashi hockten mit Mantel und Hut vor mir und ich lag halb zertrümmert auf der Straße und blickte zu ihm auf. Genauso, wie eben gerade: Er hockte da in seiner Tracht und ich saß zerknautscht auf der Futonmatte. Fehlte nur noch, dass Hisui mir wieder ins Kreuz trat. Apropos Hisui. Wo war denn die griffige ANBU-Garde abgeblieben, die ich bald mal kennenlernen sollte? ANBUs verbargen sich immer im Dunkeln, wurde ich mysteriös aufgeklärt, und ich hoffte, sie würden nicht über unseren Köpfen im Dachgebälk sitzen und uns genaustens observieren. Da müsste ich ja glatt noch fürchten, ich bekäme heute Nacht noch ein Kunai in den Rücken geschmissen, weil ich es wagen würde, mich zu nahe an meinen Freund zu kuscheln. Auch wenn die Bande instruiert worden war, so blieb sie mir von Grund auf unheimlich. Ich wurde beruhigt und verbrachte noch die letzten Stunden vor Tagesanbruch friedlich schlafend.
 

Obgleich die Hausherrin versuchte hatte, mir das Frühstück unauffällig leise in meinen Raum zu schieben, war ich doch von dem schleifenden Geräusch der Schiebetür geweckt worden. Mein Freund hatte sich schon längst wieder unsichtbar gemacht und hatte das Gasthaus verlassen. Da ich nur mit mir selbst und einem Hund angereist war, sollte ich ebenso auch wieder abreisen. Alles andere würde nur für Verwirrung sorgen. Dafür hatten wir vereinbart, dass wir uns an unserem Haus treffen würden. Während ich mich stärkte, genoss ich den Vorteil, ein absolut durchschnittlicher Zivilist zu sein. Wie die ANBUs irgendwo in einem unbequemen Versteck bei Wind und Wetter zu nächtigen und den lieben langen Tag nur widerlich bittere Nahrungskugeln zu kauen, widerstrebte mir. Ich hatte mal so eine Kugel bei Tenzô probiert, kurz bevor er von Konoha aus wieder zu seinem Außenposten aufbrach. Ein undefinierbares Zeug, obwohl mir Tenzô genau sagen konnte, was darin alles verkocht, vermatscht und getrocknet worden war. Kaum gewürzt, um keinen Körpergeruch zu erzeugen. Wenig Salz, um Durst zu unterdrücken. Aber unglaublich viele Mineralien und Vitamine. Es hatte die Farbe von Hundekot, klebte an den Fingern und schmeckte krümelig auf der Zunge. In der Not essbar. Mehr davon wollte ich nicht kosten.

Ich kam bei meiner Verabschiedung noch mit der Hausherrin ins Gespräch und verquatschte mich. Es war Ûhei zu verdanken, dass ich hier keine Wurzeln schlug, denn er zerrte mit seinen Zähnen an meinem Hosenbein herum und mahnte zum Aufbruch. Weit kam ich nicht. Nur wenige Häuser weiter stand Shô vor dem Haus und verpackte ein frisches Bentô nach dem anderen in seine Kiepe und den Rest in dem großen Bauchladenkasten. Wow, die Boxen fanden wohl tatsächlich reizenden Absatz. Und es gab wohl auch mehr vorbeiströmende Fischhändler, als ich je vermutet hätte. Nun würde auch ich seine Gewinnspanne ausdehnen, denn ich nahm dem verdutzen Shô gleich fünf Boxen ab. Zwar freute er sich, dass ich das Essen seiner Frau über den Klee lobte, doch fünf Bentô auf einmal machten ihn skeptisch. Mein Märchen, ich würde sie in die Heimat mitnehmen wollen, klang wohl zu konstruiert. Egal, der Ninken und ich eilten am Strand entlang. Hier konnte man es wahrlich aushalten, weil der Wind wehte und herrlich erfrischte. Da konnte ich einfach nicht anders, als auf halber Strecke stehen zu bleiben und zu verweilen. Meine Augen verloren sich in den gleichmäßigen Wellen und dem tiefen Blau. Es rauschte in meinen Ohren. Es weckte ein Bedürfnis, mit dieser Strömung mit zu treiben wie ein Stück Holz. Frei und schwerelos. Ich vermochte nicht mehr zu sagen, wie lange ich hier so gestanden hatte, bis ich wieder zurückkehren musste. Zurück in die Gegenwart, den Ort und das Leben.

Langsam schlenderte ich weiter. Die Schuhe hatte ich längst ausgezogen und ging durch die seichte Brandung. Es kühlte großartig. Schon bald zog ich einen leichten Bogen über den breiten Strand hinweg, denn ich hatte Kakashi unter einem Baum sitzen sehen. Oder hatte ich mich getäuscht? Perplex blieb ich stehen. Nein, er war nicht mehr da. Der Platz war leer.

„Das ist lieb von dir!“, wurde ich von der Seite her gelobt und mir die Boxen aus den Händen abgenommen.

Ich hatte es ja vorhin erwähnt: Dieses plötzliche Auftauchen war ein Trick, den ich allerdings aufgegeben hatte, durchschauen zu wollen. Der Trick war garantiert genauso billig wie alle anderen Tricks, denn obwohl Shinobi mit ihrem Chakra physikalische Gesetzmäßigkeiten augenscheinlich verdrehen konnten, so waren sie doch keine Magier, welche im Stand gewesen wären, sie komplett aufzuheben. Kakashi war unvermutet von einer Sekunde auf die andere einfach immer mal so da. Oder halt mal weg. Ganz unerklärlich. Doch immer so, dass es meist passte. Ich dachte an ihn und „Plopp!“. Fast schon wie Gedankenübertragung. Es hatte auf jeden Fall gefruchtet, dass ich mich grundsätzlich nicht von ihm versetzen ließ. Wenn er unpünktlich war, wartete ich niemals, sondern ging einfach davon. Das Hinterherlaufen musste aber für ihn eine extrem ungemütliche und peinliche Sache sein, weshalb er bei mir nie mehr unpünktlich aufkreuzte. Wenigstens in dem Punkt hatte ich ihn ein kleines Bisschen erzogen.

„Wir sind doch zu fünft?“, schüttelte ich mich kurz, um meinem Tagtraum zu entrinnen.

„Ja, sind wir“, bestätigte Kakashi meine Zählung, und ich folgte ihm zu dem Baum, unter welchem er anscheinend doch gesessen haben musste, denn dort stand sein Rucksack.

„Die Bentô sind echt lecker. Ich hatte Glück, dass ich Shô vorhin wiedergetroffen hatte.“

„Shô?“

„Ja, er verkauft sie für seine Frau an die Reisenden am Bahnhof. Da hab ich ihn gleich erstmal über das Dorf ausgequetscht“, berichtete ich und lachte in mich hinein, weil auf Kakashis Gesicht sofort eine Spur Eifersucht aufflammte.

Das stand ihm irgendwie, weil seine Augen dann dunkler wurden und er dann wacher und durchdringender schaute. Ziemlich süß.

„So, so. Hier mit fremden Kerlen flirten, aber mich fragen, wie viele Weiber in meinem Kage-Team sind“, zischte er zurück, doch ich erkannte, dass er in der nächsten Sekunde auch ein bisschen schmunzelte.

Gemeinsam schlenderten wir die letzten Meter bis zum Ziel.

„Und wo haben die Drei sich nun verschanzt?“

„Was vermutest du?“

Ich musterte während des Gehens die Gegend mit den Augen. Da war das Meer, der Strand und der angrenzende Wald. Zwischen den Baumwipfeln lugte das Dach des Hauses heraus. Teufel, die konnten überall stecken.

„Kein Plan. Hier sind fast alle Elemente vorhanden. Also können sie sich auch überall verstecken. Normalerweise wäre wohl das kräftesparende Versteck im Gebüsch oder auf dem Baum zu wählen. Aber von dir weiß ich ja, dass du als zweite Wahl immer im Erdreich verborgen bist.“

Abrupt blieb Kakashi stehen und starrte mich an, als hätte ich gerade sämtliche Shinobi-Tricks als Buch vermarktet und einen Bestseller gelandet. Ein ganzes Leben enttarnt.

„Wann und wie hast du das denn herausbekommen?“, klang es fast schon verdattert.

„Das hatte ich auf dem Trainingsplatz beobachtet, als ich mir da als gelangweilter Zuschauer Stunde um Stunde um die Ohren schlagen musste“, antwortete ich souverän, verriet aber nicht, dass das nur eine Teilwahrheit war.

Ich wollte mich noch etwas darin aalen, meinen Freund mal verdattert zu sehen. Die ganze Wahrheit war nämlich die, dass ich mir während eines Trainings von Tenzô die Element-Affinitäten hatte erklären lassen. Jo-Nin beherrschten mehrere Elemente, hatten aber immer eine bevorzugte Reihenfolge. Da hatte er sich dann verplappert, dass bei Kakashi das Erd-Element auf Platz Zwei stehen würden.

Und dass Kakashi mir eben meine kleine Lüge nicht abnahm, sah ich ihm an, denn natürlich erinnerte er sich, niemals das Erdversteck bei Yuukis Training benutzt zu haben. Dafür hatte ich es aber in Aktion gesehen, als wir im Fluss-Reich den Postzug erreichen mussten und er mich mit der Erdwand geschützt hatte. Wie dem auch sei hatte Kakashi nun etwas zum Grübeln, wie ich das in Erfahrung gebracht hätte. Tenzô würde ich auf keinen Fall in die Pfanne hauen. Der sollte ja noch mein Haus wieder aufbauen. Außerdem waren wir wirklich gute Freunde geworden.

„Die Vögel sitzen im Geäst“, löste er nun aber das kleine Rätsel auf, wie wir nun bei dem Baum angekommen waren.

Dabei tat er so, als würde er über nichts mehr grübeln. Da kannte ich ihn mittlerweile aber besser. Er würde hundertprozentig noch einige Male drüber nachdenken.

Nun aber flatterten wie auf Kommando die drei ANBU aus der nächsten Baumkrone herab und landeten direkt vor uns. Es fiel sofort auf, dass sie alle drei annähernd gleichgroß und exakt gleich gekleidet waren. Selbst die Masken waren zum Verwechseln ähnlich. Drei Vogelgesichter mit blau-grünem Streifenmuster. Allerdings unterschieden sich die Farbnuancen. Sie erinnerten an den Glanz von Edelsteine. Und dann ging mir ein Licht auf. Na klar! Die üblichen Wortspiele. Hisui konnte nicht nur Eisvogel, sondern auch Jade heißen, weil das glänzende Gefieder dem von Jadegrün glich. Ich würde einen Besen fressen, wenn das bei den beiden anderen auch so wäre.

„Hisui, Kujaku und Ruri“, stellte Hokage-sama seine Schar vor, verteilte die Boxen und schon waren die Drei wieder ausgeflogen.

„Man gut, dass gerade kein Besen zur Hand ist...“, rutschte es mir heraus.

„Wieso? Willst du versuchen, sie mit dem Besen verscheuchen? So wie mich damals in deiner Küche?“, lachte Kakashi.

„Ach Quatsch. Ich dachte gerade nur, dass die Farben auf den Masken so schillern wie Edelsteine. Und dass Hisui auch Jade heißen kann. Ich wollte einen Besen fressen, wenn das bei den anderen beiden auch so wäre. Also das mit dem Namen...“, erklärte ich und bettelte: „Übersetz' doch mal.“

„Kujaku heißt Pfau oder Malachit. Ruri ist ein Blauschwanz oder Lapislazuli. Und um deine Neugier zu befriedigen: Es sind zwei Brüder und eine Schwester.“

Oh, wie nett. Da passte die Namenswahl doch wirklich gut, weil die Namen eine Einheit bildeten wie sie das auch als Geschwister taten. So kreativ hätte ich meinen Freund gar nicht eingeschätzt. Nein, das wäre auch nicht seine Namenswahl, sondern noch die von Tsunade gewesen, gab er zu. Die Auswahl hatte er dann einfach übernommen.

Dank des guten Frühstücks plagte mich noch kein Hunger, weshalb ich meine Box unberührt ließ.

„Wie reagieren sie denn darauf, dass sie bald arbeitslos sind?“

„Dann machen sie andere Aufgaben. Aber ich glaube, sie sind schon ein bisschen geknickt. Mal sehen ...“
 

Kurze Zeit später saßen wir beide noch auf dem Engawa unseres Hauses und trugen lose Ideen über unsere neue Bleibe zusammen. Ich sollte mir mal ein paar Gedanken machen, diese skizzieren und dann mit ihm besprechen. Das wäre wohl einfacher, als wenn man zwei komplett verschiedenen Entwürfe zu einem vereinen würde. Er wäre da so ziemlich unkreativ und ließe mir deshalb ziemlich freie Hand. Solange er in dem Gebäude sein Bett und seine Sachen wiederfinden würde, wäre ihm fast alles recht. Außerdem wäre es doch in erster Linie mein Projekt. Es gefiel ihm sehr, dass ich an der alten Holzkonstruktion festhalten wollte.

So zog der Mittag vorüber und auch der Abend. Wir genossen die Stille und das Meer. Auch die drei Vögel landeten am Strand und nahmen ein Sonnenbad. Den letzten Zug nach Hause ließen wir ohne uns abfahren. Stattdessen Lagerfeuer am Strand, Sterne glotzen und dann viel zu spät einschlafen.

Noch früh genug wären wir wieder zurück in Konohagakure. Im Grau des Alltags.

49 - Der Tag, an dem ich Akka suchte

Unermüdlich prasselte es gegen die Fensterscheiben. Regen von allen Seiten. Dicke, warme Tropfen. Dünne, kalte Tropfen. Manchmal ein kurzer, knackiger Schauer. Manchmal ein Guss aus langen Bindfäden. Oder manchmal nur so ein dauerhaftes Nieseln. Die Formen, welche Wasser annehmen konnte, schienen unendlich, und ich überlegte, wie viele Synonyme es wohl für das Wort „Regen“ gab, um all diese Wettererscheinungen beschreiben zu können. Jedenfalls bewässerte dieser feuchte Zustand Konoha nun schon den gesamten August wie aus Eimern und drückte trotz der ewigen, jährlichen Wiederkehr arg auf mein angekratztes Gemüt. Selbst wenn die Regenzeit zum Feuer-Reich gehörte wie das Kakaopulver in die Milch, so mochte man sich mit dem turnusmäßigen Dauerregen im Sommer einfach nicht anfreunden. Regenwetter war ja gut und schön, aber bitte nicht immer wochenlang am Stück. Sollte man mich jemals nach einem negativen Kritikpunkt über Konohagakure befragen, so würde mir die ungleichmäßige Verteilung des Himmelswassers über das laufende Jahr sicherlich als Erstes einfallen.

Wenn ich von meiner Wohnung hinüber zum Bahnhof gehen musste, weil die Arbeit aus Keishi mich zu sich rief, mied ich die Abkürzungen durch die Natur. Überschwemmte Wiesen und geflutete Pfade. Selbst die schönen Parkanlagen standen unter Wasser, da der nasse Boden keinen Liter mehr an Feuchtigkeit aufsaugen konnte.

„Wie Moosgummi“, meinte Asa mal über die sumpfigen Wiesen Konohas, als die Kinder aus der Schule heimkamen.

„Eher wie ein Schlammtümpel“, beschwerte sich Yuuki, denn er hasste Schmuddelwetter.

Die beiden konnte wenigstens shinobi-priviligiert über die Dächer hüpfen. Ich musste stets den Weg der unwürdigen Zivilisten am Erdboden entlang bestreiten. Hinterher sah man aus, als hätte man im Straßengraben genächtigt.

Am Liebsten hätte ich in den nassen Wochen die ganze Zeit daheim verbracht. An meinem Küchentisch am Fenster. Dort saß ich sowieso die meiste Zeit der Woche über, focht am Laptop den beruflichen Papierkrieg aus und schmökerte nebenbei in ziemlich vielen Büchern, welche ich mir aus der örtlichen Bibliothek geliehen hatte. Das monotone Prasseln gegen die Fensterscheibe schläferte ein, was oft zu einer ablenkenden Gefahr wurde. Ich vergaß meine Arbeit und ertappte mich häufig selbst dabei, wie ich nur noch in der Fachliteratur las oder im Netz weitere Recherchen betrieb. Da konnte schon mal so ein ganzer Tag ins Land ziehen, ohne dass ich auch nur den kleinsten Teil meiner Arbeit geschafft, geschweige denn mal den Haushalt meines übersichtlichen Wohnbereiches in die Hand genommen hätte. Erst wenn eines der Familienmitglieder wieder daheim aufkreuzte, wurde ich wieder daran erinnert, was alles liegen geblieben war. Dann lief ich rot wie eine Tomate an, weil mich das schlechte Gewissen plagte.

Zu meiner Verteidigung konnte ich aber mit nennenswerten Ablenkungsgründen aufwarten. Durch viele detaillierte Abbildungen und Fachtexte aus den Büchern bekam ich nun eine Ahnung davon, wie ein altes Haus wieder zum Leben erweckt werden könnte. Ein wenig Hintergrundwissen über Baustile konnte gewiss nicht schaden und verlieh dem Ganzen doch gleich eine engere Bindung zum Projekt. Man brauchte zu Beginn einfach erst einmal Ideen. So langsam wurden die Vorstellungen klarer. Ein Grundrissentwurf war schon skizziert.

Leider musste ich mit großer Betrübtheit feststellen, dass Tenzô bislang nicht erreichbar war. Ich hatte ihm einige Nachrichten über den Messenger geschickt, doch es gab von ihm keine Antwort. Wie vom Erdboden verschluckt. Mein Freund versuchte mich zu trösten, dass Tenzô häufig nicht mehr in der Stadt, sondern außerhalb unterwegs wäre, wo man nicht unbedingt Netzempfang hätte. Und er wäre generell eh jemand, der nie so recht wüsste, wo sein Handy herumfliegen würde. Kakashi versprach aber immerhin, sich darum zu kümmern, sobald er wieder einen Laufboten frei hätte, den er zu ihm schicken könnte. Und schon wurde ich abgewimmelt. Dann schnaubte ich innerlich, wusste ich doch ganz genau, dass das so nicht stimmte. Da war noch etwas im Busche, was mir keiner verraten wollte. Tenzô wusste nämlich immer ganz genau, wo er seine sieben Sachen hatte. Da konnte mir keiner etwas vormachen. Auch Kakashi nicht. Ich war schon drauf und dran, Gai auf ein paar Pullen Sake einzuladen, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Allerdings wäre Gai meist schon durch den Alkoholpegel eingeschlafen, noch ehe er mir überhaupt irgendetwas verraten hätte. Somit wäre es im Nachhinein wieder ein recht sinnloses Unterfangen gewesen, weshalb ich die Idee noch nicht in die Tat umgesetzt hatte. Darüber hinaus hätte er mir vielleicht noch nicht einmal etwas ausplaudern können, weil er es selbst nicht wusste. Die Beziehungen untereinander konnte man mit Nadelstichen auf einem Stück Stoffband vergleichen. Das Band zwischen Tenzô und Kakashi war ein völlig anderes, als das zu Gai. Zwischen Gai und Kakashi war das Band eher so ein Zickzackstich. Oberflächlich, für jeden präsent, von Blödsinn und albernen Wettkämpfen geprägt. Aber dennoch für die Ewigkeit genäht. Haltbar, belastbar. Dass mit Tenzô war eher so ein Blindstich. Dunkel, unsichtbar, aber umso tiefgründiger und vertrauter. Ich würde schon meinen, dass das Band zu Tenzô um einiges intensiver war als zu Gai, obgleich man das gar nicht auf den ersten Blick vermuten würde.

Verstimmt schob ich gedanklich die Umsetzung des Haus-Projektes auf einen unbestimmten Termin. Solange Tenzô nicht da war, war da nichts zu machen. Alles andere würde das Budget sprengen. Erst einmal standen sowieso ganz andere Dinge an. Knapp acht Wochen noch. Dann wäre Kakashi seinen Posten los. Und das hatte die Schlaftablette doch echt in Wallungen gebracht. Es war für niemanden erklärbar, noch nicht einmal für ihn selbst, weshalb er plötzlich eine innere Unruhe verspürte. Er räumte wie ein Irrer das Büro und das Archiv auf, kontrollierte alles doppelt und dreifach und schrieb ständig Notizen, was er noch erledigen müsste. Mir kam es vor wie ein Anflug von Torschlusspanik, dass er irgendetwas vergessen hätte, aber es noch dringend in Ordnung bringen müsste. Er tat, als wäre er nach seinem Rücktritt nicht nur aus dem Hokageturm, sondern aus seinem kompletten Dorfleben völlig verbannt und hätte sämtlichen Einfluss verloren. Seine ungekannte Hektik übertrug sich auf die gesamte Truppe, und man fürchtete schon, etwas ganz Schlimmes würde just in der Sekunde passieren, wenn er symbolisch seinen Hut an Naruto übergeben würde. Mindestens einen Urknall oder so etwas in der Art. Auf jeden Fall apokalyptisch. Der Untergang nahte.

Von mir aus konnte die Shinobi-Welt untergehen, wie sie wollte. Für uns als Familie bescherte Kakashis Arbeitswut lediglich, dass wir daheim zu unsichtbaren Wesen wurden, als hätte er uns und sein Leben außerhalb des Büros völlig vergessen. Er kam weder nach Hause, noch meldete er sich. Und wenn wir ihn dann mal dezent mit dem Zaunpfahl winkend auf uns aufmerksam machten, guckte er doch recht erstaunt nach dem Motto: „Da war doch noch was...“ Mir kochte die Galle über, wenn ich nur daran dachte. Wutschnaubend schluckte ich den Groll hinunter, nur um ihn dann bei anderen Gelegenheiten wiederkäuend hochzuwürgen. Ich wollte mich nicht vor den Kindern mit ihm zoffen. Dabei konnte man nebenbei erwähnen, dass Asa mittlerweile so gut wie bei mir eingezogen war. Was sollte sie allein in Kakashis Wohnung hocken? Sie käme ja auch gar nicht zurecht.

Man könnte auch zusammenfassend sagen, der Haussegen hing nicht nur schief, der war schon kurz vor dem Herabstürzen. Mit der Situation umzugehen, belastete mich maßlos. Ich erkannte Kakashi nicht wieder.
 

Es war wohl die beste Zeit, endlich Ablenkung zu suchen und einen ganz anderen Gedanken in die Tat umzusetzen, den ich kürzlich erst gesponnen hatte. Ich wollte endlich einmal schauen, wie es der alten Akka ging. Mit Regenschirm und Gummistiefel bewaffnet stapfte ich durch die Pfützen und klapperte das Wohnviertel ab, wo ich meine ehemalige Mitarbeiterin und gute Seele des Kontors anzutreffen hoffte. Unterwegs flachste ich mit Ûhei, ob ich ihm wohl mal so ein Regencape für Vierbeiner kaufen sollte. Das sähe doch sehr niedlich aus, zog ich ihn auf. Vielleicht noch mit einem pink-lila Karomuster und blauen Schleifchen? Da tat er dann aber recht beleidigt und schüttelte sich zwischendurch mal so sehr, dass die Wassertropfen aus seinem Fell flogen und meine Hosenbeine sprenkelte. Ein Hunderegenmantel war somit abgelehnt. Ich lachte.

Leider blieb unsere Suche erfolglos, denn unter der Adresse, die ich zuletzt von Akka gekannt hatte, lebte sie nicht mehr. So etwas blödes! Ich seufzte und stiefelte nun missmutig durch den herben Rückschlag weiter, bis ich unter dem breiten Vordach eines Hauses Schutz vor dem Regen fand.

Gedankenverloren starrte ich den Straßenzug entlang, prüfte über mir die Wolkendecke, ob sie eventuell doch noch kurz aufreißen möge, und wanderte mit den Augen über den Hokagefelsen. Seit einigen Wochen rüstete der Steinmetz einen Teil des Felsens rechts neben Kakashis Steingesicht ein. Bald schon würde dort auch Narutos Antlitz über das Dorf herunterschauen und über uns wachen.

„Kann ich Ihnen helfen, junge Frau?“, rief es mir plötzlich aus einem gegenüberliegenden Fenster zu.

Ich zuckte zusammen, als man mich so aus meinen Gedanken riss. Junge Frau? Na, das war doch mal schmeichelnd. Und dankbar war ich obendrein, dass mich eine freundliche Nachbarschaft beobachtet hatte und ganz unverbindlich nach meinem Bedürfnis ansprach.

„Vielen Dank, aber ich habe mich hier nur wegen des Regens untergestellt. Kennen Sie Akka-kun? Ich wollte sie besuchen, aber sie wohnt hier wohl nicht mehr?“, rief ich nun der fremden Stimme aus dem Nachbarhaus entgegen.

„Akka-kun?“, nun schob sich doch mal ein Kopf aus dem Fenster, der mir berichtete, nicht zu wissen, wohin es die alte Dame verschlagen hätte.

Ich bedankte mich und folgte dem Straßenverlauf in die Innenstadt. So, wie viele der Straßen es taten, verlief auch diese hier genau auf den Hokageturm zu. Das passte mir ausgesprochen gut. Wenn mir überhaupt jemand bei meiner Suche helfen könnte, dann doch Kakashi und sein Zugriff auf das örtliche Melderegister. Dabei könnte ich ihn auch gleich einmal daran erinnern, dass sein Büro eben nicht sein zuhause war.

Der Regen hatte nachgelassen. Ich faltete den Regenschirm zusammen nicht ohne ihn vorher ein paar mal kräftig auszuschütteln, wie Ûhei es zuvor mit seinem Fell getan hatte. An einer Straßenkreuzung hielt ich inne. Über meinem Kopf formte sich ein unglaubliches Wolkenschauspiel. Die Decke riss unerwartet auf. Sonnenstrahlen stachen hindurch und strahlten willkürliche Häuser an. Ähnlich Scheinwerfern in einem Theater, welche Darsteller in Szene setzten. Wäre ich gläubig, ich würde hier wohl ein Götterzeichen deuten. Der Wind schob die Wolkenlöcher weiter, verschloss sie oder öffnete neue. Es war erstaunlich. Da verstand ich meinen Freund schon, wenn er erzählte, gerne in die Wolken zu schauen. Der Wind schob aber nicht nur die Wolken weiter, sondern pustete auch uns gehörig durchs Mark. Da taten zwei Füße und vier Pfoten gute daran, sich dem Turm mit großen Schritten zu nähern.

Man ebenfalls tat gut daran, sich im Turm nicht an Gais Zimmertür vorbei zu schleichen. Das empfand er stets als unhöflich, wenn die Zeit noch nicht einmal für eine Begrüßung unter Freunden ausreichen würde. Ich klopfte an seine Bürotür. Doch als keine Antwort durch das Türblatt drang, musste ich wohl von seiner Abwesenheit ausgehen und konnte den Zwischenstopp bei ihm ausfallen lassen. Gut so! Wenn man einmal seinen Kopf bei Gai durch die Tür gesteckt hatte, war man schon so gut wie in einer Falle gefangen. Dann bekam man eine Tasse Tee in die Hand gedrückt und die ganze Kraft der Jugend redete pausenlos auf einen ein. Das hatte ich mir für heute mal erspart.

Dafür traf ich zwei Etagen höher auf einen menschlichen Stau. Dort in dem langen, geschwungenen Flur wartete eine Gruppe von Shinobi vor Kakashis Tür. Schweigend hielt ich mich mit Ûhei etwas abseits von ihnen und musterte den kleinen Trupp. Anscheinend kamen sie von einer Mission zurück, denn die Umhänge waren nicht nur vom Regen durchweicht, sondern auch verdreckt. Einer aus der Gruppe schien unterwegs hängengeblieben zu sein, denn der Stoff zeigte üble Risse, die sich nur schwer flicken ließen. Man müsste wohl eher das Seitenstück durch neuen Stoff ersetzten. Hach, ich vermisste das Stoffekontor. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich schluckte ihn schmerzerfüllt runter. Zwar hatte ich wieder Arbeit gefunden, doch sie füllte mich nicht so sehr aus, wie dazumal das Kontor es getan hatte. Ich haderte sehr mit mir, mich eventuell beruflich doch noch einmal anders zu orientieren. Die Tür klappt abermals. Zwei Shinobis kamen mit unzähligen Aktenbergen heraus, dass man zuerst gar nicht deren Gesichter zuordnen konnte. Izumo und Kotetsu. Schnell drückte ich mich an die Wand und zog den Bauch ein. Die beiden waren durch die aufgetürmten Aktenberge so gut wie blind und beanspruchten somit den gesamten Flur für sich. Gerade als sie auf meiner Höhe waren, konnte man unzufriedene Wortfetzen hören. Dass so viele Bäume überhaupt noch nie gefällt worden wären, wie man hier an Papier schleppen würden. Und so weiter und so fort. Nur mühsam konnte ich mir ein Kichern verkneifen. Ausgerechnet die beiden Faulpelze beschwerten sich. Unter Tsunades Regentschaft hatten die beiden weit mehr zu schleppen gehabt. Kaum waren die beiden faulen Packesel hinter der Flurbiegung verschwunden, wandte ich mich wieder der Tür zu. Verschlossen! Und der wartende Trupp nicht mehr bei uns. Sie waren so schnell durch die Tür gegangen, dass ich es gar nicht bemerkt hatte.

„Hoffentlich dauert die Berichterstattung nicht allzu lange“, sagte ich zum Ninken.

Ich wollte nicht allzu lange warten und den Tag hier auf dem Flur verplempern. Also legte ich mir selber eine gefühlte Zeitspanne zurecht, nach deren Ablauf ich wieder gehen würde, sollten die Shinobi bis dahin ihr Anliegen nicht geklärt haben und das Büro freigeben. Doch so lange dauert es nicht. Wieder ein Türklappern und die Bande kam schon wieder herausmarschiert. Freie Bahn für mich.

Langsam trat ich ein und strich mir fröstelnd über die Arme. Das gegenüberliegende Fenster stand sperrangelweit offen. Der Durchzug schnitt die stickige Luft scheibchenweise ab und bugsierte sie hinaus. Ein Rauschen im Blätterwald. Ich hatte das Büro seltenst zu Gesicht bekommen, gab es doch für mich hier kein Anliegen. Doch so überfrachtet an Akten, Schriftrollen und Unterlagen hatte ich es noch nie erlebt. Es glich dem Büro meiner Chefin in Keishi, als ich mit diesem zum allerersten Mal Bekanntschaft machte. Ich war schon etwas schockiert.

„Tür zu!“, kam es wohl, aber bestimmt.

Aus meiner kurzen Schockstarre zurückgeholt, kam ich diesem nach und schritt dann langsam um Schreibtisch herum, denn vom Drehstuhl sah ich nur die Rückseite. Ich zuckte zusammen. Kakashi saß da nachdenklich in seinem Stuhl, starrte ins Leere durch das offene Fenster und hatte eine Hautfarbe, die seinen Haaren ernstzunehmende Konkurrenz machte. Eine feine Gänsehaut zeichnete sich auf seinen Armen ab. Hatte er Schüttelfrost? Auf der aschgrauen Haut wirkten die dunklen Augenringe gleich noch viel gefährlicher. Schlimmer als beim Kazekage Gaara. Und DAS sollte schon etwas heißen.

„Wie siehst du denn aus?“, entfuhr es mir entsetzt.

„Ach, du bist es. Ich hatte mich gerade gefragt, wer hier herkommt und dabei sein Chakra unterdrückt ...“, wurde meiner Frage ausgewichen.

„Du siehst beschissen aus. Ich hatte erst gedacht, hier sitzt ein Monster“, fuhr ich trocken fort.

„Ich hab dich auch lieb“, entgegnete er nur keck.

Da half auch sein scheues Lächeln nicht, die Stimmung zu heben.

„Du kommst jetzt mit!“, befahl ich, weil mich sein Zustand echt entsetzt.

Von Zustand konnte aber gar keine Rede mehr sein. Was war das? Dahinsiechen? Zu Staub zerfallen? Wie eine Glucke ihre Schar Küken durch emsigen Aktionismus beisammen hielt, kam nun hektisches Leben in mich. Ich fasste ihm ungefragt in den Hacken und an die Stirn, um erleichtert festzustellen, dass er wohl kein Fieber hatte. Er ließ das wortlos mit sich geschehen. Als meine Hand über seine Wange strich, hielt er sie für einen Moment, schmiegte sich an und sog die Wärme auf. Also war er wohl tatsächlich nicht krank, sondern hier hockte ein typischer Fall von Übermüdung. Viel Schlaf und eine Portion Streicheleinheiten würden den schon wieder auf die richtige Spur bringen.

„Du bist doch nicht hier gekommen, weil du mich abholen wolltest, oder?“

Es war zum Haare raufen. Der eingebildete Herr würde sich keiner Blöße gegeben. Selbst dann nicht, wenn er hohes Fieber und den Kopf unter dem Arm hätte. Ich gab es auf.

„Ich wollte eine ehemalige Mitarbeiterin besuchen, aber sie wohnt dort nicht mehr. Kannst du mal schauen, wo ich sie finden kann?“

„Klar!“

Mit einem Fußtritt gegen den Boden schubste er seinen Bürostuhl an und drehte sich zum Laptop. Wenige Klicks später kam ein Blatt Papier aus dem Drucker mit der gewünschten Anschrift. Na bitte! Doch so ganz kampflos wollte ich nicht aufgeben. Ich verabschiedet mich und drohte noch grinsend.

„Wenn du heute Abend nicht nach Hause kommst, dann hole ich dich. Und dann, dann ...“, überlegte ich. „Dann bringe ich deine ganze Ordnung wieder durcheinander!“

Das war doch mal eine handfeste Drohung und den Blick, den er mir dann auch bei unserem Abschied hinterherwarf, sprach Bände, dass er mir wohl ohne Kommentar glaubte.
 

Tatsächlich fand ich Akka unter der neuen Adresse. Als sie die Haustür öffnete, strahlte sie überrascht und bat mich herein. Wir erzählten viel und lange über die Zeit nach der Kontorschließung. Ich wurde immer kleiner auf meinen Stuhl, als ich hörte, wie weit die Gerüchte über Kakashi und mich schon ihre Runde im Dorfe gemacht hatten. Ich kam mir wie ein bestalkter Filmstar vor.

„Weißt du noch, wie du vor zwei Jahren am Boden zerstörst warst, als Yuuki mit dem Jutsu das Haus in Schutt und Asche gelegt hattest? Tränen hattest du geweint. Ich konnte dich kaum beruhigen, weil du dachtest, Kakashi würde dich aus dem Dorf schmeißen. Und nun?“, lachte Akka fröhlich.

Tjoa, und nun? Verlegen kaute ich auf meinem Onigiri herum. Nun war ich mit Kakashi zusammen. Verrückte Welt.

Auf Akkas Kommode tickte eine kleine Uhr. Ihr Bronzeton zur vollen Stunde trieb mich zur Eile. Yuuki und Asa hätten nun Schulschluss. Wir verabschiedeten uns lange und versprachen, uns doch bald einmal wieder zu treffen. Ich lud sie in das Strandhaus ein, sofern es denn jemals fertig werden würde. Sie wurde rot und wollte das Angebot gar nicht erst annehmen, doch ich drängte sie dazu.

„Meinst du, dein Ninja wird dir folgen? So weit außerhalb seines Dorfes? Sie werden für das Dorf geboren und sterben auch dafür. Ich fürchte, gerade deine Wahl nimmt es damit sehr streng“, wollte Akka noch besorgt wissen.

Ich schüttelte lachend den Kopf. Nein, Kakashi würde immer einen Fuß in Konoha haben. Er wäre viel zu wissbegierig und rastlos, um tagtäglich in der Hängematte zu vergammeln. Das wäre mir klar und in Ordnung, solange er immer mal wieder den Weg zurück finden würde.

Da sah mich die alte Akka lange an, bat mich, noch etwas zu verweilen und kam dann mit einem großen, braunen Paket wieder. Ich sollte erst reinschauen, wenn ich wieder daheim wäre. Sie hätte dafür keine Verwendung mehr, aber ich selber könnte es vielleicht einmal gebrauchen. Überrascht bedankte ich mich und versprach, mich daran zu halten. Das Paket fühlte sich schwer, aber im Inneren weich an. Ich vermutete einen Ballen Stoff.

Beschwingt ging ich mit Ûhei nach Hause. So ein fröhliches Gespräch war Balsam für die Seele gewesen.

50 - Der Tag, an dem eine Ära endete

Die meisten Tage seines Lebens vergaß man mit der Zeit. Es gab einfach zu viele davon. Manche verschwanden schon nach einigen Wochen aus dem Gedächtnis, manche erst Jahre später. Sie zogen so leise und schleichend von dannen, dass man noch nicht einmal die Chance hatte, sie irgendwie festzuhalten. Doch die, die blieben, waren so einschneidend, dass sie wohl für immer im Gedächtnis haften würden. Eingebrannt für die Ewigkeit. Voller Emotionen. Tage voller Freude und voller Glück, voller Schande und voller Scham, voller Siege und voller Niederlage. Manchmal auch alles zusammen. Und manchmal auch so unglaublich einzigartig, wie wohl der Tag, an dem eine Ära endete. Es erinnerte mich an eine untergehende Sonne. Man sah schon die Dämmerung aufziehen, und war dann aber überrascht, als es plötzlich dunkel war. Etwas übertrieben vielleicht, doch in dem Moment war es genau die richtige Beschreibung für das Gefühl, welches diesen einen Tag dominierte.
 

Solch eine Hokage-Zeremonie war gar nicht solch ein großartiger Akt, wie man es vielleicht vermuten mag, obgleich der Begriff „Zeremonie“ doch sehr feierlich klang. Der formelle Teil war übrigens schon einige Tage zuvor über die Bühne gebracht worden. Das war die Zeit, in der Kakashi und Naruto zusammen mit Shikamaru durchs Büro tigerten, Raum für Raum abklapperte, Schlüssel sortierte und Übergabeprotokolle unterschrieben. Alles musste amtlich und sachlich seine ordentlichste Ordnung haben. Ich war natürlich bei der Prozedur nicht zugegen, doch wie Plaudertasche Gai zu berichten wusste, traf es wohl alle anwesenden Mitarbeiter, die nebenbei Zeuge der Aktion wurden, doch im Herzen härter als man zugeben würde. Denn nach Gais Schilderungen war das Ganze wohl so abgelaufen, dass Kakashi nichts behalten wollte. Weder irgendeinen Türschlüssel für irgendwelche Notfälle, noch seinen Zugangsaccount für den Laptop im Büro. Und somit war die Endgültigkeit des Amtswechsel in Stein gemeißelt und nicht mehr rückgängig zu machen. Kakashi war nun weg. Für (fast) immer. Punkt! Aus! Ende! Und der nur noch wenige Tage amtierende Rokudaime zeigte auch keine Ambitionen, regelmäßig im Kreise seiner Truppe aufzukreuzen. Höchstens mal sporadisch. Nicht immer, dafür aber immer weniger. Warum auch immer Kakashi sich selbst stets als „Schlechtester Hokage aller Zeiten“ bezeichnete, seine Truppe sah das anscheinend nicht so. Und auch in der Bevölkerung sprach man keineswegs ungnädig von ihm, sondern bewunderte sein Handeln nach dem Krieg, wie er Konoha wieder stabilisiert und vorangebracht hätte. So schlimm konnte seine Amtszeit also gar nicht gewesen sein, aber so viel Lob wollte er immer gar nicht hören.

Am Tag der Tage war das ganze Dorf festlich geschmückt. Um am Fest angemessen teilzunehmen, kleidete man sich als anständiger Dorfbewohner in einheitlicher Dorftracht. Dunkle Hosen und weiße Obergewänder mit dem roten Feuer-Kanji im Nacken bildeten das Gesamtbild. Dann wartete man früh morgens auf dem Vorplatz des Hokageturms und haderte der Dinge, die sich da gleich einige Meter höher ereignen würden. Es waren viele Menschen auf den Beinen, denn der Tag war zum Feiertag erklärt worden, an dem die Geschäfte geschlossen hatten. Man hatte also für die Beiwohnung des Spektakulums jede Menge Zeit mitgebracht, auch wenn das Ganze nur ein paar Minuten dauern würde. Ich stand etwas am Rande des Platzes, von wo ich die Dachterrasse des Turms gut sehen konnte und schweifte mit meinem Blick über die versammelten Leute. Viele bekannte Gesichter gab es zu entdecken, doch ich mochte nicht mit auch nur einem davon reden. Erst fieberte man diesem Tag entgegen und nun hatte man doch einen wehmütigen Kloß im Halse stecken. Da war mir die Rolle des stummen Beobachters ganz recht. Je mehr der Zeiger der großen Turmuhr zur vollen Stunde kroch, desto größer wurde dieser Brocken. Ich nickte nur, als die Kinder meinten, sie würden zu in der Menge entdeckten Spielkameraden laufen.

„Hättest du deinem Freund nicht mal sagen können, er hätte sich zu diesem besonderen Anlass die Haare kämmen können?“, wurde von der Seite her gewitzelt.

Erschrocken drehte ich mich herum, weil ich so in Gedanken versunken war, dass ich alles um mich herum vergessen hatte. Es verschlug mir nun für den Bruchteil einer Sekunde vollends die Sprache, dafür freute ich mich kurz darauf umso mehr. Tenzô war wieder da! Es war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen, als wir uns zum letzten Mal sahen. Na, das müsste er mir später mal beichten, weshalb er so lange nichts von sich hatte hören lassen.

„Du wirst es kaum glauben, aber die Haare sind gekämmt!“, spielte ich lachend den Ball zurück.

Es war schön, wenn man einem ähnlichen Humor nachging.

„Wo warst du die ganze Zeit? Ich hatte versucht, dich zu erreichen!“, bohrte ich.

„Erzähl ich dir nachher...“, meinte er abwinkend und spannte meine Neugier auf die Folter.

„Sag mal, stimmt das, was Gai erzählt hat, mit Kakashis Geburtstagsgeschenk?“, fragte Tenzô ungläubig.

„Klar!“, grinste ich wie Honigkuchenpferd.

Kakashi und ich hatten für uns gegenseitig mal abgemacht, dass wir uns nichts zum Geburtstag schenken müssten. Ein Geburtstag war ein Tag wie jeder andere auch. Und irgendwie hatte man schon alles, was man sich an Kleinkram so wünschte, im Laufe seines Lebens selbst zusammengesammelt. Das, was man sich nun noch wünschte, waren Dinge, die man nicht mit Geld aufwiegen konnte. Ich hätte nie gedacht, dass ich beispielsweise einmal an einem Punkt ankommen würde, wo ich mir mehr Ruhe in meinem Leben wünschte. Oder Glück. Oder Gesundheit. Die Sache mit dem Haus war eine ganz andere Geschichte gewesen und im Endeffekt ein Geschenk für alle Familienmitglieder. Trotzdem hatte ich es mir in diesem Jahr nicht nehmen lassen, aus einem Jux heraus diese Regel zu brechen.

Als ich Kakashi auf der Arbeit heimgesucht und mir daraufhin um ihn und seine Gesundheit Sorgen gemachte hatte, war mein dumpfes Gefühl nämlich gar nicht so verkehrt gewesen. Eine Woche später lag der mit einer Erkältung wirklich flach. Ich war froh, dass die Symptome der echten Männergrippe bei meinem Freund erstaunlich flach verliefen. Trotzdem lag er gespielt sterbend im Bett, hatte zu nichts eine Meinung und verlor keine großen Worte. Darüber hinaus quälte ihn die Langeweile, da sein Kreislauf verrückt spielte und es gezwungener Maßen auch keine anderen Möglichkeiten außer permanenter Bettruhe für ihn gab. Was machte man schon den ganzen Tage im Bett? Das Fernsehprogramm war nervig und sämtliche Icha-Icha-Bücher bis zur Seitenvergilbung ausgelutscht. Also hielt ich spontan und angereichert an schwarzem Humor am Tage seines Geburtstags an einem Buchladen an und durchforstete die „Ab 18“-Ecke. Es musste doch einen halbwertigen Ersatz für Jiraiyas Pamphlete geben? Die Verkäuferin schaute mich verstohlen vom Verkaufstresen an, wie ich mich intensiv durch die erstaunlich große Auswahl blätterte ohne die Miene zu verziehen. Mit zwei, dem Klapptext glaubend, mittelmäßig anspruchsvollen Romanen und einem künstlerisch wirklich wertvoll gezeichnetem Manga in den Händen zahlte ich dann und verpasst der Verkäuferin einen hochroten Kopf, als ich sie bat, den Lesestoff als Geschenk einzupacken. Genau die gleiche Gesichtsfarbe bekam Kakashi, wie ich ihm die Überraschung voller boshafter Vorfreude überreichte und trocken kommentierte:

„Damit du mal den Horizont erweiterst und etwas Sinnvolles tust. Also ich fände das auf Seite 87 bis 95 auch mal ganz nett...“

Und so ließ ich ihn dann ohne eine Antwort abzuwarten zurück. Sein Gesichtsausdruck – unbezahlbar! Irgendwo zwischen Verkehrsampel und Chilischote. Aber wenigstens hatte er keine Langeweile mehr.

„Ach, so war das!“ lachte Tenzô, als ich ihm die Hintergrundgeschichte kurz zum Besten gegeben hatte. „Ich hab mich schon oft gefragt, ob es dir nichts ausmacht, wenn er überall und nirgends Pornos liest.“

„Du musst ihn verstehen. Er kann nicht anderes.“, tat ich gespielt Mitleid empfindend und kicherte in mich hinein, wo doch gerade Tenzô zu den Leuten gehörte, die immer über die Schulter hinweg mitlasen.

Es machte mir tatsächlich nichts aus, weil ich die Macke als ziemlich harmlos fast als niedlich empfand und ich mit Sexualität keine Berührungsängste hatte. Man muss solche Macken auch mal von der praktischen Seite sehen. Ich entsann mich daran, als ich ewig und drei Tage lang in unserem Wunderkaufhaus um die Ecke irgendetwas in den Regalen gesucht hatte. Kakashi konnte man da bequem mit dem Einkaufswagen auf dem Gang abstellen, ohne dass der sich auch nur ein einziges Mal beschwert hätte. Er parkte dort an den Wagen angelehnt, wo man ihn abgestellt hatte, las sein Buch und schob den ganzen Kram zur Kasse, wenn man ihn wieder abholte. Kein ungeduldiges Meckern, kein Drängeln. Ein Traum, oder?

Die Turmuhr schlug neun Uhr. Oben auf der Turmterrasse wurde getuschelt. Für den Bruchteil der Sekunde hatte ich den Eindruck, etwas würde nicht nach Plan verlaufen, doch das Geknalle einiger Feuerwerksraketen lenkte mich ab. Kaum waren diese verballerte, sprach Kakashi einige Worte an die Menge. Seine Stimme registrierte ich gar nicht, obwohl sie laut und gleichmäßig über das halbe Dorf hallte. Dann trat Naruto neben ihn, und schon war der ganze Zauber auch wieder vorbei. Die Menge applaudierte und freute sich. Und ich starrte nur stumm mit Tränen in den Augen nach oben. Der dicke Kloß in meinem Hals nahm mir echt die Luft. Warum musste ich eigentlich fast heulen? Was auch immer genau eben gerade geschah: Genau hier und jetzt hörte etwas ganz Besonderes auf. Ein ganz großer Abschnitt war zu ende. Ein brandneuer, unbekannter Abschnitt fing nun an. Ab jetzt würde alles anders werden. Hier und heute. Das spürte ich.

Tenzô strich über meinen Oberarm und nannte meinen Namen. Wie durch eine Nebelwand sah ich ihn an.

„Doch so schlimm? Na los, komm mit!“, meinte er aufmunternd und deutete mit einem Kopfnicken zur Dachterrasse.

„Wie? Da hoch? Da gehör' ich doch gar nicht hin...“, jammerte ich völlig unbegründet los.

Bis heute zählte ich mich nicht zum Kreise der Shinobi-Clan-Mitglieder, auch wenn ich so langsam Fuß in dieser Welt gefasst hatte.

„Was ist denn los mit dir? Du bist doch sonst nicht so?“, duldete er keine Widerworte und meinte noch augenzwinkernd: „Da gibt es bestimmt auch was zu Essen. Ich hab' nämlich noch nicht gefrühstückt!“

Oh Mann, so verfressen sah Tenzô gar nicht aus, wie der immer tat. Den trieb echt der Hunger voran. Meine Güte, was um alles in der Welt hatte der denn die letzten Wochen getrieben? Das war ja schon beängstigend. Dabei machte der noch nicht einmal einen ausgemergelten Eindruck, sondern strahlte wie die Frühlingssonne. Seltsam, seltsam! Kopfschüttelnd blickte ich ihm nach, als er schon die ersten Meter Boden gutgemacht hatte. Seufzend fügte ich mich dem Schicksal und kam jedenfalls mit.

Man darf das nun nicht falsch verstehen, weil Tenzô so direkt den Turm ansteuerte: Eine Abschiedsparty oder gar ein Buffet gab es dort definitiv nicht. Das war auch gar nicht geplant worden. Wohl aber wenige Verstecke, die Tenzô nun zielgenau abgraste. Als schweigender Verfolger beobachtete ich, wie er eine Teeküche inspizierte und sich dann am Kühlschrank bediente. Nichts geringeres als Kakashis Bentobox wurde stibitzt, als wäre es das Normalste der Welt. Noch ehe ich einen Spruch und mein Empfinden über diesen Diebstahl äußern konnte, wurde meine Sicht verdeckt.

„Hier, halt mal!“, hörte ich Kakashi, der mir einfach im Vorbeigehen seinen Hut aufgesetzt hatte. „Ich dachte, du wolltest erst morgen zurückkommen?“

Letzteres bezog sich auf den ausgehungerten Freund. Ich schob den Hut ein Stück nach oben und sah nun, wie er jenem die Box wieder aus den Händen zog. Dieser fühlte sich nun doch wohl schuldig und auf frischer Tat ertappt. Er zuckte nichtssagend mit den Schultern. Kakashis Auftauchen war einfach wie eh und je zu spontan.

„Wieso hast du den Hut bei dir?“, wunderte ich mich nun, weil ich gemeint hätte, Kakashi hätte ihn vorhin an Naruto übergeben. Was viele vielleicht noch nicht wussten: Jeder Hokage behält seinen Hut. Der wurde nur symbolisch wie eine Krone weitergereicht. Aber hinterher hätte jeder seine eigene Kopfbedeckung. Das machte ja auch Sinn, weil jeder einen anderen Kopfumfang hatte. Zu Beginn, als Kakashi das Amt von Tsunade aufgedrückt bekommen hatte, musste er sich mit deren Hut begnügen und ihn durchs Dorf tragen. Doch der war vom Durchmesser viel zu schmal gewesen und wirkte recht unglücklich auf Kakashis wallender Mähne. Wie eingelaufen. Ein Grund, warum bei jedem Haarschnitt die Haare immer ein Stück kürzer wurden. Hut und Frisur waren nicht kompatibel. Kakashis späterer Hut war um einiges breiter. Und schwer war der. Das merkte ich jetzt, wo ich den zum ersten Mal auf hatte. Durch die nach vorn gezogene Spitze und den umlaufenden Nackenschutz sah man auch kaum was von der Umgebung. Kein Wunder, dass er den Hut immer lieber am Band auf dem Rücken trug.

Aber um auf das eigentliche Thema zurückzukommen, weshalb der Hut nun auf meinem Kopf anstelle auf Narutos war, wurde mir Sonderbares offenbart. Ich war bass erstaunt, als mir mein Freund verriet, dass sein Nachfolger doch gar nicht anwesend gewesen wäre. Konohamaru hatte ein Jutsu anwenden müssen, um exakt wie Naruto auszusehen. Wüsste der Teufel, wo Naruto sich herumtrieb. Später löste sich das Rätsel auf, dass dessen Tochter ihren Vater mit einer unkontrollierten Augentechnik in das Land der Träume geschickt hätte. Eine Ausrede, die Kakashi lachend gelten ließ. Kinder waren nun mal so …
 

Es war schon spät in der Nacht, als sich wahre Abgründe auftaten. Es rumpelte laut, was mich erschrocken aus dem Schlaf auffahren ließ. Einbrecher? Nein, viel, viel besser! Da war ein Ninja an meinem Fenster, der mir herrlich bekannt vorkam. Völlig ungelenk schob er die Scheibe mit viel zu viel Schwung auf, dass es knallte. Dann schwang er sich fern ab jeglicher Eleganz hindurch und landete wie ein Kartoffelsack auf meinem Bett. Meine ganze Matratze wackelte wie der Wellengang des Ozeans. Bewundernswert, wie er es in diesem Zustand überhaupt die Hausfassade hinauf geschafft hatte.

„Wolltest du nicht nach der Sauftour nach Hause gehen?“, fragte ich und unterdrückte ein Kichern.

Tenzô und Gai hatten nämlich die grandiose Idee gehabt, dass der Feiermuffel Kakashi, der in seinem ganzen Leben noch nie ordentlich lustig und ordentlich besoffen gewesen wäre, diese übersprudelnden Emotionen eines Vollrausches wenigstens ein einziges Mal in seinem Leben erlebt haben müsste. Und wann wäre eine bessere Gelegenheit als heute, wo er doch nun in Rente wäre? Gesagt, getan! Kakashi fand zwar überhaupt nicht, dass er etwas in seinem Leben verpasst hätte, doch er wurde von zwei ehemaligen Freunden, die er nämlich in der Sekunde des Mitnehmens zu Feinden erklärte, einfach abgeschleppt. Ich wurde sogar zum Oberfeind erklärt, weil ich beim Abschied noch fröhlich hinterherwinkte und viel Spaß wünschte. Armer Kerl! Niemand wollte ihn retten. Jetzt saß er hier ebenso verloren und grübelte.

„Wieso? Ich bin doch zu hause?“, entgegnete er schließlich verwirrt und stellte damit klar, dass die Artikulation noch einwandfrei funktionierte.

Kakashi sah sich um. Obgleich er mitten auf dem Bett saß, schwankte der Oberkörper bedrohlich. Umhüllt wurde er von einer Smokwolke aus Alkohol und Tabak. Moment mal, seit wann raucht der? Gai und Tenzô hatten sich aber echt ins Zeug gelegt, den abzufüllen. Da müsste ich doch, wenn sie irgendwann wieder nüchtern wären, mal fragen, wie sie das zu Stande gebracht hätten.

„Öhm, nein! Dein Bett steht einige Stadtteile weiter. Dies ist mein Bett. Aber du darfst trotzdem bleiben“, klärte ich ihn auf und beobachtete schelmisch die Reaktion.

Aber Kakashi war das nun wohl zu hoch. Er schüttelte nur den Kopf über diese Denksportaufgabe. Mein Bett, dein Bett. Er hatte ein Bett gefunden, dass er kannte und wo man ihn auch nicht rausschmeißen würde. War doch total egal, wo dieses Bett stand. Dafür ließ er sich nun vorne überfallen, dass er mich fast unter sich begrub und platzierte dabei meine beiden Handgelenke über meinem Kopf. Faszinierend, wie diese konditionierten Ninja-Griffe auch im besoffenen Zustand abgerufen werden konnten. Die saßen auf den Millimeter genau und fixierten mich auf dem Rücken liegend. Flucht zwecklos. Sein Kopf kuschelte sich nun an meinen. Puh, eine Sakebrennerei war nichts dagegen, den die Smokwolke zog ihm hinterher. Er küsste mich wild und ein bisschen ungestüm, wie ich es so noch gar nicht von ihm erlebt hatte. Mein besoffener Freund gefiel mir immer besser. Doch während er nahe bei mir war, hatte ich gespürt, wie er zusammengezuckt war. Aus seinen Küssen schmeckte ich neben Sake und Tabak noch einen undefinierbaren Geschmack heraus. Süßlich wie Eisen. Merkwürdig.

„Tut dir was weh?“, fragte ich vorsichtig.

„Ich glaub, nur ein bisschen“, überlegte er lange.

„Wie kann man denn glauben, dass einem 'was weh tut?“

Nun war ich diejenige, die verwirrt war. Hallo, Erde an Kakashi? Man merkt doch, ob man sich wehgetan hat. Oder etwa nicht? Ich befreite sachte meine Hände aus seiner Umklammerung. Mit der einen Hand strich ich ihm über den Kopf. Da war etwas Warmes, Weiches, Nasses … Blut! Plötzlich war ich mehr als hellwach und schnellte hoch. Kakashi kullerte unvorbereitet von meiner Aktion wie ein Baumstamm beinahe über die Bettkante hinweg und hielt sich dann die Augen zu, just als ich meine Nachttischlampe einschaltete. Ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr Schmerz ertragen musste. Kakashi, der nun das grelle Lampenlicht in den Augen hatte. Oder ich, die einen zertrümmerten Freund ansah. Der sah aus, als wäre er unter das Müllauto geraten.

„Was ist denn mit dir passiert?“, rief ich entsetzt aus und konnte gar nicht glauben, dass dort tatsächlich Kakashi in meinem Bett sein sollte.

Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. Bestimmt hatte ich es hier mit einem üblen Doppelgänger zu tun, und der echte Kakashi lag vielleicht wirklich in seinem eigenen Bett. Das musste ich prüfen.

Dann stand ich auf und schloss erst einmal das Fenster. Mein gemütliches Schlafzimmer war längst ausgekühlt und hatte gefühlte Minusgrade. Ich murmelte, dass ich sofort wieder zurück wäre und holte einen feuchten Lappen und Pflaster.

Als ich wiederkam, hatte sich mein angeblicher Freund schon aus der Hälfte der Klamotten geschält. Ich atmete erleichtert auf. Ein Doppelgänger konnte gewöhnlich nur das kopieren, was man von ihm sah. Kakashis Muttermal am Kinn, die gekreuzte Narbe auf dem Brustkorb oder die Narbe unter der Kniescheiben waren nur wenige seiner Kriegsverletzungen, die wohl kaum einer kannte. Und da dieses Exemplar all diese Merkmale aufwies, musste es sich glücklicherweise wohl tatsächlich um das Original drehen. Man gut, dass Kakashi meine Gedanken nicht mitbekam. Da hätte er wieder nur mit den Augen gerollt und gefragt, was in meinem Hirn denn so los wäre. Der saß da aber nun erst einmal, ahnte von meinen Hirngespinsten nichts, und ließ sich das Blut von der Schläfe und vom Kinn wischen. Zwei Platzwunden am Kopf. Und ein paar blaue Flecke. Mehr nicht. Dann schlang er seine Arme um meine Taille und vergrub seinen Kopf in meinem Nachthemd.

„Erzählst du mir jetzt, was passiert ist? Bist'e du vorhin beim Hochklettern 'runtergefallen?“, versuchte ich zärtlich die Wahrheit herauszukitzeln.

„Quatsch, Genma hat mich genervt. Also hab ich ihn verprügelt.“

„Du hast WAS?!?!“

„Der hat dich nicht blöde anzumachen!“, stellte Kakashi klar und blickte dann mit einem Dackelblick an mir herauf, dass man ihm gar nicht böse sein konnte.

Trotzdem musste ich schlucken. Wenn Kakashi nach der Prügelei, was auch immer das heißen mochte, dieses Trümmerbild abgab, wie hatte es dann Genma erwischt? Da stieg schon ein wenig Sorge in mir auf, ob der Shinobi nun irgendwo in Einzelteile zerlegt in der Gossen liegen würde. Kakashi neigte zum maßlosen Übertreiben, wenn er an einer Sache erst einmal seinen Spaß gefunden hatte.

Während ich die Pflaster klebte und noch einige Krusten an eingetrocknetem Blut von seiner Haut abrubbelte, war die Geschichte schnell erzählt. Wege kreuzten sich in Konoha recht schnell. Genma konnte besoffen seine große Klappe nicht halten. Und Kakashi war zuvor noch nie besoffen gewesen. Eine ungünstige Kombination auf dem Heimweg. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Und er hätte Genma noch gewarnt, dass er ohne Sharingan so ein Chidori nicht mehr steuern könnte. Aber er würde ihm schon klar machen, wie da so ein kürzester Weg zum Herzen funktionieren würde. Selber Schuld, der Idiot. Kakashi schnaufte und schaute mich dabei aber voller Stolz aus großen Augen wie ein Hund an, der brav sein Frauchen verteidigt und dafür sein Leben gegeben hätte. Fehlte nur noch, dass er um ein Hundekuchen betteln würde.

„Du machst Sachen...“, tadelte ich leise, wischte den letzten Fleck weg und verteilte viele Streicheleinheiten an meinen Helden.

Ja, hier und heute begann ein neuer Abschnitt. Kakashi außer Rand und Band und fern jeglicher alter Zwänge. Das konnte ja heiter werden.

51 - Der Tag, an dem wir luxuriös residierten

Es gebot den Anstand, dass man große Ereignisse mit weitreichenden Konsequenzen aus erster Hand erfahren müsste. Dazu gehörte im Allgemeinen auch, über den Tod eines nahen Angehörigen durch die Verwandtschaft persönlich und unverzüglich unterrichtet zu werden. Bei meiner buckligen Familie aus dem Erd-Reich war jedoch Hopfen und Malz in Bezug auf gute Umgangsformen verloren. Und so geschah es eines grauen Novembermorgens, dass Kakashi mir wortlos am Frühstückstisch die Zeitungsseite mit den Todesanzeigen über den Frühstückstisch schob. Man hatte sich als alte Stahldynastie nicht lumpen lassen, eine komplette Seite voller Druckerschwärze zu Ehren meines alten Herren zu verschwenden. Die Todesanzeige meines Vaters las sich bizarr. Da wurde von „plötzlich“ und „völlig unerwartet“ geheuchelt. Meine Güte, selbst ich wusste Dank Kakashis Spionagearbeit, dass mein Vater nun vor wenigen Tagen nicht unerwartet, sondern durch ein heftiges Krebsleiden von uns gegangen war. Wie konnte man da so überrascht tun? Völlig unerwartet schien mir eher, welche Namen sich unter den Todesdaten als trauernde Familie platzierten. Mein Name tauchte natürlich nicht auf. Wieso auch? Das schwarze Familienschaf lebte ja im Feuer-Reich und wäre bei der Testamentseröffnung absolut unerwünscht. Die Beerdigung sollte schon in fünf Tagen über die Bühne gehen. Ich schluckte schwer und gab eine Kurzschlussreaktion zum Besten.

„Da fahr' ich hin!“, platze ich laut und angefressen hervor.

Meine Stimme bebte vor Zorn. Ich war sauer, vom Tode meines Vaters aus der Zeitung erfahren zu müssen. Und ich war es auch, weil ich einfach so mir nichts, dir nichts in der Familienhierarchie vergessen und ausgeschlossen wurde.

„Und wie stellst du dir das vor?“, hakte Kakashi nach.

Eine Spur von Abenteuerlust blitzte in seinen Augen auf. Der Rentner wusste noch nichts so recht mit seiner neugewonnenen Freizeit anzufangen und hatte recht viel Langeweile zu verkraften. Armer luxusproblemgequälter Kerl!

„Ich weiß noch nicht genau...“, überlegte ich laut. „Mir fällt bestimmt noch etwas ein.“

Die nächsten Schritte müssten tatsächlich wohl überlegt werden. Immerhin hielt man mich bewusst im Unklaren. Würde ich dort als normaler Zaungast auftauchen, würde man versuchen, mich wie einen Spielball herumzuschubsen und wegzuwerfen. Die dumme Nina, die man ausbootete und einfach in der Erbfolge überging. Ich war zwar nicht am Erbe interessiert, doch ging es mir ums Prinzip. Ich war auch noch da und das sollte die Bagage ruhig zu spüren bekommen. Allein, dass ich nun beschlossen hatte, dort aufzutauchen, wäre schon ein großer Überraschungsmoment. Diesen müsste ich mir zu Eigen machen und am Besten noch eine Show zu meinen Gunsten abziehen. Ja, das war's! Meine Gedanken am Frühstückstisch wurden immer ausgekochter und mussten sich in meinen Gesichtszügen widerspiegeln. Jedenfalls fasste mein Freund zusammen:

„Was auch immer dir gerade durch den Kopf schoss, es scheint dich zu amüsieren. Also machen wir das so.“

Damit war die Aktion eine beschlossene Sache, obgleich sie noch nicht so recht Hand und Fuß hatte. Das malte ich mir in den folgenden Stunden bei einem guten Pott Kaffee aus.
 

Kakashi hatte sein berühmt-berüchtigtes „Bauchgefühl“. Und wenn er „Bauchgefühl“ hatte, dann musste man das sehr ernst nehmen. Daher artete dann unser Familienausflug auch eher zu einer kleinen Reisegruppe aus, die letztendlich im Zug Richtung Erd-Reich fuhr. Oder besser gesagt saßen wir eigentlich den Großteil der Fahrt nur zu fünft im Abteil. Kakashi hatte seine dreiköpfige Vogelband schon vorausflattern lassen und ihnen unmissverständlich zu verstehen geben, dass er alles wissen wollte. Wirklich alles. So richtig alles. Von der Gästeliste der Trauerfeier, über die Lieblingssockenfarbe und das Lieblingsmüsli jedes einzelnen bis hin zu deren Verbindungen untereinander. Mit einem eifrigen Nicken flogen die Vögel aus dem Zugabteil durch das Schiebfenster hinaus und freuten sich, für ihren Lieblingshokage noch etwas Nützliches tun zu dürfen. Sowohl die Aufgabe, als auch der filmreife Abgang fand ich zwar schon ein bisschen krass, doch Rokudaime-sama war gerade in seinem Element und arg beschäftigt, den Schlachtplan zu koordinieren. Da wollte ich ihm den Spaß an der Freud nicht nehmen, zumal wir tatsächlich einen genialen, aber ebenso bescheuerten Plan verfolgten.

Als meine Mutter mich dazumal mit meiner Schwester Lana im Schlepptau in Konoha besucht hatte, musste sie bis heute in dem Glauben sein, ich wäre weiterhin mittellos und hätte bis heute nichts zu Stande gebracht. Das schrie doch schon förmlich danach, allesamt einmal kräftig auf die Schippe zu nehmen und die Trauergesellschaft drastisch aufzumischen. Außerdem, so meinte Kakashi, wäre garantiert eine Spur derer unter den Trauergästen zu finden, die im Januar meine Entführung angezettelt hätten. Die würden sicherlich kalte Füße bekommen, wenn eine putzmuntere und selbstbewusste Sherenina mit einer Handvoll ANBU im Gepäck dort aufkreuzen würde. Ich hegte zwar noch einige Zweifel, ob ich das Maskeradenspiel so lange durchhalten würde, aber auf die selten dämlichen Gesichter meiner Sippschaft war ich doch mächtig gespannt. Blieb nur zu hoffen, dass die Kinder nicht verplappern würden, wer unter den Masken steckten.

Wir erreichten pünktlich zum Vormittag den Bahnhof der nächstgrößeren Stadt. Bis zum Ort, wo sie meinen Vater beerdigen würden, müsste man noch wenige Kilometer einen Wald durchqueren. Er hatte oft davon gesprochen, wie sehr er die Stille in den Wälder mochte. Unsere ursprüngliche Heimatstadt lag oberhalb der Baumgrenze in den Bergen. Da war es nicht so weit her mit den Wäldern. Es mochte wohl sein letzter Wunsch gewesen sein, seine letzte Ruhestätte unter den Bäumen zu finden.

Nun aber standen wir erst einmal in der großen Bahnhofshalle und bestaunten ein Wunder der Baukunst. Ein filigranes Stahlgerüst spannte sich wie ein Regenschirm auf und hielt fast unsichtbar unzählige Fenstergläser zusammen. Ja, der Einfluss der Stahldynastie war unverkennbar. Ich seufzte. Weniger über den Einfluss, sondern mehr über das Wetter. „Regenschirm“ war das richtige Stichwort gewesen. Schon während der Fahrt hatte man das Aufziehen einer schwarzen, bedrohlichen Regenfront beobachten können. Jetzt klatschten die ersten dicken Tropfen gegen das Glas und steigerten sich zu einem wilden Trommeln. Na toll, das ging ja gut los!

„Ich kenn' mich hier nicht aus. Welches ist die beste Absteige der Stadt?“, fragte Kakashi, der gelangweilt irgendwo ins Blaue zu schauen schien.

Doch wie man ihn so kannte, checkte er gerade nebenbei den kompletten Bahnhof ab. Das konnte man unter seiner Kapuze und der ANBU-Maske jedoch nur erahnen. Tenzô tat es ihm ebenso unauffällig gleich. Der hatte zwar erst gar keine Lust zum Mitkommen gehabt, wurde dann aber mit dem Argument tot geschlagen, er hätte eh nichts zu tun. Ein verächtliches Pfeifen war da Tenzô nur über die Lippen gekommen, aber er kam dann jedenfalls doch mit.

„Ja, es gibt ein sündhaft teures Hotel hier in der Nähe. Es macht zwar einen altbackenen Eindruck, aber es ist die absolute Top-Adresse...“, murmelte ich und dachte mit einem Stein im Magen an das Hotel „Vier Jahreszeiten“.

Es war wirklich über die Grenzen hinaus bekannt und erfüllt sämtliche Standards vom Äpfel schälenden Butler bis zum gebügelten Zeitungspapier, doch solch Luxus hatte auch seinen Preis. Die günstigsten Zimmer kosteten soviel, wie ich jeden Monat insgesamt verdiente. Ich schluckte schwer. Doch wenn unser Kasperletheater glaubhaft sein sollte, so müsste man schon nobel residieren. Es würde nicht zusammenpassen, würde ich dort wie eine Frau von Welt auf der Feier auftauchen, aber nur in einem billigen Gästehaus nächtigen.

„Ok, dann nehmen wir das. Wie groß ist das Hotel? Und mache dem Typ an der Rezeption klar, dass die Zimmer alle nebeneinander liegen sollten. Am Besten ein ganzer Trakt oder noch besser eine halbe Etage. Ich will da keinen Publikumsverkehr haben“, kamen die nüchternen Anweisungen von Kakashi, und mir trieb es das P in die Augen. „Und guck' nicht so entgeistert. Du bist doch nun die Stahlprinzessin.“

„Ich will aber keine Stahlprinzessin sein!“, fauchte ich genervt.

„Sollen wir wieder nach Hause fahren?“, blieb er seinem nüchternem Ton treu.

„Och, nö. Papa, ich hab Hunger!“, schaltet sich Asa ein, für welche die stundenlange Fahrt im Zug schon Folter genug war, und welche in ihrer Bento-Box im Zug nur herumgestochert hatte, weil ihr der Inhalt nicht zusagte.

Und auch Yuuki guckte entsetzt:

„Wie? Alles wieder zurück?“

Mit einem lauten Rumms platschte sein Rucksack zu Boden. Er hatte extra für diese Fahrt eine Geburtstagsfeier mit Übernachtung bei seinem besten Freund absagen müssen und war dementsprechend geladen.

„Na los, Nina! Ist doch nur für heute Abend. Und Morgen geht es ja eh wieder nach Konoha“, munterte mich Tenzô auf. „Außerdem wurde unsere Ankunft bereits entdeckt.“

Entdeckt? Wer oder was hatte uns denn entdeckt? Na, die zwei Erd-Reich-Shinobis, die uns die ganze Zeit schon vom gegenüberliegenden Bahnsteig aus beobachtet hätten, wurde ich aufgeklärt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt, dass man so eine Beschattung doch merken müsste. Nun gab es also kein zurück mehr. Wie ein Filmstar schritt ich erhobenen Hauptes und mit wehenden Fahnen samt Kind und Kegel dem Ausgang entgegen.

Gerade als ich die große Doppelschwingtür aufdrückte und mir ein heftiges Gemisch aus Wind und Regen entgegen peitschte, als würde gleich die Welt untergehen, packte mich Tenzô aus heiterem Himmel brutal am Oberarm und riss mich zur Seite, dass es im Schultergelenk knackte. Verdattert lag ich nun in seinen Armen und starrte ihn mit großen Augen an. Nach mir folgte im wahrsten Sinne des Wortes die Sintflut. Eine riesige Welle brach den Türrahmen samt Türflügel aus dem Gemäuer. Erschrocken sah ich, wie sich die Wasserränder zu Zähnen formten, sich dann in der Halle festbissen, Passanten von den Füßen rissen, Bänke und Blumenkübel mit sich nahmen und sich zu einem großen See labten.

„Suiton-Jutsu, Rang A“, kombinierte Tenzô unbeeindruckt und meinte dann: „Interessante Gastfreundschaft, die hier im Ort betrieben wird.“

„Weißt du nun, warum du unbedingt mitkommen solltest?“

„Ja, schon klar... “

Augenrollen von Tenzô. Man steckte mal wieder in einer nervigen Mission fest, in die man gar nicht freiwillig hinein gewollt hatte. Meine Augen suchten hingegen weiter in die Richtung, aus der ich Kakashis Stimme gehört hatte und fanden ihn mit den Kindern ganz in unsere Nähe. Wie auch immer er es mit den Kindern unterm Arm bewerkstelligt hatte, warf dieser nun Shuriken gezielt in eine bestimmt Richtung gen Hallendecke. Ihrer Flugkurve konnte man nicht folgen, wohl aber die Auswirkungen. Glas klirrte ohrenbetäubend und rieselte wie ein Kristallregen zu Boden. Der See verwandelte sich in ein funkelndes Scherbenmeer. Zwei Schatten entfernten sich über die Glasfassade. Einer schien getroffen.

„Raus hier!“, gab Kakashi den Befehl in einer Stimmlage, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Noch ehe jemand von den Passanten oder den Bahnhofsvorstehern merken konnte, wer dort für das Chaos verantwortlich war, waren wir schon allesamt raus aus dem Gebäude. Tenzô hatte mich wieder auf die Beine stellen wollen, doch die Knie fühlten sich an wie Wackelpudding und gaben nach. Also schleifte er mich sanft mit seinem Arm um meine Hüfte geschlungen auf den Vorplatz. Der Regen prasselte nur so herab, dass man kaum zehn Meter weit gucken konnte. Mir schossen tausende von Gedanken durch den Kopf. War das gerade ein Attentat? Wer steckte dahinter? Wollten die beiden den Angreifern nicht nachgehen? Warum hatten wir die Flucht ergriffen?

In mir kam alles wieder hoch. Schnee, Dunkelheit, Kälte, Verzweiflung. Hemmungslos begann ich, Tenzôs Weste voll zu heulen, was bei den nassen Regenflecken überhaupt nicht auffiel. Dieser ganze Alptraum musste doch irgendwann einmal ein Ende haben.

„Wo lang?“, fragte Tenzô und ignorierte professionell meinen sich anbahnenden Nervenzusammenbruch, denn dafür hatten wir nun Angesichts der Lage echt keine Zeit.

„Links die Straße runter“, wimmerte ich unter Tränen.

Chakra machte es möglich, dass wir nur wenige Sekunden später klitschnass in der Hotellobby standen und vom Personal argwöhnisch beäugt wurden. Es kamen wohl nicht so häufig begossenen Pudel durch die Drehtür und hinterließen Wasserlachen auf dem roten Teppich. Ich atmete tief durch, schritt auf die Anmeldung zu und spulte meinen aufgetragenen Text ab.

„Guten Tag, ich wünsche für mich und meine Begleitungen gerne Zimmer für eine Nacht“, gab ich mit seltsam gefasster Stimme von mir.

Dann wandte ich kurz den Kopf zu Yuuki und Asa.

„Wollte ihr euch ein Zimmer teilen oder lieber Einzelzimmer?“

„Getrennt!“, meldet sich Yuuki sofort. „Asa wälzt sich die ganze Nacht im Schlaf hin und her.“

„Stimmt gar nicht!“, protestierte sie sofort eingeschnappt.

Zickenalarm! Ich überhörte den Krach und wandte mich wieder der Empfangsdame zu.

„Wir sind insgesamt acht Personen, von denen drei später anreisen werden. Dann hätten ich gerne...“, ich überlegte kurz und zählte im Kopf die Anzahl nach. „... zwei Doppelzimmer und vier Einzelzimmer. Alle bevorzugt im selben Trakt nebeneinander liegend.“

„Dann würde ich gerne die zweite Etage empfehlen. Hier haben wir Suiten, die bevorzugt von Familien gebucht werden, weil man durch das Aufschließen von Zwischentüren einzelne Suiten miteinander verbinden kann. Es gibt sowohl Doppel-, als auch Einzelbetten. Zudem würde ihnen bei der Belegung von vier Suiten das separate Esszimmer alleinig zur Verfügung stehen.“

Hm, eine komplette Etage nur für uns klang doch super. Allerdings hatte ich Mühe, bei dem Wort „Suite“ meine Gesichtszüge nicht entgleisen zu lassen. Mir schwante preislich eine ganz üble Sache. Trotzdem nahm ich das Angebot an.

„Das klingt hervorragend. Wir wünschen darüber hinaus, bereits das Mittagessen im Esszimmer einzunehmen“, ließ ich verlauten und spürte, wie ich langsam an Selbstbewusstsein gewann und einen überheblichen Ton anschlug.

„Sehr wohl, die Dame. Soll der Page das Gepäck schon auf die Zimmer bringen? Wünschen sie in bar oder mit Karte zu zahlen?“

Upps, bezahlen … Da war doch noch was. Leichte Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Man gut, dass der Regen auf der Haut und in den Haaren noch nicht getrocknet war.

„Ich zahle ...“

Ein unauffälliger Knuffer von Kakashi in die Lende überzeugte mich.

„... mit Karte!“

Als die Hoteldame die Karte durchzog, wäre mir beinahe schlecht geworden. Da konnte man Tenzô und Kakashi um ihre ANBU-Masken nur beneiden, die jegliche Mimik verhüllten. Kurz darauf kommentierte im Hotellift Kakashi nur grummelig, dass man bei dem Preis die ganze Hütte auch hätte aufkaufen können. Aber es half nichts. Wenigstens waren die Zimmer super. Es war tatsächlich wie eine große Wohnung mit ganz vielen Räumen, wenn man die Zwischentüren öffnete. Relativ mittig gelegen war das Esszimmer und wirkte wie ein zentraler Anlaufspunkt. Die Einrichtung war zwar Geschmackssache, aber keineswegs billig. Dunkle Antikmöbel platzierten sich wie Blickfänger aneinander. Kunstgegenstände und teure Bilder verzierten das Gesamtpaket. Hoffentlich ging nichts zu Bruch, denn die Kinder tobten von Raum zu Raum, weil sie sich nicht entscheiden konnten, wer wo schlafen sollte.

„Wo schlaft ihr denn? Also ich will das Zimmer mit der großen Badewanne. Guck', die kann Blubberblasen!“

Asa war total begeistert und entdeckte nun die großartigen Vorzüge eines Kingsize-Bettes: So ein geniales Trampolin! Wenn man genau in der Mitte hüpfte, schaffte man es fast bis an die sehr hohe Zimmerdecke zu gelangen. Dann konnte man von oben auf den Kronleuchter gucken und viel besser die Lichtbrechungen in den geschliffenen Glassteinchen bewundern. Ein wunderschöner Regenbogen.

„Siehst du, Mama! Die ist total irre. Ich schlaf da hinten“, gab mein Sohn zu verstehen und zog in eine ganz andere Richtung von dannen. Dort schmiss er sich aufs Bett und daddelte mit seinem Handheld.

„Yuuki, magst du mir noch verraten, was du zum Mittag essen möchtest? Kakashi, kannst du bitte deiner Tochter mal erklären, dass so ein Bett auch kaputt gehen kann?“

Ich war total entnervt. Am Liebsten hätte ich mich ins Badezimmer verkrochen und laut losgeheult. Mir war das alles schon wieder zuviel, weil mein Januar-Trauma hochkochte. Tenzô war zu bewundern. Der saß nun ohne ANBU-Maske und Umhang mit verschränkten Armen am Tisch und betrachtete grinsend wie ein ruhiger Fels in der Brandung den Familienzirkus. Aber auch mein Freund war relativ unbeeindruckt, hatte sich das hoteleigenen Tablet geschnappt und tippte seine Essensbestellung ein.

„Wieso? Ist das bei dem Preis nicht all-inclusive?“, meinte er zu mir, rief dann aber durch die halbe Etage. „Asa, in dem Bett sollst du nachher noch schlafen. Lass' es heile! Was willst du essen?“

„Spaghetti Napolitan!“, brüllte es zurück.

Der Hüpffloh hatte tatsächlich das Trampolintraining unterbrochen.

„Was möchtest du?“, wandte er sich an mich.

„Ich mag nichts essen.“

Nein, mir war nur noch schlecht. Das allerdings ließ mein Freund nicht gelten. Wenigstens eine Suppe oder ein Salat müsste ich essen, wenn ich hier nicht umkippen wollte. Er tippte irgendetwas für mich bei der Auswahl an, bevor er das Tablet an Tenzô weiter gab. Ich indessen stand auf und trat an eines der großen, bodentiefen Fenster. Es regnete immer noch so stark, dass das Wasser in Fäden an der Scheibe herunter lief. Stumm verfolgte ich diesen Wasserlauf und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen. Es beruhigte mich nur wenig. Ich schlang die Arme um meinen Körper, denn es fror mich, obgleich die Zimmer wohlig warm waren. Es wäre sicherlich ein guter Zeitpunkt, aus den regennassen Klamotten zu schlüpfen und sich etwas Trockenes anzuziehen. Doch Fragen brannten in meinem Kopf.

„Was waren das vorhin für Ninjas? Warum habt ihr sie nicht zur Rede gestellt?“

„Nun ja, hätten wir vorhin ein großes Spektakel veranstaltet, dann wäre unsere Tarnung sofort aufgeflogen. Weißt du, es gibt nicht so viele Anwender mit einem Holz-Jutsu oder violettem Raiton. Nun wissen die, wer auch immer die sind, dass du nicht schutzlos bist, sondern mindestens zwei Konoha-ANBU dabei hast. Und da du am Empfang von acht Personen gesprochen, wird auch bald durchsickern, dass noch drei Leute fehlen. Das schindet erst einmal Eindruck. Ich bin gespannt, was als nächstes kommt. Die Idee, dich mit der Wasserfontäne bei dem Wetter absaufen zu lassen, war ja gar nicht so blöde, aber es war viel zu offensichtlich“, erklärte Kakashi postwendend.

Absaufen zu lassen... Ich schluckte. Ein Schauer jagte über meinen Rücken. Betretendes Schweigen. Wieder ein stummer Blick aus dem Fenster. Ich schniefte. Stille Tränen perlten an meinen Wangen herab.

„Ich hab Angst!“, stammelte ich hervor.

Angst, weil ich mich so nutzlos und hilflos fühlte. Angst, weil ich nicht wusste, welches Spiel mit meiner Person gespielt wurde. Angst, dass ich wieder irgendwo in einem dunklen Keller enden würde.

Kakashi sprang auf, kam zu mir und schloss mich tröstend in die Arme. Ich verbarg mein Gesicht in seiner Halsbeuge, doch er hob sanft mein Kinn an, dass ich ihn ansehen musste.

„Nina-chan, alles wird gut. Und du bist nicht allein. Es gibt keinen Grund, ängstlich zu sein.“

Er sprach dabei so beruhigend und strahlte wie die Sonne, als wären wir auf einer Kaffeefahrt unterwegs. Und als hätten sie es gehört, flatterten wie auf Kommando Hisui, Kujaku und Ruri gerade herein. Die taten wie eine fröhliche Kükenschar, riefen „Alles erledigt!“ und knallten unglaubliche viele Zettel auf den Esstisch. Es war echt bizarr.

Ich glaube, dass wurde das fröhlichste und ausgelassenste Mittagessen, was ich in den letzten Jahren je erlebt hatte. Und zum ersten Mal konnte man auch unter die Masken der Vogelbande schauen. Alle drei hatten orangene Haar, eine blass-weiße Haut mit tausenden Sommersprossen und eisblauen Augen. Die Schwester war die Älteste und mochte gerade mal dreißig Lenzen zählen. Die beiden Brüder waren Zwillinge und sahen sich so was von ähnlich, wie es mir noch nie untergekommen war. Sie hatten viel über ihre Auftragsergebnisse zu erzählen. Und das taten sie, als würden sie den neusten Dorfklatsch im Soap-Opera-Stil berichten. Ein schnatternder Hühnerhaufen. Ich hätte nie gedacht, wie unterhaltsam und locker die Geschwister sein konnten, wo sie sonst immer so diszipliniert und eiskalt aufgetreten waren. Meine gute Laune kehrte zurück. Die Sorgen verblassten. Da wurde viel gelacht am Tisch und Nebensächlichkeiten ausgeblendet. Es war völlig egal, dass Asa ihre Spaghetti mit dem kleinen Finger angelte, den Kopf in den Nacken legte und den langen Pastafaden in ihrem Schlund versenkte, als wäre sie Schwertschluckerin. Spuren von roten Tomatensprenkeln gaben dem blütenweißen Tischtuch eine völlig neues Design. Oder das Yuuki sein Getränk über den halben Tisch und den sündhaft teuren Perserteppich kippte. Und als einer der beiden Zwillinge auch noch ein Würfelspiel aus der Hosentasche zog, war es schon fast wie im Urlaub. Kakashi hatte wieder einmal recht: Mit Konohas Crème de la Crème an der Seite konnte man einfach keine Sorgen haben.

52 - Der Tag, an dem die Stahlprinzessin erwachte

Atmen. Nichts anmerken lassen. Einfach ganz ruhig und gleichmäßig weiteratmen. Ein und aus, ein und aus. Obgleich ich geräuschlos Luft durch meine Atemwege zog, spürte ich intensiv meine Nasenflügel vor Angst beben und die Kälte des Abendhauchs meine Lungen durchströmen.

Und völlig entspannt die Augen geschlossen halten, redete ich langsam auf mich ein. Wieder und wieder zählte ich innerlich die Zahlen von Zehn bis Null runter, um mich weiter zu beruhigen. Mein Herzschlag drang bis hoch zu meinem Hals. Doch die Übung funktionierte. Ich blieb ganz konzentriert bei mir und blendete die schwindelerregende Umgebung aus. Dabei gäbe es doch soviel zu sehen, was sich dort unten zu unseren Füßen abspielte. Aber nichts dergleichen beobachtete ich. Eng umschlungen schmiegte sich mein Körper an den Rücken meines Freundes. Trotz des Umhanges und der dicken Weste fühlte ich seine Wärme und seinen Schutz. Ich glaubte sogar, seinen gleichmäßigen Herzschlag zu hören und wünschte, ich könnte den Meinigen dem Seinigen anpassen. Dabei dachte ich an den einen Tag im April zurück, an dem ich schon einmal das Vergnügen gehabt hatte, ungeplant auf einem Baum in allerhöchster Höhe hocken zu müssen. Nun war ich um diesen einen Tag sehr dankbar, denn er hatte mir nicht nur offenbart, wie man über eigene Ängste hinauswachsen konnte, sofern man es denn mit ganzem Willen wollte, sondern dass ich Kakashi blind vertrauen konnte. Wir würden von diesem Baum weder abstürzen, noch für immer hier oben bleiben müssen. Letzteres würde sich so oder so nicht Bewahrheiten. Nicht nur Kakashi und ich, sondern auch der Rest der Band hockte hier oben in den Ästen wie eine Schar Zugvögel und observierten die Szenerie eines Trauerzuges zur letzten Ruhestätte. Nur ich allein bekämpfte mit mir selbst die Höhenangst und den inneren Schweinehund. Ich war auch die einzige, die sich nicht mittels Chakra im Baumgeäst festklebte. Stattdessen hockte ich Huckepack auf Kakashis Rücken wie ein blinder Passagier. Das sah bestimmt ziemlich blöde aus. Allerdings gab es keine wirklichen Alternativen.

Es war gar nicht so einfach gewesen, einen passenden Baum als Spähposten zu finden. Immerhin war es bitterkalter November und die Laubbäume dieses Mischwaldes hatten alle ihre Blätter abgeworfen. Da blieb nur eine steil gewachsene Zeder übrig, welche unter unserem Gewicht bedrohlich schwankte und knackte und dessen Nadeln ungemütlich durch den Kleiderstoff in die Haut piksten. Aber wenn die Ninja-Profis meinten, der Baum würde das aushalten, dann täte er es wohl auch so. Mir blieb nichts übrig, als dieser Aussage trotz bedenklicher Zweifel zu trauen. Überhaupt überlegte ich schon wieder einmal mehr, wie ich hierher geraten war. Hierher zwischen die Zweige einer klapprigen Zeder zusammen mit einer Horde Shinobi. Ganz romantisch im Abendsonnenlicht wiegten wir uns vom Wind getrieben von einer Seite auf die andere. Wie bizarr.

„Ihr macht euch nun auf den Weg“, gab Kakashi flüsternd das Startsignal und sprang schon im selben Moment mit mir sanft zur Erde hinab.

Die Kinder folgten unglaublich diszipliniert. Für sie schien es wie eine aufregende Mission, und so ungefähr hatte es ihnen Kakashi auch verkauft. Die beiden bildeten mein Geleitschutz. Er selbst hingegen blieb zusammen mit Tenzô und dem Geschwister-Trio während der Beerdigung im verborgenen Hintergrund. Kaum hatte mich Kakashi abgesetzt, war er auch schon wieder von der Bildfläche verschwunden. Ich blickte zurück zur Zeder, aber auch dort war niemand mehr auszumachen. Obwohl Yuuki und Asa bei mir standen, fühlte ich mich plötzlich mutterseelenallein. Dabei wusste ich genau, dass ich im Fall der Fälle nur einen Wimpernschlag später von meinen Ninjas umringt wäre. Meine Ninjas … Wie schräg, aber zugleich gut das klang. Ein Lächeln umspielte meine Lippen.

Die Kinder drängelten nun doch. Weniger weil eine Beerdigung ein so unglaublich spannendes Ereignis wäre, sondern weil einem die nasskalten Temperaturen vom Boden durch die Schuhsohlen hindurch nun langsam die Beine hoch krochen.

„Wie geht es dir?“, wandte ich mich an Yuuki.

Der sah bedröppelt aus, denn immerhin wurde sein Großvater zu Grabe getragen, aber er machte einen gefestigten Eindruck. Dann gingen wir los. Die Pflastersteine glänzten noch regennass. Es war mir wie ein Wunder vorgekommen, dass der Regen just dann aufhörte, als wir uns anschickten, das Hotel zu verlassen. Langsam schritten wir den Weg entlang, der sich in einem langen Bogen durch den Friedwald zog. Alte Steinlampen reihten sich wie Zinnsoldaten am Wegesrand auf und standen Spalier zum letzten Geleit. Ihr Feuerschein reflektierte sich auf den Steinen des Weges, doch ihr Licht war nicht hell genug, um die Farben des wolkenlosen Abendhimmels zu stören. Eine kitschiger Farbverlauf aus pink, lila und blau. Kalt wie der Frost. Meine Augen wanderten an den kahlen, schwarzen Baumstämmen entlang. Sie erinnerten mich an hohe, filigrane Steinsäulen, die das dunkelblaue Firmament über unseren Köpfen wie das Dach einer Kathedrale trugen. Ein paar aufsteigende Sterne und eine fahle Mondsichel hingen dort wie Lämpchen am Himmelszelt. Tief im Westen blinzelte die Sonne mit ihren letzten goldenen Strahlen durch die kargen Zweige und lotste unseren Weg bis zur Trauergesellschaft, die sich schon am Grabe versammelt hatten. Es erstaunte mich ein wenig, dass der Weg an einer großen Wiese endete, wo sich bereits unzählige Grabstätten aneinanderreihten. Einzelne Nebelfelder krönten die mystische Rahmenhandlung und verliehen dem Gesamtpaket der Friedhofsstimmung schaurige Höchstnoten. Ein Filmdrehbuch hätte es nicht besser gestalten können.

Ganz bewusst hatten wir den Zug der Trauergäste oben vom Baum aus abgewartet, um nicht gleich im Mittelpunkt der Veranstaltung zu stehen, denn wir erinnerten uns: Wir waren gar nicht eingeladen worden. Nun aber kamen wir ganz unscheinbar daher, mischten uns in die hinterste Reihe und musterten die Anwesenden. Es waren unglaublich viele Menschen, die sich von meinem Vater verabschieden wollten. Mehr als ich gedacht hätte. Verwandte, Bekannte, Geschäftspartner, die feine Gesellschaft. Na, das war ja ein ganz großer Bahnhof, der sich hier im Abendlicht auf einer matschigen Wiese die Füße in den Bauch standen. Sehen und gesehen werden. Und natürlich wurden auch wir gesehen. Schneller als gedacht. Ein Raunen ging durch die Menge, als gewahr wurde, dass das schwarze Schaf der Familie tatsächlich dem Spektakulum beizuwohnen gedachte. Meiner Mutter verkrampften sich sämtliche Muskeln, die man wohl im Gesicht haben konnte. Ihr Mund wurde zu einer ganz schmalen, kalkweißen Linie. Doch sie war clever genug, hier nun keinen Aufstand zu proben. Etikette wahren war angesagt. Da stand sie nun, warf mir feurige Pfeilblicke hinüber, die mich am besten an Ort und Stelle töten sollten und grübelte, wie sie mich sofort loswerden könnte. Sie sah furchteinflößend aus, doch ich mochte gern zugeben, dass ich in der Sekunde noch ein ganzes Stück meines Selbstbewusstseins gewachsen war. Souverän beachtete ich sie gar nicht, sondern erklärte einer neugierigen Asa, was es mit den vielen kleinen Papierwindmühlen auf sich hätte, die die Leute in den Händen hielten. Es war ein Brauch im Erd-Reich, dem Verstorbenen kleine, rote Mühlen mit auf den Weg zu geben, weil man glaubte, der Seelenwind würde sie beizeiten zum Drehen bringen und so Erinnerungen wach halten.

Es gab einen Redner, der unglaublich viel zu erzählen hatte. Vieles war übertrieben, an den Haaren herbeigezogen, tropfte vor Schleim und zog sich wie ein Kaugummi. So langsam froren nicht nur die Füße, sondern sämtliche Körperteile ein, die man am Körper haben konnte. Yuuki trippelte vor Kälte von einem Fuß auf den anderen, schluckte den Klos in seinem Hals hinunter und zog die Popel in seiner Nase hoch. Und Asa träumte sich in den wallenden Nebelbänken in eine Märchenwelt hinüber und brachte gelangweilt mit einem Wind-Jutsu die Papierwindmühlen zum Drehen, dass sie nur so rauschten und drohten, von den dünnen Holzstäbchen abzureißen. Meine alte Großtante, die schon immer abergläubisch gewesen war, schrie erschrocken auf und sah darin schon das teuflische Zeichen der Unterwelt. Ein großes Unheil würde nahen und alles zerstören, prophezeite sie munter darauf los und steigerte sich in einen nie dagewesenen Wahn. Zum Schluss schnappte sie wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Ein Arzt sollte herbeigerufen werden. Unruhe machte sich unter den Anwesenden breit. Es bewirkte jedenfalls, dass der Redner sehr zackig seine Ansprache beendet, wir alle noch zusahen, wie der Sarg flugs im Erdloch versenkt wurde und sich nach einem kurzen, stummen Abschied die Gesellschaft schnell auflöst.
 

Die Trauerkarawane peilte eine Lokalität am Rande des Friedwaldes an. In einem großen Saal eines traditionellen Holzhauses mit reichlichen religiösen Schnitzereien kehrte man zum Leichenschmaus ein. Verwundert sah ich, dass man entgegengesetzt unserer Kultur nicht zu Tische speisen, sondern einen Platz auf der Tatamimatte einnehmen würde. Wie Perlen auf der Schnur reihten sich dort kleine Essgedecke aneinander. Ziemlich geradlinig und bieder. Unpersönlich. Noch während ich in der großen Tür zum Saal stand überlegte ich, ob es eine Sitzordnung gäbe oder ob die Anzahl der Plätze gar abgezählt wäre. Dann würden die Kinder und ich wie bestellt und nicht abgeholt dort im Saale stehen und begafft werden wie exotische Zootiere, weil wir nirgends Platz nehmen könnten. Ein dunkler Schatten tauchte zu meiner Linken auf und nahm Gestalt an. Hisuis Maske beugte sich noch in der Bewegung an mein Ohr heran.

„Eure Plätze sind dort an der rechten Wandseite. Natürlich haben wir im Vorfelde die Gästeliste angepasst.“

Wow! Gute Arbeit. Überhaupt entpuppte sich Hisui als wandelndes Lexikon voller Spionageinformationen. Ein Wahnsinn, wann sie das alles hatte auswendig gelernt in der kurzen Zeit, seit wir hierher gekommen waren. Ob es ein Auswendiglern-Jutsu gab?

Ein Diener bat um meinen Mantel, dann traten wir durch die Tür und hatten sofort alle Blicke auf uns gezogen. In dem Geschenkpaket Akkas war ein Traum von einem Seidenmantel gewesen, denn ich nun heute wie ein Kleid trug. Warum auch immer die alte Akka jemals diesen Mantel besessen haben musste: Ihr persönlich wäre er viel zu groß geraten. Vielleicht war es ein Familienerbstück, denn der Stoff und die Art der Färbung, die angewandte Sticktechnik und die Malereien zeugten von alten Zeiten. Fast schon ein historisches Kleinod. Beste Seide, über und über mit einem dezenten, aber sehr detailverliebten Muster von Blauregen bemalt und bestickt, verweilte ich einen Moment und blickte wie eine Herrscherin über ihr Gefolge herab. Die Szene verfehlte ihre Wirkung nicht, denn das Gemurmel im Saal verstummt ebenso lange, wie ich dort abwartete, bevor ich mich mit meiner Schar an den von Hisui erwähnten Platz begab. Da blickte ich mich so unauffällig wie möglich um. Wo mochten die anderen sein? Ich konnte sie nicht entdecken. Das wäre aber auch fatal gewesen. Wenn ich sie sehen könnte, dann könnten anderes auch. Und das spräche nicht für eine gute Tarnung. Völlig logisch.

Hisui erwies sich als wahres Goldstück, indem sie sich fast unsichtbar auf meiner Höhe aufhielt und mir umgehend und unauffällig ins Ohr flüsterte, welche geladenen Gäste mir zwar unbekannt waren, mich aber im Vorbeigehen aus reiner Höflichkeit grüßten. Zwar konnte ich mir das alles gar nicht so schnell und so genau merken, aber ich erntete bei der Begrüßung verwunderte Blicke. Nicht nur allein aufgrund des unbezahlbaren Kleidungsstückes, sondern weil ich allesamt milde lächelnd auch direkt mit vollem Namen ansprach.

„Liebste Sherenina! Welch freudige Überraschung! Wie geht es Ihnen?“ schnatterte es mich plötzlich von der Seite her an.

Verschreckt starrte ich in ein geschminktes Froschgesicht. Eine wandelnde Fettmasse so hoch wie breit. Die Nachbarin meiner Eltern. Klatschbase des halben Erd-Reiches und wohnhaft weniger daheim, sondern vielmehr auf den angesehenen Events der Welt. Dieses Monster schob sich nun direkt vor meine Nase und strahlte über das ganze Gesicht, voller Hoffnung, das Neuste vom Neusten brühwarm serviert zu bekommen. Es schüttelte mich vor Ekel bei dem Abbild dieses Subjektes. Die kam doch wohl nicht zufällig vorbei und wollte sich hier auch noch niederlassen? Schreck lass nach! Sie tat es! Mir genau gegenüber. Man gut, dass gerade das Essen serviert wurde und sie für eine Sekunde die Luft anhalten musste.

Leider hielt die Stille nicht lange an. Sie konnte reden und essen gleichzeitig. Und das war kein schöner Anblick. Wie sie so völlig ungeniert sämtliche Speisen ins sich hinein schaufelte und dabei die Hälfte davon in feinen Bröckchen und Tröpfen wieder ausspie, rückte es komplett in den Hintergrund, dass Asa ihr Essen kaum anrührte. Das meiste aus den Schälchen mochte sie nicht. Stattdessen baute sie kleine Reis-Brücken, Sojasaucen-Bäche und Shiitake-Türmchen. Künstlicher doch recht wertvoll. Ich ließ sie gewähren, denn Yuukis Gesicht bereitete mir mehr Sorgen. Der sah recht blass aus, hatte Schweißperlen auf der Stirn und kreiste mit seinen Augen verängstigt durch den Saal.

„Yuuki, ist dir nicht gut? Wirst du krank? Willst du ins Hotel zurück?“

Doch mein Sohn schüttelte nur den Kopf und flüsterte, dass nur ich es hören konnte:

„Ich glaube, wir werden verfolgt...“

Doch ehe ich den Aufschrei eines Entsetzens loswerden konnte, schmiss mich die Schnatterente mit dem gefüllten Schnabel aus den Gedanken.

„Und erzählen Sie doch mal. Ihre werte Frau Mutter tut immer sehr besorgt um Sie“, bohrt sie nun nach.

„Tut sie das? Nun, ich wohne nach wie vor in Konohagakure und bin berufsmäßig sehr ausgelastet“, wollte ich den Smalltalk unterbinden, doch es wurde nicht locker gelassen.

„Ach ja? Ich denke, das Stoffekontor hat geschlossen und Sie wären verarmt und würden in einer heruntergekommen Wohnung leben?“

Hoppla, wie direkt! Hm, was sollte ich antworten? Natürlich waren meine Verhältnisse von einem gewissen Standpunkt aus aktuell doch eher bescheiden. Auch wenn ein Funke Wahrheit in der Frage steckte, so war ich doch wahrlich nicht verarmt, noch ging es mir irgendwie schlecht. Ich beschloss, mir die schlechten Eigenschaften meiner ungebetenen Gesprächspartnerin zu nutze zu machen. Was ich ihr nun berichten würde, würden sofort auch alle anderen wissen. Da könnte ich auch ruhig mal mit ein paar Geschichten über die Stränge schlagen. Angriff war immerhin die beste Verteidigung.

„Oh, ich denke, da ist etwas durcheinander geraten“, legte ich mir meinen neu geplanten Lebenslauf zurecht.

„Ja, das Kontor hatte tatsächlich seinen Standort aufgegeben. Im Zuge dessen musste ich natürlich die Dienstwohnung räumen. Leider sehr kurzfristig. Aber, meine Liebe, sie glauben ja gar nicht, wie heißumkämpft der Wohnungsmarkt bei uns in der Stadt ist. Da rufen sie bei einem Makler an und während des Gesprächs ist die Wohnung schon dreimal weitervermietet worden. Daher wählte ich schnell eine Notlösung als Bleibe bis mein Standhaus fertig renoviert ist. Natürlich ist die kleine Wohnung wenig komfortabel. Aber was will man machen?“, flötete ich fröhlich vor mir her.

Die Schnatterente machte kugelrunde Augen. Damit hatte sie wohl nicht gerechnet. Und um den ganzen noch oben eine Krone aufzusetzen, war ich bereit, noch ein paar Kohlen ins Feuer hinterher zu werfen.

„Ein Strandhaus? Was Sie nicht sagen...“

Nun doch leicht verunsichert, suchte sie nun wieder den roten Faden. Dabei stellte sie fest, dass sie alle die Köstlichkeiten vor sich verschlungen hätte, es aber wohl keinen Nachschlag gäbe. Kurz gierten ihre Stielaugen auf Asas essbaren Kunstwerke, doch sie hielt sich im Zaum und hatte ein neues Thema gefunden.

„Yuuki ist aber wirklich sehr groß geworden. Und Sie haben noch ein zweites Kind bekommen. Das wusste ich ja gar nicht.“

Gedankenverloren hatte ich meinen Blick durchs schwarze Gebälk über mir schweifen lassen. Ich stutze. Da hockten doch tatsächlich meine vier verborgenen Ninjas wie die Hühner auf der Stange. Die Zwillinge gelangweilt. Kakashi beim Lesen, aber kurz vor dem Einschlafen: Hoffentlich fiel der mal nicht runter und uns allen vor die Füße. Das Buch in seiner Hand wippte auf jeden Fall bedrohlich, als würde es als Erstes den Absturz in den Saal wagen. Und Tenzô? Der mampfte mit dicken Backen. Woher hatte der denn den Teller voller Essen her? Maaannn, Tenzô! Das hier ist eine Mission! Kein Betriebsausflug! Irgendwie nahmen meine vermeintlichen Beschützer ihren Job nicht wirklich ernst. Da wusste man nicht, ob man lachen oder weinen sollte. Ich entschied mich für Letzteres, schluckte den Lacher aber hinunter, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Oh, Verzeihung. Ich habe gerade die Architektur des Hauses bewundert“, log ich, dass sich die Balken bogen. „Kinder wachsten tatsächlich wie Hefeteig. Aber Asa ist nicht meine leibliche Tochter, sondern die meines Lebensgefährten...“

„Ach, Sie sind noch gar nicht verheiratet?“

„Das hat sich bis jetzt terminlich noch nicht ergeben. Wissen Sie, wir sind beide beruflich sehr beschäftigt.“

Hui hui hui, nun redete ich mich aber um Kopf und Kragen und betete, dass Kakashi das nicht gehört hatte. Der war ja für jeden Spaß zu haben. Aber heiraten? Never ever! Da würde der wohl eher wieder Ersatz-Hokage für Naruto werden, falls der mal ausfallen würde, als dass ich da jemals einen Antrag bekommen würde. Und generell hatten wir über so was auch noch gar nicht gesprochen. Dennoch musste der „Witz“ eine Etage über mir angekommen sein, denn mein Freund schaute über sein Buch hinweg entgeistert runter. Und Tenzô hätte beinahe das Essen ausgespuckt vor Lachen und bekam dafür einen heftigen, aber freundschaftlichen Schlag mit eben jenem Buch auf den Kopf. Nur die Zwillinge guckten verwundert. Ich musste schnell das Thema wechseln, und die Kinder boten sich als Vorschubgrund hervorragend an.

„Ich denke, wir werden bald aufbrechen. Die Kinder sind müde von der Reise“, legte ich die Marschroute fest.

Glücklicherweise hatte auch die Schnatterente eine neue Entdeckung gemacht, denn sie sprach mich auf meinen Geleitschutz an, der hinter mir hockte und mir stets ins Ohr flüsterte. In allen Farben konnte ich nun von meinem ach so aufregenden und sehr wichtigen Job und meiner Entführung berichten. Das tat ich so, dass ich zwar nicht lauthals durch den Saal schrie, aber laut genug sprach, dass es die umstehenden Leute noch mitbekamen. Der Großteil der Gäste schien bereits fertig gespeist zu haben. Gedecke wurden abgeräumt. Man erhob sich von den Plätzen und stand nun zum Smalltalk im Saal herum. Servicepersonal reichte Getränke und Snacks.

„Wissen Sie...“, endete meine Vortrag. „Seitdem reise ich nur noch mit Geleitschutz. Aber wenn man in Konoha wohnt, so hat man ja die absoluten Profis direkt vor der Nase. Ein Rundum-Sorglos-Paket.“

Ohs und Ahs kamen aus dem Schnabel der Ente. Damit hatte sie wohl nicht gerechnet. Und sie hatte wohl auch nachgerechnet, denn Konoha-Shinobis waren immer noch recht teuer in der Bezahlung. Also mussten wohl meine kleinen Storys über mich, die ich gerade zum Besten gegeben haben, der Wahrheit entsprechen. Ansonsten könnte ich mir das kaum leisten.

„Interessant! Aber ist das nicht sehr teuer?“, wurde nun doch verwundert nachgehakt.

„Da muss man wirklich ein kleines Vermögen ausgeben“, schob ich extra nochmal nach.

Na, wenn die Klatschnase wüsste, wie ich hier Shinobis zu entlohnen pflegte. Den einen bezahlte ich mit Kartoffelbrei und den anderen mit Streicheleinheiten. Und die drei Vögel irgendwie … gar nicht. Aber ich hatte mein Tagwerk vollbracht und meinen Status aufgepeppt. Morgen würde der Showdown in eine neue Runde gehen, denn morgen, würde ich bei meiner Mutter einfallen. Doch nun war es Zeit zu gehen und die Gerüchte ihre Runde ziehen zu lassen. Der Abend war ja noch früh, da könnte man sich hier in dieser Gesellschaft noch einige Märchen erzählen.

Für uns aber war erst einmal Feierabend.

53 - Der Tag, an dem es eine klare Ansage gab

Feierabend war genau das richtige Stichwort für den schnellen Abgang. Es war das perfekte Timing gewesen. Yuuki sah kreidebleich aus und hatte kleine Schweißperlen auf der Stirn. Ängstlich blickte er in jede Ecke und in jeden Winkel, als wäre ihm ein Geist direkt auf den Fersen. Es war besorgniserregend. Dringendste Zeit für uns zu gehen. Ich sehnte mich nach tiefem, ausruhendem Schlaf. Die lange Zugfahrt, das Ausharren in der Kälte bei der Beerdigung und das Schauspieltheater während des Essens hatten mich doch mehr ermüdet, als ich es von mir selbst erwartet hätte. Und es kam mir vor, als mochte es bestimmt schon auf die Mitternachtsstunde zugehen, obgleich wir recht früh entschwunden waren, überlegte ich mir im Stillen und gähnte einmal herzhaft, dass ich mich fast verschluckte, denn draußen vor der Halle waren die Temperaturen rapide gesunken. Mein Zeitgefühl war im Eimer. Eine eiskalte Luftblase wanderte meinen Hals hinab in meine Lunge und lösten einen Hustenanfall aus. Frostig strich die Nachtluft über die rotglühenden Wangen. Die vielen Gäste hatten den Saal trotz seiner Größe ziemlich aufgeheizt und die eigene Körpertemperatur gleich mit sich. Unter meinem langen Mantel brannte ich wie ein Stück Holz im Kaminofen. Da kam der Frost mir gerade wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht vor. Zu allem Überfluss fielen nun auch noch dicke, fette Schneeflocken vom Himmel. Schnee war für Ninjas eine ziemlich dumme Sache, weil man Fußabdrücke in der weißen Pracht hinterließ, die man unter Umständen mit viel Aufwand wieder verwischen musste. Doch ich war viel zu müde, um darüber nachzudenken, weshalb meine Leibgarde auf das Spurenverwischen verzichtete. Vielleicht, weil sie sowieso die Coolsten waren, kicherte ich in mich hinein, bevor ich meinen Kopf auf der Schulter meines Freundes ablegte und mein eingefrorenes Gesicht in seinem Umhang verbarg. Mit mir mal wieder im Huckepack-Modus hüpften wir über die Äste der Bäume voran. Das Grummeln im Bauch kehrte zurück, und es kam nicht daher, dass ich zu viel gespeist oder getrunken hätte. Dieses ungute Gefühl in der Magengegend akzeptierend, konzentrierte ich mich gänzlich wieder auf eine gleichmäßige und langsame Atmung.

„Was beunruhigt dich?“, flüsterte mein Freund mir gerade so laut zu, dass ich ihn verstehen konnte, jedoch die Anderen nichts mitbekamen.

„Dass wir wegen der Finsternis die Hand nicht vor Augen sehen können und wir trotzdem so hoch über dem Boden sind“, gab ich eben so leise zurück.

Es war wirklich pechschwarze Nacht. Man konnte farblich den Himmel nicht vom Boden unterscheiden, geschweige die Bäume um uns herum. Doch nicht nur die Natur schien von der Dunkelheit verschluckt, auch unsere restlichen Begleiter waren unsichtbar. Sie machten noch nicht einmal einen Laut, auch nicht die Kinder, die sich ganz diszipliniert verhielten. Für mich war es unmöglich auszumachen, ob wir noch nahe beieinander waren oder schon weit voneinander getrennt. Unser Springen durch die Nacht war wie Achterbahnfahren im Tunnel. Black-Hole-Extreme. Ein stärkerer Luftzug von vorn durch die Geschwindigkeit zerzauste die Haare. Ein Auf und Hab durch die unterschiedlichen Höhen der Äste machten Magenkribbeln. Schneeflocken malträtierten die Haut wie frostige Nadelstiche.

Dunkelheit, Kälte und Schnee.

Ein Anflug von Panik machte sich in meinen Zellen breit, weil Erinnerungen hochkamen. Obgleich ich mich nicht enger an Kakashi hätte klammern können, tat ich es trotzdem und schloss die Augen. Sehen konnte man sowieso nichts. Einfach nur fühlen, was war. Wärme und Schutz. Und nicht Alleinsein, auch wenn ich nicht wusste, wo sie alle in diesem finsteren Wald waren. Kakashi beruhigte mich, dass keiner von ihnen das Chakra unterdrücken würde. Sie wären alle noch spürbar da.

„Findet man uns dann nicht sofort?“, fragte ich nicht im Mindesten besänftigt.

„Das will ich ja gerade. Mir wird das hier langsam zu blöde. Entweder die bleiben passiv auf Lauerstellung, dann sollen sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Oder sie greifen an, dann können wir sie endlich mal nach ihrer Mission ausquetschen. Ich will aber nicht den ersten Zug machen. Die Angriffsschuld sollte zu unseren Gunsten beim Gegner liegen“, folgte die sachliche Erklärung.

Also hatte Yuuki die ganze Zeit Recht gehabt, als er meinte, wir würden beobachtet werden. Ich dachte kurz nach und versuchte die Dimension dieser neuen Sachlage zu erfassen. Wir waren also nicht einfach nur auf dem Wege nach Hause, sondern negativ betrachtet obendrein auf der Flucht und zugleich auch der Köder. Ich schluckte schwer.

„Yuuki hat wirklich unglaublich gute Antennen. Der fühlte sogar Chakra im Staubkorn. Er hat unglaublich viel gelernt. Nicht, dass ich es ihm nicht zugetraut hätte, aber sein Lerntempo ist beeindruckend“, wurde ich abgelenkt. „Wie geht’s im Frühling mit ihm weiter? Hast du dich entschieden?“

Ja, das stimmt wohl mit Yuukis Fortschritten. Und ich wusste ganz genau, worauf mein Freund anspielte. Im kommenden März waren die Genin-Prüfungen und die zweijährige Akademiezeit wäre beendet. Meine Güte, schon wieder waren zwei Jahre ins Land gezogen. Ich konnte es kaum glauben. Es stand außer Frage, dass mein Kind bestehen würde. Vermutlich sogar als einer der Besten des Jahrgangs. Dann dürfte er sich Genin nennen, sich ein Stirnband umbinden und könnte sich in einem Team zu einem Chûnin ausbilden lassen, so fern ich dem zustimmen würde. Obwohl es mir immer noch einen faden Beigeschmack machte, würde ich mein Kind in solch ein Team stecken lassen. Er wünschte es sich so sehr und schien seinen Weg gefunden zu haben. Den persönlichen Weg des Ninjas. Was auch immer er darunter verstand. Vielleicht war es auch einfach sein Schicksal, die Tradition seiner Shinobi-Wurzeln fortzuführen und in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Und als hätte Kakashi Gedanken lesen können, fügte er meinen Überlegungen hinzu:

„Reisende kann man nicht aufhalten, Nina. Lass ihn los. Er ist doch trotzdem immer noch da. Wusstest du, dass sein Vater ein Gen-Jutsu entwickelt hatte, um den Willen von anderen Wesen zu lenken? Es basiert auf das Spüren von Chakraflüssen. Yuuki hat also nicht nur ein spannendes Kekkei Genkai geerbt bekommen, sondern auch den Spürsinn.“

„Nein, ich hatte keine Ahnung, was Kentas Fähigkeiten waren. Ich wusste nur, dass er im Blitz-Reich bei solch einer ANBU-ähnlichen Truppe eingesetzt war“, murmelte ich und fühlte mich grundlos schon wieder unglaublich dumm, weil meine stumpfe Ignoranz der Shinobi-Welt gegenüber mir nur akute Unwissenheit beschert hatte.

Ich hatte wirklich keine Ahnung, denn ich hatte nichts davon hören wollen. Ganz im Gegenteil hatte es gar mich geängstigt und war daher immer stets aus meinem Leben verdrängt worden. Ich wollte es einfach nicht wissen. Es waren Kakashi und Tenzô zu verdanken, die mir eine ganze neue Welt und somit die Augen geöffnet hatten. Einfach, weil sie ganz anders mit ihrem Job umgingen, als ich es bis dato gekannt hatte. Auch wenn Kenta doch immer sehr bürgerlich tat, ließ er oft unbewusst durchblicken, dass er und sein Clan etwas Besonderes oder etwas Andersartiges wären im Gegensatz zum billigen Fußvolk. Darüber konnte ich mir gar kein richtiges Urteil bilden, hatte ich seine Familie doch nie kennen gelernt. Ich wusste noch nicht einmal, ob Angehörige überhaupt noch Existent waren. Ob es in der Zukunft gut wäre, diesem einmal nachzugehen? Oder weckte man schlafende Hunde?

„Wie viele sind denn hinter uns her?“, brachte ich meine Gedanken wieder zurück an diesen dunklen Ort.

„Die haben sich seit unsere Ankunft am Bahnhof tatsächlich vermehrt. Ich habe bis jetzt zwölf Feinde wahrgenommen.“

Bis jetzt Zwölf? Gab es da also noch mehr? So viele?

Plötzlich grellte es nur wenige Meter vor uns auf. Eine orangefarbene Laserkugel zackte zielstrebig durch den Wald und war für Sekunden die einzige Lichtquelle. Für den Moment konnte ich aus den Augenwinkeln erkennen, dass der Boden, aber auch das Geäst der Bäume bereits von einer dicken Schneedecke überzogen waren, denn sie reflektierte das Orange und sah aus wie glühende Lava. Irgendwo im Dunkeln hallte ein spitzer Aufschrei durch den Wald. Dann plumpste es dumpf in den tiefen Schnee. Yuuki hatte nicht nur seinen Chakraball abgefeuert, sondern auch noch getroffen. Was oder wen auch immer.

Es überraschte uns allesamt so sehr, dass es beinahe um uns geschehen wäre. Kakashi reagierte sofort, als wir von der Seite her aus dem Nichts angegriffen wurden. Doch unser beider erhöhtes Gesamtgewicht und die Schwerpunktverlagerung trugen einen nicht minder wichtigen Teil dazu bei, dass Kakashi die Landung auf dem nächsten Ast nicht wie geplant gelang. Durch den frischen Schnee schlitterte er mit seinem Fuß über die rutschige Rinde hinweg in den Untergang. Wir stürzten ab.

Der freie Fall war eine merkwürdige Sache. In der Magengegend zog sich alles zusammen. Am Liebsten hätte ich lauthals geschrien, doch der augenblickliche Schock hatte mich verstummen lassen. Und wenn man daran dachte, dass so ein freier Fall nur in wenigen Sekunden beendet sein und man unten auf dem Boden aufschlagen würde, so tobte das eigene Herz in einem unkontrollierbaren Tempo kurz vor dem Kammerflimmern. Man sagte ja, das Leben würde an einem in solchen Situationen vorbeiziehen. Ich hatte kein Kopfkino. Entweder war die Geschichte glatt gelogen oder mein Leben hatte keine filmreifen Ausschnitte zu bieten gehabt. Wie armselig. Ein Funke Hoffnung flammte auf, wie ich meinte, dass die Finger meines Freundes nach meinem Handgelenk tasteten, doch ich rutschte einfach durch seinen Griff durch. Es war der Moment, wo ich den engen Hautkontakt zu ihm endgültig verlor. Gleich wäre ich tot. Garantiert. Gleich knallte ich auf dem Boden auf, würde mir alle Knochen brechen und den Schnee blutrot färben. Und die Schwärze der Nacht würde alles kaschieren.

Da schlängelte sich etwas aus der Dunkelheit heraus um mein Sprunggelenk, wandte sich über meine Fessel und meinen Schenkel blitzschnell zu meiner Taille hinauf und zog sich fest. Eine Schlingpflanze. Wie an einem Bungee-Seil hing ich nun kopfüber knapp über dem Boden und war dem Tod von der Schippe gesprungen. Tenzô hatte mich gerettet. Zum zweiten Male am heutigen Tage. Meine Nerven drehten durch, was man daran erkannte, dass ich ausgerechnet jetzt darüber nachgrübelte, wie ich Tenzô jemals dafür danken könnte. So viele Kartoffeln für Kartoffelbrei gäbe es gar nicht auf der Welt, die ich da verkochen müsste. Ob er sich an dem Brei überfressen hätte, noch bevor er die gekochten Berge aufgegessen hätte?

„Alles OK bei dir?“ hörte ich Tenzôs angespannte Stimme.

Die Liane wuchs noch ein Stück länger und gab mich dann auf sicherem Erdboden frei. Natürlich passend zu meiner Hängeposition mit dem Kopf zu erst. Mein Gesicht drückte sich Dank der Schwerkraft mitten hinein in den Schnee. Der rutschte mir sofort über den Hals bis unter die Kleidung auf die blanke Haut. Mein Oberkörper erstarrte zum Eiszapfen. Boah, war das kalt! Ich rappelte mich hoch, kloppte unbeholfen den Schnee ab und drehte mich um die eigene Achse. Nein, es war nach wie vor nichts zu sehen. Nur finsterste Schwärze. Es ängstigte mich, so hilflos zu sein. Man hatte beinahe das Gefühl, auf beiden Augen schlagartig erblindet zu sein. Ich wollte die Namen meiner Freunde rufen, aber ich verbat es mir selbst. Der Feind wüsste unter Umständen sofort, mit wem er es zu tun hätte. Vielleicht stünde der sogar schon hinter dem nächsten Baum und belauschte und beäugte mich schon die ganze Zeit über.

„Ich krieg' den einfach nicht zu packen …!“

Es war nur ein Flüstern, aber ich identifizierte die bekannte Stimme direkt vor mir sofort. Auch Tenzô hatte seine liebe Not mit der Nacht. Eine nahe Baumkrone entflammte wie ein Armleuchter. Einer drohende Fackel gleich brannte sie unheilvoll über unseren Kopf. Ich sah, wie mein Retter vor mir im Schnee kniete, die Finger ineinander zu einem Fingerzeichen verschränkt hielt und seinen Blick auf den Feind fokussierte, den ich selbst nicht einmal erahnt hätte. Ranken und Triebe schossen hervor.

„Geht doch!“

Die brennende Baumkrone hatte genug Licht gespendet. Tenzôs Angriff hatte die Jagdbeute erwischte und förderten eine vermummte Person zutage, welche umgehend wie eine Raupe in einen Kokon verpackt wurde.

„Wo sind Kakashi und die Anderen?“, spukte ich nun doch unbedacht hervor und klatschte mir sogleich erschrocken auf den Mund.

Verdammt, keinen Namen! Du verrätst doch alles, du dumme Nina.

„Kakashi? Hatake Kakashi etwa?“, sprach eine hämisch-tiefe Stimme aus dem Geäst über uns.

Ein Lachen ertönte. Es hallte wie ein Echo und sprang wie ein Irrgeist um uns herum. Tenzô schlug die Hand in den Schnee und griff ins Erdreich. Ein Erdwall stieß augenblicklich in die Höhe just in dem Moment, wo die brennende Baumfackel zusammenbrach und die Krone im Schnee erlosch. Beißender Rauch umhüllt uns. Augen tränten, Nasenflügel bebten.

„Steht es so schlecht um die Konohagakure bestellt, dass der Siebte schon auf ausrangierte Reservisten zurückgreifen muss? Oder hat der Siebte gar nichts besseres mehr innerhalb seiner Reihen zu bieten?“, höhnte es derart unverschämt aus dem Wald, dass selbst meine Angst aussetzte und ich diese Frechheit mit einem wütenden Gesicht herunterschluckte.

Wer auch immer unser Feind mit dem vorlauten Mundwerk war, er beherrschte seine Kunst sehr gut. Tenzôs Schutzwall wurde zerschlagen, denn die Erdbrocken prasselten nur so auf uns herab. Ich wurde am Oberarm gepackt und fortgerissen. Nicht weit, nur aus der Schussbahn.

Der Himmel über uns brannte auf und schien unter den unzähligen Blitzen zu zerbersten. Das laute Prasseln als hätte man Millionen von Knallerbsen gleichzeitig zertreten erfüllte ohrenbetäubend die Luft. Ein violetter Blitze schlug direkt neben uns ein. Geblendet schloss ich die Augen.

„Wir müssen halt auch sehen, wo wir bleiben.“

Kakashi beantwortet der frechen Stimme dessen Fragen mit dem gewohnten Sarkasmus. Es mochte wohl die letzte Antwort gewesen sein, welche sie gehört hatte in ihrem Leben, denn plötzlich stank es nach verbranntem Fleisch. Ich wagte es kaum, die Augen wieder zu öffnen, tat es aber trotzdem. Ein entsetzliches Bild bot sich mir, wie Kakashi in einem violetten Blitzlichtgewitter stand und die höhnende Figur in zwei Hälfte getrennt hatte. Sie sah so entstellt aus, dass ich nicht genau hätte sagen können, ob die verkohlte Figur einmal Männlein oder Weiblein gewesen war, obwohl ich nur wenige Meter daneben stand. Übelkeit stieg in mir auf. Ich drehte mich um und ließ meinem Mageninhalt freien Lauf.

Kakashi schnaubte kurz auf. Die Entwicklung der Mission passte ihm gar nicht. Und dass er dieses mit einem Schnauben kommentierte, passierte so häufig wie die Kirschbäume zum Neujahresfest blühten. Es musste ihm wirklich ernsthaft sauer aufstoßen.

„Hisui und Kujaku beseitigen gerade die übrigen Feinde. Ruri ist bei Yuuki und Asa. Die haben wohl eben ganz andere Probleme...“, fasste Hokage-sama das Dilemma zusammen und machte keine Anstalten, seinen Missmut in der Stimme zu unterdrücken.

Asa und Yuuki. Probleme? Siedenheiß fiel mir ein, dass es unsere Kinder ja auch noch gab. In wenigen Minuten hatte ich einen Angriff, einen Absturz und eine Verteidigung erlebt. Das war zu viel für mein Gehirn, welches immer noch die Ereignisse abarbeitet. Mein Magen war nun leer. Der Geschmack im Mund war widerlich. Ich sammelte alles an Spuke im Munde und spie sie aus. Ich hätte fast alles um einen Schluck Wasser zum Ausspülen gegeben.

„Was ist denn überhaupt los?“, wagte ich eine Äußerung, denn die Anspannung der beiden Shinobi war förmlich greifbar.

„Yuuki hatte in seiner Unerfahrenheit überreagiert, als er in eine Falle gestolpert war. Dabei hatte er den Fallensteller erstaunlicherweise gesehen und den aus Angst natürlich sofort angegriffen. Na ja, der Rest war dann eine Kettenreaktion. Die Ratten kamen aus den Löchern“, meinte Tenzô schulterzuckend.

„Hat er den anderen denn …?“

… getötet? Das war das Wort, was mir im Halse stecken blieb. Hatte Yuuki getötet? Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft und entsetzte mich zutiefst. Mein Kind und sein erster Mord als Shinobi. Mir wurde schon wieder übel, doch zum Erbrechen gab es nichts mehr außer Magensäure in meinem Leibe.

„Nein, hat er nicht“, kam uns Kujaku zuvor. „Aber er hat in schwer verwundet und außer Gefecht gesetzt. Da blieb nur noch ein Gnadenstoß meinerseits zu tun.“

Hisui und Kujaku hatten ihre Aufträge erfüllt und das Feld bereinigt. Blieb nur noch das von Kakashi erwähnte „Problem“ übrig. Mir schwante Übles, wie sich ein heftiger Wind aufmachte. Er zerfetzte die Baumwipfel und zerrte an den Stämmen. Stärker und stärker. Man hörte es ächzten und krachen. Die Vegetation gaben ihrem Peiniger nach und wurden entweder umgeknickt oder gleich mit ganzer Wurzel ausgerissen. Die Bäume wurden wie Streichhölzer durch die Luft gewirbelt und irgendwo planlos im Trümmerfeld abgeworfen. Ein Tornado zog eine wahre Schneise der Verwüstung durch den Wald. Dumm nur, dass er dem Lärm nach wohl direkt auf uns zu kam.

„Ich dachte, Ruri kümmert sich darum!“, tadelte Hisui ihren Bruder, der sich aber keiner Schuld bewusst war.

„Tut er doch wohl auch!“, gab Kujaku verstehen, als sich der Tornado plötzlich vor unseren Augen auflöste. „Siehst du! Alles prima.“

Asa hatte es nur gut gemeint und hatte auch ihren Beitrag zum Kampfgeschehen abliefern wollen. Dafür erzeugte sie eine Windhose, welche die Angreifer hätte wegpusten sollen. An sich ein guter Gedanke. Allerdings geriet die Windhose viel zu überdimensioniert. Sie wuchs und wuchs und erweckte ein Eigenleben noch nie dagewesenen Ausmaßes. Unkontrolliert hüpfte nun ein Tornado außer Rand und Band durch die Botanik und scherte sich nicht um eine Asa, die mit aller Macht versuchte, ihr Jutsu wieder zu bändigen und somit auch den Tornado. Zurück blieb nur eine totale Verwüstung. Ich erinnerte mich an die Aufnahmeprüfung zur Akademie zurück. Auch damals gab es diese Szene, wie Asa einen Tornado durch die Arena donnerte und ihn nur mit Mühe beherrschte. Solch ein Sturm konnte wohl nur durch ein ordentliches Feuerchen bekämpft werden, welches Ruri in Perfektion beherrschte. Einen kurzen Augenblick gesellte er zusammen mit einer bedröppelten Asa und einem verstörten Yuuki zu uns. Unser Team war wieder komplett. Nur die Stimmung war im Keller.

Hätte man Flammen der Wut in der Realität sehen können, Kakashi hätte in einem flammenden Inferno gestanden.

„Ihr geht zurück ins Hotel. Die Kinder gehören ins Bett. Und ihr bewacht die mit eurem Leben!“, befahl er dem Vogeltrio. „Und wir schnappen uns jetzt die Mumie und statten deiner Mutter einen Besuch ab.“

Ich wollte etwas erwidern, war doch gar nicht klar, ob meine Mutter tatsächlich in diese Sache involviert war. Vielleicht steckte ja ein unbekannter Dritter hinter der Aktion. Der Gefangene im Kokon, den Kakashi nur als Mumie betitelt hatte, war noch gar nicht verhört worden. Auch fühlte ich mich von den Kinder trostgebend gebraucht. Mein Sohn war ein Sensibelchen, der schon Tränen in den Augen hatte, wenn er in der Wohnung eine Spinne totschlug. Nun hatte er einen Menschen durch sein Handeln schwerst verletzt. Garantiert ging ihm diese Erkenntnis durch Mark und Bein, wenn er sich dessen erst einmal bewusst wurde. Er bräuchte mich sicherlich an seiner Seite. Nein, meiner Meinung war ein Besuch bei meiner Mutter nicht so wichtig wie die Kinder. Den könnte man auch wie geplant am nächsten Morgen erledigen. Mein Mund formte schon das erste Wort eines Satzes, doch Tenzô berührte mich am Oberarm und schüttelte den Kopf.

„Keine Chance, Nina“, warnte er mich. „Das kenn' ich schon von früher ...“

Eine geplante Mission lief aus dem Ruder und drohte zu scheitern. Eine gescheiterte Mission kam aber in Kakashis Weltbild nicht wirklich vor. Also wurde kurzum der Plan völlig über den Haufen geworfen und geändert. Wer jetzt nicht nach der Pfeife von Hokage-sama tanzte, würde es bitterlichst bereuen. Auch das Vogel-Trio musste mit dieser, mir bis dato absolut unbekannten Seite meines Freundes, schon oft Bekanntschaft gemacht haben. Die waren nämlich längst samt unserer Kinder von der Bildfläche verschwunden. Selbst ich konnte nur mit offenem Mund staunen, wie mein Freund wutentbrannt, aber mit eisigem Gesichtsausdruck, an mir vorbei stapfte. Die Augen so klein und schwarz... und so tot. Die Faust in der Tasche.

„Komm' endlich!“, blaffte er los, dass mir das Blut in den Adern gefror.

Still folgten Tenzô und ich. Mein Freund machte mir Angst.

„Na los, ich nehm' dich mit...“, bot mir Tenzô seinen Arm an.

Kurz darauf hüpften wir wieder durch die Wipfel. Die Mumie zogen wir an einer kurzen Liane hinter uns her. Na, in dem Kokon mochte ich nicht stecken. Das war sicherlich eine sehr ungemütliche Art des Reisens, weil der Kokon gegen sämtliche Hindernisse stieß, die auf unserem Weg lagen. Hoffentlich überlebte unser Gefangener die Reise überhaupt. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Schnee glänzte noch jungfräulich rein im Schein der Straßenlaternen. Schnell erreichten wir mein Elternhaus und nur Sekunden später standen wir vor dem großen, schmiedeeisernen Tor, welches die Außenwelt vom Grundstück abschirmte. Die Bewegung hierher musste stressabbauend auf Kakashi gewirkt haben. Der stand nun wieder in seiner üblichen lockern Haltung vor dem Tore, blickte mir den Armen vor der Brust verschränkt durch die metallischen Stäbe und musterte neugierig den großen, grauen Kasten, der sich Luxusvilla nannte. Ich wagte nun doch einen neuen Versuch, meinen Freund von irgend welchen aberwitzigen Ideen abzubringen. Erfolglos.

Ein Sprung über den Zaun besiegelte den Start zu neuen Abenteuern. Und zwei kleine Metalldrähte im Türschloss öffneten schneller als gedacht die Haustüre. Und plötzlich war ich wieder zuhause. Da stand ich nun mitten im Empfangssalon und wusste gar nicht, wohin ich nun gehen sollte, obwohl ich jede Nische kannte. Ich schaltete das Deckenlicht ein, damit wir hier wenigstens nicht wie ein paar dahergelaufenen Einbrecher wirkten. Sicherlich war meine Mutter schon zu Bett gegangen. Vermutlich hätte Lana wie eh und je ihre Räumlichkeiten im Westflügel bezogen. Ob sie ihren neuen Macker dabei hatte? Zumindest hatte sich wieder einmal ein ganz neues Gesicht an ihrer Seite präsentiert. Ein Gesicht, dass aller Wahrscheinlichkeit nach viel Geld verdiente und ausgetauscht wurde, wenn es nicht mehr erfolgreich und finanziell ruiniert war. Ich seufzte.

Über unseren Köpfen klackte eine Tür. Schritte näherten sich. Unsere Ankunft war also doch bemerkt worden. Die ängstliche Stimme meiner Mutter fragte:

„Hallo? Wer ist da?“

Und schon kam sie die Treppe herunter. Sie hatte sich einen Morgenmantel übergeworfen und trug ihre Haare zu einem strengen Dutt. Entweder schlief sie im Sitzen oder sie hatte doch noch nicht geschlafen. Jedenfalls war keine Strähne aus dem Dutt gelöst. Alles saß perfekt.

„Meine Güte, Sherenina! Was soll der Auftritt? Es ist mitten in der Nacht!“ schnarrte die laute Stimme los, die mich einschüchtern sollte. „Und was sollen diese beiden Begleiter da? Das war doch wohl nur eine an den Haaren herbeigezogene Geschichte, die du da vorhin allen aufgetischt hattest.“

Sie funkelte mich böse an und sah in mir ein Krebsgeschwür, was es unbedingt zu beseitigen galt. Ich suchte nach den richtigen Worten, konnte sie aber auf die Schnelle nicht finden. Kakashi kam mir zuvor:

„Einen schönen guten Abend!“

Selbstbewusst schnippte er mit den Fingern, worauf Tenzô die Mumie aus dem Geflecht vor aller Augen auf dem Samtteppichboden entrollte. Nun im Lichte entpuppte sich der Inhalt des Kokons als Erd-Reich-Shinobi. Männlich und noch keine zwanzig Jahre alt. Er lag wie leblos da. Nur seine flache Atmung zeugte vom letzten bisschen Leben in seinem jungen Körper.

„Wir haben auf dem Heimweg etwas gefunden, was uns nicht gehört und wollten es nur anstandshalber zurückbringen!“

Die Augen meiner Mutter weiteten sich entsetzt auf Kuchentellergröße. Jede Reaktion ihrerseits musste nun wohlüberlegt sein, denn das Eis wurde für sie nun dünn und brüchig.

„Was ist das denn hier für ein Lärm?“ wurde unsere Komödie um weitere zwei Darsteller bereichert.

Lana stürzte herein und hatte tatsächlich das neue Gesicht an ihrer Seite mitgebracht. Beide erstarrten in ihrer Bewegung, wie sie von oben auf uns herabblickten und mich, zwei ANBU und einen Bewusstlosen unten im Eingangsbereich entdeckten. Wir mussten wohl wie Außerirdische vom anderen Stern ausschauen. Kakashi ließ sich jedoch nicht beirren und fuhr ungehindert fort:

„Ihr Ambitionen, ihre Tochter als rechtmäßige Alleinerbin mit allen Mitteln aus dem Weg zu räumen, liegen klar auf der Hand. Welche Vertragspunkte sie mit der Yondaime Tsuchikage in Bezug auf das Attentatskommando ausgehandelt haben und wie sie geschäftlich zu ihr stehen, ist mir bekannt, aber gleichgültig. Fakt ist, dass sie aber unbedacht einen größeren Konflikt herbeigeführt haben, da sie selbst anscheinenden einen wichtigen Punkt vollkommen außer Acht gelassen haben...“

„Was erlaubt sich dieser …?! Wer ist das überhaupt, den deine Tochter dort angeschleppt hat?“

Aufgebrachte Zwischenrufe von der obigen Balustrade aus dem Munde des neuen Gesichts. Da Kakashi und Tenzô wieder ihre Holzmasken trugen, konnte dem Trio auf den oberen Rangplätzen noch kein Licht aufgegangen sein, wer dort unten im Flur gerade die Regeln aufstellte. Eine Schlingpflanze stopfte dem Freund meiner Schwester augenblicklich das Maul. Lana, die zuvor solch einen Zauber noch nie gesehen hatte, schrie entsetzt auf. Doch meine Mutter tat unbeeindruckt gefestigt. Dabei gruben sich ihre Fingernägel bereits tief in das Balustraden-Geländer ein, dass die Fingerknöchel weiß wurden.

„Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ihre Tochter hatte noch nicht die Zeit, uns miteinander bekannt zu machen“, sprach Hokage-sama und nahm tatsächlich seine Holzmaske ab.

Eine Erscheinung sprach mehr als tausend Worte. Nun war selbst ich verblüfft. Von den Gesichtern oben auf der Balustrade ganz zu schweigen. Meine Mutter saugte tagtäglich genug Medien auf, um ganz genau zu wissen, dass Rokudaime dort leibhaftig in ihrem Hause stand. Und sie wusste auch nur zu gut, dass die Schlacht recht aussichtslos und verloren für sie war. Das sollte aber nicht heißen, dass sie kampflos nachgab. Noch lange Zeit später bombardierte sie unseren Briefkasten mit Anwaltsbriefen, die Kakashi jedoch stets ungeöffnet zerriss und in den Mülleimer warf.

„Ich möchte nicht sagen, dass ich vorhin den Angriff auf mich und meine Familie als großes Politikum zwischen dem Erd-Reich und dem Feuer-Reich ansehen. Es ist eher etwas Persönliches. Ich will nicht nachtragend sein, doch sollten sämtliche Bemühungen ihrerseits, unser Privatleben zu beeinträchtigen nicht auf der Stelle enden, sehe ich mich dazu gezwungen für ihre Seite vernichtende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Ich denke, die Tsuchikage, zu der ich ein ausgezeichnetes Verhältnis habe, wird mir da ganz klar zustimmen. Des Weiteren werden ab sofort sowieso sämtliche Entscheidungen über die Stahlfirma einzig und allein von unserer Seite her getroffen werden. Und nun, entschuldigen sie den späten Besuch. Sie werden von uns in den nächsten Tagen hören. Ich empfehle mich.“

Damit machte Hokage-sama auf dem Absatz kehrt und stiefelte aus dem Flur wie der Allmächtige persönlich. Ebenso glotze man ihm auch nach. Man merkte, dass mein Freund sich ein Jahrzehnt lang auf der politischen Bühne herumgetrieben hatte. Er fand einfach immer die perfekten Worte und legte die besten Auftritte hin. Da brauchte man nichts mehr ergänzen. Tenzô löste noch das Rankengeflecht auf, dann zogen ich mit ihm in Hokage-samas Schatten hinterdrein.
 

Draußen im parkähnlichen Vorgarten stoppte Kakashi, steckte wie so üblich seine Hände in die Hosentasche und atmete einmal tief durch.

„Bist du zufrieden?“, fragte er mich.

„Argh, ich bin total durcheinander. Können wir eine Nacht darüber schlafen?“

Ich rieb mir den Schädel, der unter den vielen Eindrücken zu platzen drohte.

„Klar!“

Diesmal hüpften wir nicht über die Dächer, sondern schlenderten durch die Straßen des Ortes. In einer Seitengasse räumte gerade ein Wirt seine Kneipe auf. Während er die Stühle hochstellte, war er abgelenkt und merkte nicht, wie Tenzô durch das Fenster einen langen Holzarm wachsen ließ und sich eine Sakeflasche vom Tresen stibitzte. Ich fand das großartig. Von Kakashi gab es einen Tadel. Spielverderber! Der Flascheninhalt ging trotzdem durch Drei.

54 - Der Tag, an dem ein Haus wuchs

Mit der Beerdigung meines Vaters wurden familiäre Dinge begraben, die längst nicht repariert worden waren. Das kapierte man aber immer erst, wenn man vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Dies und jenes ging mir durch den Kopf und ich grübelte viel, wenn ich allein weit weg von zuhause in meinem provisorischen Arbeitszimmer im Hotel saß, durch die großen Fenster in die Abenddämmerung starrte und stets mit mir haderte, warum und wieso ich das alles hier und jetzt überhaupt machte. Ich vermisste meine Familie, meine Freunde und Konoha.

Die Kehrseite unser ganzen Überraschungsaktion war jene gewesen, dass man Ankündigungen anschließend auch umsetzen musste, wollte man glaubhaft bleiben. Ansonsten würde man sich obendrein nur der Lächerlichkeit preisgeben. Und das wurde folglich der Beginn einer endlosen scheinenden Schlammschlacht mit allem Drum und Dran. Ich hatte eine Vorahnung, was alles folgen würde, doch die Dimensionen hatte ich dann letztendlich völlig falsch eingeschätzt. Nun hockte ich hier in der Hotelzimmersuite, wo wir vor ein paar Wochen allesamt schon zur Beerdigung einquartiert waren und kämpfte mit meinem Innersten selbst und dem Papierkram.

Längst hatte ich aufgehört, die Gerichtstermine zu zählen, weil meine Mutter und Lana das Testament angefochten hatten. Wenn man gerade dachte, man hätte sich gütlich geeinigt, dann kam von der gegnerischen Seite schon wieder die nächste Schote angeflogen. Weil es sich hier nicht um einen kleinen Handwerksbetrieb drehte, sondern um einen weltweit agierenden Konzern, war das öffentliche Interesse und Medienecho enorm. Ständig kam hinter irgendeiner Mülltonne ein Reporter hervorgesprungen. Noch nie hatte ich Paparazzi im Leben ertragen müssen. Bis dato hatte ich sogar geglaubt, die Mülltonnen-Geschichten wären nur Märchen. Es war nur noch gruselig. Niemals hätte ich außerdem gedacht, dass solch ein Hotelzimmer einen wie ein Kokon schützen würde. Ich igelte mich darin ein und war froh, Kakashis Vogelbande um mich herum zu haben. Denen konnte ich vertrauen, gaben sie mir die notwendige Geborgenheit und hielten mir so ziemliches alles vom Leibe, was ich außerhalb meiner schützenden Hotelzone nicht ertragen konnte.

Etwas anders sah es mit denjenigen aus, die ich gezwungenermaßen als neues Kompentenzteam zusammenstellt. Persönliches Vorsprechen meinerseits bei den unterschiedlichsten Institutionen war in diesem Rahmen einfach nicht mehr machbar. Mittlerweile hatte ich mir einen Stab an Rechtsverdrehern, Steuerfüchsen und Wirtschaftsexperten zusammengetrommelt, weil ich die Sachlage nicht mehr ohne fachkundige Hilfe überblicken konnte. Das Team konnte man auch hervorragend zu solchen Terminen schicken, die ich nicht mehr über mich ergehen lassen wollte, und sie hatten mir dann später nur Rede und Antwort zu stehen. Wie froh würde ich werden, wenn endlich alles geregelt wäre, dass ich aus der Ferne nur noch administrativ auftreten müsste.

Verträumt schaute ich über die Dächer der Stadt hinweg in die fernen Baumwipfel. Das Abendlicht tauchte die Szenerie in Gold. Ich verspürte den Drang, spazieren zu gehen und den Käfig zu verlassen, fröstelte aber sogleich bei dem Gedanken, dass ich garantiert wieder einmal nicht meine Ruhe hätte und auf offener Straße angesprochen würde. Ruri schien meinen Wunsch zu erraten, denn er erhob sich nebenan vom Sofa, schaltete den Fernseher aus und lehnte kurz darauf am Türrahmen. Seine beiden Geschwister waren aktuell auf anderen Missionen unterwegs. Da Kakashi sie nun nicht mehr als Hokage-Geleitschutz brauchte, mussten sie nun wieder mit „normalen“ Missionen ihr Geld verdienen.

„Na, denn man los!“, forderte er mich fröhlich auf.

„Ich weiß nicht recht ...“, murrte ich zurück. „Ich wollte eh gleich noch telefonieren.“

„Du telefonierst den ganzen Tag. Und den Rokudaime hast du auch schon zweimal angerufen.“

Ich schmunzelte etwas. Obwohl die Vogelbande offiziell nicht mehr in Kakashis Dienst stand, war er nicht nur für diese, sondern auch immer noch für das ganze Dorf „Rokudaime-sama“. Da sprach keiner seinen Namen aus, nur seinen Titel. Ein merkwürdiges Volk. Mal von dieser Gepflogenheit abgesehen, so hatte Ruri recht: Kakashi nervte ich häufig auf dem Telefon, weil ich die Einsamkeit seit der Entführung nicht mehr in dem Maße ertrug wie früher. Es half mir mental auch nichts, dass ich jedes zweite Wochenende kurz nach Hause fuhr. Ich glaubte, Kakashi müsste sich allmählich genauso durch mich bestalkt fühlen, wie ich durch die Journalisten. Aber mein Freund hatte sich noch nicht darüber beschwert, also schien es wohl in Ordnung zu sein. Andererseits konnte die Geduld meines Freundes auch groß wie ein Ozean sein. Da war es bei ihm fast unmöglich, den Strand zu treffen. Ich dachte oft an meine Familie, was sie wohl so alles ohne mich treiben würde. So weit weg von mir. Und wie sie wohl zurecht kommen würden. Bestimmt machte ich mir zu viele Sorgen und Gedanken, denn Kakashi sagte einmal an Telefon:

„Wenn du nichts hörst, geht’s uns gut!“

Tatsächlich hörte ich unglaublich wenig von meiner Familie, was mich ja doch beunruhigte, denn Kenta hatte so etwas auch immer gesagt. Im Endeffekt war dann nichts in Ordnung gewesen. Ich dachte an die Kinder. Es war Januar und die Vorbereitungen für die Abschlussprüfungen würden schon in gut drei Monaten stattfinden. Bis dahin wollte ich auf jeden Fall wieder dauerhaft daheim sein. Es grämte mich allein schon, dass ich zu Yuukis Geburtstag nur einen Kurztrip nach Konoha unternehmen könnte. Dann war ich bereits wieder kurz davor, alles hinzuschmeißen, die Zelte im Erd-Reich abzubrechen und einfach Heim zu fahren. Sollten doch dann alle machen, was sie wollten. Ich war die letzten Jahre auch ohne meine Verwandtschaft und die Firma klar gekommen. Da bräuchte ich sie jetzt theoretisch auch nicht mehr. Ich wischte die dunklen Gedanken beiseite und widmete mich gedanklich wieder den schulischen Zukunftsplänen der Kinder. Asa hatte uns immer in dem Glauben gelassen, es wäre ihr im Gegensatz zu Yuuki nicht so wichtig, die Prüfung zu bestehen. Doch selbst sie hatte es nun insofern gepackt, dass ein Durchfallen eine ziemlich peinliche Sache wäre. Wenigstens müsste man schon ein Genin werden und die Akademie abschließen. Die Akademie war eh nicht ihr Ding. Wenn man nun sitzenbleiben würde, dann müsste man aber folglich noch ein weiteres Jahr dort auf der Schulbank verbringen. Wie nervig! Nee, lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Das wäre doch das Mindeste.

„Ich denke, dass sie so oder so bestehen wird“, meinte Kakashi.

„Wieso? Weil sie den Hokagekindbonus hat?“, lästerte ich freundschaftlich.

„Nee, weil Iruka sonst fürchtet, sie würde die Akademie vor Wut in Schutt und Asche legen“, war die nüchterne Antwort. „Und es ist sicher für beide Seiten förderlich, wenn sie sich trennen.“

Ich nickte lachend. Ja, das war wahrlich eine logische Begründung. Mehr Kummer bereitete mir Yuuki und seine Art der Erlebnisverarbeitung, denn es war so, wie ich es schwarzmalerisch vorhergesehen hatte: Der Angriff auf den feindlichen Shinobi hatte ihn seelisch mitgenommen. Er kam damit zwar besser zurecht, als gedacht, aber er wurde stiller und zurückgezogener, als er es eh schon war und grübelte über die Situation nach. Darüber hinaus hatte er sich in den Kopf gesetzt, ein eigenes Jutsu zu erfinden. Eines, welches den Gegner kampfunfähig machen, ihn aber nicht verletzen würde. Ein äußerst hochgestecktes Ziel. Und damit nervte er stundenlang Kakashi um dessen Rat. Dieser wiederum wollte ihm zwar nicht die Hoffnung nehmen, so etwas hinzubekommen. Aber er versuchte ihm trotzdem schonend beizubringen, dass seine angeborenen Chakrafähigkeiten dafür nicht die Voraussetzungen mit sich brächten. Es gäbe wohl eine Kunoichi in den Reihen der ANBU, welche eine Art von Laser-Justu beherrschte und damit Chakrapunkte blockierte, doch ihre Elementaffinität wäre eine andere als die von Yuuki. Meinem Sohn wäre das aber herzlichst egal und bettelte solange, bis Kakashi den Kontakt zwischen beiden herstellt. Zu einem Training hätte sich beide jedoch wohl noch nicht getroffen, weil die ANBU-Frau häufig auf Mission war.

Apropos Mission: Auf so was trieb sich mein Freund nun auch noch herum. Nein, nein. Nicht auf Bezahlebene, sondern aus reiner Freizeitgestaltung unentgeltlich. Und weil ihn die Neugier und die Langweile nicht an einen Ort fesseln konnte. Außerdem hatte auch Kakashi noch Geschichten aus seiner Amtszeit, die er nicht abgeschlossen hatte. Zum einen, weil er aus dem Büro nicht herauskam und zum anderen, weil es nicht unbedingt immer der günstigste Zeitpunkt gewesen wäre, Öl ins Feuer zu gießen.

„Du findest überall in allen Reihen schwarze Schafe. Man hätte gleich nach dem Krieg den ganzen Shinobihaufen ausmisten und auch den Sumpf der ANBU trocken legen müssen. Tsunade hatte da ziemlich schnell den Überblick verloren, wer da noch welche anderen Strippen hinter ihrem Rücken zog. Aber nach dem Krieg lag auch alles in Trümmern. Die Verluste waren sehr hoch und die Bevölkerung litt. Das war wie eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera, die Täter erst einmal alle ungestraft ziehen zu lassen, um Konoha wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Trotzdem sind da viele Dinge nicht vergessen.“

Dann schwieg Kakashi nachdenklich eine kurze Weile und machte sich dann auf ins Unbekannte, um ja nichts zu vergessen. Manchmal, so meinte er dann hinterher, wäre aber Unwissenheit ein Segen gewesen. Selber Schuld, dachte ich dann wiederum bei mir, wenn man alte Geschichten nicht ruhen lassen konnte und im Dreck der Anderen stocherte. Aber mein Freund konnte nun mal nicht anders. Somit ward er dann tagelang wieder nicht gesehen. Da kam es auch schon mal vor, dass die Kinder mal eine ganz kurze Weile allein waren. Ihr wisst, dass mich so etwas störte. Meine Familie fand das aber völlig normal. Ich blieb dabei, dass ich schon viel zu lange aus Konoha weg war und nach solch vernommenen Geschichten dringend wieder zurück müsste.

„Träumst du wieder, Nina?“

Ruri wedelte mit der Hand vor meinen Augen herum und holte mich zurück aus meinen Gedanken in das Hotelzimmer. Mein Wunsch wurde erfüllt. Jeder mit einem Heißgetränk im Thermobecher in der Hand spazierten wir los durch die Straßen, die ich früher ständig gegangen war und hing alten Erinnerungen nach. Lange verweilten wir jedoch an den unterschiedlichsten Plätzen nicht, denn ein eisiger Wind pfiff uns um die Nase. Auch verdrängte die aufziehende Dunkelheit die goldene Dämmerung. Die Witterung mochte wohl die Erklärung sein, dass wir fast einsam durch die Stadt zogen. Kaum jemand kam uns entgegen. Die ersten Straßenlaternen entflammten sich. Es war erstaunlich, wie wenig sich doch im Stadtbild verändert hatte. Ich begann Ruri in kurzen Sätzen zu erzählen, wo wir waren und warum der eine oder andere Ort so wichtig für mich war. Ich musste einfach reden, denn so verarbeitete ich meine Stimmung und den Ablauf des verflossenen Tages. Da war Ruri ein gefundenes Opfer, durfte er doch nicht einfach mal so eben abhauen. Erst hatte ich nur gedacht, ich würde ihn langweilen. Erstaunlicherweise hört der aber ganz interessiert zu und fragte zu meiner großen Überraschung nach, wenn ihm manche Erklärungen nicht genügten. Da konnten wir in einem Park minutenlang vor einer Statue stehen. Das Mädchen mit dem Sonnenhut. Aus Kupfer gegossen und längst ergrünt. Dass sie noch nicht des Nächtens von Kunstdieben geklaut worden war, verwunderte schon sehr. Immerhin war allein der Materialpreis schon ansehnlich. Angeblich würde sie hier immer auf ihren Liebsten gewartet haben. Eine alte Dorfklatschgeschichte. Ruri interpretierte den Grünspan im Gesicht als Tränen und ich musste zugeben, er könnte recht haben. So genau hatte ich mir die Statue noch nie angeschaut. Zum Schluss kamen wir sogar ins Plaudern.

Aus dem Straßenzug rechter Hand drang Musik an unsere Ohren. In einer Kneipe spielte eine Band. Nur Gesang und Gitarre. Das klang schön und noch ehe ich mich versah, schubste mich Ruri voran durch die Eingangstür ins Innere. Damit ich nicht weiterhin so traurig gucken würde, meinte er und drängte mich zu einem kleinen Tisch in der hintersten Ecke. Wobei die hinterste Ecke direkt am Eingang lag. So klein war die Kneipe. Unsicher schaute ich mich um. Ich hatte keine Lust auf verwackelte Paparazzi-Schnappschüsse und blöde Boulevard-Kommentare unter dem Foto, obgleich ich bis dato noch so gut wie nie in einer Regenbogenpresse aufgetaucht war. Ausnahmen waren mein Besuch auf der Beerdigung und Gerichtstermine.

Es gab jedoch tatsächlich ein Bild, da hatte ich mir von dem Reporter mal einen Abzug schicken lassen. Es war der Tag, an dem Kakashi seinen Abschied vom aktiven Hokagedienst gegeben hatte. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie die Aufnahme von uns gemacht worden war. Doch das Bild verriet, dass wir gerade im Begriff waren, den Hokageturm zu verlassen und uns auf dem Innenhof noch mit jemanden verquatschten. Ich weiß nicht mehr, von wem Kakashi angesprochen worden war, zeigte das Foto doch nur ihn und mich, wie wir beide dicht nebeneinander standen. Ein äußerst schönes und natürliches Bild. Es hatte mir, als es mich aus der Zeitung anlächelte, sofort gefallen. Es gab ja auch sonst so gut wie keine Bilder von mir und Kakashi zusammen. Daher war der Zeitungsfund um so wertvoller.

Da lachte Ruri kurz auf, wie ich meine Bedenken über die Presse schilderte und fragte, ob ich Rokudaimes Worte im Hause meiner Mutter vergessen hätte: Wer sich in sein Leben und in das seiner Familie einmischen würde, bekäme Stress. Da lag es doch ganz klar auf der Hand, dass daher auch keine unnötigen Schlagzeilen in den Klatschblättern auftauchten. Das wäre wohl alles geregelt. Da musste ich verdutzt geschaut haben, denn soweit hatte ich noch gar nicht gedacht.

„Sag`mal, hast du keine Angst, dass du tot umfällst?“, wollte ich dann doch genauer wissen, als Ruri mein bestelltes Getränk der Bedienung aus der Hand nahm und als Erster probierte. So ein Getränk könnte ja nicht nur flüssigen Alkohol, sondern auch Gift enthalten.

„Is' halt mein Job...“, gab er gutgelaunt an, weil der Alkohol sein Übriges tat, und umschiffte meine Frage geschickt.

Mein Bauchgefühl offenbarte mir aber, dass es ihm gar nicht so herzlich egal wäre. Stattdessen tat er dann doch erstaunlich wissbegierig bei einem ganz anderen Punkt.

„Wie lange wird denn deine Büroarbeit im Hotel noch dauern?“

„Warum fragst du? Gefällt es dir nicht an meiner Seite?“, forderte ich ihn munter heraus.

„Doch, doch. Das ist echt mal eine Easy-going-Mission“, winkte er sofort ab, weil er nicht falsch verstanden werden wollte und erklärte: „Aber du siehst so unglücklich aus.“

„Ja, das stimmt wohl“, äußerte ich mich nun etwas geknickt. „Ich denke aber, wir werden in wenigen Tagen alles geregelt haben. Stell dir mal die Firma wie ein riesengroßes Tier vor. Wenn du den Kopf abschlägst oder das Herz herausreißt, dann kann das Tier nicht überleben. Die Firma bricht zusammen. Aber wenn man nur einen Arm oder Bein abtrennt, dann wäre sie zwar angeschlagen, könnte sich aber berappeln. Ich versuche nun, dass meine Mutter und Lana symbolisch einen Arm oder ein Bein abbekommen, der ihrem Pflichtteil entspricht. Wenn sie den nun in den Ruin treiben, dann ist es ihr Problem, aber der ganze Konzern wird nicht mitgerissen. Natürlich wird der ohne Arm oder Bein erstmal straucheln. Aber es geht weiter. Es ging mir ja nie darum, das alles haben zu wollen. Es ging mir nur ums Prinzip, weil ich so hinterrücks behandelt worden bin. Sollen sie alle mit ihrem Anteil glücklich werden. Wenn ich keine Lust mehr habe, kann ich alle meine Anteile zu einem späteren Zeitpunkt abstoßen und verkaufen.“

Ich zuckte die Schultern als Zeichen, dass ich mir darüber noch gar keine rechten Gedanken gemacht hatte, ob ich die Firma nun bis zum bitteren Ende behalten wollte. Ruri hingegen fand meine Erklärung super verständlich, denn er selber gestand, so rein gar keine Ahnung von wirtschaftlichen Dingen zu haben. Die Band hatte mittlerweile ihr letztes Set gespielt und stimmt nach einer kurzen Trinkpause und ein wenig Bandgeplauder nun die Zugabe an. Ruri und ich hingegen machten uns langsam auf den Rückweg.
 

Eine kräftiger Wind wehte uns um die Ohren. Zwar milde temperiert, aber mit voller Breitseite. Nur mit Mühe konnte man sich auf den Füßen halten, wenn man es der Vegetation gleich tat und sich ebenso auf eine Halb-Acht-Krümmung bog. Nie hätte ich gedacht, dass Palmen so biegsam sein könnten. Und bei diesem Sturm sollte nun ein Haus entstehen? Na, Tenzô! Häng dich rein im wahrsten Sinne des Wortes! Hoffentlich wurde unser neues Domizil durch die Witterungsbedingungen nicht windschief. Die Situation war bizarr. Ich fühlte mich wie im Jetlag. Vor wenigen Stunden noch in einer kalten Winternacht aus dem Erd-Reich abgereist, stand ich nun hier am Strand in wehende Frühlingsluft gehüllt, schmeckte den salzigen Sand zwischen den Zähnen und nahm wahr, wie allmählich die Sonne aufging und mit ihren Strahlen die dunklen Wolkenfetzen jagte. Ich sollte mich mal äußern, wie ich mir mein zukünftiges Traumhaus vorstellte, wurde mir gesagt. Doch wenn ich den Mund öffnen wollte, dann war er entweder sofort voller Sand oder Haarsträhnen. Oder der Wind riss einem die Worte von den Lippen. Hätte ich von dem schlagartigen Überfall meines Freundes gewusste, der urplötzlich und unerwartet mit viel Tatendrang im Hotelzimmer aufgekreuzt war, um mich zu diesem Hausbautrip abzuholen, so hätte ich ihn garantiert zuvor gebeten, aus meiner Wohnung in Konoha die Skizzen des Grundrisses mitzunehmen. Die lagen nun weiterhin vor Wind und Wetter gut behütet im Bücherregal. Da lagen sie super.

Während ich mich zu erinnern versuchte, wie der Grundriss auf dem Papier ausgesehen haben mochte, kämpfte ich mich durch Wind, Gebüsch und Hausruine. Genauso groß oder größer? Hier noch ein Zimmer mehr oder lieber doch dort als Anbau? Ebenerdig oder zweistöckig? Tenzô meinte, die Größe und die Lage wären ihm vollkommen egal. Aber er wollte eine recht genau Angabe bekommen, weil Änderungswünsche im Nachhinein Chakrafresser wären. Und er machte auch sofort klar, dass er hier bestimmt nicht die nächsten Stunden, Tag, Wochen verbringen und Wände verrücken würde, nur weil wir unschlüssig wären. Da ich wohl mit der Entscheidung noch etwas brauchen würde, hatte er sich eine Strandmuschel aus Holz wachsen lassen und ward dorthin mit den Worten „arschkalt“ und „sauwindig“ entschwunden. Meine Güte, welche Laus war dem den über die Leber gelaufen? Es war wohl nicht unbedingt sein Lieblingswetter. Anscheinend auch nicht das von meinem Freund. Der packte mich nun doch energisch am Arm und zog mich ebenfalls zur hölzernen Muschel. Dort hockten wir nun zu dritt nebeneinander und beobachteten recht still einen aufkommenden Regenschauer. Die ersten Tropfen fielen und hinterließen in dem feinen Sand erst dunkle Flecke und später winzige Kratereinschläge. Dann goss es Bindfädenund wir drei lugten aus der Muschel heraus wie Wartende aus einem Bushäuschen. Eine Gedanke kam in mir auf. Verwunderte Blicke erntete ich, als ich leise kicherte.

„Erinnert ihr euch noch an das erste Treffen auf dem Trainingsplatz? Damals hatte es auch so geregnet und wir saßen da in Tenzôs Unterstand und haben gewartet“, klärte ich mein Gekichere auf.

„Stimmt. Aber das ist doch schon ewig her“, gab Kakashi zu und kratzte sich verlegen am Kopf, weil er wohl unser erstes Treffen auf besagtem Platze zeitlich gar nicht mehr einordnen hundertprozentig konnte. Aber zweieinhalb Jahre sind nun wirklich schon ein größerer Zeitraum.

„Ja, und Sempai kam mal wieder eine halbe Ewigkeit zu spät“, ergänzte Tenzô.

Es wurden noch einige alte Geschichten in „Weißt du noch...“-Manier hervorgekramt, was ich auf diese lockere Art und Weise von den beiden gar nicht so kannte, aber wusste, dass sie so unter sich sprachen, wenn sie ihre melancholischen fünf Minuten hatten.

Das Prasseln auf unserer Holzmuschel wurde weniger. Kurz darauf war der Regen abgezogen. Hätte der Wind nicht ebenso verschwinden können? Dafür glänzte nun durch die Feuchtigkeit der Strandabschnitt wie mit einer frischen Klarlackschicht überzogen.

„Weißt du was, Tenzô? Wir lassen es so, wie es ist. Ich mag das Haus so, wie ich es gefunden hatte. Nur die verfaulten Hölzer tauschen. Das wäre super. OK?“, meinte ich nun.

„Sicher?“, wollte Tenzô noch einmal eine offizielle Bestätigung.

„Sicher!“, bekräftigte ich die geplante Aktion.

„Sempai?“

„Tu dir keinen Zwang an“, kam auch von Kakashi die Zustimmung.

Der Budenzauber konnte beginnen. Obgleich ich das Jutsu nun schon kannte und einige Male bewundern durfte, faszinierte es mich bei jedem Male aufs Neue. Tenzô ging in die Hocke, formte Fingerzeichen und hielt dann seine Hände ineinander verschränkt vor sich. Sein Gesichtsausdruck verriet höchste Konzentration. Ich kannte das Sprichwort, dass man dem Rasen beim Wachsen zusah, aber das hier war echt irre. Aus intakten Holzbalken entsprangen neue Äste, die sich zu kräftigen Balken formten und die alten Fauligen zerbarsten. Schon nach wenigen Minuten stand an Ort und Stelle ein funkelnagelneues Haus, das ebenso glänzte wie der gelackte Strand. Stumm verharrte ich und staunte über dieses Wunder.

„Haste prima gemacht“, lobte Kakashi unseren Hausbauer erhob sich und schlenderte voran.

Draußen wäre es ungemütlich und drinnen bestimmt trocken, meinte er beim Weggehen. Wo er recht hatte, hatte er recht.

„Und das hält nun wirklich bis in alle Ewigkeiten?“, wollte ich es nun ganz genau wissen.

Es wäre ein Albtraum, wenn das Haus einfach so mir nichts dir nichts verschwinden würde. Und zwar nur, weil Tenzô eventuell nicht an Ort und Stelle wäre. Da malte ich mir schon aus, wie es mitten in der Nacht „Plopp“ machen würde und mein Bett stünde unter freiem Sternenhimmel. Nein, so etwas wäre absolut ausgeschlossen. Doch Tenzô beruhigte mich, es würde so lange hier stehen, bis die Zeit es zerfressen und zernagt hätte. Ich solle mir doch Konoha als Beispielobjekt ansehen. Der Stadtkern stünde seit dem Wiederaufbau tadellos, was größtenteils alles sein Verdienst wäre. Ich entgegnete, dass ich im Falle einer Beschwerde ja genau wüsste, an wen ich mich zu wenden hätte. Voller Freude umarmte ich als Zeichen meiner Dankbarkeit eine überrumpelten Tenzô, der mit meinem Gefühlsausbruch in der ersten Sekunde nichts anfangen konnte. Dann schlossen wir zu Kakashi auf, der bereits in der Tür stand. Der erste Rundgang war überwältigend und ein großes Gefühl von stolz machte sich in mir breit. Sicher, es gab noch einige wenige Dinge zu erledigen, denn Elektro, Sanitär und Fenster gehörten definitiv nicht zu Tenzô Gewerken, doch das eilte nicht. Ich war glücklich und freute mich sehr auf diesen neuen Abschnitt.

Doch erst mussten alte Abschnitte abgeschlossen werden. Mir standen noch zwei Gerichtstermine bevor, bei denen ich persönlich aufzutreten hätte. Die Kinder standen kurz vor dem Akademieabschluss. Asa fand den Umzugsplan super. Yuuki nicht. Der wollte in Konoha bleiben und seine Shinobi-Ausbildung fortsetzen. Mal sehen, was beide für eine Meinung hätten, wenn wir umgezogen wären. Und bestimmt ließ sich auch für Yuukis Zukunftspläne eine Lösung finden. Und Kakashi quälte sich mit dem Luxusproblem, dass er Gai irgendwann vor Ewigkeiten mal versprochen hatte, sie würden zusammen Urlaub machen. Nun erinnerte Gai Kakashi ständig daran und Kakashi wiederum fielen so allmählich keine triftigen Ausreden mehr ein, warum die Reise immer wieder verschoben wurde. Am liebsten würde Kakashi sich allein auf den Weg machen. Von Hier nach da, von A bis Z. Vielleicht, so hatte er gesagt, könnte er dann auch mal Kapitel abschließen und nachts besser schlafen, wenn er nur mal die Zeit hätte, Dinge zu verarbeiten.

Vielleicht, vielleicht...

Doch nun hatten wir es eilig. Yuuki hatte heute Geburtstag und wir wollten pünktlich wieder in Konoha sein, wenn er aus der Schule käme.

Alles andere würde sich in den nächsten Wochen klären.

55 - Der Tag, an dem wir gingen

Und plötzlich verflog die Zeit wie im Rausch. Eben noch hatte ich den Schneeflocken beim Fallen zugeschaut, schon wandelten sie sich zu den zarten Blättern der Kirschblüten. Viel zu früh in diesem Jahr. Alles verging so rasend schnell, dass ich kaum noch einzelne Tage beschreiben könnte. Es gab nur noch Szenen, die in meinem Kopf geblieben waren. Da waren viele facettenreiche Momente wie beispielsweise die Feier zur Abschlussprüfung an der Akademie.

Von einer Feier konnte man eigentlich gar nicht sprechen, denn die Aktion lief sehr unspektakulär ab. Es war heiß an diesem besonderen Tag. Brüllend heiß. So weit ich mich zurückerinnern konnte, hatte ich solche hochsommerlichen Temperaturen in Konoha noch nie erlebt. Selbst mein Freund musste zugeben, dass solch Hitzewellen Ende März äußerst selten in diesen Gefilden waren. Aber es wäre immerhin besser als Dauerregen, versuchte er das Saunaklima in der Aula der Akademie schön zu reden und warf mir sein unbekümmertes Honigkuchenpferd-Lächeln zu. Ninjas kannten nun mal keinen Schmerz, stellte ich im Stillen nüchtern fest, schüttelte aber dennoch den Kopf und rollte mit den Augen. Schmerz unterdrücken fand ich im großen und ganzen ziemlich bescheuert, da ich der Meinung war, dass es wenig förderlich für die eigene Seele wäre, immer alle Kröten schlucken zu müssen. Und wenn ich mir dann auch noch meinen Freund passend dazu betrachtete oder seinen nicht minder gestörten Freundeskreis, so gaben mir die Umstände recht. Kakashi aber behauptete immer oberflächlich, das wäre gar nicht so. Ich hätte genauso so viele Macken, obwohl ich niemals eine Kunoichi gewesen war. Es könnte also gar nicht am Beruf liegen.

Die Temperatur sägte wirklich hart an der Belastungsgrenze. Viel zu viele Menschen warteten in dem mittelgroßen Saal gespannt in Reih und Glied auf die Übergabe der Genin-Zertifikate an ihre Zöglinge. Währenddessen hatte man als geneigtes Publikum nur die Wahl zwischen Hitzeschlag, Dehydrieren oder Erstickungstod. Die Luft stand wie eine Bollwerk und hätte mit einem Katana scheibchenweise abgeschnitten werden können. Was war ich froh, einen Papierfächer und eine Trinkflasche dabeizuhaben. Man hätte eigentlich die Festlichkeiten voller Stolz auf den eigenen Nachwuchs begehen müssen, doch aktuell war man nur mit Schwitzen und Japsen beschäftigt.

Und endlich ging es los. Naruto und Kakashi betraten gemeinsam die Bühne. Das sorgte kurz für ein Raunen im Publikum, obgleich alle Anwesenden im Vorfeld informiert worden waren. Trotzdem war es ein absolutes Novum, dass zwei Kage gleichzeitig einen Auftritt wahrnahmen, zumal halt immer nur ein einziger der Amtierende war. Ihr erinnert euch? - Kakashi hatte Yuuki hoch und heilig schwören und versprechen müssen, dass er ihm persönlich und leibhaftig das Stirnband übergeben würde. Nun denn. So stand die beiden ranghöchsten Shinobi nun da oben am Rednerpult und hielten sich mit der Ansprache recht kurz, wofür man ihnen angesichts des glühenden Klimas dankbar sein musste.

„Ein Sprichwort sagt, dass man begonnene Dinge auch zu beenden hätte. Und da dieser Jahrgang vor zwei Jahren noch von mir eingeschult worden war, werde ich ihn nun auch ausschulen“, sprach Kakashi feierlich an die Menge und fügte witzelnd hinzu: „Der Siebte wird ordentlich darüber wachen, dass ich auch bloß keinen Fehler mache.“

Ein kurzes Lachen ging durch die Menge. Naruto grinste etwas verlegen, würde er hier und heute garantiert nicht seine Stimme gegen seinen ehemaligen Sensei erheben. Das tat er auch generell kaum, sondern war sogar froh, wenn Kakashi hin und wieder mit Rat und Tat zur Seite stand. Shikamaru war sicherlich die beste rechte Hand, die man sich jemals wünschen könnte. Allerdings war er in Narutos Alter und manche Dinge lagen viel länger zurück, als die beiden auf der Erde bereits gelebt hatten. Da bedurfte es einfach der Erfahrung eines Kakashis, der sich zurückerinnern konnte und in viel mehr Fäden verknüpft war, als man es hätte erahnen können. Insgesamt war der gerade ausgesprochene Grund, weshalb der Sechste noch einmal für eine knappe Stunde aus dem Ruhestand zurückgekehrt war, äußerst plausibel und geschickt gewählt, verriet er doch den wahren Hintergrund nicht, nämlich Yuukis Wunsch zu erfüllen. Der stand vor der Bühne mit den restlichen Klassenkameraden und kaute nervös auf seiner Unterlippe. Eine Macke, die er von mir geerbt hatte. Eigentlich hätte er stolz und fröhlich sein müssen. Dafür war er jedoch viel zu aufgeregt. Und als am Frühstückstisch mein Freund noch grinsend zum besten geben musste, dass der kleine „Schisser“ trotz seines „Ich-falle-durch-die-Prüfung“-Orakels zu den fünf Jahrgangsbesten gehörte, war mein Kind doch recht still geworden. Soviel Ruhm und Ehre vertrug er gar nicht. Yuuki hätte viel mehr von Asas Gelassenheit gebraucht. Die wiederum war das krasse Gegenteil und hätte etwas mehr von Yuukis Vernunft und Benehmen vertragen. Sie drehte gelangweilt ihren geflochtenen Zopf um den Finger, zerplatzte eine Kaugummiblase nach der anderen und schnappte sich ihr Stirnband auf der Bühne als Jahrgangsschlechteste. Oh Mann... „Lehrers Kind und Pastors Vieh gedeihen selten oder nie!“ konnte man dazu nur sagen. Ich beobachtete fächerwedelnd, wie jedes Kind sein Stirnband und seine Zertifikat erhielt und dass mein Sohn die ganze Zeit seines anstarrte und kurz vor dem Heulen war. Du meine Güte, was war denn nun kaputt? Ursprünglich dienten die Stirnbänder mit ihrem Metallbeschlag nur als Stirnschutz vor Angriffen durch Schläge oder Waffen. Als sie später mit dem Symbol des jeweiligen Shinobi-Reiches versehen worden waren, wurden sie zeitgleich auch ein Markenzeichen und wiesen dem Träger einen gewissen gesellschaftlichen Stand aus. So ein Konoha-Stirnband war schon eine große Hausnummer. Früher band man sie sich an einem langen Baumwollband um den Kopf oder trug es fast schon wie ein Modeaccessoire irgendwo am Körper. Die heutigen Bänder waren aus rundgewebten Stretchstoff. Das lästige Knoten war Vergangenheit. Und da bemerkte ich, dass Yuuki kein so modernes Stirnband in den Händen hielt, sondern noch so ein, ich möchte fast sagen, antikes Band. Es war dunkelblau und hatte wohl schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Das sah mein geübtes Stoffauge immer noch, obgleich ich schon lange aus dem Stoffkontor raus war. Es schien mir auch viel breiter zu sein, als die anderen. Fast schon wie ein gerolltes Tuch. War das vielleicht der Grund für Yuukis Traurigkeit? Er hatte so einen alten Fetzen überreicht bekommen und die anderen Mitschüler ein nagelneues Modell?

Aber nein, Yuuki war ganz und gar nicht traurig. Als wir nach der Zeugnisübergabe das Akademiegelände verließen und ein kleines Restaurant ansteuerten, kullerten stumme Freudentränen über Yuukis Wange. Er hatte sich nicht nur seinen Traum vom Shinobi-Sein erfüllt, sondern obendrein noch den perfekten Talisman erhalten: Voller Stolz knotete er sein neues Band um, welches einst Kakashi durch unzählige Missionen und Schlachten begleitet hatte.
 

Ich kann mich noch so gut an diese ungewöhnlich lange Welle der Gluthitze erinnern, weil es auch die Zeit war, in welcher wir buchstäblich unsere Koffer packten und die Zelte nun endgültig in Konohagakure abbrachen. Kakashis Wohnung wollten wir als Ausgangspunkt für zukünftige Konoha-Besuche behalten, denn sie gehörte ihm ja auch. Meine hingegen wurde aufgekündigt. Traurig war ich darüber nicht gerade. Und so wanderten alle Dinge, die Konoha bald den Rücken kehren würden, von Kakashis Wohnung in die meinige, dass man bei mir in den heimischen vier Wänden keinen Fußbreit mehr Platz hatte. Drüben würden nur noch die Küche mit etwas Geschirr, das Bett und der Einbauschrank zurückbleiben. Mal abgesehen von der umfangreichen Büchersammlung meines Freundes, (der hatte mehr als man anzunehmen gedacht,) war dessen persönliches Hab und Gut recht überschaubar. Den Großteil machten Asas Sachen aus. Kleidung, Spielzeug, Schulsachen. So manches schlummerte immer noch in den verpackten Kartons, seit ihre Sachen aus der Wohnung ihrer Mutter hinüber ins Feuer-Reich gewandert waren. Es wäre eine günstige Gelegenheit, Asas Kartons noch vor dem nächsten Umzug einmal kräftig auszumisten, aber mein Freund war dagegen. Seine Tochter sollte selber entscheiden, wann sie hinschauen möchte, weil doch auch sicherlich Erinnerungsstücke an ihre Mutter darunter wären. Damit mochte Kakashi recht haben, obgleich mir die Erwähnung von Asas Mutter gleich wieder unbegründet ein Unbehagen in der Magengegend bereitete. Also blieben die Kisten wie sie waren und zogen ungeöffnet von einem Ort zum nächsten. Dieses Mal jedoch brauchte ich nicht den Shinobi-Notfall-Umzugsdienst in Anspruch nehmen, sondern buchte auf meinen Namen ein Umzugsunternehmen. Meine Freund fand es nämlich besser, wenn sich seine Spuren außerhalb des Dorfes nicht so leicht wiederfinden würden. Daher rührte auch die Idee, meine Wohnung als Sammelpunkt für unseren Hausrat zu nehmen und nicht seine. Als der Lastwagen am Vorabend den großen Eisenbahncontainer vor meinem Wohnklotz abstellte, erschrak ich doch sehr über das Volumen, das mir da aus geöffneten Metalltüren dunkel entgegen gähnt, und hielt es für absolut überdimensioniert. Ich ließ mich jedoch am nächsten Tage schnell eines besseren belehren. Eine Kiste nach der anderen verstauten die beiden Möbelpacker in dem eisernen Schlund, banden Möbelteile an den Innenwänden fest und verhüllten sie unter Filzdecken, um auch ja keine Kratzer oder gar einen Bruch beim Inventar zu riskieren. Die Sonne brannte mörderisch und die Packer ächzten leise, wenn sie wieder ein weiteres Teil die ganzen Stufen heruntergetragen hatten. Ab und an nahmen sie ihre Trinkflaschen zur Hand oder wischten sich mit einem Baumwollhandtuch den Schweiß von der Haut. Sie waren zu zweit und ich beobachtete sie eine Weile, wie sie kurz verwundert diskutierten. So viele Möbel könnten doch gar nicht praktikabel in meine kleine Wohnung gepasst haben, meinte der etwas Ältere. Er hatte die größere Not mit der Hitze, denn er war so hoch wie breit gewachsen und schien keine Chakrareserven zu haben. Der größere Jüngere war hingegen stattlich durchtrainiert, und schleppte meinen Hausstand mit Chakrahilfe spielend leicht durch die Gegend. Es wunderte mich schon, weshalb er keinen Shinobi-Dienst verrichtete, doch Kakashis Worte kamen mir in Erinnerung. Man bräuchte nicht mehr soviel Shinobis wie früher und es fühlten sich auch nicht mehr so viele zu dieser Ausübung berufen. Im Grunde war es in unsere Familie ähnlich. Yuuki würde sich unter der Leitung eines erfahrenen Sensei in ein Dreier-Team einordnen, um seine Ausbildung fortzusetzen, während Asa alles hinschmiss und lieber auf eine gewöhnliche Schule wechseln wollte. Dafür zog sie sogar mit uns ins Strandhaus. Ich hatte mich erkundigt, dass es zwar in dem Dorf, wo wir zukünftig wohnen würden, keine Schule gab, doch schon zwei Bahnstationen weiter gab es im nächstgrößeren Ort eine Schule mit gutem Ruf und kleinen Klassen. Asa meinte, sie bräuchte den Zug nicht. Mit Chakra wäre sie viel schneller vor Ort. Mir sollte es recht sein, wenn sie sich nur Wohlfühlen würde. Freunde hatte sie hier in Konoha nur spärlich finden können. Ich hoffte, es gefiel ihr in Kawaguchi-mura besser und sie würde schnell Anschluss finden.

Noch eine ganze Weile beobachtete ich die Möbelpacker. Der Jüngere war mittlerweile recht gut anzusehen, hatte er sich aufgrund der Temperaturen seines verschwitzenden T-Shirts entledigt und rannte mit freiem Oberkörper herum. Nur eine Viertelstunde später stand ich allein in meiner Wohnung. Nur noch der Besen zum Durchfegen leistete mir Gesellschaft, als es am Türrahmen klopfte. Mister Sexy-Möbelpacker brauchte noch eine Unterschrift, dass sie alle Dinge transporttauglich verpackt hätten. Wir wechselten noch einige belanglose Worte und scherzten banal, dann war ich wirklich allein. Noch am Abend würde ein LKW den Container zur Bahn bringen. Wie wir den dann wiederum an unserem neuen Wohnort vom Bahnhof bis zur Haustür bekommen sollten, soweit hatten wir uns noch keine Gedanken gemacht. Vermutlich würde ich dort vor Ort ganz einfach einen Kleintransporter auftun müssen. Doch so weit war es noch nicht. Erst einmal eilte ich mich mit dem Fegen der nun leeren Räume. So könnte ich noch rechtzeitig den Schlüssel beim Hausverwalter hinterlegen und das Thema Wohnklotz wäre Geschichte. Auf den Besenstiel gestützt, blickte ich verträumt durch das große Fenster über Konohagakure. Es war schon komisch, dass ich diese liebgewonnene Stadt bald nicht mehr sooft sehen würde. Solch ein Gefühl hatte ich damals nicht gehegt, als ich das Erd-Reich verließ. Ich war so in Träumereien versunken, dass ich gar nicht mitbekam, wie das Fenster von außen aufgeschoben wurde.

„Muss ich mir Gedanken machen?“

Kakashi schlüpfte herein, verriegelte hinter sich leise das Fenster und blickte mich prüfend an.

„Worüber? Dass ich jetzt auf die Schnelle noch pathetisch werde?“

„Das wohl weniger. Wer war'n das?“

Am liebsten hätte ich laut losgeprustet, weil Kakashi sein Eifersuchtsgespenst sogar bei solch Lappalien wie ein einfaches Gespräch nicht unterdrücken konnte und ich es ein wenig niedlich fand. Aber ein Lachen wäre nach hinten losgegangen, weshalb ich es unterdrückte. Die Frage war sowieso rein rhetorisch, denn niemand im Dorfe war besser informiert als Kakashi selbst. Trotzdem musste ich dem mit einer frechen Antwort entgegenhalten.

„Och, der junge Hüpfer war so frei, unseren Hausrat in den Container zu schleppen. Nett, nicht war? Und bei dem konnte man wenigstens was gucken, was bei dir ja nie so der Fall ist“, konterte ich mit zuckersüßer Zunge und verpasste ihm noch den Seitenhieb, dass man von ihm durch die Ninjakluft nur Haut an den Fingerspitzen und um die Augenpartie sah. Jene Augen hatten just in diesem Moment schwarze Pupillen bekommen und starrten ganz bedrohlich böse.

„Oh menno, sei nicht eingeschnappt!“, tadelte ich ihn zärtlich, wie er da wie ein bockiges Kind mit verschränkten Armen stand.

Er konnte nicht lange sauer sein. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erhascht. Zumindest drehte er den Kopf zum Fenster, blickte dann aber ohne ein bestimmtes Ziel zu fokussieren in die Ferne. Wenn hier einer von uns beiden einen Grund zum Pathetisch werden hatte, so wohl eher Kakashi, der zeit seines Leben nie woanders als hier in Konoha gewohnt hatte. Zumindest hätte man einen Hang zum Bereuen seiner Entscheidung so verstehen können, wenn man ihn von der Seite her beobachtete. Hände in den Hosentasche, müde, fast traurige Augen und recht lax mit der Körperhaltung stand er still und stumm einfach nur da und schaute hinaus. Ein ganzer Bildroman an Erinnerungen musste sich gerade in seinem Kopf umblättern, obwohl er mir mehrmals glaubhaft versichert hatte, der Wohnortwechsel käme genau zum rechten Zeitpunkt, um alte Kapitel abzuschließen und Abstand zu gewinnen. Es würde ihm rein gar nichts ausmachen. Tat es aber eben gerade wohl doch. Darüber hinaus bewahrheitete sich meine Vermutung, dass er später öfters zwischen Haus und Wohnung pendeln würde, als man es angenommen hatte. Man konnte alte Zöpfe doch nicht so einfach abschneiden.

Fünf, vielleicht sechs Besenstriche später fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Dieses Kapitel hier war definitiv beendet.
 

Alles passierte, wie es passieren musste. Der sorgfältigste Plan konnte noch so ausgefeilt sein, er ging in unserem Falle völlig in die Hose. Der Plan war eigentlich ganz einfach gewesen: Wir hatten zwar verlauten lassen, dass wir umziehen würden, aber keinen exakten Tag genannt. Wir würden uns einfach klammheimlich aus dem Staube machen. Und das hatte auch seine wohldurchdachten Gründe. Doch daraus wurde nichts, wie es im Folgenden noch zu berichten sein wird.

Nachdem wir Vier in Kakashis Wohnung alles zusammengepackt hatten, was man für die ersten Tage im neuen Haus brauchen würde, waren wir noch durch die Stadt marschiert und hatten bei allen Menschen Lebewohl gesagt, die uns über den Weg liefen und uns zugleich wichtig waren.

„Ach, wie schade!“, hörten wir da über den Gartenzaun hinweg. „Wann geht es denn los?“

„Sobald wir alles gepackt haben“, war die lakonische Antwort.

Bei dem einen gab es warme Worte und einen dicken Kloß im Hals, bei anderen blieb mal hier und da eine Träne im Knopfloch hängen. Im großen und ganzen bummelten wir uns gut durch die Straßen voran, aßen in einer Garküche zu Abend und kauften noch einen Haufen Krempel, dass wir schlimmer bepackt waren als die Kamele einer Karawane. So suchten wir Rast an einem ganz besonderen Ort, nämlich oberhalb der in Stein gemeißelten Hokage-Köpfe. Es stimmte schon, wenn man sagte, von hier oben wäre die Aussicht über das Dorf am besten. Die rote Abendsonne verpasste dem Ort einen rötlichen Anstrich, fast schon kitschig. Die Kinder plapperten allerlei Blödsinn und zeigten sich gegenseitig Dinge, die sie von hier oben entdeckt hatten.

„Schau mal! Da drüben ist das Internat“, wies Asa Yuuki auf eine längliches, mehrgeschossiges Gebäude hin und dieser nickte bestätigend.

Mein Sohn würde dort wohnen. Das war mir tausend Mal lieber, als ihn allein in Kakashis Wohnung zu lassen. Mich trieb eine zu große Angst an, dass er nicht zurecht käme. Er könnte krank werden und niemand wäre sofort bei ihm. Oder er könnte den Topf auf dem Herd vergessen und die Bude abbrennen. Oder die Waschmaschine würde auslaufen. Oder, oder oder. Himmel, er war doch auch erst elf Jahre alt! Nein, nein. Wenn ich mein Kind schon hergeben und zurücklassen musste, so war es doch im Internat gut aufgehoben. Und da Yuuki schon nach einigen Tagen wieder nach Konoha zurückfahren würde, so störte ihn weniger die räumliche Veränderung, als denn die personelle. Seine Familie wäre nicht mehr greifbar vor Ort. Das bedrückte ihn, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Asa in ihrer unbekümmerten Art saugte kräftig an dem Strohhalm ihres Milchshakes. Erdnussbutter-Honig-Geschmack. Bäh! Auf so was musste man erstmal kommen. Sie konnte sich das Zeug literweise einverleiben. Dabei überlegte sie schon, wie sie ihr Zimmer einrichten wollte. Endlich ein eigenes Zimmer, welches zur Abwechselung mal größer als ein Schuhkarton war. Sie freute sich unbändig. Kakashi hatte sich ein wenig von und abgekapselt, kauerte mit angezogenen Knien auf dem Boden und hatte seinen Kinn auf die Arme abgelegt. Kakashis sensible Seite, die kaum jemand jemals zu Gesicht bekommen hatte. Nur die Häupter seiner allerliebsten Lieblinge kannten diese Seite, die er uns nun ohne Gegenwehr präsentierte. Es nahm ihn im Herzen also doch mit. Meine Kodderschnauze war in solchen Situationen viel zu blöde, um die passenden Worte zu finden. Und sie war noch blöder, dass ich sie nicht einfach abschließen konnte. Es mussten Fettnapfstolperer herauspurzeln.

„Es ist doch nicht so einfach für dich, wie du behauptest hattest“, stellte ich fest und bekam Panik, er würde es sich nun anders überlegen. „Sieh mal, es ist dein Dorf und bleibt dein Dorf... Wir wohnen ja fast schon quasi um die Ecke... Nur ein bisschen... maritimer als hier...“

Ich konnte mich brillant um Kopf und Kragen reden. Aber zu meinem Erstaunen lächelte er und deutete auf einen Platz neben sich.

„Früher standen hier oben noch keine Häuser. Auch die Wege und kleinen Parks gab es noch nicht. Da war ich oft hier oben ganz mit mir allein, wenn ich nachdenken musste, weil wieder nichts so lief, wie ich es wollte. Oder wenn ich einfach nur traurig und verzweifelt war.“

Ein trauriges Geständnis, welches aber ein Happy End hatte:

„Diesmal hab ich euch mit dabei. Alles ist gut.“

„Sicher?“, bohrte ich mit aufkeimendem Zweifel nach.

„Ganz sicher. Ich freue mich wirklich sehr darauf. Du siehst ja selber, dass ich hier vor Ort kaum Ruhe bekomme, weil die Leute einen immer noch stets Ansprechen, wenn sie einen auf offener Straße sehen. Dann grüßen sie nicht nur, sondern laden auch Probleme ab oder fragen um Rat. Ich meine, dass ist wirklich nett und zeigt ja auch, dass ich meinen Job gut gemacht hatte. Aber irgendwie habe ich eben, wie soll ich sagen, alles über. Vielleicht geht es in ein paar Wochen oder Monaten wieder besser.“

Ich nickte stumm als Zeichen meiner Zustimmung, denn ich konnte sehr gut nachvollziehen, wie er sich fühlte und was er mir sagen wollte.

Die Sonne versank langsam hinter den fernen Bergen, doch die Nächte blieben tropisch. Wir hatten beschlossen, den letzten Zug zu nehmen, der nach Keishi fuhr. Es war ein Bummelzug, der brav an jeder Station auf Mitreisende warten würde. Daher würden wir doppelt so lange bis zur Hauptstadt fahren. Es wäre der Vorteil, dass wir in Keishi auf den Anschlusszug am nächsten Morgen kaum Wartezeit hätten. Eine Mütze Schlaf könnte man schon wohl schon im Zug ergattern. Je näher wir der Bahnstation kamen, desto ruhiger wurde es in den abendlichen Straßen, denn der Bahnhof lag nicht zentral, sondern abseits. Es verirrten sich nur noch Menschen hierher, die entweder Reisende waren, jemanden vom Bahnsteig abzuholen gedachten oder lediglich in einer die vielen winzigen Hauskneipen gingen, die sich hier wie Perlen auf der Schnur aneinanderreihten. Wir hatten gerade die untersten Stufen der Bahnhofstreppe erreicht, als wir hinter uns auf der anderen Straßenseite eine Tür schlagen hörten. Laute Quietschgeräusche und lallende Schimpftiraden über Mitmenschen ohne den Funken eines jugendlichen Frühlings im Blute komplementierten das Bild auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal erinnern: Unser Plan war der stille Abgang.

„Kakashi?!“, fauchte ich wie eine kratzbürstige Katze auf und schoss Giftpfeile aus meinen Augen.

„Ich habe nicht gewusst, dass er hier abhängt“, erwiderte ein sichtlich erstaunter Kakashi zurück, der unerwartet perplex auf das grüne Häufchen Elend starrte, welches just in dieser Sekunde besoffen aus der Kneipe geflogen war und nun mit dem Rollstuhl kämpfte. Und um seine Unwissenheit zu unterstreichen, ergänzte mein Freund noch:

„Wirklich nicht!“

„Ich dachte, du hättest es ihm schon vor ein paar Tagen klipp und klar erklärt...“, tuschelte ich, weil ich nicht weiter Aufsehen erregen wollte.

Dafür war es bereits zu spät.

Eben noch recht benebelt in der Birne, hatte Gai es trotz alledem tatsächlich geschafft, seinen Rollstuhl mit sich selbst darin wieder in die korrekte Senkrechte zu definieren. Plötzlich war jedoch sein Geist glasklar, wie ausgerechnet seine Sichtachse nun die unsere kreuzte. Kakashi samt Familie und Koffer? Das konnte doch nur eines bedeuten.

„KAKASHI?!“, brüllte es entsetzt herüber und nur den Bruchteil einer Sekunde war der auch schon exakt vor uns.

Und zwar so exakt, dass er uns sogar noch mit den Rädern seines Rollstuhls über die Zehen fuhr. Das tat nun wirklich nicht Not.

„Lässt du mich jetzt alleine?“, datterte Gai verzweifelt los.

Voll wie zehn Haubitze starrte uns Gai an und erinnerte mich an Yuukis Reaktion, wie ich ihn damals als Dreijährigen nach der Eingewöhnungsphase zum allerersten Mal allein im Kindergarten zurückgelassen hatten. Die Augen meines Sohnes hatten sich dann mit Tränen gefüllt, weil er die zeitweilige Trennung überhaupt nicht hatte vertragen können. Danach hatte er hemmungslos geplärrt. Die Erzieherin war äußerst umsorgt und bemüht gewesen, aber Yuuki hatte das überhaupt nicht interessiert. Und genauso so sah nun auch Gais Gesicht aus. Mensch, Gai! Mach uns jetzt bloß keine Szene.

„Wenn alle Sachen halbwegs ausgepackt sind, kannst du uns doch mal besuchen kommen...“ unternahm Kakashi einen abwiegelnden Versuch.

Gai entschloss sich jedoch lieber dazu, die prophezeite Szene durchzuziehen und heulte lauthals wie ein Schlosshund. Besorgte Menschen schaute aus ihren Fenstern nach dem vermeintlichen Unglück, entdeckten aber nur Gai und zogen sich seufzend und beruhigt wieder zurück, dass nichts Ernstes geschehen war.

„Ich dachte immer, wir wären Freunde...!“, heulte es nun vorwurfsvoll.

„Wir sind immer noch Freunde.“

Aber Gais Ohren waren wohl vernäht. Kakashi wies uns mit einem Kopfnicken gen Bahnhofstreppe. Er käme nach. Wir sollten nicht warten. Ich konnte ahnen, was sich mein Freund nun anhören müsste. Gai würde nun in Selbstmitleid versinken. Das kam immer mal wieder vor, wenn er betrunken war. Das konnte man noch nachvollziehen. Doch bei einer ganz bestimmten These würde er auf Granit beißen, nämlich diejenige, dass alles meine Schuld wäre. Nun hätte ich ihm Kakashi doch weggenommen. Nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich. Und auf diese Diskussion ließ sich Kakashi überhaupt nicht ein. Darauf konnte ich mich verlassen. Niemand konnte Kakashi „wegnehmen“. Der „gehörte“ auch niemanden. Der machte prinzipielle nur das, was er wollte und ich konnte voller Dankbarkeit sein, dass er in seinem bewegten Leben auf dem ungeplanten Wege von Station zu Station ausgerechnet bei mir Halt gemacht hatte. Mittlerweile wusste ich das sehr zu schätzen, wo doch schon so viele versucht hatten, auf welcher Ebene auch immer, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Es mochte wohl auch der Grund sein, weshalb ich meine dominante Haltung gelegentlich zurückfuhr und für ihn aufgab. Sonst wären wir niemals auf einen grünen Zweig gekommen.

Zusammen mit den Kindern schleppten wir die Koffer und unsere unzähligen Einkaufstüten die Treppen hinauf. Bei der Menge hoffte ich, keinen Gepäckzuschlag zahlen zu müssen. Vielleicht hatten wir auch Glück und zu der späten Stunde hätten wir den Bummelzug ganz für uns.

„Kommt Papa nun nicht mit?“, fragte Asa ängstlich.

„Na klar tut er das. Der hüpft dem Zug genauso hinterher, wie ihr das auch immer auf dem Weg zur Schule macht. Dabei sollt ihr doch nicht immer auf dem Zugdach Schwarz fahren“, sprach ich salopp, konnte aber einen ungemütlichen Unterton nicht ganz vermeiden.

Der bezog sich aber auf das ungeplante auftauchen Gais und weniger auf die Unart der Kinder, häufig auf dem Zugdach zu hocken, weil sie zu gehfaul waren.

Tatsächlich teilten wir uns das Großraumabteil nur mit mit zwei Damen, die schon nach wenigen Stationen ausstiegen, so dass es nicht weiter störte, wie Asa eine halbe Stunde später lang ausgestreckt auf dem gepolsterten Doppelsitz schlief. Yuuki daddelte an seinem Handheld herum und war in eine ferne Spielewelt abgetaucht.

Das gleichmäßig Rattern des Nachtzuges wog mich bald ebenso in den Schlaf. Es ging so schnell, dass ich noch nicht einmal merkte, wie Kakashi einen Arm um mich legte und zu sich zog, damit ich nicht ständig mit dem Kopf nach vorne nickte. Natürlich war er dem Zug hinterher gehüpft. Versprochen war versprochen.
 

Endlich am Ziel angekommen, fühlte ich mich wie gerädert, doch die Vorfreude schubste ausreichend Adrenalin durch meinen Körper. Damit war ich wohl die einzige, die frisch fröhlich die staubige Straße hinunterstürmte. Der Rest folgte wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Und als ich dann durch die Haustür trat, hatte ich schon fast das Gefühl, ich würde wie durch ein Portal in eine andere Welt wechseln. Wir waren im Morgengrauen angekommen. Ich mochte schon sagen, wir hatten dann ganz ungeniert den halben Tag verschlafen. Das Haus war ja nicht komplett leer. Jedes Mal, wenn wir zwischendurch hier waren, hatten wir schon Nützliches hinterlassen. Futon-Matten, Kochgeschirr, Essensvorräte, Waschzeug. Hätte es nicht gen Nachmittag an der Tür lange und schrill geläutet, wir wären wohl noch sehr lange dem Urlaubsmodus, der so schnell nicht enden würde, verfallen. Da wäre ein Container am Bahnhof abgestellt worden. Ob das wohl unserer wäre, wurde höflichst gefragt und sogleich sehr misstrauisch an mir vorbei ins Innere des Hauses gespäht. Man wollte im Dorfe unbedingt wissen, welche Gestalten sich nun in der Nachbarschaft tummelten. Ich unterdrückte ein Gähnen und nickte bejahend. Mit meiner verwegenen Wischmoppfrisur so eben aus dem Bett gefallen musste ich sehr gruselig ausgesehen haben. Nichtsdestotrotz fand ich schnell zu Worten, dankte höflichst und versprach, dass wir uns am späten Nachmittag der Sache annehmen würde.

„Wie lange kann der Container dort stehen bleiben? Hast du etwas mit der Umzugsfirma vereinbart?“, wollte Kakashi wissen, als wir uns nach einem schnellen Mittagsessen zur Teezeit auf den Weg machten.

„Wenn man es bezahlt, bestimmt sehr lange“, antwortete ich und beschloss, umgehend dort in der Firma anzurufen.

Wie erwartet konnten wir den Container gegen Gebühr noch bis Ende des Monats behalten. Das war eine gute Idee, denn so konnte man nach und nach alles mitnehmen, was man zuerst brauchte und gleich aufbauen. Weder Kakashi, noch ich gehörten zu der Sorte Mensch, die stets die heimischen vier Wände umdekorieren mussten. Einmal aufgebaut, stünde es dort für die nächsten Jahre. Demnach musste der Platz im neuen Haus gut gewählt werden. Also suchten wir als erstes die Teile der Betten und Kleiderschränke zusammen. Innenarchitekten und Raumausstatter würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, denn unser Haus war ein einziger Stilbruch. Dann folgten die Klamotten und so weiter und so fort. Zur Dämmerung war zu meiner Verwunderung schon gut die Hälfte des Containers ausgeräumt. Es lief unglaublich glatt. Erschöpft saßen wir dann auf dem Engawa, genossen das Rauschen des Meeres und den salzigen Luftzug.

Am nächsten Tag betrachteten wir den restlichen verpackten Hausrat nüchternen. Kakashi hatte vorgeschlagen, ganz viele der Umzugskartons in dem Verschlag neben dem Haus zwischenzulagern. Das Wetter würde die nächsten Tage so bleiben, so dass in dem alten Verschlag mit dem zerborstenen Dach unsere Sachen keinen Schaden nehmen würde, und dann könnte man nach und nach sich von allem Trennen, was nur noch Ballast wäre. Zumindest aber wäre der Container leer und würde nicht länger für Dorfklatsch sorgen. Es war nicht so, dass uns hier niemand kannte. Immerhin hatte man mich schon häufiger zu Gesicht bekommen, doch nun waren wir als Neulinge offiziell angekommen und wurden neugierig beäugt. Auf jeden Fall war der Wechsel vom Container zum Verschlag beschlossenen Sache. Man könnte es beinahe schon Ritual nennen, wenn in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten mal eine der Kisten hervorgekramt und geöffnet wurde. Ganz, wie es uns beliebte. Da tauchten auch Erinnerungsstücke, alte Fotos und viele mehr auf, von dem man dachte, es wäre längst verschollen. Besonders Kakashi war erstaunt, wie viel sich noch aus seinem Leben wiederfand, zumal Konoha in seinem Leben dreimal zerstört worden war. Das mochte nicht zuletzt daran liegen, dass er immer alles in fein säuberlich nach und nach ins Regal gestapelt hatte und dann nie wieder ansah. Man wusste schon gar nicht mehr, was man alles mal so gesammelt hatte. Man barg es nur aus den Trümmern, um es in den nächsten Räumlichkeiten wieder genauso und unberührt ins Regal zu stellen. Dann konnten wir bis in die Nacht auf dem Engawa oder bei schlechtem Wetter im Wohnzimmer sitzen, ein Teil nach dem anderen aus der Kiste bergen und lange Geschichten dazu erzählen. Ich glaube, dass waren Moment, wo wir uns erst so richtig gegenseitig kennenlernten. So blöde das auch klingen mag. Doch es fühlte sich richtig an und so war es auch.
 

Wenn ich auf viele, vergangene Jahre zurückblicke, seit wir dieses Haus bezogen hatten, so mochte ich nur alleinig davon sprechen, dass es ein Synonym für gewesen Glück war. Viel zu spät nahmen wir die dunklen Wolken am Horizont wahr, die bedrohliche aufzogen. Und als sie sich entluden, war es bereits zu spät.

56 - Der Tag, an dem ich zurückblickte

Die Welt hatte ihr Gesicht radikal verändert. Wenn ich hier oben auf meiner kleinen Holzbank am Waldrand saß, über unser weitläufiges Anwesend blickte und mir den frischen Meereswind um die Nase wehen ließ, konnte ich in mir keinen inneren Frieden finden, ob die neue Welt für mich nun gut oder schlecht war. Auf jeden Fall hatte sie mein Leben wieder einmal kräftig durcheinandergewirbelt. So, wie sich die Reiche gezwungenermaßen eine neue Ordnung hatten suchen müssen, so hätte ich das selbst für mich auch tun sollen. Doch ich hatte es bis jetzt noch nicht geschafft.

Die ganzen kleinen und großen Reiche mit ihren Daimyôs gab es nicht mehr. Der einstige Adel war gestürzt und entmachtet worden und dessen Gebiete hießen nun alle Präfekturen, welche von staatlichen Beamten regiert und verwaltet wurden. Das Ereignis vor knapp zwei Jahren, welches als „Großer Knall“ in den Köpfen der Bevölkerung hängengeblieben war, hatte eine Kettenreaktion ausgelöst und alles bisherige Alte über den Haufen geworfen. Irgend so ein junger Bengel namens Kawaki hatte sich mit dem Sohn des siebten Hokage angelegt und die Welt ins Chaos gestürzt. Der Angriff, der alle überrascht hatte, markierte nicht nur den Untergang der Shinobi-Welt. Viele Gruppierungen unterschiedlichster politischer und wirtschaftlicher Gesinnungen nutzten die Chance auf einen Umbruch und stiegen in diesen Konflikt mit ein. Das Ergebnis war ein wahrer Flächenbrand gewesen. Kakashi hatte schon vor vielen Jahren mit seinem Bauchgefühl recht gehabt, wenn er eine große Unruhe in den einzelnen Reichen heraufziehen sah und er hatte prophezeit, es wäre nur eine Frage der Zeit, wann der besagte „große Knall“ einsetzen würde. Manchmal war mir Kakashis Bauchgefühl unheimlich, denn häufig traf es ein.

Ebenso wie die Reiche verschwanden, so waren auch die Ninjadörfer verschwunden. Konohagakure war ausradiert worden von allen Landkarten. So erzählte man es sich. Nur Wissende fanden noch den Ort, wo es einst gestanden hatte und wo nun kein Stein mehr auf dem anderen stehen sollte. Selbst der berühmte Felsenberg im Norden hätte angeblich seine Wand mit den Hokage-Köpfen eingebüßt. Der Zug, der einst am großen Bahnhof in Konoha gehalten hatte, ratterte nun zwei Jahre nach dem Ereignis auf einer modernisierten Elektro-Strecke einige hundert Meter davon entfernt ohne Zwischenhalt daran vorbei. Konohagakure, das Dorf versteckt unter den Blättern … Der Wald hatte mit seinem undurchdringlichen Laub alles verschlungen und einen Dickicht darüber erwachsen lassen. Er war so dicht und so monoton, dass man sich hoffnungslos darin verirrte, wollte man alte Spuren finden. Selbst Tenzô musste sich verwundert eingestehen, dass seine Holzfähigkeiten sich nicht mehr mit den Gehölzen um das Gebiet von Konoha herum in Einklang bringen lassen wollten. Der Weg war für alle Zeiten versperrt und stand wie ein Sinnbild, dass es kein zurück mehr in die Vergangenheit gab. All das, was berichtet wurde, klebte wie ein dunkler Fleck auf meinem Herzen, den man nicht vergessen, aber auch nicht wiederbeleben wollte. Er sollte ruhen.

Doch wie konnte es ruhen, wenn ich an manchen Tagen den Strand einige Meter entlang zu der Stelle spazierte, wo Kakashi häufig hatte seinen einfachen Liegeklappstuhl aufgestellt, um im Schatten der Palmen zu lesen oder zu dösen? Wie eingebrannt sah ich dann dieses Bild des schicksalhaften Gespräches zwischen ihm und Yuuki vor mir. Kakashi lesend und Yuuki ihm gegenüber stehend. Verzweifelt, sauer und voller Vorwürfe gegenüber Kakashi.

„In Konoha steht kein Stein mehr auf dem anderen. Viele sind tot oder verletzt. Unsere besten Freunde sind darunter. Ist dir das alles scheißegal? Der Siebte ist verschwunden. Wir haben niemanden, der uns leitet. Und MEIN Hokage sitzt hier und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen!“

Yuuki hatte den letzten Satz aus der Tiefe seines Herzens herausgeschrien, dass man ihn garantiert über alle Meere und Berge hätte hinweg hören können. Mein Hokage. Obgleich Yuuki doch eine beachtlich Karriere unter Narutos Fuchtel hingelegt und es sogar bis zum Jonin geschafft hatte, so blieb für ihn auf immer und ewig sein Stiefvater der einzig wahre Hokage. Und als dann die Antwort aus dessen Munde zu lange auf sich warten ließ, hatte mein Sohn wutentbrannt auf dem Absatz kehrt gemacht, war ohne ein richtiges Wort der Verabschiedung an mir vorbei gestiefelt und hatte uns für eine sehr lange Zeit verlassen. Erst Monate später war ich heilfroh, ihn lebendig wieder zu Gesicht bekommen zu haben.

Mit Kakashi und seinem Seelenfrieden aber verhielt es sich ganz anders. Der hatte just in dem Moment das offizielle Grübeln begonnen, wie Yuuki ihm einen Vorwurf nach dem anderen an den Kopf geworfen hatte. Seit wir vor sieben Jahren in das Strandhaus gezogen waren, hatte er stets beteuert, die ganzen Dorfangelegenheiten in und um Konoha würden ihn nicht mehr tangieren. Trotzdem hatte er immer mal wieder einen beruflichen Abstecher in die Heimat gemacht und mir hinterher berichtet, was es Neues gab. Die Zeit brachte es dann aber doch mit sich, dass diese Art der Abstecher weniger und weniger wurden. Irgendwann hörten sie fast gänzlich auf. Ein Abschied auf Raten. Das Streitgespräch zwischen Yuuki und ihm jedoch brachten genau das ans Tageslicht, was er vor uns allen und sich selbst zu verbergen versuchte. Es interessierte ihn nämlich unermesslich! Und dass nun sein geliebtes Heimatdorf abermals zerstört worden war, wühlte ihn auf und beschäftigte ihn. Er sprach es nicht aus, wie ruhelos und rastlos es ihn machte. Dass es schmerzte und bitterböse in die Seele einstach wie ein frisch geschliffenes Kunai. Wir sprachen an besagtem Tage, als Yuuki seinem Frust freien Lauf gelassen hatte, gar nicht darüber. Körpersprache sagte mehr aus als tausend Worte. Schweigend hatten wir lange am Strand nebeneinander gesessen, bis er mich mit einem Blick voller Bedauern ansah. Egal, was er in dieser Sekunde zu mir gesagt hätte, es wäre falsch gewesen. Dann war er aufgestanden und schnurstracks zum Haus marschiert. Da gab es eine versteckte Truhe unter den Bohlen des Fußbodens weit hinten in der Ecke des Abstellraumes. Sie war schon so lange nicht mehr geöffnet worden, dass bereits eine dicke Staubschicht darauf lag. Nun wirbelte der Staub auf, wie Kakashi den Deckel anhob, den roten Hut und den weißen Mantel beiseite nahm und seine alte Shinobi-Uniform hervorkramte. Ich wusste, dass er hin- und hergerissen war. Aber ich wusste auch, dass er gehen musste. Das musste man nicht verstehen. Das musste man nur stumm akzeptieren. Einmal Ninja, immer Ninja. Treudoof mit dem Dorf verbunden bis in den Tod hinein. Ich hätte ihn nicht aufhalten können. Und dann war er weg. Das war nun fast zwei Jahre her. Wieder einmal quälte mich die Ungewissheit über den Verleib eines geliebten Menschen.

Der Wind blies heute kräftig und schob die letzten hellen Tage eines durchwachsenen Sommers hinaus. In zwei Wochen wäre Kakashis Geburtstag. Schon wieder ein Runder. Da wurde mir erst gewahr, dass ich ihn nun schon zehn Jahre lang an meiner Seite wissen konnte. Ich schloss die Augen und lauschte in den Wind hinein. Dann erzählte er mir Geschichten von schöneren Zeiten bis mir stumme Tränen über die Wangen liefen. Das störte mich hier oben am Hügel keineswegs, denn wer sollte es auch schon sehen? Doch der Wind war mir stets wohlgesonnen, denn er trocknete die Tränen auch gleich wieder für mich. Watte bauschige Wolken trieben am blauen Himmelstuch und nahmen bizarre Formen an. Kakashi hatte mal erzählt, ihm würde es helfen und trösten, in die Wolken zu starren, wenn er traurig war. Ich hatte das auch versucht. Aber dann dachte ich wieder an Kakashi und wurde zunehmend trauriger. Mir half es also nicht. Da waren mir heftige Gewitter lieber. Stundenlang konnte ich bei geöffneter Verandatür auf das wilde, tosende Meer starren. Wie die Wellen in der Schwärze der Nacht an den Strand klatschten und dann lang ausliefen. Manchmal bis an die Pfähle unseres Hauses heran. Dann verlor ich mich in den Blitzen, erschauderte beim Donnergrollen und hoffte auf einen violetten Blitz, der mir Kakashi nach Haus bringen würde. Doch die Blitze blieben stets grell und weiß.

Der Wind frischte noch stärker auf. Ich verstand auch nicht, warum er mir nicht zur Abwechselung mal eine schöne Geschichte erzählen konnte. Dabei gab es doch so vieles, an was es sich zu erinnern lohnt. Heute brachte er nur die Geräusche der näheren Umgebung zu mir. Aus der Ferne hörte ich das Telefon unten in unserem Haus klingeln. Da ich mich häufig auf unserem weitläufigem Grundstück aufhielt, hobbymäßig herum gärtnerte oder einfach nur die Natur genoss, hatte ich es irgendwann einmal auf die größte Lautstärke eingestellt. Die weit geöffneten Fenster taten ihr übriges, dass das Telefon die halbe Umgebung beschallte. Das hieß zwar nicht, dass ich dann zeitnahe den Hörer abnehmen konnte, doch das Klingeln würde mich erinnern, später den Anrufbeantworter abzuhören. Das Mobilteil mitzunehmen, hatte ich längst aufgegeben. Dazu war die Reichweite einfach zu gering. Es klingelte eben gerade nur kurz. Also würde wohl Asa das Gespräch angenommen haben. Sie brütete unglaublicher Weise in ihrem Zimmer über einem Referat für die Schule. Die Abschlussprüfungen standen bevor und sie wollte nicht wieder auf dem letzten Platz landen wie damals vor sieben Jahren, als sie die Akademie abgeschlossen hatte. Sieben Jahre war das schon wieder her? Unglaublich! Asa war gewachsen und aus dem Rabaukenkind war eine hübsches Mädel geworden. Hochgeschossen und ein fein gezeichnetes Gesicht wie ihr Vater. Nur die graue Haarfarbe war nicht ihr Ding, weshalb sie oft ihre Haare in vielen Farben färbte. Dabei hatte sie sich dann irgendwann mal auf Rottöne eingeschossen. Und es hatte sich doch noch alles für sie zum Guten gewendet, wie ich es damals gehofft hatte. Tatsächlich hatte sie eine allerbeste Freundin gefunden, durch die sie die Schulzeit als ertragbar gefunden hatte. Allerdings war sie nun im Alter von fast siebzehn immer noch recht planlos, was sie mit ihrem Leben anstellen könnte, weshalb sie die Aufnahme an der Fachhochschule bestehen wollte. In Konoha wäre ihr solch eine Lebensplanung bestimmt nie eingefallen. Wie die Dinge sich wohl ändern konnten.

Nun aber blickte ich den Hang hinunter zu unserem Strandhaus, wo die Eingangstür klappte und sich eben jene erwähnte Asa auf den Weg zu mir herauf machte. Sie war barfuß und trippelte über den Rollsplitt, denn die neue Weltordnung hatte uns als positiven Effekt eine asphaltierte Landstraße beschert. Es war nach dem „Großer Knall“ sehr viel Geld in die Infrastruktur investiert worden. Das war auch bitter notwendig gewesen, sollten die vielen Reiche zu einem stabilen Staat zusammenfinden. Meine Holzbank stand genau an der Stelle, an der ich beim allerersten Mal mit Ûhei am Waldrand Rast gemacht hatte. Asas Vorteil jedoch war, dass der Weg hier herauf mittlerweile befestigt war. Ich hatte mich damals noch durch das mit Unkraut überwucherte Areal schlagen müssen.

„Hast du wieder deine melancholischen fünf Minuten?“, zog sie mich schon auf, noch ehe sie die Bank erreicht hatte. „Keine Sorge, Papa kommt zurück. Ich kann immer noch sein Chakra spüren.“

Asa und ihr grenzenloser Optimismus. Aber Gai hatte das bei seinen unzähligen (eher spontanen) Besuchen auch jedes Mal gesagt. Ebenso Tenzô, von welchem Kakashi stets behauptet hatte, dass er der einzige wäre, der ihn immer und überall finden würde. Das Chakra wäre immer noch zu spüren, hatte Tenzô bestätigt. Aber warum kam er dann nicht nach Hause? Wo war der überhaupt? Schulterzucken bei allen Beteiligten. Und mir wurde wieder bewusst, dass ich kein Chakra spüren und somit nicht zu diesem Ergebnis kommen konnte. Obgleich meine Sorge um Kakashi unendlich und das Thema heikel war, strahlte Asa wie der Sonnenschein und ließ sich ihr frohes Gemüt niemals zunichte machen. Ich sollte mir eine Scheibe davon abschneiden.

„Gai hat angerufen, ob er mal wieder vorbei kommen kann. Du sollst zurückrufen!“, richtete mir Asa nun den Inhalt des Telefonats aus. „Das solltest du schon vor drei Tagen.“

Tadelnde Blicke trafen mich, denn sie hatte recht. Gai nervte schon seit drei Tagen herum. Damit tat ich ihm Unrecht, denn Gai war seit unserem Umzug hierher ans Meer ein sehr gern gesehener Gast in unserem Hause. Auch wenn Gai eine anstrengende Persönlichkeit hatte, so konnte er den lieben langen Tag dein Alleinunterhalter spielen, ohne dass er es so recht bemerkte. Allerdings hatte ich in den letzten Tagen viel Arbeit in der Stahlfirma, weil wieder einmal mehr unsere Auftragsbücher von Beamten gefilzt worden waren. Es war nervenaufreibend. Man wollte genau wissen, wann und zu welchen Konditionen ehemalige Shinobi-Dörfer mit Stahl beliefert worden waren. Früher waren das gute Geschäfte. Heute aber unterstellte der neue Rechtsstaat kriegstreiberische Geschäftspraktiken und vermuteten gar Beihilfe zu Kriegsverbrechen. Als Kawaki und Boruto die Welt in Schutt und Asche gelegt hatten, brachen weltweit die Aktienkurse ein. Heilfroh war ich, dass meine Firma nicht den berühmten Dreck am Stecken hatte. Trotzdem schlingerte die Firma wie ein ruderloses Boot auf dem Ozean der Weltmärkte und entkam nur knapp dem Konkurs. Wochenlang hatten verbeamtete Krawattenträger in den Büroräumen Akten durchwühlt, aber nichts gefunden. Nur die harte Arbeit, neue und stabile Absatzmärkte aufzutun, lenkte mich von meinem Schmerz ab, verlassen zu sein. Ich fragte mich immer wieder und wieder, was ich in meinem Leben verbrochen hätte, dass erst Kenta fortging und nie wiederkehrte und nun Kakashi auf sich warten ließ.
 

Und plötzlich begann es in unserem Haus zu spuken. Ja richtig, zu spuken! Es begann mit solch albernen Dingen, bei denen ich erst dachte, es wären die ersten Anzeichen von Demenz. Immerhin zählte ich seit diesem Sommer schon volle fünfundvierzig Lebensjahre. Da konnte man sich schon Gedanken über das Alter und die ersten Wehwehchen machen. Ich sah ein Fenster sperrangelweit offen stehen. Dabei war ich mir hundertprozentig sicher, ich hätte es zuvor geschlossen. Die Zeitung lag auf dem Tisch zusammengefaltet. Aber hatte ich sie nicht extra offen liegen lassen, weil ich einen Artikel nochmal nachlesen wollte? Ich entwickelte mich zu einem Kontrollfreak. Ich schaute mindestens fünfmal nach, ob ich beim Weggehen die Haustür tatsächlich abgeschlossen hatte. Ich überprüfte 10mal den Herd, ob er abgeschaltet war und rannte ebenso oft zum Bügeleisen. Man könnte ja nie wissen... Dann ein anderes Mal war die Milch im Kühlschrank leer, obgleich ich gerade erst frische Milch gekauft hatte. Noch an der geöffneten Kühlschranktür verdächtigte ich Asa und Yuuki und rief ärgerlich nach ihnen. Ihr Durst auf Milch wäre ja nicht schlimm, aber sie hätten wenigstens eine neue Tüte kaufen können. Die beiden aber beschworen sogar, die Milch nachts nicht heimlich ausgetrunken zu haben. Keiner konnte sich einen Reim darauf machen. Und als Asa dann auch noch im Mülleimer die flach gefaltete Tüte fand, wurde es uns unheimlich zumute. Yuuki ließ uns mit unseren Spukgeschichten allein. Er hatte vor einem halben Jahr ein Studium in der Hauptstadt begonnen und war nur sporadisch an Wochenenden zu Besuch. Er packte seine frisch gewaschene Wäsche zusammen, sagte noch, es gäbe gar keine Gespenster, und machte somit das Poltergeistproblem zu meinem Persönlichem.

Es mochten wohl keine fünf oder gar sechs Tage vergangen sein, seit wir heimgesucht wurden, als ich des Nächtens in meinem Bett lag und noch lange beim Schein der Lampe las. Obgleich ich tot müde war und die Augen mir bei jeder Zeile zufielen, fand ich keinen Schlaf. Die Temperaturen waren für Mitte September noch recht sommerlich und schwül.

Mit einem Schlag war ich hellwach. Da war ein Geräusch gewesen. War es im Flur? In der Küche? Auf jeden Fall war ich nicht allein. Entweder hatte mein Hausgeist nun Gestalt angenommen oder ein Einbrecher trieb sein Unwesen. Panik ergriff mich, denn ich war so allein in unserem Haus völlig schutzlos. Yuuki war in Keishi und Asa war mit Freunden auf Achse. Na toll! Einbrecher im Haus und kein Ninja weit und breit! Verzweifelt grabbelte ich nach meinem Handy und tippte an die Kinder, Tenzô und Gai eine verängstigte Nachricht. Wenn ich jetzt nun Opfer eines Gewaltverbrechen werden sollte, dann wollte ich doch noch eine letztes Lebenszeichen an die Welt hinterlassen haben.

Da! Da war es wieder! Es klang wie ein Kratzen oder eher ein Tapsen.

Ich weiß bis heute nicht, was mich aus dem Bett trieb, aber ich tat es. Besonders langsam schob ich die Schiebetür ein Stück weit auf, um selbst keine Geräusche zu machen. Durch den Spalt lugte ich in den Flur. Nichts! Absolute Stille und Dunkelheit. Vielleicht mochte ich mich geirrt und die Geräusche mit einem Tier draußen im Gebüsch verwechselt haben. Oder ich wurde langsam närrisch. Trotzdem zog es mich voran. Es tapste wieder. Nun war ich mir sicher, dass ich diese Geräusche von früher kannte. Doch noch konnte ich sie nicht zuordnen. Zielgerichtet ging ich zum Wohnbereich, wo die Stehlampe in der Ecke brannte, und bekam Gewissheit.

„Was macht ihr denn alle hier?“, fragte ich perplex, als ich auf acht Hunde traf.

Die Ninken lümmelten auf dem Fußboden überall herum und freute sich nun sehr, mich nach langer Zeit wieder zu sehen. Ihre Pfoten und Krallen hatten das Tapsen und Kratzen auf den Holzbohlen verursacht. Ich hingegen war fassungslos und starrte und starrte.

„Haben wir dich geweckt? Das tut mir leid.“

Wie in Zeitlupe drehte ich meinen Kopf in Richtung Wohnküche und glotzte meinen vermeintlichen Hausgeist wie das achte Weltwunder an. Alles und nichts an Gedanken jagte mir durch den Kopf. Man wünschte sich immer von ganzem Herzen, dass Vermisste unversehrt wieder auftauchten. Aber wenn sie dann tatsächlich vor einem standen, dann konnte man das erst gar nicht glauben. Da war Kakashi einfach so wieder da. Stand da ganz relaxt in der Küche, als wäre er niemals eine halbe Ewigkeit weg gewesen und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Seine Uniform samt Rucksack stand mitten auf dem Küchentisch. Müde sah er aus, aber anscheinend mit sich und der Welt zufrieden. Hastig trank er das Glas in einem Zuge aus und kam dann langsam auf mich zu. Betretenes, verlegenes Schweigen seinerseits. Fassungslosigkeit meinerseits. Zwei Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Nichts voneinander gehört und kein Lebenszeichen vernommen. Und alles, was er mich fragte war, ob er mich aufgeweckt hätte? Meine Starre wich. Schnappatmung folgte.

„Was …? Wieso...?“, stotterte ich los, fand dann aber schnell die Sprache wieder. „Wenn du jetzt mit dieser bescheuerten Ausrede kommst, du hättest dich auf dem Pfad des Lebens verlaufen, dann knall' ich dir ein paar!“

Ich war so richtig sauer. Immerhin war das Kakashis längste Verspätung, die er jemals in seinem ganzen Leben zustande gebracht hatte. Na, auf die Begründung war ich mächtig gespannt. Mein ganzer Körper bebte vor Wut. Die Fäuste so fest geballt, dass sie schon weiß wurden. Noch etwas mehr Druck im Kiefer und ich hätte mir wohl selbst die Zähne zerbrochen.

Stattdessen wurde ich umarmt und umklammert wie der letzte, rettende Strohhalm im reißenden Strom.

„Du hast recht mit allem. Aber es ging nicht anders, dass ich solange weg war. Und ich werde auch nie wieder so lange weg sein. Versprochen!“

„Du warst doch schon die ganzen letzten Tage hier im Haus, oder?“, nuschelte ich, weil ich mir nun den Spuk erklären konnte.

„Hm...“, bejahte er kurz und knapp.

Und dann beschlossen wir, dass die Welt viel freundlicher und versöhnlicher aussehen würde, wenn man noch die letzte halbe Nacht darüber schlafen würde.
 

Dafür gab es dann beim Frühstück viel mehr zu erzählen. Genauso, wie man es hatte in den Tageszeitungen und in den Nachrichten verfolgen können, so hatte es auch dort draußen in der Wirklichkeit ausgesehen. Zerstörte Orte, Anschläge und Unruhen hatten die Monate nach dem „großen Knall“ beherrscht, bis sich alles wieder langsam beruhigte. Konoha gab es wirklich nicht mehr. Die Verluste waren erschreckend hoch. Da gab es nicht mehr viel zu retten oder zu trösten. Kakashi hatte das alles sehr nachdenklich erzählt, an seiner Kaffeetasse genippt und hinaus geschaut. Seine Augen ruhten auf den heute sehr ruhigen Wellen des Meeres. Das Wasser war so blau wie Kornblumen.

„Wie dem auch. Ich habe recht schnell gesehen, dass sie alle auch alleine klarkamen. Ein jeder mit seinem Schicksal. Und so habe ich dann in dem ganzen Wirrwarr die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und …“

Er stockte und holte tief Luft. Es schien ihm nun sehr schwer zu fallen, mir seine Entscheidung mitzuteilen.

„... und dann habe ich meinen Namen einfach mit auf die Liste geschrieben.“

Mir wurde mulmig.

„Was für eine Liste?“, fragte ich vorsichtig.

Ein Räuspern. Ein ernster Blick.

„Die Liste der gefallenen Shinobis, Nina.“

Mein Frühstück blieb mir im Halse hängen.

„Du hast was...?“

Das konnte doch nicht wahr sein! Wie kam er denn auf so eine verrückte Idee? Wir sprachen noch lange sehr ausführlich und behutsam über seinen unverrückbaren Beschluss und ich verstand. Die Welt um uns hatte sich verändert. Sie drehte sich einfach weiter und weiter ohne Rücksicht auf einzelne Befindlichkeiten oder vergangene Ären. Manches kam und manches ging. Kakashi meinte, es hätte ihn sehr verändert und geprägt, als er sich auf das neue Abenteuer namens Familie eingelassen hatte. Und dafür war er unendlich dankbar. Es war eine anderes Leben, ein anderer Abschnitt, mit dem er sehr gut leben konnte und in welchem er sich besser als gedacht zurecht fand. Vor allem hatte es Zukunft. Zu Beginn hätte er schon mit sich gezweifelt, ob er jemals etwas anderes als „Ninja“ hinbekommen könnte. Zum Glück wurde er eines besseren belehrt. Er hätte zwei Kinder, die selbstständig zurecht kämen und eine Frau an seiner Seite, die so ziemlich alles aushalten und ertragen könnte. Da war der Absprung aus dem alten Leben einfacher als befürchtet. Kakashi erinnerte mich daran, dass Shinobis mehr Feinde als Freunde hätten und mit seinem Namen auf der Totenliste, würde ihn wohl hoffentlich niemand mehr suchen und Rache nehmen wollen. Und schon gar nicht nach fast zwei verstrichenen Jahren. Der Abschnitt war zu ende. Das war zumindest das Wunschdenken.

Ich war beeindruckt von soviel Konsequenz, einen ganzen Lebenslauf ad acta zu legen, musste aber noch lange darüber nachdenken. Es war so unglaublich und so unerwartet.
 

Gegen Nachmittag schlendert wir hinunter in unser Dorf. Ich wollte noch ein paar Lebensmittel für ein wirklich gutes Essen einkaufen. Immerhin hatte ich mich vor ein paar Tagen durchgerungen, Gai anzurufen und ihn mal wieder zu uns einzuladen. Vermutlich würde auch Tenzô aufschlagen, nachdem ich letzte Nacht ja diese ominöse Nachricht per Handy an alle verschickt hatte. Auch Asa würde heute nach Hause kommen. Yuuki kam generell fast immer am Wochenende heim. Da brauchte man etwas mehr als sonst an Vorräten. Außerdem, so hatte ich verkündet, könnte man gleich mal Kakashis runden Geburtstag im kleinen Kreise feiern, nachdem er seine Freunde um die Feier zu seinem Vierzigsten gebracht hatte. Mein Freund seufzte und fragte nur, ob er seinen Geburtstag nicht auch einfach ebenso wie sein altes Leben begraben könnte. Aber darauf ließ ich mich gar nicht erst ein und winkte lachend ab. Fröhlich gingen wir nebenher. Irritiert schielte ich immer mal wieder aus dem Blickwinkel hinüber zu meinem Freund und konnte ein Kichern nicht unterdrücken.

„Is' was?“

„Es ist halt total ungewohnt, dass du nicht so voll vermummt neben mir gehst“, gab ich zurück.

In der Tat hatten wir für Mitte September noch angenehm warme Temperaturen, so dass eine knielange Hose und ein T-Shirt völlig ausreichten. Kakashi hatte sich diesem angepasst: Komplett in zivil und sein Gesicht unverhüllt. Nur die Körperhaltung war geblieben. Verträumter Blick, Hände in den Hosentaschen und mit dem Kopf in den Wolken. Man musste es meinem Freund schon anerkennend überlassen, es geschafft zu haben, seit unserem Umzug hierher im Dorf quasi unsichtbar gewesen zu sein. Ob ihn nun jemand erkennen würde, würde sich nun zeigen. Wir klapperten meine gewohnte Route ab. Postfach, Reishändler, Obst- und Gemüseladen, Sakebrauerei und zum Abschluss noch ein Abstecher zum Hafen. Im Schatten von Bäumen warteten wir auf die Rückkehr der Fischer. Die Strömung und die Gezeiten trieben die Boote derzeit am Tage übers Meer. Schon bald würden sie mit frischem Fang zurück sein. Vollbepackt machten wir uns auf den Rückweg. Und keiner hatte etwas bemerkt oder nachgebohrt.

Zuhause wartete schon der nächste Klopfer auf mich. Tenzô war bereits eingetroffen, gab dann aber kleinlaut zu, sich nicht über meine Nachricht gewundert zu haben. Ich sollte nicht sauer auf ihn sein. Über meinem Kopf glühte das Fragezeichen. Sauer auf Tenzô? Niemals! Der Schlag traf mich dann aber, wie das Rätsel über Kakashis zwischenzeitliche Unterkunft aufgelöst wurde. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als ich erfuhr, dass Tenzô nicht nur eingeweiht gewesen war, sondern meinen Freund auch beherbergt hatte. Manchmal war es schon eine Qual für Tenzô gewesen, das Geheimnis für sich zu behalten, besonders dann, wenn ich phasenweise so gelitten hatte. Nein, ich war nicht sauer. Tenzô war ein guter Freund, wenn nicht so gar der beste und loyalste überhaupt.

„Wusste Gai auch Bescheid?“, interessierte es mich nun aber doch.

„Nö, der quatscht zu viel“, war die lakonische Antwort und dementsprechend rastete Gai dann auch voller Freude aus, als er am Abend pünktlich zum Essen zu uns kam und seinen Lieblingsrivalen wohlbehalten und munter vorfand. Ein wahrer Redeschwall seitens Gais setzte ein. Ohne Punkt und Komma. Ich kann die Anekdote nicht für mich behalten, dass Gai Kakashi auf den ersten Blick überhaupt nicht erkannte hatte, so ganz ohne Uniform. Das war ein Brüller.

Asa hingegen meinte nur:

„Siehst du, Nina! Ich hab's dir ja immer wieder gesagt!“

Yuuki brachte in seiner stillen, zurückhaltenden Art sogar nur ein „Hi, Kakashi!“ im Vorbeigehen und ein verstecktes Lächeln heraus, nachdem er seine Reisetasche über der Waschmaschine entleert hatte. So unterschiedlich konnten Reaktionen der Freude ausfallen. Ein bunter Blumenstrauß der Möglichkeiten.
 

Es wurde recht schnell dunkel am Strand. Der Sommer verabschiedete sich. Die Sonne schickte letzte Strahlen über den Horizont und erschuf ein diffuses Licht. Dazu rauschte das Meer fast schon melancholisch. Wir hatten ein kleines Lagerfeuer errichtet, Fisch und Gemüse gegrillt und ziemlich viele Sakeflaschen vernichtet. Ein Teil des Geschirrs hatte ich ins Haus getragen. Vom Küchenfenster beobachtete ich die drei Shinobis, wie sie da um das Feuer saßen, ziemlich angeheitert waren und über Dinge sprachen, die ich bis hier herauf nicht hören konnte, weil der laue Wind ungünstig stand. Vielleicht waren es Geschichten von früher, alte Kamellen, die man gerne aufwärmte. Kleine Legenden hörte man viel lieber als als nüchterne Wahrheiten, weil sie so schön schillerten und glänzten. In Erzählungen wurden Missionen zu Heldentaten. Vergessen waren da Wut, Schmerz und Trauer. Ob das Zeitalter der Shinobis tatsächlich vorbei wäre, hatte ich vorhin am Feuer laut vor mich her gedachte und eine kleine Diskussion entfacht. Kakashi, Gai und Tenzô einigten sich dann darauf, dass die Geschichten und Riten bestimmt immer noch weitergegeben würden. Ein jeder Shinobi hätte seinen eigenen persönlichen „Weg des Ninja“ in sich. Diesen trug man in der Seele und im Herzen und würde ihn bis zum Ende weitergehen. Doch diese Philosophie würde verblassen und immer weniger werden. So wie früher würde es wohl nicht mehr werden. Aber es wäre doch auch sehr spannend, was noch kommen würde, befanden sie dann doch gemeinsam. Das wäre nunmal der Lauf der Dinge.

Ich fragte mich, wie ich mir das Trio dort so ansah, ob sie es wohl noch in dem betrunkenen Zustand zum Schlafen ins Haus schaffen würden. Oder würden sie dort einfach am Strand versacken? Es war egal. Es scherte niemanden. Die Sonne war nun gänzlich untergegangen. Die Silhouetten der Drei verschwammen mit der Dunkelheit. Wenn das Feuer erstmal runter gebrannt wäre, würden sie gänzlich von der Nacht verschluckt werden.

Aus dem Radio dröhnte ein Lied. Es traf das Szenenbild und meine Stimmung so gut, dass ich den Lautstärkeregler bis zum Anschlag aufdrehte. Lauthals sang ich die ersten Zeilen mit. Und das klang ganz schön schräg, weil mich der Song sentimental machte und meine Stimme zum Versiegen brachte. Stumme Tränen schluckte ich runter.
 

„Und niemand vermisst uns

und auch die Nacht vergisst uns schon.

Was du hörst sind nur Echos

und die bleiben für immer!“*
 

Da gab es eine versteckte Truhe unter den Bohlen des Fußbodens weit hinten in der Ecke des Abstellraumes. Sie war schon so lange nicht mehr geöffnet worden, dass bereits eine dicke Staubschicht darauf lag. Den Schlüssel dazu trugen die Wellen fort.
 


 

*) Anmerkung: Die Liedzeilen stammen von Bosse.



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Kommentare zu dieser Fanfic (23)
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Von:  MiezMiez
2023-11-20T09:17:28+00:00 20.11.2023 10:17
Hallo sakemaki,
deine Fanfiction ist dir super gelungen. Genau so würde sich ein Zivilist in der Welt der Ninja fühlen.
Anscheinend ist Sherenina auch recht resistent was ihren Alkoholkonsum angeht. Sie jammert nach jedem Absturz rum, aber tut es dann wieder.:-D
Schreib weiter so.
Liebe Grüße
MiezMiez
Von:  shirly88
2018-05-03T17:48:08+00:00 03.05.2018 19:48
Wann kommt das nächste Kapitel? ^^
Cool wäre es, wenn noch mehr von Gai und Yamato/Tenzo mit in die Story kommt <3 :D
Antwort von:  sakemaki
03.05.2018 23:29
Hallo shirly88 und Danke, dass du immer noch mitliest. Das neue Kapitel kommt morgen Abend. :-)
LG sakemaki
Von:  Daniela23
2017-09-18T19:26:13+00:00 18.09.2017 21:26
Hallo das war ein tolles Kapitel es hätte mich auch gewundert wenn Nina da sterben würde. Ich würde gerne wissen wie es genau wahr ihre Rettung und Wehr sie behandelt hat.
Das mit der Krankenschwester finde ich toll wenn sie wüsste,
Aber Mann sieht das kakashi sie von ganzen Herzen liebt.
Denn er bringt jede Nacht eine Blume deines Herzen zu ihr voll romantisch.
Mach weiter so
Und ich wünsche dir gute Besserung
Antwort von:  sakemaki
18.09.2017 21:41
Hallo Daniela23,
herzlichen Dank für deinen wirklich sehr ausführlichen Kommi. Ich habe mich total gefreut! :-)
Ja, ich habe mir schon gedacht, dass nicht nur Nina darauf brennt zu erfahren, wie sie ins Krankenhaus gekommen ist, sondern auch meine liebe Leserschaft. Allerdings möchte ich die Kapitel ungefähr alle gleichlang halten. Hätte ich das nun noch beschrieben, wäre dieses Kapitel aus allen Nähten geplatzt. Also hatte ich beschlossen, es einfach zu teilen, das heißt Nina sErlebnisse werden im nächsten Kapitel aufgearbeitet. Ihre Träume und Erinnerungen deuten schon so manch gruseliges Ding an. In dem Traum hab ich schon Hinweise auf bekannte Personen verpackt: Hast du sie erkannt? ^^

LG sakemaki
Von:  Daniela23
2017-08-16T17:40:17+00:00 16.08.2017 19:40
Es wehre toll wenn es weiter gehen würde .den deine Geschichte liest man als ob Mann selbst da wehre.
Ich würde mich freuen wenn es weiter geht.
Antwort von:  sakemaki
16.08.2017 20:35
Guten Abend und vielen Dank für dein Kommi. Natürlich wird die Geschichte weitergehen. Heute Abend lade ich das nächste Kapitel hoch. Leider werde ich nicht mehr so viele Updates in so kurzen Zeitabständen schaffen. Es geht mir gerade gesundheitlich nicht so gut. :-(
Von:  shirly88
2017-07-31T19:11:26+00:00 31.07.2017 21:11
Ich LIEBE deine Fanfiction ^^ hoffe die geht noch weiter ;)

Antwort von:  sakemaki
01.08.2017 10:23
Herzlichen Dank,
leider muss ich gestehen, dass sich die Fanfic langsam dem Ende nähert. ich habe zwar noch tausend Idee, doch ich habe Sorge, dass es langweilig werden könnte, wenn ich die Geschichte noch weiter in die Länge ziehe. ich bin mir da eben echt unschlüssig, ob nun die letzten 2-3 Kapitel kommen sollen oder ob ich da noch ein bisschen mehr einbaue.
LG sakemaki
Von:  emymoritz
2017-05-23T19:19:49+00:00 23.05.2017 21:19
Ha ha der war gut ich muste echt schmunzeln
Antwort von:  sakemaki
23.05.2017 21:21
Danke! :-)
Von:  Tenten04
2017-05-22T20:57:17+00:00 22.05.2017 22:57
Oh ja, ich würde mich auch wie wild vor Gai gruseln, wenn ich ihn nicht kennen würde! Seine Zähne sind aber auch wirklich seltsam... Kakashi tut mir richtig leid, er liebt sie doch so (hoffe/glaube ich) und sie weist ihn eiskalt ab (obwohl, ich rede auch immer schneller als ich denke, kann sein, dass ich genauso reagieren würde U_U) Aber sie kommen doch wieder zusammen... Oder? ODER?!?! Wenn es hier kein Happy End gibt, bin ich naivchen am Arsch, salopp gesagt. DAS LÄSST DU DOCH NICHT ZU! Oh, sorry, habe letzte Nacht so GAR NICHT geschlafen, bin also sehr aufgedreht.
totmüde Grüße von:
Tenten04
Antwort von:  sakemaki
22.05.2017 23:02
Keine Sorge, da Mr-Sporty-Green und Fettnäpfchentreter-Nina nun besoffen auf dem Weg zum Hokageturm sind, kann das doch nur "böse" enden. Kakashi "freut" sich bestimmt... XD XD XD
Von:  emymoritz
2017-05-22T11:23:07+00:00 22.05.2017 13:23
Ja der komische gai ich fand denn immer zum schießen komisch
Antwort von:  sakemaki
22.05.2017 22:14
*gg* Nina hat da noch so ein paar Berühungsängst. Mal schauen, ob sie die abbauen kann. ^^
Von:  emymoritz
2017-05-21T18:46:44+00:00 21.05.2017 20:46
Ohhh nein Bitte nicht so darf es nicht enden
Antwort von:  sakemaki
21.05.2017 20:48
Keine Sorge, wir haben erst Halbzeit bei der Geschichte. ;-)
Von:  emymoritz
2017-05-19T11:13:47+00:00 19.05.2017 13:13
Ich glaub ich hätte auch eine Schreck bekomme wenn in meiner Wohnung Hund sind wo ich weiß das da keine sind
Antwort von:  sakemaki
19.05.2017 16:45
Und dann auch noch so viele... und sprechen können sie auch​ noch ... Ohje, arme Nina. Da wird sie sich an einiges gewöhnen müssen. XD


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