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Wertewandel der digitalen Gesellschaft Digitalisierung, Politik, Wirtschaft

Autor:  halfJack

Gar nicht so einfach, diesem Thema einen Namen zu geben. Bei Wertewandel denken wir wahrscheinlich in erster Linie an gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen, aber mir geht es hier auch um die Definition des Wertes an sich, um das neue Kapital und um eine moderne Interpretation von Marx, die uns mittlerweile an vielen Stellen begegnet.

Ich möchte in diesem Eintrag ein paar Videos sammeln, die sich mit dem Wertewandel unserer Gesellschaft in jener doppelten Auslegung befassen. Das dient mir eigentlich zur Übersicht und um ein paar Gedanken festzuhalten. Aber vielleicht findet auch der eine oder andere Mitleser etwas Interessantes für sich oder hat etwas beizusteuern.
 

Digitaler Kapitalismus
Michael Seemann beschäftigt sich hier mit der Frage, wie sich durch die Digitalisierung das Kapital eines Unternehmens wandelt und was für Auswirkungen das auf Eigentum, Arbeit, Markt und Wachstum hat. Frühere Definitionen dieser Aspekte können solche modernen Unternehmensstrukturen nicht mehr erfassen (genauso wenig, wie es unsere Steuern tun).

Seemann ist nicht der beste Redner, aber seine Darstellung ist auch für Laien leicht verständlich. Er schneidet nachvollziehbar ein paar Negativaspekte von Datensammlung / Big Data an, beispielsweise Preisdiskriminierung durch das Abgreifen eines consumer surplus. Die Probleme müssen demnach nicht gleich bei Horrorszenarien wie in China beginnen.
 

Digitale Dystopie in China
Trotzdem ist Big Data in China das Beispiel schlechthin für eine Dystopie der Digitalisierung. Noch ein Beleg dafür, dass unsere Vorstellungen von Kapitalismus und Sozialismus langsam obsolet geworden sind, denn die Kontrolle der Regierung wird in diesem Fall über das Punktesystem von Alibaba ausgeübt, also mit kapitalistischen Mitteln.

Es ist wie eine Payback-Karte für Gedankenkontrolle. Wer die richtigen Produkte kauft, bekommt Pluspunkte und somit Vergünstigungen in allen Bereichen, er erhält Reisefreiheit und Vorteile im Job. Wer hingegen die falschen Produkte kauft (Alkohol, Videospiele etc.) oder sich auffällig verhält, seine Rechnungen zum Beispiel nicht pünktlich zahlt, erhält Punktabzug. In Zukunft kann es sich in China ebenso negativ auswirken, mit den falschen Leuten befreundet zu sein. Um den eigenen Wohlstand nicht zu gefährden, nimmt man vielleicht lieber Abstand von Menschen, die einen niedrigen Punktescore haben. Somit können der Regierung unliebsame Personen sozial isoliert werden, ohne sie überhaupt noch inhaftieren zu müssen.
 

Yanis Varoufakis über Kapitalismus
Zurück zu Europa und einem Mann, den ich sehr schätze: Yanis Varoufakis, ehemaliger Finanzminister in Griechenland. Es ist zwar eine Sendung über Philosophie, aber in dem Gespräch geht es viel eher um Politik und Wirtschaft. Die ersten zehn Minuten drehen sich größtenteils um Kindheit und Jugend von Varoufakis, danach reitet der Moderator lange auf unwichtiger Kleiderordnung rum. Der ist mir ohnehin unsympathisch, zitiert falsch und haut sogar ein paar eigentlich schon rassistische Aussagen raus (die Griechen seien ein unehrliches Volk oder so). Aber nach einer Viertelstunde geht es dann um Kapitalismus und den Unterschied zwischen Preis und Wert bzw. eine neue Art von Wertschöpfung, die von Kapital und Geld unabhängig ist.

Es geht u.a. um die Entfremdung von der eigenen Arbeit und um Disintermediation in allen Bereichen. Viele Berufsfelder sind überflüssig geworden, ein Resultat davon sind Bullshit-Jobs, daher sollten wir uns darauf besinnen, welchen (Lebens-)Wert wir uns wirklich erarbeiten. Ein paar der angeschnittenen Aspekte werden auch im folgenden Jung&Naiv-Interview nochmal aufgegriffen.
 

Varoufakis über die Situation in Europa
Das Interview ist vom letzten Jahr, Varoufakis sagt bereits den Untergang der SPD bei der folgenden Wahl voraus, was vielleicht kein Talent ist, wenn man die Entwicklung beobachtet hat. Interessanter ist allerdings seine Vorstellung von einem bedingungslosen Grundeinkommen, das er mehr als einen Anteil am Kapital der digitalisierten Großkonzerne sieht. Damit sind wir wieder beim ersten Thema angelangt: Big Data als neuem Kapital der Unternehmen. Da wir gezwungenermaßen unsere Daten abgeben und Konzerne damit arbeiten, sind wir quasi zu inoffiziellen Mitarbeitern geworden. Daher fordert Varoufakis eine Dividende für alle Bürger aus dieser neuen Wertschöpfung.

Anfangs noch belächelt und für naiv und utopisch gehalten, so ist das bedingungslose Grundeinkommen mittlerweile in die politischen Diskussionen eingegangen. Auch das ist ein Zeichen des doppelten Wertewandels unserer Gesellschaft.
 

Richard David Precht über den historischen Kontext
Precht sieht die mögliche Umsetzung eines bedingungslosen Grundeinkommens in einer Finanztransaktionssteuer. Das Interview hier ist ganz informativ, weil er auf die Entwicklung der letzten 100 Jahre eingeht und erklärt, warum das keine Träumerei, sondern eher ein logischer Schritt ist, da sich unsere Gesellschaft in diesem tiefgreifenden Wandel befindet.

Anfang der 70er Jahre gab der Club of Rome mit den "Grenzen des Wachstums" eine noch heute bekannte Studie in Auftrag, die den Fortschritt, nicht nur mit Blick auf die Ressourcen, in seine Schranken weist. Die Vorteile des Kapitalismus und der Globalisierung trugen zum Frieden bei und gingen mit einer Fortschrittsgläubigkeit einher. Fortschritt war automatisch positiv konnotiert. Aber diese Perspektive sollte nun langsam zu einem Ende kommen. Eine moralische Umorientierung zeichnet sich bereits ab und spiegelt sich in den zahlreichen Debatten über Nachhaltigkeit wider. Der Wandel sollte sich aber auch bei Bildung, Arbeit und Wertschöpfung zeigen.