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Das Buch der Weisheit Bibliotheca Mystica, Manga, Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Es heißt, wer dieses Buch, das von einem unbekannten Autor in lateinischer Sprache verfasst wurde, in seinen Besitz bringt, erfährt damit die allumfassende Wahrheit über diese Welt und erhält die Weisheit, wie sie sonst nur ein das menschliche Dasein transzendierendes göttliches Wesen besitzen kann. Man sagt, wer von dem Buch der Weisheit auserwählt wird, erlangt entweder die Weisheit, mit der er diese Welt regieren und beherrschen kann, oder aber ihn überkommt die fatale Eingebung, diese Welt zugrunde zu richten.

"Dieses Buch bringt das wahre Potenzial, das im Gehirn eines Kindes steckt, zum Vorschein. Unter geistig Behinderten oder Autisten gibt es in seltenen Fällen Menschen, die über außergewöhnliche Rechenfähigkeiten oder übermenschliches Erinnerungsvermögen verfügen. Im Grunde schlummert im Gehirn eines jeden Menschen ein solches Potenzial.
In diesem Buch wird beschrieben, welche Umstände nötig sind, um durch neue Verknüpfungen das Gehirn so umzupolen, dass es in der Lage ist, dieses Potenzial a posteriori auszureizen. Der Verfasser dieses Buches muss also ein ganz besonderes Genie gewesen sein... Vielleicht war er aber auch der Teufel?
Erinnerungsvermögen, Rechenfähigkeiten und dergleichen gehörten zu den Dingen, mit denen Religionsführer und Staatsmänner seit jeher das unwissende Volk geführt haben. Wer im Besitz dieser Fähigkeiten ist, hat jedoch gar nicht die Absicht, die Welt zu verbessern.
In uns könnte sehr schnell der Wunsch aufkommen, anstelle der ignoranten Erwachsenen über die Menschheit zu herrschen. Wenn wir das wollten, wäre das ein Leichtes für uns. Wir müssten einfach nur bei der Wirtschaft ansetzen. Erst durch schlaue Investitionen Geldmittel anhäufen und mit Termingeschäften weiter vermehren. Damit sind selbst in kurzer Zeit große Gewinne zu machen. Mit genügend Geld ist es dann ein Leichtes, auf die Politik Einfluss zu nehmen. Dann zettelt man in politisch instabilen Ländern Kriege an und macht auf diese Weise wiederum Profit. Man kann sich auch die Religion zunutze machen. Menschen in Sorgen und Not sind so leicht zu beeinflussen.
Aber wir werden das nicht tun. Denn was hätten wir denn davon, wenn wir die Menschheit beherrschten?
Wir wären damit Tag und Nacht beschäftigt. Aber wofür? Wir müssten schwer dafür arbeiten, die Herrscher der Welt zu werden, nur um dann womöglich Opfer von Attentaten durch unsere Untergebenen zu werden. Warum sollte es unsere Aufgabe sein, das ignorante Volk anzuführen? Da uns die Menschheit doch nur Steine in den Weg legt, wo sie nur kann. Wenn man sich die Wahrscheinlichkeit vor Augen hält, dass das alles gut für uns ausgeht, scheint das den ganzen Aufwand nicht wert. Und sollte es doch klappen und wir eines Tages unermessliche Reichtümer angehäuft haben, was machen wir dann? Uns auf die faule Haut legen und das Leben genießen? Das können wir auch jetzt schon. Völlig ohne die ganze Vorarbeit. Es wäre einfach nur dumm, sich solche Anstrengungen aufzubürden."

Der Grund, warum das Buch der Weisheit keine Gefahr darstellt, lässt sich mit einer einfachen Metapher veranschaulichen:
Mit dem Spiel Drei gewinnt.

o o x
x x o
o o x


Alle Kinder spielen dieses Spiel mit großer Begeisterung. Als Erwachsener spielt dieses Spiel jedoch so gut wie niemand mehr. Warum ist das so?
Weil man nach einer gewissen Weile erkennt, dass dieses Spiel immer in einem Unentschieden endet, wenn man weiß, was man tun muss, ganz egal, ob man das Spiel als erster Spieler beginnt, und ganz egal, ob man als Kreuz oder als Kreis spielt.
Das kann man nun leicht auf die Kinder übertragen, die durch das Buch der Weisheit mit dem Verstand eines Genies gesegnet wurden. Wer das Buch der Weisheit liest und dadurch mit einem brillanten Verstand ausgestattet ist, wird sich unweigerlich für ein Leben des Nichtstuns entscheiden, weil alles ohnehin keinen Unterschied mehr macht.
Das Leben ist wie ein Spiel, aber man hat dabei nur einen Versuch. Wer die Zukunft nicht kennt, kann sich an Neuem versuchen, weil er zumindest weiß, dass nach einem Scheitern neue Möglichkeiten warten. Menschen mit außergewöhnlichem Intellekt neigen tendenziell eher zu Angstzuständen und Depressionen. Sie verzweifeln vermehrt an der hohen Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns, bevor sie sich einer Herausforderung stellen, was sie letzten Endes handlungsunfähig macht.
Vielleicht sollte man von den Menschen, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte einen Namen gemacht haben, weniger als Genies denken, sondern vielmehr einfach als Menschen, die nicht recht Verzicht üben konnten und besonders ausdauernd waren.

"Bibliotheca Mystica" von Mikumo Gakuto

Das Buch der Weisheit Bibliotheca Mystica, Manga, Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Es heißt, wer dieses Buch, das von einem unbekannten Autor in lateinischer Sprache verfasst wurde, in seinen Besitz bringt, erfährt damit die allumfassende Wahrheit über diese Welt und erhält die Weisheit, wie sie sonst nur ein das menschliche Dasein transzendierendes göttliches Wesen besitzen kann. Man sagt, wer von dem Buch der Weisheit auserwählt wird, erlangt entweder die Weisheit, mit der er diese Welt regieren und beherrschen kann, oder aber ihn überkommt die fatale Eingebung, diese Welt zugrunde zu richten.

"Dieses Buch bringt das wahre Potenzial, das im Gehirn eines Kindes steckt, zum Vorschein. Unter geistig Behinderten oder Autisten gibt es in seltenen Fällen Menschen, die über außergewöhnliche Rechenfähigkeiten oder übermenschliches Erinnerungsvermögen verfügen. Im Grunde schlummert im Gehirn eines jeden Menschen ein solches Potenzial.
In diesem Buch wird beschrieben, welche Umstände nötig sind, um durch neue Verknüpfungen das Gehirn so umzupolen, dass es in der Lage ist, dieses Potenzial a posteriori auszureizen. Der Verfasser dieses Buches muss also ein ganz besonderes Genie gewesen sein... Vielleicht war er aber auch der Teufel?
Erinnerungsvermögen, Rechenfähigkeiten und dergleichen gehörten zu den Dingen, mit denen Religionsführer und Staatsmänner seit jeher das unwissende Volk geführt haben. Wer im Besitz dieser Fähigkeiten ist, hat jedoch gar nicht die Absicht, die Welt zu verbessern.
In uns könnte sehr schnell der Wunsch aufkommen, anstelle der ignoranten Erwachsenen über die Menschheit zu herrschen. Wenn wir das wollten, wäre das ein Leichtes für uns. Wir müssten einfach nur bei der Wirtschaft ansetzen. Erst durch schlaue Investitionen Geldmittel anhäufen und mit Termingeschäften weiter vermehren. Damit sind selbst in kurzer Zeit große Gewinne zu machen. Mit genügend Geld ist es dann ein Leichtes, auf die Politik Einfluss zu nehmen. Dann zettelt man in politisch instabilen Ländern Kriege an und macht auf diese Weise wiederum Profit. Man kann sich auch die Religion zunutze machen. Menschen in Sorgen und Not sind so leicht zu beeinflussen.
Aber wir werden das nicht tun. Denn was hätten wir denn davon, wenn wir die Menschheit beherrschten?
Wir wären damit Tag und Nacht beschäftigt. Aber wofür? Wir müssten schwer dafür arbeiten, die Herrscher der Welt zu werden, nur um dann womöglich Opfer von Attentaten durch unsere Untergebenen zu werden. Warum sollte es unsere Aufgabe sein, das ignorante Volk anzuführen? Da uns die Menschheit doch nur Steine in den Weg legt, wo sie nur kann. Wenn man sich die Wahrscheinlichkeit vor Augen hält, dass das alles gut für uns ausgeht, scheint das den ganzen Aufwand nicht wert. Und sollte es doch klappen und wir eines Tages unermessliche Reichtümer angehäuft haben, was machen wir dann? Uns auf die faule Haut legen und das Leben genießen? Das können wir auch jetzt schon. Völlig ohne die ganze Vorarbeit. Es wäre einfach nur dumm, sich solche Anstrengungen aufzubürden."

Der Grund, warum das Buch der Weisheit keine Gefahr darstellt, lässt sich mit einer einfachen Metapher veranschaulichen:
Mit dem Spiel Drei gewinnt.

o o x
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Alle Kinder spielen dieses Spiel mit großer Begeisterung. Als Erwachsener spielt dieses Spiel jedoch so gut wie niemand mehr. Warum ist das so?
Weil man nach einer gewissen Weile erkennt, dass dieses Spiel immer in einem Unentschieden endet, wenn man weiß, was man tun muss, ganz egal, ob man das Spiel als erster Spieler beginnt, und ganz egal, ob man als Kreuz oder als Kreis spielt.
Das kann man nun leicht auf die Kinder übertragen, die durch das Buch der Weisheit mit dem Verstand eines Genies gesegnet wurden. Wer das Buch der Weisheit liest und dadurch mit einem brillanten Verstand ausgestattet ist, wird sich unweigerlich für ein Leben des Nichtstuns entscheiden, weil alles ohnehin keinen Unterschied mehr macht.
Das Leben ist wie ein Spiel, aber man hat dabei nur einen Versuch. Wer die Zukunft nicht kennt, kann sich an Neuem versuchen, weil er zumindest weiß, dass nach einem Scheitern neue Möglichkeiten warten. Menschen mit außergewöhnlichem Intellekt neigen tendenziell eher zu Angstzuständen und Depressionen. Sie verzweifeln vermehrt an der hohen Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns, bevor sie sich einer Herausforderung stellen, was sie letzten Endes handlungsunfähig macht.
Vielleicht sollte man von den Menschen, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte einen Namen gemacht haben, weniger als Genies denken, sondern vielmehr einfach als Menschen, die nicht recht Verzicht üben konnten und besonders ausdauernd waren.

"Bibliotheca Mystica" von Mikumo Gakuto

Wissen aus Gewohnheit Literatur, Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Die Dinge haben ihren eigenen Charakter. Immer ist uns die Hälfte verborgen. Die Flasche Sprudel, der Bleistift, die Lampe, alles sehen wir nur halb, nur von vorn, von schräg vorn, von oben, aber nie komplett, nie ganz. Die wahren, die vollkommenen Dinge liegen immer im Dunkeln. Wir sind begrenzte Wesen. Wenn ich die Flasche greife, um aus ihr zu trinken, woher weiß ich, dass sie eine Rückseite hat? Ich stelle mir die Rückseite nur vor. Ich bilde sie mir ein. Ich gehe einfach davon aus, dass es sie gibt. Ich tue so, als ob ich es sicher wüsste. Nicht mehr und nicht weniger.

"Das Zimmermädchen" von Markus Orths

Zufall und Schicksal Philosophie

Autor:  halfJack
Zufall und Schicksal sind die zwei Seiten einer Medaille, gegensätzlich unterstützt von Realisten und Träumern. Manche sprechen davon, den Teufel an die Wand zu malen, und klopfen auf Holz, weil sie sein Erscheinen fürchten. Etwas Unheilvolles ausgesprochen zu haben soll die Ursache für das spätere Unglück sein. Gestern war Freitag, der 13te. Ein idealer Tag, um übergeordneten Mächten die Schuld an den zufällig passierenden Unfällen zu geben. Ich höre sehr oft, es könne gar kein Zufall sein, dass zwei scheinbar unzusammenhängende Ereignisse plötzlich aufeinandertreffen. Jeder kennt vermutlich diese Momente, in denen man zum Beispiel etwas sagt und das Gesagte zeitnah eintritt. Sobald jemand felsenfest behauptet, die Wahrscheinlichkeit sei zu gering, dass es sich hierbei um Zufall handelt, frage ich stets: Was soll es sonst gewesen sein? Schicksal?
Vielleicht wäre es interessant, jemanden mit Block und Papier loszuschicken, der eine Strichliste darüber führt, wann auf eine Aussage kein besonderes Ereignis folgt. Die sogenannten schicksalshaften Begebenheiten kämen dann vermutlich nicht einmal mehr auf ein Prozent. Da fragt man sich, ob es nicht schon ein unwahrscheinlicher Zufall ist, dass es von diesen Schicksalsereignissen nicht noch viel mehr gibt. In therapeutischen Fragebögen nennt man das „magisches Denken“. (Ich persönlich würde darunter auch jede religiöse Idee verbuchen.) Wie mir aufgefallen ist, suchen Menschen oft bei Zufällen eine Erklärung, die nicht kausal belegt werden kann. Man redet von Karma oder davon, dass jeder irgendwann bekommt, was er verdient.
In meinem folgenden Beitrag beschäftige ich mich allerdings nicht oberflächlich, sondern historisch philosophisch mit diesem Thema, das bereits im Naturalismus und Materialismus der Antike eine Rolle spielte, wenn auch keine, der damals sonderlich viel Beachtung geschenkt wurde. Alexander von Aphrodisias ist selbst schon kein Philosoph, der sich seiner Bekanntheit rühmen kann. Und Aristoteles hat darüber nur geschrieben, weil er über so gut wie jedes Thema irgendwann mal etwas geschrieben hat. Es wird ab hier also sehr theoretisch.
Alexander von Aphrodisias stellt in seiner Abhandlung "Über das Schicksal" zwei Positionen gegenüber, die das Wesen der Welt zu beschreiben versuchen, auf der einen Seite die stoische Schule und auf der anderen die Lehre von Aristoteles, welche Alexander selbst vertritt und verteidigt. Der Mensch ist diesen naturalistischen Theorien zufolge kein autonom agierendes Wesen. Im Zuge dessen liefern beide philosophischen Anschauungen verschiedene Definitionen für solcherlei Zuschreibungen wie das Schicksal, den Zufall oder die daraus erwachsende Frage der Verfügungsgewalt von Lebewesen. Letzteres wird dem Menschen sowohl von den Stoikern als auch von den Peripatetikern zugestanden. Auf den ersten Blick erscheint es wie ein Widerspruch, dass die Gemeinsamkeit dieser Philosophien in den Annahmen besteht, alle Ursachen seien kausal miteinander verbunden, aber es würden trotzdem Willensfreiheit und Selbstbestimmung existieren. Diese Antinomie wird meines Erachtens von den Positionen durch das Moment der Verfügungsgewalt gelöst, wobei die jeweiligen Begründungen differieren.
Ich greife deshalb nebenbei Aristoteles auf, weil Alexander von Aphrodisias in seiner Einteilung der werdenden Dinge die aristotelische Vorlage nachvollzieht, vielleicht sogar präzisiert. Besonderes Augenmerk legt er hierbei auf die Einordnung des Zufalls. Demnach wird dem Zufall das Schicksal entgegengestellt, obwohl beide auf ähnliche Weise über das Leben zu bestimmen scheinen. Die Eigenverantwortlichkeit des Individuums kommt natürlich auch wieder zum Zug. (Das ist ohnehin etwas, worüber ich stundenlang schwafeln könnte.)
Alexander von Aphrodisias legt fest, alles Werdende entstünde entweder mit einem Zweck respektive Ziel oder ohne ein solches. Unter den werdenden Dingen lässt sich sicherlich einiges aufzeigen, das ohne Ziel entsteht, wenigstens ohne erkennbares. Es wird allerdings die Frage aufgeworfen, ob eine derartige Entsprechung auch auf den Zweck angewandt werden kann. Schließlich kann das ziellos Werdende oder Gewordene trotzdem einen Zweck erfüllen, sobald ein Lebewesen, das sich damit konfrontiert sieht, ihm einen solchen zuschreibt. Alexander von Aphrodisias gibt keine genauere Definition dessen, was man sich unter einem Ziel oder einem Zweck vorzustellen hat und worin die Unterschiede zwischen beiden zu suchen sind. Die Bedeutung der zwei Begriffe soll an dieser Stelle eingeschränkt werden auf die Festlegung eines Endpunktes, des Weiteren auf ein aus Ursachen vollzogenes Ergebnis sowie auf das vom handelnden Lebewesen Angestrebte. Mehr Beachtung erhalten dagegen die um einer Sache willen werdenden Dinge. Diese wiederum unterteilen sich in naturgemäß Geschehendes, das den Grund seines Werdens in sich selbst hat, und vernunftgemäß Geschehendes, das seine bewirkende Ursache gerade nicht in sich selbst trägt und erst durch das Nachdenken darüber zustande kommt.
Abgesehen von den Aspekten aus Mathematik und Informatik, auf die ich hier nicht eingehen will, sind wir damit beim Random. Ist der Zufall als eine dritte Kategorie unter den Dingen einzufügen, die wegen etwas entstanden sind, oder gehört er den Bereichen der naturgemäß bzw. vernunftgemäß werdenden Dinge an? Folgendermaßen erklärt Alexander von Aphrodisias den Zufall als das, was anders geschieht, als es aus dem Grund, aus dem es geschieht, hätte geschehen müssen. Das Ergebnis des Zufallsereignisses unterscheidet sich demnach von dem zu Beginn angestrebten Ziel oder impliziert zumindest manches, das über das erste Ziel hinausgeht. Dieser Erklärung zufolge ist es besonders bei den vernunftgemäß werdenden Dingen anzunehmen, dass sie aus Zufall entstehen können, da Vernunft nur von Individuen getragen werden kann, die sich ihres Handelns und somit des zuvor geplanten Zieles bewusst sind, sodass diese Individuen darüber entscheiden und erkennen können, ob etwas aus Zufall mehr oder anders geworden ist, als es dem ursprünglichen Ziel entspricht. Hingegen ist eine Reflektion über das naturgemäß Passierende und dessen vorangegangene Zielsetzung sowie die vollständige Erkenntnis über die natürliche Ursachenverkettung nicht so einfach anzustellen. Dafür nämlich müsste vorausgesetzt werden, dass der Betrachter, der in dem naturgemäß eintretenden Geschehen einen Zufall zu erkennen vermeint, sich darüber im Klaren ist, welches Ziel die Natur in erster Linie verfolgte. Die Entschlüsselung der teleologischen Natur wiederum würde offenbaren, was aus Zufall verfehlt worden wäre. Es heißt, die Natur mache keine Fehler und würde alles treffend einrichten. Schon allein aus diesem Grund scheint eine zufällige Verfehlung nicht den naturgemäß werdenden Dingen eigen zu sein.
Das bedeutet, dass der Zufall den vernunftgemäß um einer Sache willen werdenden Dingen zugeordnet werden kann, auch wenn Alexander von Aphrodisias eine solche Zuteilung nicht eindeutig vornimmt. Die These soll anhand des Vergleiches mit den aristotelischen Ausführungen bestätigt werden. Zu der genannten Thematik äußert sich Aristoteles nämlich wie folgt:

„Das eine (das Zufallsereignis) hat seine Ursache außerhalb seiner, das andere (das Naturereignis) in sich selbst.“¹

Wenn das Zufallsereignis seine Ursache nach Aristoteles außerhalb seiner selbst hat, es demnach kein Naturereignis sein kann, dann kommt der Zufall den vernunftgemäß werdenden Dingen zu, deren Anfang und bewirkende Ursache für ihr Dasein außerhalb ihrer selbst zu finden sein muss. Denn Zufall kann es nur für vernünftige Lebewesen geben, die in der Lage sind, ihn in den Geschehnissen zu erkennen. Trotz dieser Zuordnung stellt sich die Frage, inwiefern sich der Zufall dieser Bestimmung folgend überhaupt von jenen werdenden Dingen unterscheiden lässt, die nicht um einer Sache willen, also ohne Ziel geschehen, da der Zufall eben kein Ziel zu erfüllen vermag, wodurch er letztlich auch erst als Zufall bezeichnet werden kann.
Im Gegensatz zu den Stoikern sieht Alexander von Aphrodisias nicht alles als starr festgelegt. Das Schicksal tritt seiner Meinung nach als wirkende Ursache auf, vergleichbar mit einem Künstler, der ein Kunstwerk erschafft. Diese Erklärung ist zurückzuführen auf die vier Ursachenarten bei Aristoteles, die alles Sein auf Stoff, Form, Zweck und Wirkursache zurückführen. Demzufolge entspräche das Schicksal dem Letztgenannten. Die scheinbar determinierende Gewalt des Schicksals wird allein deshalb, weil es lediglich eine Ursache unter anderen ist, bereits so weit eingeschränkt, dass sich das Individuum nicht mit dem Verweis auf die eigene Machtlosigkeit von jeder Verantwortlichkeit freisprechen kann.
Nichtsdestotrotz entzieht sich das Schicksal dem vernunftgemäßen Nachdenken des Menschen. Es ist nicht möglich, eine außerhalb liegende Ursache des Schicksals anzugeben. Aus diesem Grund muss es den naturgemäß werdenden Dingen angehören. Alexander von Aphrodisias geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er ausführt, Schicksal und Natur seien Dasselbe:

„Denn das Schicksalsverhängte ist der Natur gemäß, und das Naturgemäße ist vom Schicksal verhängt.“²

Erstaunlicherweise wird mit dieser Erklärung dem Begriff des Schicksals jeglicher mystisch übertriebene Beiklang genommen und ihm stattdessen ein rationales Fundament bereitet.
Würde jede Handlung des Menschen beispielsweise aufgrund des Schicksals aus Notwendigkeit geschehen, dann wären Überlegungen irrelevant und ohne Sinn. Die Natur würde mit der Vergabe der Vernunft sich selbst ad absurdum führen, was der Voraussetzung, nichts sei ohne Grund, zuwiderliefe. Den Menschen unterscheidet jedoch naturgemäß von anderen Lebewesen, dass er seine Wahrnehmung überprüfen und vermittels des Verstandes entscheiden kann, ob die Erscheinung auch wahr sei. Einer Katze erscheint es nicht fragwürdig, einem Lichtstrahl hinterher zu jagen, weil sie ihn für etwas Greifbares hält. Der Mensch aber ist in der Lage, zu deduzieren, dass es sich nur um die Reflektion der Sonne auf einem Stück Glas handelt. Ein weiteres Beispiel findet sich in optischen Täuschungen. Im Wasser erscheint ein Stab gebrochen, und obwohl der Mensch seine Wahrnehmung nicht derart korrigieren kann, um die Erscheinung an die Wirklichkeit anzugleichen, besitzt er doch die Entscheidungsgewalt darüber, das Wahrgenommene als falsch zu erkennen.
Die Stoiker begrenzen die Verfügung des Menschen darauf, dass er nach der Prüfung der Erscheinung aus innerem Antrieb seine Zustimmung geben könne. Alexander von Aphrodisias widerspricht dieser Argumentation, da hierin nur eine Freiwilligkeit zur Handlung gefunden werden kann, die genauso gut allen anderen Lebewesen zukommt, nicht aber eine Eigenverantwortlichkeit, die gerade der Natur des Menschen entspricht. Erst aus der Vernunft entsteht Verfügungsgewalt, weil der Mensch die Möglichkeit besitzt, auch das Gegenteil einer Handlung zu wählen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein Lebewesen, das nicht des Vernunftschlusses befähigt ist, kann das Vorliegen des Zufalls nicht ausmachen. Dazu gehört die Erkenntnis darüber, was das eigentliche Ziel des Geschehens hätte sein sollen, sowie das Wissen um jenes andere Ziel, das zwar nicht im gleichen Zusammenhang angestrebt, aber dennoch gewollt wurde. Anhand ihrer Eigenschaften determinieren Zufall und Schicksal das Werdende auf sehr ähnliche Weise. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass der Zufall den vernunftgemäß werdenden Dingen zukommt und dementsprechend aufgefasst werden kann, wohingegen das Schicksal seine Ursache naturgemäß in sich selbst trägt. Zufall und Schicksal sind somit voneinander verschieden. Ihr Einfluss auf die menschlichen Handlungen wird insofern gehemmt, wie der Mensch sich entschließt, die Dinge als wahr oder falsch aufzufassen. Seine von der Natur gegebene Verfügungsgewalt gibt ihm mit der Vernunft das Mittel an die Hand, um die eine oder andere Handlung zu wählen.
Man könnte es auch anders formulieren: als ein Naturgesetz. Löst sich ein Blatt vom Ast, dann ist es gleichsam Zufall wie Schicksal, dass es zur Erde segelt. Schicksal einerseits wegen der Vorhersagbarkeit des Falls, andererseits wegen der Gravitation, gegen die sich das Blatt nicht wehren kann. Zufall wäre es laut David Hume, der meinte, dass wir kausale Gesetze nur aufstellen können, weil sie nach unseren Beobachtungen zufällig stets aufeinander folgen. Das eigentlich Spannende ist, dass nur der Mensch in der Lage ist, über diese Festlegung zu urteilen. Erst recht dann, wenn er eine Sekunde vorm Laubflug sagte: "Blatt, löse dich vom Ast!"

¹ Aristoteles: Physikvorlesung, Berlin 1967 [Werke in deutscher Übersetzung, Band 11], S. 83.
² Alexander von Aphrodisias: Über das Schicksal, Berlin 1995, S. 37.

Kaiser-Kennedy-Legende Humor, Literatur, Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Für leichtgläubige Menschen weise ich lieber gleich zu Anfang darauf hin, dass man den folgenden Beitrag von Leszek Kolakowski nicht so ernst nehmen sollte. Wahrscheinlich ist er nur für Historiker amüsant, für angehende Historiker womöglich sogar lehrreich.

Die Kaiser-Kennedy-Legende: eine neue anthropologische Debatte

Die 6684. jährliche Zusammenkunft der Akademie der Wissenschaften löste eine hitzige Kontroverse aus. Der Hauptvortrag der Tagung war der kaum bekannten Legende eines Kaisers namens Kennedy gewidmet, der in der fernen Vergangenheit vGK (vor der Großen Katastrophe) zwei riesige Länder beherrscht haben soll. Dr. Rama, der Verfasser des Vortrags, verglich und analysierte alle verfügbaren Quellen äußerst gewissenhaft. Dies ist allerdings keine umfassende Sammlung, gemessen etwa an der Materialmenge, die wir über einen anderen Herrscher, Alfonse XIII., besitzen, der ein anderes Land namens Espagna einige Zeit früher oder später regiert haben soll. Aber Dr. Rama wies nach, dass sich aus den bestehenden Quellen mehr ableiten lässt, als die Gelehrten für möglich hielten. Bekanntlich waren nach der Großen Katastrophe, die sich in den Jahren 0-72 (angenähert) abspielte, als etwa zwei Drittel des bewohnbaren Landes von Wasser überschwemmt und die übrigen Teile von gewaltigen Explosionen unbekannter Herkunft fast völlig zerstört wurden, nur acht Bücher aus der vorhergehenden Periode unversehrt erhalten geblieben. Es sind:

John Williams Creative Gardening, Omaha, Nebraska (ob es sich bei Omaha, Nebraska um eine oder zwei Personen handelt, ist noch umstritten)
Alice Besson La vie d’une idiote racontée pas elle-même, Roman (Das Buch scheint in einem Land oder einer Gegend namens Gallimard gedruckt worden zu sein)
Laszlo Warga Bridge for Beginners, aus dem Ungarischen übersetzt von Peter Harsch, Llandutno 1966
Dirk Hoegeveldt De Arte Divinatoria Romanorum, Lukdini Bat 1657
Annurario telefonica di Ferrara
Arno Miller Neue Tendenzen in amerikanischen Sozialwissenschaften, Hoser Verlag, Erlangen 1979
Dinah Elberg All my Lovers

Wir haben das achte Buch ausgelassen, da es – abgesehen von dem geheimnisvollen Wort Nagoya, das von der zweiten bis zur letzten Seite auftauchte – einen völlig unbekannten Schrifttyp aufwies; den besten Experten zufolge war Nagoya wahrscheinlich eine Zauberformel, welche die besten Geister aus einem fremden Land verscheuchen sollte. Übrigens ist keines der Bücher bis jetzt ganz entschlüsselt worden. Aber einige kleinere oder größere Bruchstücke existieren nun in befriedigenden Übersetzungen. Man braucht nicht zu erwähnen, dass die Ziffern in den Büchern sich vermutlich auf Jahreszahlen beziehen: Da wir jedoch nichts über die Methode und den Beginn der Zeitrechnung in der vGK-Ära wissen, ist es unmöglich, die Ereignisse korrekt zu datieren. Zudem wissen wir nicht, ob man die Jahre vorwärts oder rückwärts zählte. Viele Wissenschaftler meinen, es sei nicht ausgeschlossen, dass man die Jahre durch eine Zahl kennzeichnete, die dem bis zur Großen Katastrophe noch bevorstehenden Zeitraum entsprach, wodurch das Jahr 1657 z.B. dreihundert Jahre später – nicht früher – als das Jahr 1957 stattfand.
Die Kaiser-Kennedy-Legende wird nur in einem der gerade aufgeführten Bücher erwähnt, was einige Gelehrte zu der These veranlasste, dass sie unter den Wilden nicht weit verbreitet war, oder als unwichtig galt. Aber die Legende erscheint mehrere Male in fast zwei Dutzend fragmentarisch erhaltenen Büchern sowie in mehr als 220 Zeitschriften, die bis jetzt geborgen worden sind – dreizehn von ihnen fast unversehrt (darunter Chemical Engineering, Trybuna Ludo, Crosswords for Children – das nahezu unverständlich ist – Il Messaggero und Vuelta). Dr. Rama hat das gesamte Material gründlich untersucht, und liefert die erste zusammenhängende Interpretation. Die Hauptkomponenten sind seinen Forschungen gemäß folgende:
1. Präsident (ein Titel von obskurer Herkunft, offenbar gleichbedeutend mit Kaiser) Kennedy beherrschte gleichzeitig zwei große Länder, die Amerika und USA hießen.
2. Er stammte von einer legendären Insel namens Irland im hohen Norden. Ob diese Insel identisch ist mit einer anderen namens Island, die in einer weiteren Quelle erwähnt wird, bleibt vorläufig noch ungeklärt. Vielleicht wurden durch einen Druckfehler zwei Länder aus einem gemacht.
3. Er war reich.
4. Er kämpfte gegen die Herrschaft dreier anderer Königreiche namens Russland, Sowjetunion und Kuba. Anscheinend besiegte es sie, wurde dann aber seinerseits in einer Schlacht besiegt, die in der Schweinebucht stattfand. Trotzdem blieb er weiterhin der Kaiser jener beiden Länder.
5. Eines der feindlichen Länder namens Berlin (fast mit Sicherheit ein anderer Name für Russland) baute eine gewaltige Mauer, um die Armee des Kaisers am Einmarsch zu hindern. Aber der Kaiser verkündete von ebendieser Mauer mutige Schmähungen gegen die Feinde.
6. Er hatte zwei Brüder. Der ältere wurde vor und der jüngere nach dem Tode des Kaisers ermordet.
7. Der Kaiser selbst wurde von seinen Feinden verwundet und starb.
8. Seine Witwe Jaqueline heiratete später einen „Millionär“.
Dr. Rama entdeckte eine weitere vordem unbekannte Einzelheit von großer Bedeutung. Auf einer halben Seite, die von der Zeitschrift Ici Paris überkommen ist, wird der Kaiser als „un grand cureur des jupes“ bezeichnet. Die einzig plausible Übersetzung dieser Wendung besagt, dass er häufig in Röcken herumlief. Da dokumentiert ist, dass Röcke ausschließlich weibliche Kleidungsstücke waren, scheint offensichtlich, dass der Kaiser eine androgyne Gestalt – mit männlichen wie weiblichen Eigenarten – verkörperte. Dr. Rama korrigierte auch die falsche Interpretation des Wortes „Millionär“, das bis vor kurzem unkritisch als „reicher Mann“ übersetzt wurde. Er fand eine bisher vernachlässigte Bemerkung in einem Fragment des Miami Star, in dem es heißt: „Was ist heutzutage schon eine Million? Kaum mehr als eine Handvoll Erdnüsse.“ Da die Erdnuss eine sehr kleine Nuss war, ist ein Millionär keineswegs ein reicher, sondern ein armer Mann, der kaum etwas sein Eigen nennt, nur ein paar Erdnüsse. Dies fügt sich gut in Dr. Ramas Interpretation ein.
Dr. Rama ist, wie es der Zufall will, ein Schüler des berühmten Gelehrten Levi Strauss, der spezielle Hosen für spezielle Hosen für männliche wie weibliche Menschen herstellt und deshalb argumentiert, alles lasse sich als eine aus Gegensatzpaaren bestehende Struktur betrachten, sodass jeder Begriff eines Paares ohne den anderen bedeutungslos sei. Wenn man z. B. ein Hosenbein abschneide, sei das andere bedeutungslos. Dr. Rama bedient sich dieses hermeneutischen Verfahrens und bietet die folgende Interpretation der Legende an:
Der Mythos von Kaiser Kennedy war ein Versuch, grundlegende unversöhnliche Widersprüche menschlichen Lebens in der mythologischen Vorstellung in Einklang zu bringen. Da ist zuerst der Gegensatz von Träumen und Realität. In einer Quelle wird Amerika – eines der beiden Länder, die er regierte – der „Traum der Menschheit“ genannt, während in einer anderen Quelle von der „brutalen Realität der USA“ die Rede ist, was eindeutig zeit, dass die „USA“ als real galten. Damit vereinigte sich Traum und Realität in der Person Kennedys. Zweitens haben wir es mit dem Gegensatz von Nord und Süd zu tun. Er kam aus dem Norden, aber er regierte den Süden, wie aus einem Fragment hervorgeht, in dem unzweideutig erklärt wird, dass der „Süden im Bann von Kennedys Magie“ ist. Da der Süden in dieser Periode heiß und der Norden kalt war – beides unangenehme Zustände, wenn auch aus verschiedenen Gründen – erwartete man offenbar, dass die Gestalt des Kaisers die Nachteile sowohl des Nordens wie des Südens auf magische Weise beseitigen könne.
Wissenschaftler haben sich viele Gedanken gemacht, um den mythologischen Sinn der Kriege zu erklären, die der Kaiser ausfocht, aber auch in diesem Punkt hat Dr. Rama eine kluge Interpretation gefunden. Wir erinnern uns, dass der Kaiser männliche wie weibliche Eigenschaften verkörperte. Anscheinend ermutigte er seine Untertanen, Männer zu werden (laut dem gerade zitierten Ici Paris machte er viele Leute zu „cocus“, das heißt du „coqs“, Hähnen). In den meisten Mythologien ist der Hahn ein Phallussymbol, aber Kennedys Niederlage wurde ihm, wie erwähnt, von Schweinen zugefügt, und Schweine waren ebenfalls ein Männlichkeitssymbol („diese männlichen Chauvinistenschweine“, lesen wir in einem Fragment der Broschüre „Das unsägliche Märtyrertum amerikanischer Frauen“). Auf diese Weise bildet sich eine komplizierte männlich-weibliche Dialektik aus der Legende heraus: Die männlich-weibliche Gestalt bringt Männer hervor, wird von Männern besiegt und letztlich ermordet, mutmaßlich von einer Frau oder auf Befehl einer Frau. Die letztgenannte Tatsache wurde durch den Vergleich von zwei Quellen nachgewiesen: Auf einer von mehreren Seiten, die von einem Büchlein mit dem Titel „Wahre Fakten über die Sowjetunion“ erhalten sind, lesen wir, dass „das Glück sowjetischer Frauen unbeschreiblich“ ist, während in einer anderen Quelle – der Seite einer Zeitung mit dem rätselhaften Namen „The Times“ – vom „tiefsten Elend sowjetischer Männer“ gesprochen wird. So erkennen wir, dass zumindest in einem der wichtigsten Feindesländer die Frauen glücklich und die Männer unglücklich waren, was darauf hindeutet, dass dieses Land eine Art Gynekokratie war.
Wir schließen mithin, dass der Versuch des Kaisers, den männlich-weiblichen Gegensatz zu überwinden, von beiden Seiten – männlich wie weiblich – angegriffen wurde und mit der Katastrophe endet. Die Legende soll beweisen, dass die männlich-weibliche Synthese unmöglich ist.
Das letzte Gegensatzpaar, auf dem die Legende aufbaut, ist das der Begriffe „reich“ und „arm“. Der Kaiser war reich, aber wie es in einem Beleg heißt, „ein Streiter für die Armen“. Offenbar symbolisierte er den Versuch, den linguistischen Kontrast zwischen Wohlstand und Armut aufzuheben. Die Tatsache, dass er besiegt wurde, und seine Gattin (als Frau eines „Millionärs“) verarmte, ist der Beweis dafür, dass sein Bemühen scheiterte, diese beiden gegensätzlichen Begriffe in Einklang zu bringen.
Die tiefe pessimistische Bedeutung des Mythos ist: die grundlegenden Widersprüche des menschlichen Lebens könne nicht beseitigt werden – jeder Versuch, zwischen ihnen Harmonie herzustellen, ist nichtig.
Dr. Ramas Interpretation erhielt zwar von vielen Wissenschaftlern Applaus, wurde aber keineswegs von allen akzeptiert. Die stärkste Attacke führte Dr. Gama, ein Anhänger des berühmten Dr. Sigmund Fraud, der eine weitere (sogenannte analo-psychische) Schule der Hermeneutik begründete. Dr. Gama stellte praktisch alle Einzelheiten von Dr. Ramas Interpretationen und den gesamten Überbau von Herrn Levi-Strauss‘ Hosen-Doktrin in Frage. Dr. Frauds Theorie besagt, die Menschen wünschten nichts anderes als sich dauernd zu paaren, aber um zu überleben, nötigten sie einander auch andere Dinge zu tun, was sie unglücklich mache: infolge dieser Unglückseligkeit schrieben manche Menschen Gedichte, andere begingen Selbstmord, wieder andere würden führende Politiker etc. „Ich gebe zu“, sagte Dr. Gama, „dass Dr. Rama einige interessante Tatsachen gefunden hat, die ein neues Licht auf die Legende werfen. Aber seine phantastische Interpretation ist völlig unhaltbar. Neue Fakten bestätigen wiederum, dass nur fraudsche Theorie einen Schlüssel zu der Geschichte liefern kann. Ihre wahre Bedeutung ist für jeden unvoreingenommenen Geist offenkundig. Das Schwein, weit davon entfernt ein Männlichkeitssymbol darzustellen, stand für einen weibischen Mann, einen Castrato: Wie man weiß kastrierte man damals männliche Schweine,die später zur Ernährung verwendet wurden.
Die Wendung „diese männlichen Chauvinistenschweine“ unterstützt Dr.Ramas Spekulation keineswegs, sondern passt sich nahtlos in die Fraudsche Doktrin ein. Gewiss, wir haben es mit einer Beschimpfung zu tun, aber sie bezieht sich auf kastrierte Männer, die also keine Nachkommenschaft hervorbringen können. Das Wort Chauvinist ist noch nicht hinreichend erklärt, aber höchstwahrscheinlich ist es mit „chauve“, das heißt kahl oder haarlos, verwandt. UndKahlheit war ein weiteres Zeichen von Entmannung, während Haare männliche Tüchtigkeit versinnbildlichten. Damit ist die Interpretation klar: der Kaiser wurde im Land der „Castrati“ („Schweine“) besiegt und musste mit Röcken bekleidet fliehen – nicht, weil er eine androgyne Gestalt war, wie Dr.Rama behauptet, sondern weil er unzweifelhaft halb männlich war; mit anderen Worten, er dürfte nahezu mit Sicherheit kastriert gewesen sein. Tatsächlich versuchte er anderen Männern – die vermutlich ebenso kastriert waren wie er selbst – ihre Männlichkeit zurückzugeben. Aber er scheiterte. Wenn die Frauen in einem der Feindesländer glücklich und die Männer unglücklich waren, so wahrscheinlich deshalb, weil man die Männer in diesem mythologischen Land kastriert hatte. Nachdem die Frauen den Gegenstand ihres Neides beseitigt hatten, waren sie glücklich. Welche Erklärung könnte plausibler sein? Folglich ist die Legende ein Ausdruck, der universellen menschlichen Kastrationsangst und das Scheitern des Kaisers symbolisiert den Umstand, dass Kastration unumkehrbar ist. Die Theorie von Dr.Fraud hat sich wieder einmal bestätigt.
Dies war jedoch nicht das Ende der Tagung. Ein anderer Wissenschaftler, Dr.Ngama, griff beide vorangegangenen Interpretationen an. Prof.Ngama ist ein Schüler des großen Dr.Calamarx: die Theorie des letzteren besagt, dass es reiche und arme Menschen gibt, die gegeneinander kämpfen und im Laufe ihrer Auseinandersetzung verschiedene Mythologien erfinden; Die Mythologien der Reichen sollten alle überzeugen, dass die Reichen reich und die Armen arm zu bleiben hätten, während die Mythologien der Armen das Gegenteil beabsichtigen. In der Zukunft – bewies Dr.Calamarx – würden die Armen alle Reichen umbringen und danach würden alle Menschen sehr, sehr glücklich sein. Prof.Ngama erläuterte: „Jedem, der bei klarem Verstand ist, sollte deutlich sein, dass, wissenschaftlich gesprochen, die beiden bei dieser Konferenz vorgelegten Theorien nicht nur falsch, sondern auch reaktionär sind. Dr.Ramas Pseudotheorie läuft auf die Behauptung hinaus, die angeblichen „Strukturen“, die er sich ausgedacht hat, seien unveränderlich – mit anderen Worten, reiche Menschen würden stets reich und arme Menschen stets arm sein. Was Dr.Gamas Theorie betriftt, so verkündet sie, dass arme Menschen, statt gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, sich nur sorgen um den möglichen Verlust ihres sexuellen Vermögens machen sollten.
Dabei liegt die wahre Bedeutung der Legende auf der Hand. Das der reiche Kaiser selbst reich war, ist nebensächlich für die Geschichte, da alle Kaiser der Vergangenheit reich waren – nur in dem universellen Glückszustand der Zukunft werden die Kaiser arm sein. Relevant ist, dass der Kaiser ein Streiter für die „Armen“ war, wie sogar meine Gegner einräumen mussten. Daraus lässt sich schließen, dass seine Feinde Streiter für die Reichen waren, denn alle Kämpfe sind letztendlich auf den Konflikt zwischen reich und arm zurückzuführen. Alle bekannten Elemente des Mythos untermauern diese Interpretation. Der Kaiser wurde von Schweinen besiegt, doch Schweine – die keineswegs dieses oder jenes sexuelle Symbol darstellten, wie die Theorien meiner Gegner „zeigen“ sollen – waren symbolische Bilder des Reichtums. Beide Sprecher zogen es vor, ein Flugblatt, unterzeichnet von der „Absoluten Revolutionären Unbesiegbaren Weltbefreiungsbewegung der Rackernden Massen“ – außer acht zu lassen, in dem es eindeutig heißt: „Bringt die reichen Schweine um!“ Dieser edle Kaiser, ein Streiter für die Armen, wurde heimtückisch von seinen Feinden ermordet, aber Dr. Rama selbst wies nach, dass seine Witwe später einen armen Mann heiratete. Die Botschaft der Legende ist also folgende: ein großer Kämpfer für die Sache der Armen ist getötet worden, aber das Ringen geht weiter. Die Legende gehört unbestreitbar zu der Folklore armer Menschen, und die Richtigkeit von Dr. Calamarx‘ unüberwindlicher Theorie ist wieder einmal unterstrichen worden.
Mit drei widersprüchlichen Theorien konfrontiert, musste die Akademie die Wahrheit – wie üblich – durch Abstimmung finden. Nach vier Wahlgängen, die keine klare Mehrheit erbrachten, entschieden die meisten Mitglieder sich im fünften Wahlgang für Dr. Gamas Erklärung, womit die Wahrheit von Dr. Siegmund Frauds Theorie endgültig und wissenschaftlich festgestellt war. Dr. Gama frohlockte, während die beiden besiegten Gelehrten, deren Irrtümer nun bloßgestellt waren, bitterlich weinten. Wer eine falsche antropologische Theorie verteidigt, kann mit dem Tode bestraft werden.

Leszek Kolakowski

Sehnsucht nach Glück Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Was den Rest der ersten Lebenshälfte, also das jugendliche Alter, trübt, ja unglücklich macht, ist das Jagen nach Glück, in der festen Voraussetzung, es müsse im Leben anzutreffen sein. Daraus entspringt die fortwährend getäuschte Hoffnung und aus dieser die Unzufriedenheit. Gaukelnde Bilder eines geträumten, unbestimmten Glückes schweben, unter kapriziös gewählten Gestalten, uns vor, und wir suchen vergebens ihr Urbild. Hierzu trägt freilich noch bei, dass meistens uns das Leben früher durch die Dichtung als durch die Wirklichkeit bekannt wird. Die von jener geschilderten Szenen prangen, im Morgenrot unserer eigenen Jugend, vor unserm Blick und nun peinigt uns die Sehnsucht, sie verwirklicht zu sehen - den Regenbogen zu fassen. So entsteht die Täuschung. Denn was allen jenen Bildern ihren Reiz verleiht, ist gerade dies, dass sie bloße Bilder und nicht wirklich sind und wir daher, bei ihrem Anschauen, uns in der Ruhe und Allgenugsamkeit des reinen Erkennens befinden. Verwirklicht werden heißt mit dem Wollen ausgefüllt werden, welches Wollen unausweichbare Schmerzen herbeiführt.
Ist sonach der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte Sehnsucht nach Glück, so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück. Denn mit ihr ist, mehr oder weniger deutlich, die Erkenntnis eingetreten, dass alles Glück chimärisch, hingegen das Leiden real sei.

Arthur Schopenhauer

Historiographie im Zirkel philologischer Zuschreibungen Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Vor dem frühen neunzehnten Jahrhundert wurde die Historiographie als Zweig der Redekunst und damit als passender Gegenstand für die Theorie der Rhetorik betrachtet. Im Gefolge der Bemühung, historische Studien wissenschaftlicher zu gestalten, wurde jedoch die Ehe der Historiographie mit der Rhetorik im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geschieden. Der zweifache Angriff auf die Rhetorik, zum einen seitens der romantischen Poetik, und zum anderen von Seiten des Positivismus, führte dazu, dass die Rhetorik von der westlichen Hochkultur in Acht und Bann geschlagen wurde. "Literatur" als Praxis des "Schreibens" nahm nun den Platz ein, den vormals die Redekunst innehatte, und die "Philologie" verdrängte die Rhetorik als die allgemeine Wissenschaft der Sprache. Das theoretische Problem der Geschichtsschreibung wurde von da an im Rahmen der Frage nach der Beziehung von Geschichte und Literatur erörtert. Da die Literatur aber gewöhnlich als das geheimnisvolle Ergebnis "dichterischer Kreativität" galt, war das Problem unlösbar. Hinsichtlich des Verhältnisses der Geschichte zur Philologie wurde allgemein anerkannt, dass die Philologie nichts anderes sei als die auf die Untersuchung sprachlicher Phänomene angewandte "historische Methode". Nun wurde aber die "historische Methode" ihrerseits einfach als die auf das Studium historischer (dokumentarischer) Zeugnisse angewandte "philologische Methode" betrachtet, womit sich das Methodenproblem in einem ausweglosen tautologischen Zirkel verfing.

Hayden White

Wenn ein Mensch lebt Philosophie

Autor:  halfJack

Warum soll man keinen Menschen töten?
Weil immer jemand deswegen weint.

Ich erinnerte mich daran, als meine Schwester und ich auf irgendeiner Beerdigung waren, von der ich jetzt nicht mehr weiß, wer eigentlich gestorben war, weil solche Veranstaltungen immer gleich ablaufen. Jedenfalls mussten meine Schwester und ich wegen irgendeiner Sache lachen, sodass wir es kaum zu unterdrücken vermochten, während wir von einigen Seiten böse Blicke ernteten. So ist es also, wenn man auf einer Beerdigung lacht, dachte ich damals.
Ich erinnere mich daran, dass bei irgendeiner Beerdigung, vielleicht war es dieselbe, sich ein paar Leute darüber aufregten, dass ein Bekannter von mir in Jeanshosen aufgetaucht war.
Und ich erinnere mich an das abgestumpfte Lächeln, als meine Mutter irgendwann sagte: "Das passiert halt."
Viel früher dachte ich noch nicht, dass so etwas "halt passiert". Aber da nahm ich auch noch an, man müsste auf Beerdigungen weinen und still sein. Jetzt weiß ich, dass man es auf unterschiedliche Weise hinter sich bringen kann, auch durch Lachen und Langeweile. Das passiert halt. Man gewöhnt sich an alles.
Mit der Zeit habe ich mich nur gewundert, was bei solchen Ereignissen alles erzählt wird. Von wem spricht der Typ da vorn? Das habe ich mich ständig gefragt. Eigentlich sollte man sich jedes Mal einen anderen aussuchen, der die Rede hält, sonst hört man stets dasselbe Zeug. Niemand sagt so etwas wie: "Wurde auch Zeit" oder "Na endlich".

Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt
Sagt die Welt, dass er zu früh geht
Wenn ein Mensch lange Zeit lebt
Sagt die Welt, es ist Zeit...
...dass er geht

(Puhdys)

Der Tod macht jeden Menschen zum Engel, zum fehlerlosen Nichts.
Jedes Mal mache ich mir einen Spaß daraus, mich von meinem eigenen Verhalten überraschen zu lassen, ob meine Hand ein wenig Erde ins Grab wirft oder ein paar Blumenblätter oder beides, was meist vorkommt, oder einfach gar nichts, man stelle sich das mal vor...

Kants Kontamination von Prädikation und Synthesis Philosophie

Autor:  halfJack

Im "Spiegel der Natur" stellt sich Richard Rorty die Frage, wie es überhaupt zu einer derartigen philosophischen Richtung wie der Erkenntnistheorie kommen konnte, die nach Descartes‘ Meditationen das Mentale als inneren Raum erfunden hat. Es wurde die Meinung postuliert, allein der Mensch hätte primären Zugang zu seinen mentalen Zuständen und nur aus dem eigenen Geist heraus sei es möglich, Erkenntnis zu erlangen. Trotz dieser nicht empirisch nachweisbaren Theorie begann sich die Philosophie als Wissenschaft zu verstehen und wurde unter Immanuel Kant sogar zum Fundament und Tribunal der Wissenschaft.
Doch was Kant mit seinen Anschauungen zu erreichen versucht, geht in einer Vermengung unterschiedlicher Begrifflichkeiten und Neudefinitionen unter. Soll über ein Erkenntnisproblem tatsächlich eine Theorie möglich sein, können wir nach Rortys These bloß von einem solchen Problem sprechen, wenn wir das Erkennen als eine Ansammlung von Darstellungen betrachten. Nur das bleibt für die Philosophie übrig, nachdem sich die Einzelwissenschaften so weit ausdifferenziert haben, dass sie unlängst in der Lage sind, alle Themengebiete abzudecken.
Darum ist zu klären, wie jene Kontamination aussieht, die Kant in seiner eigenen Rechtfertigungstheorie von John Locke aufnahm und fortführte. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Gebieten der Epistemologie, nämlich der Erkenntnis und der Erfahrung. Wie geht die moderne Philosophie sprachanalytisch mit diesen Themen um und welche Rolle spielt das für die Gesamtkritik Rortys?

Erkenntnisgewinn
Richard Rorty meint, die Wahrheit eines Satzes bestünde bei der Kantischen Philosophie darin, die beiden voneinander verschiedenen Vorstellungen von Anschauungen und Begriffen aufeinander zu beziehen.  In der "Kritik der reinen Vernunft" führt Kant diesen Gedanken so aus, dass unser Denken einen unmittelbaren Zugriff auf Anschauungen hat, um Erkenntnis zu erlangen. Durch die Sinnlichkeit, also die Fähigkeit zur Aufnahme äußerer Eindrücke durch die Sinne, erhalten wir Vorstellungen von diesen Anschauungen. Nach der Verarbeitung der Eindrücke entspringen unserem Verstand Begriffe. Alles Denken muss sich also auf Sinnlichkeit und Anschauungen beziehen, weil uns anders kein Gegenstand gegeben sein kann. Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit ist die Empfindung. Anschauungen, die sich auf den Gegenstand durch Empfindungen beziehen, sind empirisch und der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung.
Die vorkantische Philosophie stellte sich als Kampf zwischen Rationalisten und Empiristen dar. Erstere wollten jegliche Empfindungen auf bloße Begriffe reduzieren, während die Empiristen meinten, die Erkenntnis sei aus unserer Erfahrung gegeben und deshalb völlig begriffsfrei. Nach Rortys Meinung hätte man die Problematik anders beschreiben müssen, indem deutlich gemacht worden wäre, dass die Rationalisten nur Propositionen über sekundäre Qualitäten durch anders geartete Propositionen zu ersetzen suchten, die eine gleiche Funktion inne haben und dennoch mit Gewissheit zutreffen sollten.  Als Rückgriff auf Locke werden primäre Qualitäten dadurch charakterisiert, dass sie außerhalb des Geistes in undenkbaren Substanzen bestehen. Dagegen sind die sekundären Qualitäten sinnlich und existieren im Geist unabhängig vom Subjekt, somit jedoch abhängig von den primären Qualitäten, durch die sie veranlasst werden. Der Mensch kann nur durch seine Wahrnehmung auf die sekundären Qualitäten zugreifen, während ihm der direkte Zugang zu den primären Qualitäten verwehrt ist.  Diese Idee vergleicht Rorty mit dem Bild eines Spiegels, auf dem die äußere Natur in unserem Inneren aufgenommen und reflektiert wird. Nur so meint der Mensch über die Außenwelt Kenntnisse erlangen zu können und ist gleichzeitig davon überzeugt, aus erster Hand Zugang auf den inneren Spiegel zu haben, quasi als Schiedsrichter im Heimspiel über die eigene Erkenntnis.
Locke stellte bereits die Weichen für jenen Fehlschluss, der es scheinbar ermöglichen sollte, Fragen der Geltung mit der Genese zu beantworten. Dabei handelt es sich logisch um zwei voneinander völlig verschiedene Probleme, wenn ich mich auf der einen Seite frage, wie ich zu meiner Auffassung gekommen bin, und auf der anderen Seite wissen will, ob diese Auffassung wahr ist.
Nach der Kopernikanischen Wende Kants leiten sich Gegenstände von unserer Erkenntnis ab. Wir geben den Gegenständen unsere Begriffe, nicht andersherum. Denn sollten sich die Anschauungen nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten, dann könnte man Kant zufolge a priori nichts von ihnen wissen. Wenn sich aber das Objekt, das wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens richtet, ist diese Möglichkeit durchaus denkbar.
In diesem Zusammenhang schuf Kant in seiner Erkenntnistheorie einen umfassenden Begriffsrahmen, der die moderne Philosophie prägte. Es ging fortan um die Beziehung zwischen Universalien und dem Einzelnen, also dem Schluss vom Äußeren auf das Innere. Daraus ergibt sich ein weiterer Kritikpunkt Rortys. Es geschieht nämlich eine Vermengung von Prinzipien und Urteilen. Kant selbst spricht zwar von Begriffen, bezieht sich jedoch nicht auf Sätze oder Propositionen, sondern auf innere Vorstellungen.

Erfahrung
Ein zentraler Begriff der Erkenntnistheorie ist die Erfahrung, die in der Philosophie eine Bedeutung unabhängig von ihrer alltäglichen Verwendung erhalten hat. Um die Epistemologie zu verstehen muss man mittlerweile einen ganzen Katalog an Philosophen gelesen haben. Zwar bleiben die verwendeten Begrifflichkeiten gleich, sie werden jedoch von jedem Erkenntnistheoretiker mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen. Somit besteht die Erfahrung nur noch als „philosophischer Kunstausdruck“.
Descartes definierte als erster in einer dualistischen Vorstellung die Res cogitans als das denkende Ding, das der Mensch darstellt.  Das Mentale wurde somit zur eigenen abgetrennten Dimension. Im Zuge dessen erschuf John Locke eine Theorie der Erkenntnis, die auf der Analyse der mentalen Prozesse beruhte. Er griff den cartesianischen Dualismus auf, indem er das Erfahren in ideas of reflexion (das Denken) und ideas of sensation (die Wahrnehmung) unterteilte. Für Kant hingegen dient die Erfahrung als „Gegenstand und Methode der Erkenntnis“. In diesem Sinne stellt sie den „denkgesetzlichen Zusammenhang aller Funktionen der Erkenntnis“ dar.  Kant greift jedoch die epistemologischen Punkte Lockes auf, die Rorty im Kapitel über die Kontamination von Erklärung und Rechtfertigung kritisierte. Wenn man auf diese Weise denken und erkenntnistheoretische Schlüsse ziehen will, muss man sich auf die komplexen Annahmen und Begrifflichkeiten einlassen.
Unser Denken ist nur insofern „philosophisch, wenn es, wie das Kantische, nach Ursachen von, also gerade nicht nur nach Gründen für empirische Wissensansprüche sucht“.  Da Kant demnach nicht bloß Rechtfertigungen herausstellt, die uns zum Handeln bringen, betrachtet Rorty die Theorie Kants ungewöhnlicherweise als eine kausale Theorie. Im Rationalismus wird die Ursache notwendig mit der Wirkung verknüpft, doch für Kant stellt Kausalität (ähnlich wie bei David Hume) kein logisches Prinzip dar. Kant würde seine eigene Philosophie also nicht wie bei naturwissenschaftlichen Lehren als kausale Theorie auffassen. Diese Annahme Rortys führt zu einem Widerspruch. Nähme man in der Kantischen Philosophie Kausalität an, wäre die Notwendigkeit der Vernunft und des vernünftigen Handelns nicht mehr gegeben. Es geht schließlich nicht um die Rechtfertigung der Urteile, sondern um die Bildung und die Möglichkeiten unserer Vernunft.

Sprachspiel der modernen Philosophie
Die Kantische Philosophie besteht aus einer Vielzahl von Begriffen, die man verstehen muss. Aber gerade die Unterscheidungen und Gleichsetzungen jener Begriffe können zu der genannten Kontamination führen, sodass die Philosophie, um es mit Wittgensteins Worten zu beschreiben, ihr eigenes Sprachspiel besitzt, welches Außenstehenden unzugänglich bleibt. All jene Definitionen dienen bei Kant nur zur Begründung seiner Theorie und besitzen davon losgelöst keinen sinnvollen Inhalt. Grundsätzlich funktioniert jede erkenntnistheoretische Unterscheidung nur im Sprachspiel der Philosophie.
Philosophisches Denken setzt deshalb eine Unterscheidung von Anschauungen und Begriffen, Sinnlichkeit und Verstand bereits voraus und lässt sich auf Lockes Kontamination von Kausalität und Rechtfertigung ein.  Wenn Locke meint, dass nichts in unserem Intellekt sein kann, wenn wir es nicht vorher mit den Sinnen wahrgenommen haben, schließt sich Kant dieser Metaphorik an.
Um auf die von Rorty genannte Kontamination einzugehen, werden im Folgenden zuerst die Bezeichnungen geklärt. Die Prädikation, die ganz allgemein auch als Teil des Sprechaktes bezeichnet werden kann, stellt eine Handlung oder auch eine Aussage dar, bei der einem Gegenstand eine Eigenschaft oder Relation zugesprochen wird. Sie hat die Funktion, sprachliche Unterscheidungen einzuführen. In der Synthesis wird eine Vielzahl von Sinneseindrücken zu einer Vorstellungs- oder Begriffseinheit zusammengeschlossen. Explizit auf Kant bezogen bezeichnet das eine Verbindung der in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigkeit zu einer Einheit des Gegenstandes. In ihrer allgemeinsten Bedeutung definiert Kant Synthesis als „die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen“.  Synthetische Urteile erweitern im Gegensatz zu den analytischen Urteilen die Erkenntnis, da das Prädikat nicht im Subjekt enthalten ist. Diese Synthesis unterscheidet sich von Humes Auffassung der Ideen. Hume trennt zwischen Empfindung und Erinnern. Aller Stoff des Geistes ist aus dem inneren und äußeren Gefühl abgeleitet und die Gedanken lösen sich bei der Zergliederung in Vorstellungen auf, die den Empfindungen nachgebildet sind. Dagegen ist die Synthesis bei Kant eine Relation, die nur zwischen allgemeinen und einfachen Ideen bestehen kann. Rorty sieht diese Theorie durch die beiden Voraussetzungen gestützt, dass erstens Mannigfaltigkeit notwendig gegeben ist und dass zweitens eine Einheit daraus hergestellt wird.  Nach Kant könnten Humes Anschauungen nicht zu Bewusstsein gebracht werden, wenn sie nicht durch Begriffe synthetisiert werden würden. Wir können Bewusstsein nur von Dingen haben, die durch unser eigenes verbindendes Denken konstituiert wurden.
Rorty ist der Meinung, Kant hätte anstatt seiner irreführenden Gleichsetzung des einzelnen Urteils mit der sinnlichen Gegebenheit „Erkenntnis als eine Relation zwischen Personen und Propositionen“  beschreiben sollen. Es liegt also eine Verwechslung von Propositionen und Begriffen vor. Dahingehend folgt Rorty der Ansicht des späten Wittgensteins, dass Begriffe eben nicht alle gemeinten Inhalte ausdrücken können.
Wenn man sich keine Grundlage durch die Lektüre der wichtigsten erkenntnistheoretischen Philosophen geschaffen hat, stellen sich berechtigte Fragen ein. Woher nehmen wir dieses Mannigfaltige, das uns Kant als Voraussetzung vorstellt? Woher wissen wir, dass es mehr als eine solche Anschauung gibt? Gäbe es nur eine einzige, wäre so etwas wie Synthesis gar nicht nötig. Anschauungen und Begriffe sind in diesem Zusammenhang nur der „Kontextdefinition fähig“,  um die Theorie Kants zu stützen. Die beiden genannten Voraussetzungen sind nur dann als Rechtfertigung zulässig, wenn wir tatsächlich auf diese Weise Erkenntnis durch synthetische Urteile a priori erlangen können. Legt man die Bedingungen, die Kant postuliert, im Sinne Rortys aus, verliert unser Zugriff auf den Spiegel der Natur schlagartig an Relevanz. Das Bewusstsein als Forschungsgebiet im inneren Raum wird abgeschafft.

Fazit
In der dualistischen Vorstellung der Erkenntnistheorie stehen sich zumeist zwei nach Rorty unvereinbare Positionen gegenüber. Auf der einen Seite befindet sich die Genese als Ursprung und Ausgangspunkt, auf der anderen Seite die Geltung als Wahrheit unabhängig von der Wirklichkeit, mit Kants Worten also eine Relation zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Der Kantische Transzendentalismus kann im Sinne einer Geltungstheorie interpretiert werden, da es ihm um die Rechtfertigung und Begründung der menschlichen Erkenntnis geht. Damit Geltungsansprüche legitimiert werden können, müssen vorher fundamentale Bedingungen erfüllt sein. Das will Kant durch seine transzendentale Deduktion erreichen, indem Begriffe a priori festgelegt werden, die somit objektive Gültigkeit besitzen und allgemeine und notwendige Erkenntnis möglich machen. Im Neukantianismus wird der Geltung dementsprechend das Sein gegenübergestellt. Doch ist es ein Fehlschluss, von der Entdeckung automatisch auf die Begründung zu schließen. Die Erklärung auf der einen Seite stellt einen Schluss vom Gegenstand auf die Person dar, wohingegen die Rechtfertigung den Schluss auf eine Person nur durch die Proposition zulässt, also jenen gedanklichen Inhalt, der durch einen Satz ausgedrückt wird. Wenn wir nach synthetischen Urteilen a priori suchen, dann besitzen wir am Ende keinen privilegierten Zugang mehr zur Erkenntnis.
Nach Rortys Hauptthese liegt der Fehler der Erkenntnistheorie in der Verknüpfung des Mentalen mit dem Fundamentalen. Im Gegensatz zu der Idee des Bewusstseins, die Descartes, Locke und Kant gemeinsam war, vertritt Rorty in vielen Belangen einen holistischen Materialismus. Dabei orientiert er sich größtenteils an Heidegger, Wittgenstein und Dewey. Die vorherigen Annahmen der Philosophie werden demnach nicht widerlegt, sondern verabschiedet.

Das Fundament der Wissenschaft Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Im Aufbau der Wissenschaft gilt das heraklitische Wort, dass der Weg nach oben und der Weg nach unten derselbe ist. Je höher das Gebäude der Wissenschaft wächst und je freier es sich in die Lüfte erhebt, umso mehr bedarf es der Prüfung und der ständigen Erneuerung seiner Grundlagen. Dem Zustrom neuer Tatsachen muss die Tieferlegung der Fundamente entsprechen, die zum Wesen jeder Wissenschaft gehört. Ist dem so, so ist klar, dass und warum die Arbeit an der Auffindung und Sicherung der Prinzipien den Einzelwissenschaften nicht abgenommen und auf eine besondere philosophische Disziplin, auf die Erkenntnistheorie oder Methodenlehre, übertragen werden kann.

Ernst Cassirer


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