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Lorem Ipsum

Sommerwichteln '17 "Fremde Ufer"
von

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3

Das schrille Quietschen, mit dem sich die Tür öffnete und gleich darauf wieder schloss, erzeugte in dem gekachelten Raum einen unangenehmen Widerhall. Geölte Scharniere und ein Türgriff, der nicht so beängstigend locker im Schloss saß, als dass er bei der winzigsten falschen Berührung abzufallen drohte, waren allerdings das kleinste Problem, das ihn hier erwartete, hatte er den Eindruck.

Seufzend fiel die Tür hinter Scott ins Schloss und ließ den Krach aus der Bar zu einem zusammenhanglosen Mischmasch werden, das aus entferntem Geleier eines Countrysongs, der aus einer uralten Musikbox dröhnte, und dem Gestammel der beiden einzigen Einheimischen bestand, die an der Theke saßen und mit dem Wirt über irgendeinen belanglosen Mist stritten. Dagegen wirkte das abgeranzte Männerklo mit dem leise vor sich hinplätschernden Urinal schon fast wie ein Zen-Garten.

So gut es ging, wich Scott den undefinierbaren Pfützen aus, die sich unter dem überlaufenden Urinal angesammelt hatten und von dort aus Fjorde in Miniaturform auf dem gefliesten Boden bildeten. Fjorde aus das-wollte-eigentlich-niemand-so-genau-wissen. In genau so einer Pfütze würde er sterben. Aber nicht heute.

 

Zum ersten Mal in seinem Leben war Scott dankbar, dichte Schuhe zu tragen. Und geimpft zu sein. Es war ja nicht so, dass er erwartet hätte, in einer Hinterwäldler-Bar eine sterile Toilette aufzufinden, aber das hier toppte alles, was er bisher so gesehen hatte - und das war immerhin eine schon nicht mehr überschaubare Menge an Toiletten, die in seinen zweiundzwanzig Lebensjahren zusammengekommen war. Das hier war quasi die verkeimte und schlecht beleuchtete Essenz aller Toiletten auf diesem Planeten.

Überraschenderweise gab die Tür zur Kabine mit der einzigen noch funktionierenden Toilette nicht den kleinsten Laut von sich, als Scott sie aufdrückte. Ohne hinter sich abzusperren, betrat Scott die mit Graffiti übersäte Kabine. Er fühlte sich eigenartig sicher hier an diesem schmutzigen Ort. Wahrscheinlich, weil er sich kaum vorstellen konnte, dass außer ihnen Dreien besonders viele von Außerhalb hier vorbeikamen.

Wie wohl die Bewertung dieser Bar ausfallen würde, wenn jemand auf die Idee käme, eine zu verfassen?

Wenig besuchte, dafür aber authentische Bude am Straßenrand, mit charmanten einheimischen Besuchern. Das Essen ist spärlich und kaum zu identifizieren, aber immerhin gibt es hier keine Mäuse oder Ratten. Wi-Fi ist erstaunlich gut und in den Toiletten stellen aufstrebende Künstler ihre verheißungsvollen Werke aus. Absoluter Geheimtipp! Trotzdem nur 3 ½ von Fünf Sternen, weil die Musikbox bloß vier Songs spielt.

Scott lachte leise vor sich hin. Er betätigte die Spülung, die mit lautem Getöse ein Rinnsal Wasser in die Schüssel spülte und zu seinem Entsetzen auch nach einigen Augenblicken nicht mehr damit aufhören wollte. Wenn das Ding jetzt überlief, nutzten ihm auch seine dichten Schuhsohlen nichts mehr... Verzweifelt zerrte Scott mit beiden Händen an der Spülung, bis sie endlich doch mit einem finalen gequält klingenden Aufheulen stoppte. Seine Erleichterung darüber maß in etwa so viel wie die Menge an Wasser, die beinahe den siffigen Raum geflutet hätte. Die Katastrophe war erfolgreich abgewendet.

Scott löste sich mühevoll von dem Anblick der Toilette, die nun bis kurz unter den Rand mit klarem Wasser gefüllt war. Seine Blicke blieben an den Graffiti hängen, die dicht aneinander gereiht die Wand mit den zersprungenen Kacheln zierten. Für so eine kleine Bruchbude wie diese hier waren es erstaunlich viele Graffiti. Es gab kaum noch einen freien Flecken, der die Originalfarbe der Kacheln besaß. Teilweise war auch schon übereinander gekritzelt worden, weil der Platz einfach zu eng wurde. Den Seitenwänden der Kabine war es auch nicht besser ergangen. Und selbst der Toilettenpapierspender war nicht verschont geblieben.

Neugierig geworden versuchte Scott so viel zu entziffern, wie nur möglich. Viele der Sprüche waren der übliche unlustige Bullshit, den man eben so an Toilettenwänden fand. Deine Mutter-Zeug, diverse Löcher, die man in die Wände gebohrt hatte (um sie dann wiederum in die Graffiti einzubinden), und Zeichnungen, von denen tatsächlich ein paar ganz interessant waren. Das Konglomerat aus aufgerissenen Augäpfeln, die von oben auf denjenigen herabblickten, der vor der Toilette stand, war schon ziemlich cool, auf eine beunruhigende paranoide Art und Weise.

Das obere Drittel beider Seitenwände war von diesem Gewirr an Augen bedeckt, die in alle Richtungen blickten, und nicht einmal die Toilettentür, die etwas niedriger hing, war ausgelassen worden. Es zog sich wie eine Bordüre über die gesamte obere Kante, wo die Wand zur Decke überging und – Scott legte den Kopf in den Nacken – heiliger Sensenmann, selbst die Decke war vollkommen damit zugemalt. Man wurde also rundherum von diesen Augen angestarrt, von denen einige sogar in unregelmäßigen Abständen an langen, verworrenen Sehnen bis knapp auf Augenhöhe hinab baumelten. Ihre teilweise fiebrigen Blicke aus Stecknadelgroßen Iriden weckten auf der Stelle Scotts Fluchtinstinkt, obwohl er sich kurz vorher hier noch so sicher gefühlt hatte.

Wer immer auch der Künstler von den Augen war, hatte scheinbar sehr viel Zeit hier verbracht.

 

Nur mit Mühe konnte Scott seine Blicke endlich von den Augen lösen. Er tat einen Schritt rückwärts, wobei ein Satz, der direkt vor ihm zwischen ein paar dieser Gruselaugen prangte, schließlich doch wieder seine Aufmerksamkeit erregte. Der Satz war so normal unter all den blöden Witzen, über die nur Zwölfjährige lachen konnten, und den irren Augen, dass er ihn lesen musste.

In leicht nach rechts geneigter Schrift stand dort in Rot

 

Bring mich zum Lachen

 

Darunter war eine Telefonnummer notiert, die, wenn man die Schriftart und den benutzten roten Stift berücksichtigte, zu dem Satz obendrüber gehören musste. Die Herausforderung nahm er an, dachte Scott grinsend. Hektisch suchte er seine Hosentaschen nach seinem Handy ab, bis ihm einfiel, dass es irgendwo im Auto unter einem der Sitze auf dem Boden lag, weil es ihm aus der Hand gefallen war, als sie über den mit Schlaglöchern übersäten Parkplatz geholpert waren.

„Shit“, fluchte Scott. Witzig wäre es ja gewesen, aber jetzt rauszurennen und dann wieder zurück zur Toilette zu laufen, würde seine beiden ungeduldigen Begleiter womöglich dazu verleiten, ihn einfach so zurückzulassen.

Leise vor sich hinmurmelnd versuchte Scott sich die Telefonnummer einzuprägen. Was gar nicht so einfach war, wenn man selbst schon ein paar Bier und diverse andere

Sachen zu sich genommen hatte.

„3, 7, 7-“

„Was zur Hölle machst du da?“

 

 

Scott schob die Kabinentür einen Spalt weit auf und erwiderte den vorwurfsvollen Gesichtsausdruck des jungen Mannes vor der Tür mit einem entschuldigenden Grinsen.

„Ich versuche, mir 'ne Telefonnummer zu merken.“

„Auf dem Männerklo... ja...“

Scott warf einen schnellen Blick hinter sich und las die beiden nächsten Zahlen. „Ist ganz witzig, echt.“

„Du bist schon seit einer dreiviertel Stunde hier drinnen.“

„Seit einer dreiviertel Stunde? Was laberst du, ich habe hier bloß-“ die Wand angestarrt... „4, 6-“ Gott, die Nummer war so schrecklich lang. Zu lang für sein übermüdetes Gehirn, das damit beschäftigt war, in seinem Körper den Abbau von Alkohol und anderen spaßigen Dingen zu organisieren. Scott fiel etwas ein. Er riss die Kabinentür wieder ein Stück auf und streckte seine Hand nach draußen. „Gib mir mal dein Handy.“

„Du rufst nicht mit meiner Nummer bei diesem Perversen an!“ Der geforderte Gegenstand wurde in die ausgestreckte Hand gelegt, die auf der Stelle wieder hinter der sich langsam schließenden Tür verschwand.

„Mache ich nicht, keine Panik.“

Ein Klicken aus der Kabine ließ den davor Wartenden, der sich gerade eine Zigarette anzündete, aufhorchen. „Hast du ein Bild von deinem-“

„NEIN!“ Ein weiteres Klicken erklang. „Ich schicke mir nur selbst das Bild mit der Nummer, Himmel-noch-mal, Ben.“

„Was ist daran so interessant?“ Das klang schon etwas versöhnlicher. Scott musste einen Schritt nach vorne machen, als sich die Tür nach innen öffnete und sein Kumpel den Kopf durch den Spalt schob. Bens Augen scannten den Wörterhaufen an der Wand über der Toilette ab. Seine misstrauisch zusammengezogenen Augenbrauen machten klar, was er von den blöden Sprüchen und den dazugehörigen Bildchen hielt.

„Das da“, half Scott Ben mit ausgestrecktem Finger zum Bring mich zum Lachen auf die Sprünge.

„Wegen diesem Scheiß bist du hier seit fast einer Stunde im Männerklo und lässt mich draußen mit Gretchen alleine vor dieser Bruchbude stehen?!“ Ben schnippte die Zigarette in die Toilettenschüssel, wo sie mit einem protestierenden Zischen erlosch. „Weißt du, was für Gestalten hier herumlungern?“

Scott, der sich etwas mehr Begeisterung erhofft hatte, seufzte. Er gab Ben das Handy zurück, der ihn allerdings nicht beachtete. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte mit offenem Mund die gezeichneten Augen an der Decke an.

Deshalb stehe ich hier schon die ganze Zeit.“ Scott konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Mit jeder Minute, die er länger hier war, gefiel ihm das Konzept mit den Augen besser und besser. „Die Augen gehören wohl auch zur Nummer“, erklärte Scott nicht ohne Stolz über seine Entdeckung seinem andächtig schweigenden Gegenüber. „Manche der Sehnen sind in dem gleichen Rot angemalt.“ Sein ausgestreckter Zeigefinger malte an verschiedenen Stellen Kreise in die Luft.

Ben, der sich langsam von dem Anblick über ihm löste, sah sein selig lächelndes Gegenüber ungläubig an. Mehr als den Kopf zu schütteln, fand er nicht angebracht. Scott war übergeschnappt. Endgültig. „Das ist absolut krank.“

„Das ist Kunst...“

„Äh, ja, Mann, die Entdeckung schlechthin“, murmelte Ben leise. Scott, der die Augen an der Decke fasziniert betrachtete, entging der Spott seines Kumpels. Er nickte bekräftigend.

Als Ben den Mund öffnete, um seinem Freund, den er bereits seit Ewigkeiten kannte, zu sagen, was er von der Sache hielt, fiel ihm eine Stimme von der Eingangstür her ins Wort.

„Ich störe euch ja nur ungern, aber draußen steht eine ziemlich wütende, junge Lady, die nach den beiden Idioten fragt, von denen einer eigentlich nur kurz aufs Klo wollte.“

Weil Scott wohl nicht mehr Herr seiner bekloppten Sinne war und wie eine Statue vor dem Klo stand und die Decke anstarrte, streckte Ben den Kopf aus der Kabine und warf dem Wirt einen entschuldigenden Blick zu. „Lässt sie sich irgendwie besänftigen?“

Der Wirt wiegte seinen Kopf bedächtig von einer Seite zur anderen. „Könnte knapp werden, so geladen wie die ist.“

„Wir sind gleich fertig mit-“ Ben gestikulierte mit einer Hand über sich in der Luft, was der Wirt natürlich nicht sehen konnte. „Mit Zeug eben...“

Der Wirt wedelte mit der Hand. Das war das internationale Zeichen dafür, dass er nicht mehr wissen wollte als nötig. „Was auch immer“, sprach's und verschwand wieder nach draußen.

Ben stieß Scott in die Seite. „Komm jetzt, Mann, du hast dein Bild und deine Nummer. Gretchen wartet und ich habe auch langsam keine Lust mehr, noch länger hierzubleiben. Ich will wieder zurück in die Zivilisation. Mich ungesund ernähren, zu wenig schlafen und so.“

Wie in Trance folgte Scott seinem Freund nach draußen in den Schankraum, wo sie von Gretchen begrüßt wurden, die inzwischen bei den beiden Einheimischen an der Theke saß und einen Cocktail vor sich stehen hatte.

 

„Ihr habt ja Nerven“, zischte die junge Frau die beiden Rückkehrer an. Sie hielt den kleinen Papierschirm aus ihrem Glas anklagend auf Ben und Scott gerichtet. „Will ich wissen, was ihr so lange auf dem Klo gemacht habt?“

Die beiden Einheimischen, die auf den Barhockern neben Gretchen saßen, schüttelten unisono den Kopf.

„Frag das den Irren hier neben mir.“ Ben machte eine schnelle Handbewegung zu Scott hin, der weder Gretchen noch sonst viel um sich herum richtig wahrzunehmen schien. „Der Verrückte musste sich ja noch unbedingt die Nummer von irgendeinem Perversen aus der Männertoilette abfotografieren.“

Der unglaublich riesige Fleischberg, der neben Gretchen an der Theke saß und ein Bier trank, unterdrückte mühsam ein Kichern, das seine überdimensionalen Schultern zum Beben brachte.

„Du hast sie wohl nicht mehr alle“, stieß Gretchen verblüfft aus. Sie wartete, bis Scott sie ansah. „Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass man so etwas nicht macht?“

„Eigentlich... nicht“, gab Scott ehrlich zu. „Können wir uns beeilen? Ich hab noch was vor.“

„Jetzt wartet ihr schön auf mich.“ Gretchen wandte sich von ihren beiden Freunden ab und ihrem Cocktail zu. Geräuschvoll trank sie durch den neonrosa Strohhalm, der in dem knallgelben Getränk stach. „Der schmeckt echt gut“, lobte sie das Getränk.

Der Wirt grinste verlegen. „Wir haben nicht so viel Gelegenheit, die mal zu mixen, sonst wäre er sicher noch besser.“

„Das gibt 'nen Stern mehr in der Bewertung“, murmelte Scott vor sich hin und schlenderte zur Tür.

 

„Du willst doch nicht wirklich diese verdammte Nummer anrufen?“ Ben ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Er wandte sich nach hinten zur Rückbank. Scott saß da und starrte gebannt auf das leuchtende Display in seinen Händen.

„Zu spät“, antwortete Scott abgelenkt und sah dabei zu, wie die Häkchen die Ankunft seiner gesendeten Nachricht bestätigten. Das „Wie?“ in dem Textfeld verschwand, als sich Bens Hand über das Display legte.

„Ganz ehrlich, man muss kein Genie sein, um zu wissen, dass bei Nummern, die in Toiletten an der Wand stehen, nichts Gutes herauskommt.“ Bens Stimme klang beschwörend, als wolle er sicher gehen, dass die Worte auch wirklich hinter Scotts sturer Stirn ankamen, der den Blicken seines Freundes vehement auswich und auf dessen Hand starrte, die noch immer das Display verdeckte.

„Hör auf mit dem Mist“, fügte Ben noch hinzu, ehe er die Hand von Scotts Handy nahm.

2

Zum tausendsten Mal hatte Scott die Bilder aus der Toilette herangezoomt und dann so lange darauf gestarrt, bis das Display erloschen war. Mittlerweile kannte er so ziemlich alle Details aus dem Augen-Graffiti. Jede gezackte Ader, die wie elektrisierte Würmer aus den Augenwinkeln hin zur Mitte krochen, jede Falte in den unzähligen Iriden. Ihm war sogar aufgefallen, dass nicht alle Augen menschlich waren. Einige hatte längs geschlitzte Pupillen, andere waagerecht geschlitzte und weitere waren weder menschlich noch tierisch, hatte er den Eindruck. Es gab auch Augäpfel, die komplett weiß waren, andere schwarz, bei den nächsten schienen die Adern wie laublose Äste, die die Augen fest im Griff hatten, oder die Iris war einfach ein schwarzer Abgrund. Sie waren allerdings in der Minderheit und sollten wohl Gimmicks sein, dafür, dass man sich weiter mit dem Gesamtwerk beschäftigte. Jedenfalls würde er es so tun, wenn er vorhatte, so ein Bild zu malen. Was der Künstler damit bezweckt hatte, hatte er ihm noch nicht verraten. Die Antwort auf das Wie? war er ihm noch immer schuldig, obwohl seitdem bereits mehr als zehn Stunden vergangen waren.

Scott drehte sich in seinem Bett auf die Seite. Sein Wecker hatte ihn schon vor vier Stunden daran erinnert, dass es Zeit war, aufzustehen, was unnötig war, denn er hatte keine Sekunde geschlafen. Immer, wenn er kurz vorm Einschlafen gewesen war, fiel ihm etwas anderes ein, was er meinte, in dem Bild erkannt zu haben, nur um gleich darauf sein Handy vom Nachtschrank zu holen und die Bilder durchzugehen.

Jetzt war es früher Nachmittag und er war völlig fertig. Weniger wegen des fehlenden Schlafs, sondern mehr wegen der noch immer unbeantworteten Frage. Nicht einmal der einsetzende Hunger hatte Scott aus dem Bett getrieben, und auch Bens halbes Dutzend Anrufe hatte er bis jetzt gekonnt ignoriert. Für nichts.

Entmutigt legte Scott sein Handy zur Seite. Wer hatte Sonntagmittags so viel zu tun, dass er nicht einmal eine einzige Frage beantworten konnte? Erst recht nicht, wenn man praktisch dazu aufgefordert worden war, sie zu stellen?

 

 

„Vielleicht arbeitet die Person Sonntags?“ Gedankenverloren stocherte Scott mit der kleinen Plastikgabel in der eckigen Packung mit den dampfend heißen Nudeln herum.

„Schön blöd“, murmelte Ben, der neben Scott auf dem niedrigen Mäuerchen saß und eine Zigarette rauchte, während er gelangweilt den Worten seines Kumpels lauschte.

„Warum blöd, kann ja auch was wichtiges sein, was er oder sie tun muss.“

„Ich meinte auch dich“, fiel Ben Scott ins Wort. „Heute ist Dienstag. Du wartest seit Sonntag auf eine Antwort und redest seitdem von nichts anderem mehr.“ Ben stieß eine Rauchwolke aus und sah ihr zu, wie sie sich verflüchtigte. „Es war nur 'ne Nummer aus dem Männerklo, die irgendein gelangweilter Typ dort an die Wand gekritzelt hat. Er hat vermutlich noch nicht mal damit gerechnet, dass dort jemand auftaucht, sich die Nummer tatsächlich notiert und ihm dann schreibt.“

Scott hatte aufgehört, in den Nudeln nach Kanton Art zu stochern. „Wie kommst du darauf, dass es ein Er ist?“

„Oh bitte“, lachte Ben trocken auf. Er sah seinen Freund an, der eine Gabel voll Nudeln mit dunkler Soße in der Hand hielt. Die Soße tropfte auf Scotts Hose und bildete dort ölige Flecken, und Scott schien das noch nicht mal wahrzunehmen.

„Willst du mir echt weismachen, dass eine Frau ins Männerklo spaziert und dort ihre Telefonnummer an die Wand schreibt? In welchem Universum ist so etwas jemals passiert?“

„Ich sagte nur, dass es möglich wäre.“ Scott klang angefressen. Er stach die Gabel in den noch nicht mal zur Hälfte gegessenen Nudelberg und stellte den Karton zur Seite.

Ben seufzte auf eine Art, die deutlich machte, dass er langsam Mitleid mit diesem riesen Hornochsen bekam, der sich seit mehr als fünfzehn Jahren sein Freund nannte. „Vielleicht ist die Nummer ja auch nicht mehr vergeben“, räumte er, wenn auch widerwillig, dem Frieden zuliebe ein.

„Die Nachricht kam aber an.“ Scotts Hand griff instinktiv nach seinem Handy, doch Bens unabsichtlich verständnisloser Blick ließ ihn innehalten. Er sah später nach. Einen Moment ärgerte er sich darüber, dass er sich Ben gegenüber schon verpflichtet fühlte, zu beweisen, dass er nicht übertrieb, aber langsam gingen ihm die Ideen aus, wie er seinem Freund klarmachen konnte, dass es ihn echt interessierte, wer sich so viel Zeit genommen hatte, um eine Toilettenkabine so sorgsam zu bemalen. Da musste einfach mehr dahinter stecken, als Ben zuzugeben bereit war.

„Meine Mittagspause ist vorbei. Wenn ich zu spät komme, zieht mir Paps das wieder vom Lohn ab...“ Ben erhob sich von seinem Sitzplatz. Er setzte sich die weiße Mütze mit dem roten chinesischen Schriftzug auf den Kopf und schwieg einen Moment nachdenklich. „Ich gehe jede Wette ein, dass sich irgendeiner dieser Hinterwäldler dort 'nen Scherz mit einem seiner Hinterwäldlerfreunde erlaubt hat. Das ist alles. Ende der Geschichte.“

Scott zwang sich, das aufmunternde Lächeln zu erwidern, das ihm sein Freund zuwarf, doch im gleichen Moment sah er an Bens dunklen, fast schwarzen Augen, dass er es ihm nicht abkaufte, und ließ es sein.

„Morgen Abend bei dir? Wir müssen es immerhin ausnutzen, so lange du Sturmfrei hast.“ Ben legte den Kopf leicht schief und wartete geduldig auf die Antwort. Zu seiner Erleichterung nickte Scott.

„Bring bitte nicht wieder alle Reste aus dem Restaurant mit“, witzelte Scott und klang schon fast wieder so, wie Ben ihn kannte.

 

 

Ein heller Ton kündigte die eingehende Nachricht an. Natürlich dann, als Scott gerade unter der Dusche stand.

Wird später. Ben

Scott wischte die nassen Flecke vom Display, die seine Finger dort hinterlassen hatten, und feuerte das kleine Gerät ungehalten zurück auf die schmale Ablage über dem Waschbecken.

Er ärgerte sich kurz darüber, dass er bei dem Sprint aus der Dusche heraus und zu seinem Handy hin, fast auf den Fliesen ausgerutscht wäre. Das wäre Bens absoluter Triumph gewesen, wenn er ihn hier tot mit vom Sturz aufgeschlagenem Schädel und dem Handy in seinen erkalteten Fingern vorgefunden hätte, auf dem tausend Nachrichten eintrudelten, nur eben nicht von der Nummer aus der Bar. Scott würde es ja nicht mehr mitbekommen, weil er dann immerhin tot wäre, aber in der Kommentarspalte seiner Traueranzeige würde sich Ben das Ich hab's dir ja gesagt sicherlich nicht verkneifen können. Und er ärgerte sich darüber, dass Ben somit recht behalten würde, dass er langsam aber sicher so tief in dieser Sache stach, dass nur noch seine Zehen zu sehen waren.

Scott zuckte zusammen, als die nächste Nachricht einging. Er dachte einen Moment darüber nach, sie einfach zu ignorieren und sich endlich den Schaum aus den Haaren zu waschen, der ihm in die Augen lief – schließlich standen die Chancen schlecht, dass es ausgerechnet jetzt die erwartete Nachricht sein würde – aber er konnte der Versuchung doch nicht widerstehen und schlich (dieses Mal vorsichtiger) zu seinem Handy hin.

Schon passiert. Danke verkündete das Pop-Up auf dem Display.

Ratlos las Scott die Nachricht ein weiteres Mal.

Schon passiert?

Er sah auf die Nummer und jubelte innerlich. Endlich!

 

1

„Du bist wie eine Mami zu uns, Ben, hat dir das schon mal jemand gesagt?“ Mit glänzenden Augen durchstöberte Gretchen die eckigen Boxen, aus denen es himmlisch würzig nach Erdnusssoße und Chili roch.

Ben grinste schief. Ihm war gerade wieder eingefallen, dass Scott ihm gesagt hatte, bloß nichts aus dem Restaurant mitzubringen. Er klopfte erneut gegen Scotts Haustür. Etwas lauter dieses Mal.

„Ich liebe Garnelen!“, rief Gretchen in diesem Moment und hielt eines der weiß-rosa glänzenden und nach frischem Knoblauch duftenden Tierchen in die Höhe.

Ben klopfte ein drittes Mal an. Doch der Flur, den man hinter dem schmalen Glasfenster in der Tür sehen konnte, blieb weiterhin dunkel. Langsam wurde er nervös.

Gretchen sah Ben dabei zu, wie der um das Haus herumging und dabei in jedes Fenster im Erdgeschoss schaute, und hinter jedem Fenster war es dunkel. Als er an der Hintertür ankam, klopfte Ben auch dort an.

„Hat er uns versetzt oder hast du vergessen ihm Bescheid zu sagen?“ Gretchen war Ben um das Haus herum gefolgt. Sie stellte die Boxen mit dem Essen auf die oberste Treppenstufe und gesellte sich zu Ben, der wieder an die Hintertür anklopfte.

Ben schwieg. Das passte nicht zu Scott. Nicht zu dem Scott, den er bis vor einer Woche gekannt hatte zumindest.

Gretchen gefiel Bens Gesichtsausdruck überhaupt nicht. Er sah ungewohnt ernst aus. Die steile Falte zwischen seinen Augen war normalerweise nicht dort.

„Sag mir, dass das nichts mit dieser Nummer aus der Toilette zu tun hat“, presste Gretchen mühevoll hervor. Sie ahnte die Antwort darauf schon, ohne dass Ben sie aussprechen musste. Ihre Kehle war seltsam eng geworden. Dieser verfluchte Idiot...

Ben sagte kein Wort. Er hielt sich beide Hände wie ein Schild neben die Augen und versuchte einen Blick durch das Fenster in die Küche zu werfen, doch ein dünner Vorhang verhinderte sein Vorhaben.

Erschrocken zuckte Ben zusammen, als Gretchen mit einer Faust neben ihn gegen die Tür donnerte.

„Scott, du verdammtes Rindvieh!“, brüllte Gretchen wütend das dunkle Haus an.

„Danke, Gretchen, der war neu“, lachte es plötzlich hinter ihnen auf.

Gretchen und Ben fuhren herum. Auf dem schmalen Weg aus Steinplatten, der aus dem Garten zur Hintertür führte, stand Scott und grinste breit. Ohne, dass sie ihn gehört hatten, musste er ihnen gefolgt sein.

 

„Mann, ich habe mir fast in die Hose gemacht“, lachte Ben erleichtert, als er seinen Freund erkannte.

Nur Gretchen fand das nicht sonderlich witzig. Sie raffte die Boxen an sich und stolzierte wortlos und mit finsterem Blick an Scott vorbei, der aufseufzte.

„Kommt schon, ihr seid hier die mit den Paras, nicht ich.“

„Sich sorgen ist nicht paranoid“, zischte Gretchen verärgert und betrat das Haus.

Scott verdrehte die Augen. „Ich soll euch 'nen schönen Gruß ausrichten. Pervers wäre er übrigens nicht – oder sie.“

„Du hast Antwort bekommen?“ Bens ungläubig aufgerissene Augen musterten Scott, der ein paar Flaschen auf den niedrigen Wohnzimmertisch stellte.

„Was heißt hier er oder sie?“, hakte Gretchen misstrauisch nach. Sie öffnete die Boxen mit dem Essen und ließ sich neben Ben auf dem Boden nieder.

Gutgelaunt trank Scott einen Schluck Bier. Es konnte nicht schaden, seine Freunde ein bisschen auf die Folter zu spannen, erst recht nicht, weil sie sich seit Sonntag entweder über ihn lustig machten oder ihn als Spinner bezeichneten.

„Na los, sag schon, was hat er – oder sie – dir geschrieben?“ Wo Gretchen eher argwöhnisch schien, wirkte Ben nun doch neugierig. Wie ein Kind am Weihnachtsmorgen sah er Scott aus großen Augen an, der ihm gegenüber saß und die Spannung noch etwas genoss.

„Die Nummer gehört tatsächlich zu dem Bild und dem Satz“, gab Scott schließlich ein bisschen an Information preis. „Und ich weiß auch den Namen dieser Person.“

„Echt jetzt?“ Ein breites Lächeln zog sich über Bens Gesicht. Bis ihn Gretchen mit dem Ellenbogen anstieß.

„Und wie ist der Name?“, grummelte Gretchen vorsichtig. Ihre Blicke fixierten Scott.

„Vic“, verriet Scott.

„Toll“, war Gretchens lahme Antwort. „Vic wie Victor oder Vic wie Victoria? Hat Vic auch einen Nachnamen?“

„Keine Ahnung.“ Scott zuckte mit den Schultern und schob sich eine Portion Reis mit Hühnchen in den Mund.

Ben rutschte nervös auf seinem Sitzplatz hin und her. Wie konnte Scott nur so ruhig bleiben bei dieser Eröffnung? Er selbst hielt die Spannung kaum noch aus und beugte sich nun etwas weiter vor, um möglichst nichts von Scotts Erzählung zu verpassen. „Und was ist der Grund für diese seltsamen Augen?“

„Hat Vic mir nicht verraten.“

„Oh natürlich nicht, wie überraschend...“ Gretchen pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie trank einen Schluck und ignorierte Scotts bitteres Lächeln. Ja, sie war schon froh, dass Scott endlich wieder gelöster wirkte, als die vergangenen Tage seit Sonntag, aber das war echt lächerlich. Und am schlimmsten war Ben, der eher den Eindruck machte, als sei das hier ein Detektivspiel.

„Verstehst du jetzt etwa keinen Spaß mehr?“, wandte sich Scott an Gretchen.

„Doch“, widersprach ihm die junge Frau. „Ich weiß nur nicht, ob das auch Spaß bleibt.“

„Ich bin alt genug, Gretchen“, wies Scott seine Freundin freundlich auf dieses wichtige Detail hin.

„Mag sein, aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass Vic dich irgendwann bittet, dass ihr euch mal trefft.“

Scotts unwillkürlich ertapptes Gesicht ließ Gretchen den Kopf schütteln. Dabei stimmte ihre Vermutung noch nicht mal. Nicht alles davon jedenfalls.

„Verstehst du das nicht, Scott?“ Gretchen klang nun versöhnlicher. „Genau so fangen Geschichten über Serienkiller an.“

Mit vor Erstaunen halb offenem Mund sah Scott die junge Frau an. Er wollte gerade in lautes Lachen ausbrechen, als sein Handy vibrierte.

 

 

Stumm las Scott die Nachricht und tippte dann seine Antwort. Er fühlte die Blicke von Gretchen und Scott auf sich wie Ameisen, die über seinen Körper krochen.

„Vic?“, fragte Ben vorsichtig nach.

Doch zu Bens Enttäuschung schüttelte Scott den Kopf. „Meine Eltern“, log er. „Ich habe zwei Tage Zeit, das Haus wieder in Ordnung zu bringen, bevor sie zurück sind.“

Gretchen, die jede noch so winzige Veränderung in Scotts Mimik beobachtete und registrierte, versuchte zu lächeln. „Sag mir nur eines, Scott: du hast Vic nicht verraten, wo du wohnst, oder?“

Scott schüttelte vorsichtig den Kopf. „Keine Sorge.“

Gretchen schien besänftigt zu sein – vielleicht wollte sie auch nur endlich ihre Ruhe vor diesem Thema haben –, und trotzdem musste er aufpassen, nicht mit einem unbedarften Satz wieder ihr Misstrauen zu erwecken.

Scott schob sich noch eine Gabel voll Reis in den Mund, obwohl sein Magen bereits wie verrückt schmerzte. Die Krämpfe waren kaum noch auszuhalten und Scott wäre am liebsten aufgesprungen und ins Bad gerannt. Er spürte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Stirn ausbreitete und nutzte einen unbeobachteten Moment, um ihn wegzuwischen.

Gretchen und Bens Stimmen klangen seltsam verzerrt zu ihm durch. Wie defekte Lautsprecherboxen, die die Höhen und Tiefen nicht mehr richtig halten konnten. Ihr Lachen kroch in seine Gehörgänge und hallte dort unangenehm wider. Ein paar Mal schon wollte seine Hand instinktiv zu seinem Ohr hin, um es sich zuzuhalten, doch Scott widerstand diesem Zwang in letzter Sekunde.

Die Luft hier drin war stickig. So kam es Scott zumindest vor. Jeder Atemzug, den er tat, schien nicht wirklich etwas zu bringen. Er fühlte sich wie nach einem Halbmarathon oder einem fiesen grippalen Infekt; ausgelaugt und energielos.

Er war heilfroh, als sich Ben und Gretchen endlich verabschiedeten. Kaum waren die beiden zur Tür hinaus, rannte Scott los.

 

Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, den Deckel der Toilette hochzuheben, ehe sein Magen endgültig alles loszuwerden versuchte, was er in den vergangenen Stunden aufgenommen hatte. Und weil er weder Gretchen noch Ben hatte beunruhigen wollen, war das eine ganze Menge an chinesischem Essen und Bier gewesen.

Schließlich war sein Magen absolut leer und Scott sank erschöpft vor der Toilette zu Boden. Das war schlimmer als jeder Kater, den er bisher so gehabt hatte.

„Das ist normal.“

Ohne den Blick zu heben, nickte Scott. „Weiß ich.“

„Es liegt nur an dir, wie lange du das Theater noch mitmachen möchtest.“

Scott nickte erneut. Auch das wusste er.

 

meins!

Er gab es nicht gerne zu, aber Gretchen hatte Ben mittlerweile mit ihrem Misstrauen gegenüber Scotts neuer Bekanntschaft angesteckt. Eine Weile hatte er sich dagegen gewehrt, dass sie Recht haben könnte, aber irgendetwas stimmte nicht mit diesem Typen. So hatte er Scott nicht gekannt. Nicht mal zu seinen schlimmsten Zeiten war er so unberechenbar gewesen.

Nachdenklich tippte Ben das Foto an, das Scott vor zwei Wochen in der Toilette dieser ranzigen Bar geschossen hatte. Es war nicht schwer, zu erraten, was der Auslöser von Scotts plötzlichem Sinneswandel war. Doch die einzige Frage, die blieb, war noch immer unbeantwortet.

Ben tippte den Messenger an und kontrollierte noch einmal, ob die Antwort wegen des schlechten Empfangs nur nicht zu ihm durchgegangen war, aber nichts dergleichen traf zu. Der Empfang hier war sogar ausgezeichnet. Besser, als er es von jedem öffentlichen Wi-Fi in der Stadt her kannte. Er befand sich hier immerhin gerade mitten auf dem Land und trotzdem konnten sich hier Fuchs und Hase per Highspeed Gute Nacht wünschen.

Der einzige Tag, an dem hier tote Hose herrschte, war Montag. Da war die Bar geschlossen. Vermutlich hatte Scott es irgendwann gewusst, warum es bis Dienstag gedauert hatte, bis sich Vic bei ihm gemeldet hatte, aber diese Frage hatte er ihm ja auch nicht beantwortet. Konnte er wohl auch nicht mehr.

Ben hob den Blick und betrachtete sich das Wandgemälde, das Scott bei ihrem ersten Besuch hier so fasziniert hatte. Er hielt sein Handy mit dem Foto neben das Gemälde und verglich beide miteinander. Es schien, als wären ein paar Augen dazugekommen, hier rechts unten.

Die mit toten Insektenleibern gefüllte Neonröhre an der Decke flackerte und Ben beugte sich ein wenig näher zu dem Graffiti hin, um noch alles erkennen zu können. Sein Zeigefinger fuhr die schwarzen Linien nach, die sich mal hier hin und mal da hin wanden.

Was war der Sinn hinter diesem Gemälde? Wieso diese Mühe?

Noch einmal flackerte die Neonröhre an der Decke erschöpft auf. Ben sah nach oben und im gleichen Augenblick erlosch das Licht.

 

Die Dunkelheit war so tief und undurchdringlich, dass Ben im ersten erschrockenen Moment völlig vergaß, dass er ein Handy besaß. Sekunden später glomm das Display kalt in der Dunkelheit auf. Das bläuliche Licht strich über das Graffiti und brachte die Fliesen zum Schimmern.

Gretchen würde das toll finden. Endlich ein Grund mehr, weswegen sie Ben als Idioten bezeichnen konnte. Und es traf zu, wie er neidlos zugeben musste. Er war ein Idiot, genau wie Scott. Immerhin stand er hier, wo alles seinen Anfang genommen hatte und das trotz genügend Warnungen. Aber wenn er ehrlich war, hätten die Warnungen schon vor zwei Wochen nichts mehr genutzt, als noch alles normal schien.

Der Starter der Neonröhre klackte unaufhörlich. Es passte ganz gut zum Rhythmus des tropfenden Urinals und zu dem leise murmelnden Lüfter.

Es wurde Zeit, dass er hier verschwand. Keine der Fragen, die sich angehäuft hatten, bekam er hier beantwortet. Weder Scotts seltsames Verhalten, noch sein plötzliches Verschwinden vor fünf Tagen.

Mit dem Handy leuchtete sich Ben den Weg aus der Toilettenkabine raus. Er fühlte den Luftzug der Toilettentür im Rücken, als sie hinter ihm zuschwang. In der gleichen Sekunde empfing er eine Nachricht.

Boo! stand in dem kleinen Fenster und dahinter ein Geister-Smiley.

Ben sah auf und schrak zurück.

 

„Victor“, blaffte ihn der junge Mann vor sich an, der förmlich aus dem Nichts hier aufgetaucht war, und seine heisere Stimme hallte dabei von den Wänden wider. Er stand so still da, dass man ihn für einen Schatten hätte halten können. Die schmale dunkle Silhouette hob sich deutlich gegen die hellen Fliesen im Vorraum der Toilette ab. Mit katzenhaften Bewegungen näherte er sich Ben, der den Fluchtweg zwischen sich und dem Fremden abzuschätzen versuchte.

Victor hielt ebenfalls ein Smartphone in der Hand, dessen Licht das blasse Gesicht des Unbekannten noch bleicher wirken ließ. „Das war doch eine deiner Fragen, nicht wahr?!“

Bens Herz schlug ihm so fest gegen die Rippen, dass er kaum noch Luft holen konnte. Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch seine verkrampfte Kehle ließ nicht den winzigsten Laut durch. Er nickte, was sein Gegenüber mit einem selbstgefälligen Lächeln quittierte.

Victor sah auf sein Handy hinab. „Tut mir leid, aber ich weiß nicht, wo er ist“, sprach er weiter. „Möglich, dass er wieder zurückkommt, sobald er verstanden hat, was mit ihm passiert ist.“ Victor machte eine kurze Pause, in der er Ben treuherzig anlächelte. „Er hat sicher spannendes zu erzählen, wenn er wieder da ist, jede Wette.“ Er lachte und es klang so kratzig wie rostige Nägel auf einer Schiefertafel.

Ben machte einen Schritt rückwärts. Die Tür zur Toilette schwang ein Stück auf, als er mit dem Rücken dagegen stieß.

„Ich wusste, dass ich euch beide bekomme.“ Victor hatte es nicht eilig, Ben zu folgen. Wo sollte der schon großartig hin? „Ach ja, die nächste Frage“, schien es Victor einzufallen. Ohne Eile holte er den Abstand, den Ben zwischen sie gebracht hatte, wieder auf und stand nun so dicht vor Ben, dass dieser einen durchdringenden muffig-süßen Geruch wahrnahm, den der junge Mann verströmte.

Victor hob den Arm und lächelte mild, als Ben instinktiv zusammenzuckte. Er griff an dem zitternden Häufchen vorbei zur Tür und drückte sie ein bisschen weiter auf.

Ben fiel fast rückwärts zu Boden. Im letzten Moment konnte er sich mit einer Hand am Türrahmen festhalten.

„Das Bild“, säuselte Victor und Ben lief es dabei kalt den Rücken hinunter.

Er zwang sich dazu, Victor nicht aus den Augen zu lassen. Victor konnte ja kaum älter als er selbst sein. Er sah aus wie einer von ihnen mit einem etwas veralteten Modegeschmack. Wie konnte jemand so normal wirken und dabei jedes Wort, das er aussprach, so grauenvoll klingen lassen, dass es einen kalt überlief? Er sah gar nicht aus wie ein irrer Killer. Aber was wusste er schon über Killer?

Ben fielen plötzlich tausend weitere Fragen zu den tausend schon bestehenden ein.

„Das Bild“, wiederholte Victor seinen begonnenen Satz. „Es ist so eine Art Familienportrait.“ Er lächelte Ben wieder so treuherzig an, wie kurz zuvor.

Ein Familienportrait. Natürlich. Das normalste auf der Welt... Ben nickte erneut. Wenn er eines aus dem Fernsehen gelernt hatte, dann, dass man Irren nicht widersprechen durfte.

„Du hast ja keine Ahnung, wie irre das alles tatsächlich ist“, flüsterte Victor und amüsierte sich über Bens ertappten Gesichtsausdruck.

Das Licht an der Decke flammte wieder auf und Ben hätte am liebsten laut geschrien. Im gleichen Moment, in dem er die raubtierhaften Eckzähne seines Gegenübers sah, schlugen sich eben diese auch schon in seinen Hals, so dass jeder aufkommende Laut erstickt wurde. Es fühlte sich an, als reiße ihm der Fremde bei lebendigem Leib die Kehle raus, und die Ohnmacht, die sich kurz darauf ankündigte, war Ben mehr als willkommen.

 

 

Wenige Minuten später schlug Ben die Augen langsam wieder auf. Er hatte nicht damit gerechnet, überhaupt wieder zu Bewusstsein zu kommen, und doch war es so. Sein Hals schmerzte wie die Hölle und er merkte, wie etwas Feuchtes dort hinab floss. Geträumt hatte er das alles also scheinbar nicht.

Vor ihm stand Victor und grinste ihn etwas beschämt an. Sein Mund und sein Kinn waren mit Blut beschmiert. Mit seinem Blut, wie Ben vermutete. Entsetzt sah Ben auf seine Brust hinab, über die sich ein breiter Strom aus Blut ergoss. Mit jedem Pulsieren wurde es mehr.

„Das hört gleich auf, keine Sorge“, erklärte ihm Victor seelenruhig. „Tut mir leid, normalerweise kann ich mich eigentlich ganz gut beherrschen“, entschuldigte er sich so arglos, als hätte er sich einfach nur am Buffet zu viel auf den Teller geladen, anstatt Bens Hals zerfetzt zu haben.

Zitternd betastete Ben die Bescherung. Ihm wurde schlecht, als er die Hautfetzen unter den Fingern spürte, unter denen weiteres Blut hervorquoll.

„Entschuldige bitte vielmals.“ Victor verdrehte theatralisch die Augen. „Oh, da fällt mir noch was ein: das Familienportrait.“

Mit einer Hand packte Victor den überrumpelten Ben am Hals und zwang ihn gewaltsam, auf dem Toilettensitz Platz zu nehmen. Bens Hinterkopf stieß dabei so hart gegen die gekachelte Wand hinter ihm, dass er einen Moment benommen die Luft anhielt.

Victor war ungewöhnlich stark. Selbst mit einer Hand hielt er den zappelnden Ben ohne Schwierigkeiten in Schach. Seine Fingernägel bohrten sich wie Stacheldraht in seine Haut, so dass Ben es schließlich aufgab, sich dagegen zu wehren. Er spürte wie seine Halsschlagader heftig unter dem unnachgiebigen Griff pulsierte und langsam wurde ihm flau.

Mit seiner freien Hand kramte Victor nun in seiner Hosentasche, aus der er schließlich einen schwarzen Permanentmarker zu Tage förderte. Er klemmte sich das Ende mit der Verschlusskappe in den Mund und zog dann kräftig an dem Stift. Victor spuckte die Kappe aus, die klappernd über den gefliesten Boden sprang und irgendwo verschwand. Dann wandte er sich wieder an Ben, der keuchend dasaß und sein Gegenüber aus panisch aufgerissenen Augen anstarrte.

„Und jetzt schön stillhalten und mich anschauen“, raunte Victor verschwörerisch und lächelte Ben so freundlich an, wie wohl nur ein Raubtier seine Beute anlächeln würde.

 

 

* E N D E *



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Abys
2019-06-02T13:41:24+00:00 02.06.2019 15:41
Huhu.

Schöner Schreibstil. Immernoch.
Ich lasse dir mal liebe Grüße da. Eventuell erinnerst du dich noch an mich. :)
Von: abgemeldet
2017-12-27T16:33:03+00:00 27.12.2017 17:33
Wieder erschauert es mich. Das letzte Kapitel ist toll und gruselig zugleich, was vor allem an Victor liegt. Er ist so gelassen und kühn, dass es einem den Atem stockt, aber er ist auch so gruselig und gefährlich, dass man nicht mit Ben tauschen möchte. Das Geheimnis um das Gemälde hatte mich sehr überrascht. Als Vic sagte, es wäre ein Familienportrait, dachte ich erstdaran, dass er alle Augen jener verewigte, die er verwandelt hat. Aber es sind vielmehr seine Opfer, was die Angelegenheit wieder sehr gruselig macht. Auch wenn Ben es nun nicht mehr beherzigen kann, möchte ich sagen: „Ganz ehrlich, man muss kein Genie sein, um zu wissen, dass bei Nummern, die in Toiletten an der Wand stehen, nichts Gutes herauskommt.“
 
Deine Geschichte ist, und ich kann mich da nur wiederholen, einmalig toll. Ich liebe deinen Schreibstil, deine Art Spannung aufzubauen und dein Detailreichtum. Ich bin sicher, wenn du die Geschichte richtig veröffentlichen würdest (außerhalb von Animexx meine ich), würde sie sehr viele Liebhaber finden! Allein aus Neugierde, was aus Scott und Victor wird, würde ich nach einer Fortsetzung verlangen.Hat Scott sich für die Verwandlung entschieden, oder ist er tot, wie Ben glaubt?
Von: abgemeldet
2017-12-27T16:32:19+00:00 27.12.2017 17:32
Dieses Kapitel führt die Spannung auf ihren Höhepunkt, finde ich. Scott hatte eine Antwort vom mysteriösen Künstler erhalten, aber was war danach passiert? Hat Scott geantwortet? Irgendwas war auf jeden Fall, denn Scott ist sehr seltsam drauf. Ich habe ja die Vermutung, dass Vic mit ihm etwas angestellt hat und ich tendiere ganz stark zu einer Verwandlung zum Vampir. Die „Symptome“ lassen ja nicht soooo viel anderes zu. Aber, ha! Ben war doch ziemlich neugierig wegen dem Künstler. Am Ende war seine Neugierde ja doch größer als seine paranoiden Sorgen!
Von: abgemeldet
2017-12-27T16:31:42+00:00 27.12.2017 17:31
Oh, Scott. Scotty. Scottylein. So verzweifelt wegen einer Handynummer an einer unbedeutenden Wand. Scott muss sich echt viel von dem Augenbild versprechen, wenn er nach drei Tagen noch immer verrückt danach ist und es in- und auswendig zu kennen scheint. Wird man verrückt, je länger man das Bild ansieht? Bei Scott sieht es ganz danach aus! Er ist wirklich verrückt, aber wenigstens hat er jetzt eine Antwort bekommen, wenn auch eine enttäuschende Nachricht. Als ich die Geschichte das erste Mal gelesen habe, dachte ich, dass di Nachricht bedeutet, dass sich schon jemand anderes vor Scott gemeldet hatte und die zwei Personen schon etwas Lustiges erlebt hatten. Ich denke, wenigstens zum Teil war das richtig.
Von: abgemeldet
2017-12-27T16:31:08+00:00 27.12.2017 17:31
Ich melde mich schwer verspätet in den Kommentaren zu deiner Story. Das tut mir echt leid, es ging in meinem Schreibwahnsinn für meine Bachelorthesis unter. Aber jetzt bin ich da, ich bin da.
 
Ich hatte dir ja schon geschrieben, dass deine Geschichte spitze ist. Jetzt, wo ich sie noch einmal lese, finde ich sie immer noch spitze! Dein Schreibstil ist so herrlich detailreich und hebt sogar Dinge hervor, die woanders sehr schnell unter den Tisch fallen. An diesem Kapitel mag ich die ausführlichen Gedanken von Scott, besonders die zur Landschaft in der Toilette. „Fjorde aus das-wollte-eigentlich-niemand-so-genauwissen.“ Und das Gespräch mit Ben. Ehrlich gesagt, war ich Bens Meinung, dass man besser keine Nummer von der Toilettenwand anruft. Aber ich wollte genau wie Scott wissen, was hinter dem gruseligen Gemälde an der Wand steckt. Ich meine, wie kommt man darauf viele, viele Augen an die Wand zu malen, auf einer schlecht besuchten und gepflegten Herrentoilette? Ich war erleichtert, dass Scott den Künstler stellvertretend für uns alle anschrieb. Ich hätte es nicht getan. Nie-mals.
 
Als besonderes Leckerlie des Kapitels möchte ich die geile Bewertung des Lokals hervorheben. 3 ½ Sterne sind da echt noch gut gewählt. 4 ½, wenn man den Stern für Gretchens Drink dazu zählt.


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