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Die sieben Grundtugenden des Dichters Zamonien (Bücherreihe), Literatur, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

1. Furcht
Die Furcht ist außer der Schwerkraft die mächtigste Kraft im Universum. Die Schwerkraft setzt den toten Gegenstand in Bewegung, die Furcht das lebende Wesen. Nur der Furchtsame ist zu Großem befähigt, der Furchtlose kennt keinen Antrieb und verliert sich im Müßiggang.

2. Mut
Das scheint der ersten Grundtugend zu widersprechen, aber man braucht Mut, um die Furcht zu überwinden. Man braucht Mut, um den Fährnissen der literarischen Unternehmung standzuhalten, als da sind: Schreibhemmung, unsensible Lektoren, zahlungsunwillige Verleger, gehässige Kritiker, niedrige Verkaufszahlen, ausbleibende Preise usw.

3. Vorstellungskraft
Es gibt genügend zamonische Schriftsteller, die sehr gut ohne diese Tugend durchkommen, man erkennt sie daran, dass ihre Werke vorwiegend um sie selbst kreisen oder von aktuellen Ereignissen handeln. Diese Schriftsteller schreiben nicht, sie schreiben nur auf, langweilige Stereotypisten ihrer selbst und der Alltäglichkeit.

4. Orm
Genau genommen keine echte Tugend, eher eine geheimnisvolle Macht, die jeden guten Schriftsteller umgibt wie eine Aura. Niemand kann sie sehen, aber der Dichter kann sie spüren. Orm, das ist die Kraft, die einen die ganze Nacht wie im Fieber schreiben, einen tagelang an einem einzigen Satz feilen, einen das Lektorat eines dreitausendseitigen Romans lebend überstehen lässt. Orm, das sind die unsichtbaren Dämonen, die um den Dichtenden tanzen und ihn auf seine Arbeit bannen. Orm, das ist der Rausch und das Brennen. (Ormlose Dichter siehe unter 3.)

5. Verzweiflung
Der Humus, der Torf, der Kompost der Literatur, das ist die Verzweiflung. Zweifel an der Arbeit, an den Kollegen, am eigenen Verstand, an der Welt, am Literaturbetrieb, an allem. Ich habe es mir zur Regel gemacht, mindestens einmal pro Tag für mindestens fünf Minuten an irgendetwas zu verzweifeln, und sei es nur an den Kochkünsten meiner Haushälterin. Das damit einhergehende Lamentieren, Händegegenhimmelwerfen und Blutwallen sorgt übrigens für die notwendige körperliche Betätigung, die ja ansonsten im schriftstellerischen Leben chronisch zu kurz kommt.

6. Verlogenheit
Ja, sehen wir der Sache ruhig ins Gesicht: Alle gute Literatur lügt. Beziehungsweise: Gute Literatur lügt gut, schlechte Literatur lügt schlecht - aber die Unwahrheit sagen beide. Schon der bloße Vorsatz, die Wahrheit in Worte fassen zu wollen, ist eine Lüge.

7. Gesetzlosigkeit
Jawohl, der Dichter gehorcht keinen Gesetzen, nicht einmal denen der Natur. Frei von allen Fesseln muss sein Schreiben sein, damit seine Dichtung fliegen kann. Gesellschaftliche Gesetze sind ebenfalls verpönt, besonders die von Anstand und Sitte. Und auch moralischen Gesetzen darf sich der Dichter nicht unterwerfen, damit er gewissenlos das Werk seiner Vorgänger plündern kann - Leichenfledderer sind wir alle.

"Ensel und Krete" von Walter Moers

Die sieben Grundtugenden des Dichters Zamonien (Bücherreihe), Literatur, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

1. Furcht
Die Furcht ist außer der Schwerkraft die mächtigste Kraft im Universum. Die Schwerkraft setzt den toten Gegenstand in Bewegung, die Furcht das lebende Wesen. Nur der Furchtsame ist zu Großem befähigt, der Furchtlose kennt keinen Antrieb und verliert sich im Müßiggang.

2. Mut
Das scheint der ersten Grundtugend zu widersprechen, aber man braucht Mut, um die Furcht zu überwinden. Man braucht Mut, um den Fährnissen der literarischen Unternehmung standzuhalten, als da sind: Schreibhemmung, unsensible Lektoren, zahlungsunwillige Verleger, gehässige Kritiker, niedrige Verkaufszahlen, ausbleibende Preise usw.

3. Vorstellungskraft
Es gibt genügend zamonische Schriftsteller, die sehr gut ohne diese Tugend durchkommen, man erkennt sie daran, dass ihre Werke vorwiegend um sie selbst kreisen oder von aktuellen Ereignissen handeln. Diese Schriftsteller schreiben nicht, sie schreiben nur auf, langweilige Stereotypisten ihrer selbst und der Alltäglichkeit.

4. Orm
Genau genommen keine echte Tugend, eher eine geheimnisvolle Macht, die jeden guten Schriftsteller umgibt wie eine Aura. Niemand kann sie sehen, aber der Dichter kann sie spüren. Orm, das ist die Kraft, die einen die ganze Nacht wie im Fieber schreiben, einen tagelang an einem einzigen Satz feilen, einen das Lektorat eines dreitausendseitigen Romans lebend überstehen lässt. Orm, das sind die unsichtbaren Dämonen, die um den Dichtenden tanzen und ihn auf seine Arbeit bannen. Orm, das ist der Rausch und das Brennen. (Ormlose Dichter siehe unter 3.)

5. Verzweiflung
Der Humus, der Torf, der Kompost der Literatur, das ist die Verzweiflung. Zweifel an der Arbeit, an den Kollegen, am eigenen Verstand, an der Welt, am Literaturbetrieb, an allem. Ich habe es mir zur Regel gemacht, mindestens einmal pro Tag für mindestens fünf Minuten an irgendetwas zu verzweifeln, und sei es nur an den Kochkünsten meiner Haushälterin. Das damit einhergehende Lamentieren, Händegegenhimmelwerfen und Blutwallen sorgt übrigens für die notwendige körperliche Betätigung, die ja ansonsten im schriftstellerischen Leben chronisch zu kurz kommt.

6. Verlogenheit
Ja, sehen wir der Sache ruhig ins Gesicht: Alle gute Literatur lügt. Beziehungsweise: Gute Literatur lügt gut, schlechte Literatur lügt schlecht - aber die Unwahrheit sagen beide. Schon der bloße Vorsatz, die Wahrheit in Worte fassen zu wollen, ist eine Lüge.

7. Gesetzlosigkeit
Jawohl, der Dichter gehorcht keinen Gesetzen, nicht einmal denen der Natur. Frei von allen Fesseln muss sein Schreiben sein, damit seine Dichtung fliegen kann. Gesellschaftliche Gesetze sind ebenfalls verpönt, besonders die von Anstand und Sitte. Und auch moralischen Gesetzen darf sich der Dichter nicht unterwerfen, damit er gewissenlos das Werk seiner Vorgänger plündern kann - Leichenfledderer sind wir alle.

"Ensel und Krete" von Walter Moers

Wissen aus Gewohnheit Literatur, Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Die Dinge haben ihren eigenen Charakter. Immer ist uns die Hälfte verborgen. Die Flasche Sprudel, der Bleistift, die Lampe, alles sehen wir nur halb, nur von vorn, von schräg vorn, von oben, aber nie komplett, nie ganz. Die wahren, die vollkommenen Dinge liegen immer im Dunkeln. Wir sind begrenzte Wesen. Wenn ich die Flasche greife, um aus ihr zu trinken, woher weiß ich, dass sie eine Rückseite hat? Ich stelle mir die Rückseite nur vor. Ich bilde sie mir ein. Ich gehe einfach davon aus, dass es sie gibt. Ich tue so, als ob ich es sicher wüsste. Nicht mehr und nicht weniger.

"Das Zimmermädchen" von Markus Orths

Mit einer Ananas im Arm Banana Yoshimoto, Literatur, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Eriko, die früher mal ein Mann war, erzählt von ihrer krebskranken Frau.

"Eines Tages sagte meine Frau, sie wolle irgendwas Lebendiges in ihrem Krankenzimmer haben. Etwas, das lebt, das die Sonne braucht. Eine Pflanze, ja, eine Pflanze, das ist eine gute Idee, hat sie gesagt. Kauf eine in einem großen Topf, am besten eine, die leicht zu pflegen ist. Und da meine Frau bis dahin nie einen Wunsch geäußert hatte, bin ich sofort losmarschiert zum Blumenladen. Ich als Mann kannte damals natürlich nur sowas wie Veilchen oder den Ficus, und irgend so ein Kaktus, hab ich mir überlegt, ist ja wohl auch nicht das Wahre. So kaufte ich schließlich eine Ananaspflanze. Sie hatte schon ganz kleine Früchte, und man konnte sie sofort daran erkennen. Meine Frau hat sich unglaublich gefreut und sich immer wieder bedankt.
Als sie ins Endstadium kam, drei Tage vor dem Koma, bat sie mich plötzlich, bevor ich nach Hause ging: >Nimm bitte die Ananas mit.< Rein äußerlich sah man ihr gar nicht an, wie schlecht es ihr ging, und wahrscheinlich wusste sie selbst nicht, dass sie Krebs hatte, aber irgendwie klangen ihre ganz leise geflüsterten Worte so, als seien es ihre letzten. Ich war richtig erschrocken und sagte, sie solle die Pflanze doch dabehalten, auch wenn sie vertrocknen würde. Doch sie meinte, sie könne der Pflanze kein Wasser mehr geben, und unter Tränen bat sie mich, diese Pflanze aus einem südlichen Land mitzunehmen, bevor sich der Tod in ihr einnisten könne. Da nahm ich die Ananas mit nach Hause.
Ich kann dir sagen, auch wenn ich ein Mann war, ich habe geheult wie ein Schlosshund. Obwohl es draußen wahnsinnig kalt war, hab ich es nicht geschafft, in ein Taxi zu steigen. Damals habe ich wahrscheinlich auch zum ersten Mal gespürt, wie sehr ich es hasste, ein Mann zu sein. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, bin ich zum Bahnhof gelaufen, hab in einer Kneipe etwas getrunken und wollte dann mit der Bahn nach Hause fahren. Es war schon spät, und auf dem Bahnsteig befanden sich nur wenige Menschen. Ein eisiger Wind wehte, und ich stand da, die Ananas mit ihren stacheligen Blättern an meine Wange gedrückt, und zitterte. Auf dieser Welt - davon war ich im Innersten meines Herzens überzeugt - gab es an diesem Abend keine zwei Wesen, die sich besser verstanden als ich und diese Ananas. Als ich die Augen schloss, als mir der kalte Wind um die Ohren pfiff, waren es nur wir beide, die diese Einsamkeit empfanden... Und meiner Frau, die dies besser begriffen hätte als jeder andere, war der Tod näher als ich oder die Ananas.
Kurz darauf starb sie. Die Ananas vertrocknete. Unerfahren wie ich war, hatte ich der Pflanze zu viel Wasser gegeben. Ich hab sie in eine Ecke des Gartens abgeschoben, doch plötzlich, ich kann gar nicht sagen, was es war, hab ich etwas begriffen. Wenn ich dir das so erzähle, klingt es wahrscheinlich ziemlich banal. Ich habe begriffen, dass ich nicht der Mittelpunkt der Welt bin. Ich habe gemerkt, dass, was immer ich auch tue, unangenehme Dinge auf mich einstürzen. Nicht wir bestimmen schließlich darüber. Aus diesem Grund habe ich mich auch gefragt, ob es nicht besser wäre, alles Bisherige aufzugeben und so unbeschwert wie möglich zu leben.
...Tja, und dann bin ich, wie du siehst, eine Frau geworden."

"Vollmond (Kitchen 2)" von Banana Yoshimoto

Mit einer Ananas im Arm Banana Yoshimoto, Literatur, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Eriko, die früher mal ein Mann war, erzählt von ihrer krebskranken Frau.

"Eines Tages sagte meine Frau, sie wolle irgendwas Lebendiges in ihrem Krankenzimmer haben. Etwas, das lebt, das die Sonne braucht. Eine Pflanze, ja, eine Pflanze, das ist eine gute Idee, hat sie gesagt. Kauf eine in einem großen Topf, am besten eine, die leicht zu pflegen ist. Und da meine Frau bis dahin nie einen Wunsch geäußert hatte, bin ich sofort losmarschiert zum Blumenladen. Ich als Mann kannte damals natürlich nur sowas wie Veilchen oder den Ficus, und irgend so ein Kaktus, hab ich mir überlegt, ist ja wohl auch nicht das Wahre. So kaufte ich schließlich eine Ananaspflanze. Sie hatte schon ganz kleine Früchte, und man konnte sie sofort daran erkennen. Meine Frau hat sich unglaublich gefreut und sich immer wieder bedankt.
Als sie ins Endstadium kam, drei Tage vor dem Koma, bat sie mich plötzlich, bevor ich nach Hause ging: >Nimm bitte die Ananas mit.< Rein äußerlich sah man ihr gar nicht an, wie schlecht es ihr ging, und wahrscheinlich wusste sie selbst nicht, dass sie Krebs hatte, aber irgendwie klangen ihre ganz leise geflüsterten Worte so, als seien es ihre letzten. Ich war richtig erschrocken und sagte, sie solle die Pflanze doch dabehalten, auch wenn sie vertrocknen würde. Doch sie meinte, sie könne der Pflanze kein Wasser mehr geben, und unter Tränen bat sie mich, diese Pflanze aus einem südlichen Land mitzunehmen, bevor sich der Tod in ihr einnisten könne. Da nahm ich die Ananas mit nach Hause.
Ich kann dir sagen, auch wenn ich ein Mann war, ich habe geheult wie ein Schlosshund. Obwohl es draußen wahnsinnig kalt war, hab ich es nicht geschafft, in ein Taxi zu steigen. Damals habe ich wahrscheinlich auch zum ersten Mal gespürt, wie sehr ich es hasste, ein Mann zu sein. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, bin ich zum Bahnhof gelaufen, hab in einer Kneipe etwas getrunken und wollte dann mit der Bahn nach Hause fahren. Es war schon spät, und auf dem Bahnsteig befanden sich nur wenige Menschen. Ein eisiger Wind wehte, und ich stand da, die Ananas mit ihren stacheligen Blättern an meine Wange gedrückt, und zitterte. Auf dieser Welt - davon war ich im Innersten meines Herzens überzeugt - gab es an diesem Abend keine zwei Wesen, die sich besser verstanden als ich und diese Ananas. Als ich die Augen schloss, als mir der kalte Wind um die Ohren pfiff, waren es nur wir beide, die diese Einsamkeit empfanden... Und meiner Frau, die dies besser begriffen hätte als jeder andere, war der Tod näher als ich oder die Ananas.
Kurz darauf starb sie. Die Ananas vertrocknete. Unerfahren wie ich war, hatte ich der Pflanze zu viel Wasser gegeben. Ich hab sie in eine Ecke des Gartens abgeschoben, doch plötzlich, ich kann gar nicht sagen, was es war, hab ich etwas begriffen. Wenn ich dir das so erzähle, klingt es wahrscheinlich ziemlich banal. Ich habe begriffen, dass ich nicht der Mittelpunkt der Welt bin. Ich habe gemerkt, dass, was immer ich auch tue, unangenehme Dinge auf mich einstürzen. Nicht wir bestimmen schließlich darüber. Aus diesem Grund habe ich mich auch gefragt, ob es nicht besser wäre, alles Bisherige aufzugeben und so unbeschwert wie möglich zu leben.
...Tja, und dann bin ich, wie du siehst, eine Frau geworden."

"Vollmond (Kitchen 2)" von Banana Yoshimoto

Der Wahnsinn spielt Verstecken. Humor, Literatur, Zitatsammlung

Autor:  halfJack
Der Wahnsinn hatte sich entschlossen, all seine Freunde, die Gefühle und Qualitäten des Menschen, zum Kaffee einzuladen. Alle Gäste gingen hin und nach dem Dessert gähnte die Langeweile bereits zum dritten Male. Da schlug der Wahnsinn vor: "Lasst uns Verstecken spielen!"

Die Intrige hob die Augenbraue und die Neugierde konnte sich nicht mehr zurückhalten und fragte: "Verstecken, was ist das?"

"Verstecken ist ein Spiel. Ich zähle bis hundert und ihr versteckt euch. Wenn ich dann fertig gezählt habe, muss ich euch suchen und der erste, den ich finde, ist als nächstes mit dem Zählen dran."

Der Wahnsinn war wahnsinnig begeistert. Die Begeisterung und die Euphorie tanzten vor Freude. Die Freude machte so viele Sprünge, dass sie so den letzten Schritt tat, um den Zweifel zu überzeugen und sogar die Gleichgültigkeit, die sonst an nichts Interesse zeigte, machte mit.

Alle akzeptierten, außer der Faulheit, die sich nicht vom Fleck rühren wollte. Der Stolz meinte, dass es ein dummes Spiel wäre (im Grunde ärgerte er sich nur, dass die Idee nicht von ihm kam) und die Feigheit und die Furcht zogen es beide vor, nichts zu riskieren.

"1, 2, 3, ...", fing der Wahnsinn zu zählen an. Die Eile versteckte sich als erste - irgendwo, irgendwie. Als nächstes die Trägheit, die sich wie immer hinter den ersten Stein fallen ließ.

Die Großzügigkeit schaffte es kaum, sich selber zu verstecken, da sie bei allen Verstecken, die sie fand, glaubte, ein wunderbares Versteck für einen ihrer Freunde gefunden zu haben.

Die Schüchternheit, schüchtern wie üblich, versteckte sich in einer Baumkrone. Die Lüge verstecke sich auf dem Meeresgrund (stimmt nicht, in Wirklichkeit verstecke sie sich hinter dem Regenbogen).

Die Leidenschaft und das Verlangen im Zentrum der Vulkane.
Die Vergesslichkeit... ich habe vergessen, wo sie sich versteckte, aber das ist auch nicht so wichtig.

Die Freude rannte glückseelig durch den Garten. Die Traurigkeit fing zu weinen an, da sie keinen richtigen Platz zum Verstecken fand.
Der Neid ging mit dem Triumph und versteckte sich ganz nahe bei ihm hinter einem Felsen.

Der Wahnsinn zählte immer weiter, während seine Freunde sich versteckten. Die Verzweiflung war verzweifelt, als sie feststellte, dass der Wahnsinn schon bei 99 angekommen war. "HUNDERT!", rief der Wahnsinn. "Ich fange jetzt an zu suchen!"

Die Erste, die gefunden wurde, war die Neugier, denn sie konnte es sich nicht verkneifen, aus ihrem Versteck zu kommen, um zu sehen, wer als erstes geschnappt würde.

Dann hörte er den Glauben, der im Himmel mit Gott über Theologie diskutierte. Als sich der Wahnsinn etwas umsah, entdeckte er die Trägheit, nur drei Schritte vom ersten Stein entfernt.
Das Verlangen und die Leidenschaft hörte man im Vulkan vibrieren.

In einem unachtsamen Moment fand er den Neid und so natürlich auch den Triumph. Mit dem Zweifel war es noch einfacher, ihn entdeckte er auf einer Mauer sitzend, weil er sich nicht entscheiden konnte, ob es besser sei, sich davor oder dahinter zu verstecken.

So fand er einen nach dem andern: Er entdeckte die Freude, die Traurigkeit, die Schüchternheit , die Gleichgültigkeit... Als sie wieder alle beisammen waren, fragte die Neugier: "Wo ist denn die Liebe?" Niemand hatte sie gesehen.

Der Wahnsinn fing an sie zu suchen. Er suchte in den Bergen, Flüssen und unter den Felsen - ohne Erfolg und als er schon aufgeben wollte, erblickte er einen Rosenbusch.

Mit Hilfe eines Holzstöckchens fing er an, zwischen den Zweigen auf die Suche zu gehen - da hörte er plötzlich einen Schrei. Es war die Liebe. Der Wahnsinn hatte ihr mit seinem Stock die Augen ausgestochen. Hilflos wusste er nicht, wie er seine Tat wieder gutmachen konnte.

Er bat um Verzeihung, flehte um Vergebung und versprach der Liebe, für immer ihre Sehkraft zu werden. Die Liebe akzeptierte die Entschuldigung.

Seit dieser Zeit ist die Liebe blind und wird ständig vom Wahnsinn begleitet.

Autor: Volksgemeinschaftliche Metamorphose unbekannter Herkunft

Tokyo Japan (Sachthema), Japan, Literatur

Autor:  halfJack

Du bist kurz davor, dich aufzugeben
Durch geträumte Straßen wie gefallener Regen
(Selig)




Verlieren wir uns in der Masse der Menschen und der verrottenden Welt um uns herum. Auf absurde Weise lieben wir sie noch immer. Schmerzlich vertraute, vermisste Stadt. Wir wandern durch die überfüllten Schluchten zwischen erdrückenden Gebäudekomplexen, kreuzen Ampeln, die selbst an solchen Straßen stehen, die man mit einem einzigen Schritt überqueren könnte, stolpern so leicht über die endlosen Blindenzeichen auf den Fußwegen. Wir betreten Geschäfte, die ununterbrochen geöffnet sind, in denen wir routiniert bereits am Eingang begrüßt werden, hören zu, wie man sich dafür bedankt, dass wir das Geschäft besuchen, wie unsere Einkäufe aufgezählt, jeder einzelne Preis genannt und zusammengerechnet wird, was wir bezahlen, was wir zurückerhalten. Ein unaufhörlicher, einstudierter Redeschwall, der uns permanent umgibt, die ständige distanzierte Höflichkeit, das Verbeugen, das Entschuldigen, das Bitten. Diese ganzen Floskeln hüllen uns irgendwann so ein, dass wir gar nicht mehr registrieren, welchen Menschen wir gegenüberstehen und wem dieses automatisierte Verhalten überhaupt noch gilt. Wir lassen uns davon einhüllen, beruhigen und betäuben. Wir wenden uns ab und verlassen einander. Doch wohin gehen wir? Wohin?

Tokyo Japan (Sachthema), Japan, Literatur

Autor:  halfJack

Du bist kurz davor, dich aufzugeben
Durch geträumte Straßen wie gefallener Regen
(Selig)




Verlieren wir uns in der Masse der Menschen und der verrottenden Welt um uns herum. Auf absurde Weise lieben wir sie noch immer. Schmerzlich vertraute, vermisste Stadt. Wir wandern durch die überfüllten Schluchten zwischen erdrückenden Gebäudekomplexen, kreuzen Ampeln, die selbst an solchen Straßen stehen, die man mit einem einzigen Schritt überqueren könnte, stolpern so leicht über die endlosen Blindenzeichen auf den Fußwegen. Wir betreten Geschäfte, die ununterbrochen geöffnet sind, in denen wir routiniert bereits am Eingang begrüßt werden, hören zu, wie man sich dafür bedankt, dass wir das Geschäft besuchen, wie unsere Einkäufe aufgezählt, jeder einzelne Preis genannt und zusammengerechnet wird, was wir bezahlen, was wir zurückerhalten. Ein unaufhörlicher, einstudierter Redeschwall, der uns permanent umgibt, die ständige distanzierte Höflichkeit, das Verbeugen, das Entschuldigen, das Bitten. Diese ganzen Floskeln hüllen uns irgendwann so ein, dass wir gar nicht mehr registrieren, welchen Menschen wir gegenüberstehen und wem dieses automatisierte Verhalten überhaupt noch gilt. Wir lassen uns davon einhüllen, beruhigen und betäuben. Wir wenden uns ab und verlassen einander. Doch wohin gehen wir? Wohin?

Kaiser-Kennedy-Legende Humor, Literatur, Philosophie, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Für leichtgläubige Menschen weise ich lieber gleich zu Anfang darauf hin, dass man den folgenden Beitrag von Leszek Kolakowski nicht so ernst nehmen sollte. Wahrscheinlich ist er nur für Historiker amüsant, für angehende Historiker womöglich sogar lehrreich.

Die Kaiser-Kennedy-Legende: eine neue anthropologische Debatte

Die 6684. jährliche Zusammenkunft der Akademie der Wissenschaften löste eine hitzige Kontroverse aus. Der Hauptvortrag der Tagung war der kaum bekannten Legende eines Kaisers namens Kennedy gewidmet, der in der fernen Vergangenheit vGK (vor der Großen Katastrophe) zwei riesige Länder beherrscht haben soll. Dr. Rama, der Verfasser des Vortrags, verglich und analysierte alle verfügbaren Quellen äußerst gewissenhaft. Dies ist allerdings keine umfassende Sammlung, gemessen etwa an der Materialmenge, die wir über einen anderen Herrscher, Alfonse XIII., besitzen, der ein anderes Land namens Espagna einige Zeit früher oder später regiert haben soll. Aber Dr. Rama wies nach, dass sich aus den bestehenden Quellen mehr ableiten lässt, als die Gelehrten für möglich hielten. Bekanntlich waren nach der Großen Katastrophe, die sich in den Jahren 0-72 (angenähert) abspielte, als etwa zwei Drittel des bewohnbaren Landes von Wasser überschwemmt und die übrigen Teile von gewaltigen Explosionen unbekannter Herkunft fast völlig zerstört wurden, nur acht Bücher aus der vorhergehenden Periode unversehrt erhalten geblieben. Es sind:

John Williams Creative Gardening, Omaha, Nebraska (ob es sich bei Omaha, Nebraska um eine oder zwei Personen handelt, ist noch umstritten)
Alice Besson La vie d’une idiote racontée pas elle-même, Roman (Das Buch scheint in einem Land oder einer Gegend namens Gallimard gedruckt worden zu sein)
Laszlo Warga Bridge for Beginners, aus dem Ungarischen übersetzt von Peter Harsch, Llandutno 1966
Dirk Hoegeveldt De Arte Divinatoria Romanorum, Lukdini Bat 1657
Annurario telefonica di Ferrara
Arno Miller Neue Tendenzen in amerikanischen Sozialwissenschaften, Hoser Verlag, Erlangen 1979
Dinah Elberg All my Lovers

Wir haben das achte Buch ausgelassen, da es – abgesehen von dem geheimnisvollen Wort Nagoya, das von der zweiten bis zur letzten Seite auftauchte – einen völlig unbekannten Schrifttyp aufwies; den besten Experten zufolge war Nagoya wahrscheinlich eine Zauberformel, welche die besten Geister aus einem fremden Land verscheuchen sollte. Übrigens ist keines der Bücher bis jetzt ganz entschlüsselt worden. Aber einige kleinere oder größere Bruchstücke existieren nun in befriedigenden Übersetzungen. Man braucht nicht zu erwähnen, dass die Ziffern in den Büchern sich vermutlich auf Jahreszahlen beziehen: Da wir jedoch nichts über die Methode und den Beginn der Zeitrechnung in der vGK-Ära wissen, ist es unmöglich, die Ereignisse korrekt zu datieren. Zudem wissen wir nicht, ob man die Jahre vorwärts oder rückwärts zählte. Viele Wissenschaftler meinen, es sei nicht ausgeschlossen, dass man die Jahre durch eine Zahl kennzeichnete, die dem bis zur Großen Katastrophe noch bevorstehenden Zeitraum entsprach, wodurch das Jahr 1657 z.B. dreihundert Jahre später – nicht früher – als das Jahr 1957 stattfand.
Die Kaiser-Kennedy-Legende wird nur in einem der gerade aufgeführten Bücher erwähnt, was einige Gelehrte zu der These veranlasste, dass sie unter den Wilden nicht weit verbreitet war, oder als unwichtig galt. Aber die Legende erscheint mehrere Male in fast zwei Dutzend fragmentarisch erhaltenen Büchern sowie in mehr als 220 Zeitschriften, die bis jetzt geborgen worden sind – dreizehn von ihnen fast unversehrt (darunter Chemical Engineering, Trybuna Ludo, Crosswords for Children – das nahezu unverständlich ist – Il Messaggero und Vuelta). Dr. Rama hat das gesamte Material gründlich untersucht, und liefert die erste zusammenhängende Interpretation. Die Hauptkomponenten sind seinen Forschungen gemäß folgende:
1. Präsident (ein Titel von obskurer Herkunft, offenbar gleichbedeutend mit Kaiser) Kennedy beherrschte gleichzeitig zwei große Länder, die Amerika und USA hießen.
2. Er stammte von einer legendären Insel namens Irland im hohen Norden. Ob diese Insel identisch ist mit einer anderen namens Island, die in einer weiteren Quelle erwähnt wird, bleibt vorläufig noch ungeklärt. Vielleicht wurden durch einen Druckfehler zwei Länder aus einem gemacht.
3. Er war reich.
4. Er kämpfte gegen die Herrschaft dreier anderer Königreiche namens Russland, Sowjetunion und Kuba. Anscheinend besiegte es sie, wurde dann aber seinerseits in einer Schlacht besiegt, die in der Schweinebucht stattfand. Trotzdem blieb er weiterhin der Kaiser jener beiden Länder.
5. Eines der feindlichen Länder namens Berlin (fast mit Sicherheit ein anderer Name für Russland) baute eine gewaltige Mauer, um die Armee des Kaisers am Einmarsch zu hindern. Aber der Kaiser verkündete von ebendieser Mauer mutige Schmähungen gegen die Feinde.
6. Er hatte zwei Brüder. Der ältere wurde vor und der jüngere nach dem Tode des Kaisers ermordet.
7. Der Kaiser selbst wurde von seinen Feinden verwundet und starb.
8. Seine Witwe Jaqueline heiratete später einen „Millionär“.
Dr. Rama entdeckte eine weitere vordem unbekannte Einzelheit von großer Bedeutung. Auf einer halben Seite, die von der Zeitschrift Ici Paris überkommen ist, wird der Kaiser als „un grand cureur des jupes“ bezeichnet. Die einzig plausible Übersetzung dieser Wendung besagt, dass er häufig in Röcken herumlief. Da dokumentiert ist, dass Röcke ausschließlich weibliche Kleidungsstücke waren, scheint offensichtlich, dass der Kaiser eine androgyne Gestalt – mit männlichen wie weiblichen Eigenarten – verkörperte. Dr. Rama korrigierte auch die falsche Interpretation des Wortes „Millionär“, das bis vor kurzem unkritisch als „reicher Mann“ übersetzt wurde. Er fand eine bisher vernachlässigte Bemerkung in einem Fragment des Miami Star, in dem es heißt: „Was ist heutzutage schon eine Million? Kaum mehr als eine Handvoll Erdnüsse.“ Da die Erdnuss eine sehr kleine Nuss war, ist ein Millionär keineswegs ein reicher, sondern ein armer Mann, der kaum etwas sein Eigen nennt, nur ein paar Erdnüsse. Dies fügt sich gut in Dr. Ramas Interpretation ein.
Dr. Rama ist, wie es der Zufall will, ein Schüler des berühmten Gelehrten Levi Strauss, der spezielle Hosen für spezielle Hosen für männliche wie weibliche Menschen herstellt und deshalb argumentiert, alles lasse sich als eine aus Gegensatzpaaren bestehende Struktur betrachten, sodass jeder Begriff eines Paares ohne den anderen bedeutungslos sei. Wenn man z. B. ein Hosenbein abschneide, sei das andere bedeutungslos. Dr. Rama bedient sich dieses hermeneutischen Verfahrens und bietet die folgende Interpretation der Legende an:
Der Mythos von Kaiser Kennedy war ein Versuch, grundlegende unversöhnliche Widersprüche menschlichen Lebens in der mythologischen Vorstellung in Einklang zu bringen. Da ist zuerst der Gegensatz von Träumen und Realität. In einer Quelle wird Amerika – eines der beiden Länder, die er regierte – der „Traum der Menschheit“ genannt, während in einer anderen Quelle von der „brutalen Realität der USA“ die Rede ist, was eindeutig zeit, dass die „USA“ als real galten. Damit vereinigte sich Traum und Realität in der Person Kennedys. Zweitens haben wir es mit dem Gegensatz von Nord und Süd zu tun. Er kam aus dem Norden, aber er regierte den Süden, wie aus einem Fragment hervorgeht, in dem unzweideutig erklärt wird, dass der „Süden im Bann von Kennedys Magie“ ist. Da der Süden in dieser Periode heiß und der Norden kalt war – beides unangenehme Zustände, wenn auch aus verschiedenen Gründen – erwartete man offenbar, dass die Gestalt des Kaisers die Nachteile sowohl des Nordens wie des Südens auf magische Weise beseitigen könne.
Wissenschaftler haben sich viele Gedanken gemacht, um den mythologischen Sinn der Kriege zu erklären, die der Kaiser ausfocht, aber auch in diesem Punkt hat Dr. Rama eine kluge Interpretation gefunden. Wir erinnern uns, dass der Kaiser männliche wie weibliche Eigenschaften verkörperte. Anscheinend ermutigte er seine Untertanen, Männer zu werden (laut dem gerade zitierten Ici Paris machte er viele Leute zu „cocus“, das heißt du „coqs“, Hähnen). In den meisten Mythologien ist der Hahn ein Phallussymbol, aber Kennedys Niederlage wurde ihm, wie erwähnt, von Schweinen zugefügt, und Schweine waren ebenfalls ein Männlichkeitssymbol („diese männlichen Chauvinistenschweine“, lesen wir in einem Fragment der Broschüre „Das unsägliche Märtyrertum amerikanischer Frauen“). Auf diese Weise bildet sich eine komplizierte männlich-weibliche Dialektik aus der Legende heraus: Die männlich-weibliche Gestalt bringt Männer hervor, wird von Männern besiegt und letztlich ermordet, mutmaßlich von einer Frau oder auf Befehl einer Frau. Die letztgenannte Tatsache wurde durch den Vergleich von zwei Quellen nachgewiesen: Auf einer von mehreren Seiten, die von einem Büchlein mit dem Titel „Wahre Fakten über die Sowjetunion“ erhalten sind, lesen wir, dass „das Glück sowjetischer Frauen unbeschreiblich“ ist, während in einer anderen Quelle – der Seite einer Zeitung mit dem rätselhaften Namen „The Times“ – vom „tiefsten Elend sowjetischer Männer“ gesprochen wird. So erkennen wir, dass zumindest in einem der wichtigsten Feindesländer die Frauen glücklich und die Männer unglücklich waren, was darauf hindeutet, dass dieses Land eine Art Gynekokratie war.
Wir schließen mithin, dass der Versuch des Kaisers, den männlich-weiblichen Gegensatz zu überwinden, von beiden Seiten – männlich wie weiblich – angegriffen wurde und mit der Katastrophe endet. Die Legende soll beweisen, dass die männlich-weibliche Synthese unmöglich ist.
Das letzte Gegensatzpaar, auf dem die Legende aufbaut, ist das der Begriffe „reich“ und „arm“. Der Kaiser war reich, aber wie es in einem Beleg heißt, „ein Streiter für die Armen“. Offenbar symbolisierte er den Versuch, den linguistischen Kontrast zwischen Wohlstand und Armut aufzuheben. Die Tatsache, dass er besiegt wurde, und seine Gattin (als Frau eines „Millionärs“) verarmte, ist der Beweis dafür, dass sein Bemühen scheiterte, diese beiden gegensätzlichen Begriffe in Einklang zu bringen.
Die tiefe pessimistische Bedeutung des Mythos ist: die grundlegenden Widersprüche des menschlichen Lebens könne nicht beseitigt werden – jeder Versuch, zwischen ihnen Harmonie herzustellen, ist nichtig.
Dr. Ramas Interpretation erhielt zwar von vielen Wissenschaftlern Applaus, wurde aber keineswegs von allen akzeptiert. Die stärkste Attacke führte Dr. Gama, ein Anhänger des berühmten Dr. Sigmund Fraud, der eine weitere (sogenannte analo-psychische) Schule der Hermeneutik begründete. Dr. Gama stellte praktisch alle Einzelheiten von Dr. Ramas Interpretationen und den gesamten Überbau von Herrn Levi-Strauss‘ Hosen-Doktrin in Frage. Dr. Frauds Theorie besagt, die Menschen wünschten nichts anderes als sich dauernd zu paaren, aber um zu überleben, nötigten sie einander auch andere Dinge zu tun, was sie unglücklich mache: infolge dieser Unglückseligkeit schrieben manche Menschen Gedichte, andere begingen Selbstmord, wieder andere würden führende Politiker etc. „Ich gebe zu“, sagte Dr. Gama, „dass Dr. Rama einige interessante Tatsachen gefunden hat, die ein neues Licht auf die Legende werfen. Aber seine phantastische Interpretation ist völlig unhaltbar. Neue Fakten bestätigen wiederum, dass nur fraudsche Theorie einen Schlüssel zu der Geschichte liefern kann. Ihre wahre Bedeutung ist für jeden unvoreingenommenen Geist offenkundig. Das Schwein, weit davon entfernt ein Männlichkeitssymbol darzustellen, stand für einen weibischen Mann, einen Castrato: Wie man weiß kastrierte man damals männliche Schweine,die später zur Ernährung verwendet wurden.
Die Wendung „diese männlichen Chauvinistenschweine“ unterstützt Dr.Ramas Spekulation keineswegs, sondern passt sich nahtlos in die Fraudsche Doktrin ein. Gewiss, wir haben es mit einer Beschimpfung zu tun, aber sie bezieht sich auf kastrierte Männer, die also keine Nachkommenschaft hervorbringen können. Das Wort Chauvinist ist noch nicht hinreichend erklärt, aber höchstwahrscheinlich ist es mit „chauve“, das heißt kahl oder haarlos, verwandt. UndKahlheit war ein weiteres Zeichen von Entmannung, während Haare männliche Tüchtigkeit versinnbildlichten. Damit ist die Interpretation klar: der Kaiser wurde im Land der „Castrati“ („Schweine“) besiegt und musste mit Röcken bekleidet fliehen – nicht, weil er eine androgyne Gestalt war, wie Dr.Rama behauptet, sondern weil er unzweifelhaft halb männlich war; mit anderen Worten, er dürfte nahezu mit Sicherheit kastriert gewesen sein. Tatsächlich versuchte er anderen Männern – die vermutlich ebenso kastriert waren wie er selbst – ihre Männlichkeit zurückzugeben. Aber er scheiterte. Wenn die Frauen in einem der Feindesländer glücklich und die Männer unglücklich waren, so wahrscheinlich deshalb, weil man die Männer in diesem mythologischen Land kastriert hatte. Nachdem die Frauen den Gegenstand ihres Neides beseitigt hatten, waren sie glücklich. Welche Erklärung könnte plausibler sein? Folglich ist die Legende ein Ausdruck, der universellen menschlichen Kastrationsangst und das Scheitern des Kaisers symbolisiert den Umstand, dass Kastration unumkehrbar ist. Die Theorie von Dr.Fraud hat sich wieder einmal bestätigt.
Dies war jedoch nicht das Ende der Tagung. Ein anderer Wissenschaftler, Dr.Ngama, griff beide vorangegangenen Interpretationen an. Prof.Ngama ist ein Schüler des großen Dr.Calamarx: die Theorie des letzteren besagt, dass es reiche und arme Menschen gibt, die gegeneinander kämpfen und im Laufe ihrer Auseinandersetzung verschiedene Mythologien erfinden; Die Mythologien der Reichen sollten alle überzeugen, dass die Reichen reich und die Armen arm zu bleiben hätten, während die Mythologien der Armen das Gegenteil beabsichtigen. In der Zukunft – bewies Dr.Calamarx – würden die Armen alle Reichen umbringen und danach würden alle Menschen sehr, sehr glücklich sein. Prof.Ngama erläuterte: „Jedem, der bei klarem Verstand ist, sollte deutlich sein, dass, wissenschaftlich gesprochen, die beiden bei dieser Konferenz vorgelegten Theorien nicht nur falsch, sondern auch reaktionär sind. Dr.Ramas Pseudotheorie läuft auf die Behauptung hinaus, die angeblichen „Strukturen“, die er sich ausgedacht hat, seien unveränderlich – mit anderen Worten, reiche Menschen würden stets reich und arme Menschen stets arm sein. Was Dr.Gamas Theorie betriftt, so verkündet sie, dass arme Menschen, statt gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, sich nur sorgen um den möglichen Verlust ihres sexuellen Vermögens machen sollten.
Dabei liegt die wahre Bedeutung der Legende auf der Hand. Das der reiche Kaiser selbst reich war, ist nebensächlich für die Geschichte, da alle Kaiser der Vergangenheit reich waren – nur in dem universellen Glückszustand der Zukunft werden die Kaiser arm sein. Relevant ist, dass der Kaiser ein Streiter für die „Armen“ war, wie sogar meine Gegner einräumen mussten. Daraus lässt sich schließen, dass seine Feinde Streiter für die Reichen waren, denn alle Kämpfe sind letztendlich auf den Konflikt zwischen reich und arm zurückzuführen. Alle bekannten Elemente des Mythos untermauern diese Interpretation. Der Kaiser wurde von Schweinen besiegt, doch Schweine – die keineswegs dieses oder jenes sexuelle Symbol darstellten, wie die Theorien meiner Gegner „zeigen“ sollen – waren symbolische Bilder des Reichtums. Beide Sprecher zogen es vor, ein Flugblatt, unterzeichnet von der „Absoluten Revolutionären Unbesiegbaren Weltbefreiungsbewegung der Rackernden Massen“ – außer acht zu lassen, in dem es eindeutig heißt: „Bringt die reichen Schweine um!“ Dieser edle Kaiser, ein Streiter für die Armen, wurde heimtückisch von seinen Feinden ermordet, aber Dr. Rama selbst wies nach, dass seine Witwe später einen armen Mann heiratete. Die Botschaft der Legende ist also folgende: ein großer Kämpfer für die Sache der Armen ist getötet worden, aber das Ringen geht weiter. Die Legende gehört unbestreitbar zu der Folklore armer Menschen, und die Richtigkeit von Dr. Calamarx‘ unüberwindlicher Theorie ist wieder einmal unterstrichen worden.
Mit drei widersprüchlichen Theorien konfrontiert, musste die Akademie die Wahrheit – wie üblich – durch Abstimmung finden. Nach vier Wahlgängen, die keine klare Mehrheit erbrachten, entschieden die meisten Mitglieder sich im fünften Wahlgang für Dr. Gamas Erklärung, womit die Wahrheit von Dr. Siegmund Frauds Theorie endgültig und wissenschaftlich festgestellt war. Dr. Gama frohlockte, während die beiden besiegten Gelehrten, deren Irrtümer nun bloßgestellt waren, bitterlich weinten. Wer eine falsche antropologische Theorie verteidigt, kann mit dem Tode bestraft werden.

Leszek Kolakowski

Ich wäre gern eine tote Katze. Literatur, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Seymour schreibt im Tagebuch über seine Verlobte Muriel und ihre Mutter.

Ihre Mutter hält mich für einen schizoiden Menschen. Offenbar hatte sie mit ihrem Psychoanalytiker über mich gesprochen, und er ist einer Meinung mit ihr. Mrs. Fedder hat Muriel beauftragt, diskret nachzuforschen, ob es in meiner Familie Fälle von Irresein gibt. Ich glaube, Muriel war so naiv, ihr zu erzählen, woher die Narben an meinem Handgelenk stammen, das arme liebe Kind. Aber wie M. mir sagt, machen diese Narben ihrer Mutter bei weitem nicht so viel Sorgen wie ein paar andere Tatsachen. Drei oder vier Tatsachen. Erstens: ich ziehe mich zurück und suche keine Beziehungen zu meinen Mitmenschen. Zweitens: offenbar <stimmt> etwas mit mir nicht, weil ich es unterlassen habe, Muriel zu verführen. Drittens: offenbar ist Mrs. Fedder tagelang von einer Bemerkung verfolgt worden, die ich eines Abends beim Essen gemacht habe: ich wäre gern eine tote Katze. In der vorigen Woche fragte sie mich beim Essen, was ich zu tun beabsichtige, wenn ich aus der Armee entlassen bin. Würde ich meine Lehrtätigkeit am selben College wieder ausüben? Oder würde ich vielleicht wieder zum Funk gehen, vielleicht als <Kommentator>? Ich antwortete, ich hätte das Gefühl, dass der Krieg endlos weitergehen werde und dass ich nur eines sicher wisse: wenn der Friede jemals wiederkäme, wäre ich am liebsten eine tote Katze. Mrs. Fedder dachte, das solle irgendein Witz sein. Ein intellektueller Witz. Wie Muriel mir sagt, hält sie mich für sehr intellektuell. Sie glaubte, meine todernste Bemerkung wäre die Art von Witz, die man mit einem leichten, musikalischen Lachen honorieren sollte. Mir scheint, dass ich ein bisschen bestürzt war, als sie lachte, und dass ich vergaß, ihr die Sache zu erklären. Heute Abend erzählte ich Muriel folgendes: ein Meister im Zen-Buddhismus wurde einmal gefragt, was das wertvollste Ding auf der Welt sei, und der Meister antwortete, das sei eine tote Katze, denn niemand könne ihren Preis nennen.

"Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute" von J. D. Salinger